Herausgegeben von Ingeborg Schuldt-Britting
Band 12
Georg-Britting-Stiftung
Erzählungen 1941-1960
Die Donau strömte breit und grün, nur ein Strudel manchmal wallte schwarz, aus der kalten Tiefe herauf, lief eilig, weiß schäumend, und rascher als die gelassenen Wellen neben ihm, und verging wieder. Die Berge der Wachau lagerten wie mächtige Tiere an den Ufern, die mit Wald besetzten riesigen Igeln zu vergleichen, die ihre spitzen Schnauzen zum Fluß hin streckten, die Weinberge aber erschienen wie Löwen, nur waren ihre Halskrausen nicht wie die verfilzten Mähnen der lebendigen Raubkatzen, sondern wie die sorgsam aneinandergelegten starren Locken, wie sie die Künstler ihren Tierstandbildern geben. Und der Kirchturm aus grauem Stein, der in kühnen Windungen gierig nach oben sich schraubte, wie um den Himmel anzubohren, daß der himmlische, goldblaue Lichtwein fließe, war wie eine lustig gezackte Felsnadel, so ähnlich sehen hier die Gebilde der Natur denen der formenden Menschenhand.
Der Kirchendiener, auf den wir gewartet hatten, daß er uns das Gotteshaus öffne, kam eben über den gepflasterten, sonnenheißen Platz daher. Weiß war das kurzgeschorene Haar des alten Mannes, und er war nicht mit einem schwarzen Gewand angetan, wie sonst Leute seines Standes, wie ein Jäger eher war er anzusehen, in der kurzen Lederhose, mit nackten braunen Knien, kleine stechende Augen in bartlosem Gesicht: durchdringend hellblau waren sie, man mochte an Gletschereis oder an blaues Feuer denken. Die Schlüssel schwang er, daß sie aneinanderklapperten, und er sperrte das mächtige, mit faustgroßen Nägeln beschlagene Kirchentor auf, und ließ uns eintreten ins Dämmerige, und trat selber als letzter ein und begann mit der Führung.
Von jedem Getäfel, von jedem Eisengitter wußte er zu melden, wer es geschnitzt, wer es geschmiedet hatte, und dem Namen des Meisters, den er nannte, fügte er hinzu, von wo der herstammte. Der ist von Mautern droben, so sagte er etwa, und zeigte zum hohen, bunt geglasten Fenster hinaus in die Richtung, wo dieses Mautern liegen mußte. Oder er berichtete von einer Kanzel, die weiß und blau und rosa schimmernd, wie ein Schwalbennest hoch an einer Säule hing: Die hat der Vater gemacht des Künstlers, von dem das Bild vorn am Altar ist, und der ist in Roßlarn begraben, und wieder wies er in eine unsichtbare Landschaft hinaus. Das alles klang so vertraut und gegenwärtig, als hätten die kunstreichen Männer, von denen er redete, noch gestern gelebt und gewerkt, und als hätte er sie alle noch gekannt, und die lagen nun doch schon seit weit über hundert Jahren in ihren Särgen.
Der jägerische Alte schüttelte seinen Schlüsselring nun, daß der klirrende Ton widerhallte, so, als schüttle hoch oben unter der Decke noch einmal einer, und das war ein Zeichen weiterzugehen, und er ging, und wir gingen ihm nach, und er wandte sich einer kleinen Tür zu, und schritt uns voran über ausgetretene Steinstufen, hinab in ein Gewölbe, in dem es nach Moder roch und Staub und Mäusedreck, und im Licht, das durch ein winziges rundes Fenster hereinfiel, glänzten die seidenen Fahnen der Spinngewebe. Die Mönche des Klosters, zu dem die Kirche früher gehört hatte, lagen hier bestattet. Die Gräber waren in die Tiefe der Wand eingelassen, und glatt behauene Steinplatten, die keine Inschrift trugen, verschlossen sie. Von fünfen der Gräber waren die Platten entfernt, sie lagen aufeinander getürmt in einer Ecke der Gruft, und die leeren Nischen gähnten schwarz und beleidigt her.
Die Platten, sagte der alte Mann, und stieß mit dem Fuß gegen sie, die liegen hier, seit uns die Franzosen besuchten, mein Großvater hat mir noch oft davon erzählt. In den jetzt leeren Nischen, sagte er dann, seien die toten Äbte gelegen, die mit ihren edelsteinbesetzten Ringen, dem Zeichen ihrer Würde, begraben worden waren, und eben diese heiligen Ringe sich an die eigenen, unheiligen Finger zu stecken, hätte es die Franzosen gelüstet, und eben deswegen hätten sie nur die Äbte aus ihren steinernen Kammern geholt, während sie die Mönche in Ruhe gelassen, weil die ja ohne Schmuck seien, im Leben und im Tod, und auf die Ringe natürlich; und nicht auf die morschen Knochen der Toten hätten es die Franzosen abgesehen gehabt.
Einer von uns, ein noch junger Mensch, mit scharf gezogenem Scheitel, im modisch geschnittenen Anzug, pochte gegen eine der Platten, die noch fest in der Wand saß, aber sie gab keinen Klang her, und tat sich auch nicht auf, da mußte man schon dringender klopfen, wie es die Franzosen gemacht hatten. Und er fragte, die Worte genau aussprechend, mit seiner hellen Stimme, woher denn die Franzosen gewußt hätten, wo die vornehmen Ringeträger lagen, und wo die bescheidenen Toten ohne jegliches Gold, auf den Tafeln stehe ja kein Wort, weder Name noch Stand, und als habe er auf diese Frage nur gewartet, antwortete der Alte schnell und heftig und fast böse: Das sei ihnen natürlich verraten worden! Und er fuhr fort zu berichten, daß es der Förster gewesen sei, der so getan, und darüber bestünde ja nun allerdings kein Zweifel! Denn man habe gesehen, wie er, barhäuptig, an der Spitze eines Trupps von Franzosen, aus dem Wald heraus gekommen und auf die Kirche zugegangen sei, auf der leeren Straße, mitten durchs ausgestorbene Dorf, aber durch die Fenster habe doch mancher und manche heimlich und furchtsam gespäht. Der Förster, und die torkelnden und johlenden Franzosen, die betrunken schienen, und von denen manche Stemmeisen und Hämmer trugen, und Weinflaschen, und auch Flaschen voll weißen Wassers (es war nicht Quellwasser, natürlich nicht, scharfes Zwetschgenwasser war es), seien eiligst im Gotteshaus verschwunden.
Drollig sei es anzuschauen gewesen, daß dem gröhlenden Haufen der zahme Rehbock des Försters sich angeschlossen hatte, mit seinem jungen Gehörn auf die Franzosen wie zornig einstoßend. Nur einen der Ihren hätten sie an der Kirchentür zurückgelassen, als Wache, und ihm eine Flasche in die Hand gegeben, daß er nicht Durst zu leiden habe, und auch der Rehbock habe ihm Gesellschaft leisten müssen, am Halsband festgehalten.
In der Kirche sei eine alte Bäuerin gesessen, die sich dorthin geflüchtet hatte, als oben im Wald der Kampflärm sich erhoben, und die habe, tief in den Betstuhl gedrückt, mit angesehen, wie der Förster, ohne in der Kirche im geringsten sich aufzuhalten, seinem schlimmen Gefolge voraus, sogleich zu den Gräbern hinabgestiegen sei, aber nicht, ohne vor der Tür der Gruft, unter dem Lachen der Franzosen, geschwinde das Zeichen des heiligen Kreuzes geschlagen zu haben. Sie seien nicht lange dort unten geblieben, berichtete der alte Mann weiter, eine kleine Stunde nur, dann hätten sie wieder weg gemußt, weil schon bald darauf Gewehrfeuer zu knattern begonnen habe und die ersten österreichischen Plänkler den Berg herunter gekommen seien, und das sei ihnen von dem Aufpasser an der Kirchentür gemeldet worden, und darum hätten sie nur fünf der Platten von den Gräbern reißen können.
Und was aus dem verräterischen Förster geworden sei? wollte die helle Stimme jetzt wissen, und was der Schuft denn selber gesagt, bevor man ihn gehängt habe, hoffentlich, an den nächsten Baum? Der alte Mann sah über ihn hinweg, den Fragenden, und über uns alle hinweg, als blicke er angestrengt und beunruhigt in eine ungewiß dämmernde Vergangenheit. Der habe gar nichts mehr gesagt, antwortete er dann, kein armseliges Sterbenswörtlein mehr. Denn die ihn damals, aus den Fenstern lugend, hätten abziehen sehen, in der Mitte des französischen Trupps, es sei aber kein Offizier dabeigewesen, den Hang hinauf, in den tiefen Wald hinein, die hätten ihn auch zum letztenmal vor den Augen gehabt in diesem Leben, den Unglücksmann.
Wieder habe der Rehbock, von jedermann zu erkennen an seinem rotledernen Halsband, sich an den Schluß des traurigen Zugs gesetzt, und, weil auf dem Heimweg, vergnügt trippelnd jetzt in seinem glücklich-unwissenden Zustand. Im Wald dann habe man den Förster vermutlich totgeschlagen, und daß man ihn nicht fände, verscharrt wie ein Stück Vieh, in sorgfältiger Arbeit alle Spuren verwischend, und so sei nie die bewiesene Wahrheit ans Licht gekommen. Der Rehbock doch mußte den Soldaten entkommen sein, aber nicht zu einem sanften Ende: von wildernden Hunden gerissen fand man seinen Kadaver später in der Nähe des Forsthauses.
Natürlich hätten viele in den Dörfern ringsum es geradeheraus gesagt, der Förster habe so übel gehandelt in der Hoffnung, mit seinem Anteil an der Beute in der Fremde dann ein langes und lustiges Leben mit Braten und Wein und Weibern führen zu können, und die in Roßlarn drüben seien bei denen gewesen, die so geredet.
Der alte Mann hatte bei dem Wort Roßlarn wieder eine deutende Bewegung mit dem Daumen gemacht, und nun erinnerte sich mancher von uns, vom Platz vor der Kirche aus das Dorf erblickt zu haben, das am andern Ufer der Donau lag. Aber die Männer hier am Ort, sprach er dann weiter, alles Leute, die den Förster gut gekannt hätten, von Kindesbeinen an, die hätten so etwas nicht geglaubt, auch die Frauen nicht, und die Mädchen nicht, und die schon gleich gar nicht, die hätten ja schon immer was übrig gehabt für den unverheirateten Mann, und manchmal mehr als sich ziemte. Frau Försterin zu werden hätten viele geträumt, versteht sich.
Und als wieder Friede gewesen sei im Lande, habe die Gemeinde alle männlichen Mitglieder, die Frauen natürlich nicht, die ginge so etwas nichts an, habe alle Männer also an einem Sonntagnachmittag in den großen Tanzsaal des Wirtshauses zusammen berufen, zum Gericht über den Förster, und alle seien gekommen, und stumm dagesessen voller Erwartung, und an der verschlossenen Tür hätten die Weiber neugierig gelauscht. In der ängstlichen Stille dann sei als erster der alte Lehrer aufgestanden, der dem Förster einst das Buchstabieren beigebracht hatte, und habe gesagt, es könne doch vielleicht auch so gewesen sein, daß der Förster die Franzosen nur deswegen schnurstracks in die Gruft geführt habe, um sie davon abzuhalten, die Kirche selber zu plündern, daß er sie gierig auf die Ringe gemacht habe, um Schlimmeres zu verhüten, denn gar so kostbar nun seien die auch wieder nicht gewesen, und viel weniger wert als die goldenen Geräte am Altar. So, oder so ähnlich, müsse es sich verhalten haben, und ob so oder so, oder auch ganz anders, und gleichviel wie, der Förster habe wohl seinen guten und richtigen Grund gehabt, zu handeln, wie er gehandelt habe, dessen seien sie sich alle gewiß in ihrem Herzen, wenn er sich auch nicht mehr hier vor ihnen verantworten könne.
Und alle hätten dem Lehrer beigepflichtet, mit lauten Zurufen, und Vermutungen, wie es sonst noch habe gewesen sein können, und der Pfarrer, der ja vom Beichtstuhl her den Mann am besten habe kennen müssen, der habe sich am entschiedensten für ihn verbürgt, obwohl er seiner Schürzenjägerei wegen dem frommen Herrn oft ein Ärger und Anstoß gewesen war. Und es sei keiner gewesen unter den Männern, der den Förster gemeinen Verrats für fähig gehalten, und einer nach dem andern habe sich erhoben, um für ihn zu zeugen mit einem kurzen oder langen Wort.
Der zehnjährige Bub des Wirtes habe sich unbemerkt durch eine kleine Hintertür in den Saal geschlichen gehabt, wo an der Rückwand alte Stühle, wacklig gewordene Tische und sonst Plunderzeug aufgestapelt war, dahinter er sich versteckte. Als ein Häusler, ein geringer Mann, der aber als klug und guten Rat gebend trotzdem galt, eben besonders feurig für den Förster redete, sei der Bub aufgesprungen, Stühle umwerfend, und habe laut in die Versammlung geschrieen: Er ist unschuldig, unser Förster, dreimal unschuldig! Der Schrecken über das Gepolter des stürzenden Gerümpels sei groß gewesen, und an den Donner des jüngsten Gerichtes habe man denken müssen. Der weinende Bub sei schleunigst vor die Tür gesetzt worden, wo man ihm eine Tracht Prügel versprach. Das Versprechen sei dann auch gehalten worden.
So sei es gewesen, so habe es sich zugetragen, so habe die Gemeinde Gericht gehalten über den Förster, und habe ihn frei von Schuld gesprochen, mit allen Stimmen. Und der Spruch sei ihm, und hier klopfte sich der Alte an die Brust, sei ihm und allen hier am Orte überliefert worden von den Vätern, und sei gültig für sie alle bis zum heutigen Tag und für immer.
Er war fertig mit seiner Erzählung, der Alte, und da standen wir, und wußten nicht recht, was wir sagen sollten, und bedachten den Richterspruch, und es war an uns, ob wir ihm zustimmen mochten oder nicht. Der Alte aber kümmerte sich nicht darum, und schon gar nicht mehr um den jungen Frager, der vorwitzig den Förster schon am Strick hatte baumeln sehen. Er schüttelte den Schlüsselbund, eine Aufforderung zu gehen, die wir nun schon kannten, und aufwärts stiegen wie wieder, und, ganz in Dunkel und Verlassenheit zurück sank die Gruft, und wir waren wieder im Kirchenraum, und Licht fiel durch die hohen farbigen Fenster herein, sich spiegelnd am Altar, um den die Engel sich schwangen voll Lust, und auf dem die Heiligen freudig und stolz in steifen Händen die Marterwerkzeuge hielten, unter denen sie verblutet zu ihrer Zeit. Und eine holzgeschnitzte Taube zu Füßen der heiligen Magd Notburga drehte den Kopf, die Flügel leicht gehoben, als wolle sie gleich wegfliegen.
Die bestohlenen Äbte, berichtete der Kirchendiener dann noch, vor dem Altar stehenbleibend, das heißt, was von ihnen an sterblichen Überresten noch dagewesen, mürbes Gebein und hohle Schädel, das sei dann später hier unterm Altar beigesetzt worden. Der Herr Bischof von Linz sei selber zu der feierlichen Umbettung in einem großen Schiff die Donau herabgefahren, und wo das Schiff sich gezeigt, hätten die Böller gekracht und die Kirchenfahnen geweht, und alle Glocken hätten geläutet, und viel Volk sei von weither herbeigeeilt, das Bischofsschiff zu sehen. Und überall den Strom entlang seien die Leute betend auf die Knie gefallen, Männer und Frauen, und der Bischof, hoch auf purpurnem Thron, mit Stab und Mütze habe allen, die da knieten, seinen Segen gegeben. Vorn am Schiff habe in einem silbernen Leuchter eine riesengroße Kerze gebrannt, dick und ragend wie ein Baum, von den Wachsziehern der Stadt Linz als Geschenk dargebracht, und die sei nicht erloschen auf der langen Fahrt, und habe noch eine Weile am neuen Grab der Äbte gebrannt. Und daß die Äbte nun ohne Ringe dem jüngsten Tag entgegen schlafen müßten, und es nun nicht mehr vornehmer hätten als die gewöhnlichen Mönche, das mache ihnen wohl nicht viel aus.
Eine dicke, rote Schnur war quer über den Zugang zum Altar gespannt, und an jedem Ende der Schnur hing eine riesige Quaste, und die waren wie gequollen von Blut, so sah es sich an, und wenn man sie zusammenpreßte, mußte das Blut aus ihnen fließen, wie es der Förster in Güssen hatte dahinströmen lassen müssen im schwarzen Wald, und die gleiche rote Farbe hat das Blut eines Verräters und das eines braven Mannes.
Daß noch alljährlich und bis heute eine Seelenmesse gelesen werde für den verschollenen Förster, jeweils am Jahrestag der Plünderung der Gruft, und gerade hier am Altar der Äbte, sprach der alte Mann mit Nachdruck, das geschehe nach dem ausdrücklichen Willen der Gemeinde, und in einer Stiftung von ihr für immer festgelegt. Und von den Leuten in Roßlarn dürfe sich keiner dabei blickenlassen, und das habe auch noch nie einer gewagt.
Und hiermit sei die Führung zu Ende, sagte er dann kurz abbrechend, und schulterte seinen Schlüsselring, und beugte das Knie vor dem Altar, und die Taube flog nicht auf, und die heilige Notburga lächelte gnädig und vieles wissend, und an der Kirchentüre wartend entließ er uns, und nahm, mit gelassenem Dank das Trinkgeld, und vergab sich nichts dabei.
Wir traten aus dem Dämmern der Kirche ins volle Licht des Tages, und standen wie geblendet zuerst, und vom erhitzten Pflaster stieg die Glut. Dann gewöhnten sich die Augen an das mächtige Leuchten, und erblickten die Hügel der Wachau, die trugen ihren Wein und kochten ihn an der Sonne, die Wälder rauschten im Dunst, die Donau blinkte grün herauf, und von Roßlarn drüben, das wie aus Gold gebaut sich hob, ungläubig und glänzend, schlug die Turmuhr drei dunkel hallende Schläge.
Der junge Frager, der dem Förster den Strick des Verräters zugedacht gehabt hatte, als er allein die leere staubige Straße zum Wirtshaus hinaufstieg, zwischen weiß gekalkten, stummen Häusern – die Dorfleute waren alle an der Arbeit in den Weinbergen – und ein Klirren und Rasseln vernahm, wie von Waffen, der glaubte schon im zitternden Licht den Förster zu sehen, inmitten der Soldaten, und wie er ihn lächelnd und ein wenig verächtlich anblickte, aber dann war es nur ein junges Frauenzimmer, das, einen Karren vor sich herschiebend, um die Ecke bog und den Wanderer grüßte. Der erzählte davon mit seiner hellen Stimme uns allen abends beim Wein dann.
Einem Manne, der Heinrich Kruch hieß, einem neunundsechzig Jahre alten, unverheiratet gebliebenen Steuerverwalter, seit vier Jahren im Ruhestand lebend, war es zu einer lieben Gewohnheit geworden, fast täglich die städtische heimatkundliche Sammlung aufzusuchen, gemächlich von Schaukasten zu Schaukasten zu wandeln, bald in einer dämmernden Ecke vor einem nachgedunkelten Bild zu verweilen, bald vor Spießen und Schwertern zu stehen und zu staunen, und mancher Rostfleck darauf schien ihm ein Blutstropfen zu sein, schaurige Erinnerung an das Geschäft der eisernen, oder er träumte es sich wenigstens so, und wie ein Traum nur war sein Lebens schon lang.
Er hatte seine Lieblingsstücke in der Sammlung. Ein dottergelber Kanarienvogel war darunter, der in einem Käfig auf der Stange saß, in seinem Kleid aus echten Federn, den kleinen Kopf drehen und singen konnte, und in nichts von einem lebendigen Tier sich unterschied, obwohl es natürlich nur eine kunstvolle biedermeierliche Arbeit war. Er setzte sich gern, der alte Mann, auf eine gepolsterte Ruhebank und lauschte den Trillertönen geschlossenen Auges, und wenn der Gefiederte zu Ende war mit seinem Gesang, und verstummend erstarrte, dann brachte er, und das war erlaubt, das Räderwerk wieder in Tätigkeit: stolz erhob der Vogel wieder den Kopf, und wieder sang er sein Lied, und daß es immer das gleiche war, erfreute das Herz des Einsamen.
Dann ging er weiter, vorbei an alten Fahnen, deren verschossene Seide edel glänzte, manche gebauscht schienen von einem unspürbaren Wind, an Zunftzeichen vorbei, und ein aus Kupfer getriebener Fisch gefiel ihm immer besonders, ein Karpfen sollte es wohl sein, mit Glotzaugen und breitem Maul, und die Schuppen leuchteten wie Gold. Und ein mächtiges Glasgehäuse war aufgebaut, in dem standen lebensgroße Puppen mit starr lächelnden Gesichtern, und trugen die Kleider vergangener Tage. Die Kleider waren nicht zu beispielhaften Zwecken eigens gefertigt worden, es waren Stücke, die lebende und lachende Frauen einst am Leib gehabt hatten, und es mochte geschehen, daß eine weißhaarige Dame mit Rührung ihr Brautkleid betrachtete, das sie der Sammlung geschenkt hatte, und das auch der immer jungen Puppe, die es jetzt trug, nicht übel zu Gesicht stand, fand die verwelkte Frau.
Abends, in seinem bescheidenen Zimmer, wenn Kruch sein kaltes Essen verzehrt hatte, und eine Flasche Bier dazu getrunken, oder auch deren zwei, und das Alleinsein ihn bedrücken wollte, gab er sich, Ausführender zugleich und Zuhörer, eine kleine Vorstellung manchmal. Er drehte und ruckte zierlich den Kopf, wie es der künstliche Gefiederte auf seiner Stange tat, und pfiff sein Lied, und er traf das Trillern und Schmettern so genau, daß jeder ihn hätte bewundern müssen, der ihn hörte, aber es war ja niemand da, es zu tun.
Er hatte Freunde gehabt, oder was sich so nennt, wenige nur, die waren ihm weggestorben, und im Wirtshaus zu sitzen hatte ihm nie gefallen. Er war ehelos geblieben, hatte wohl Frauen gekannt, früher, aber es war nie die Rechte zu ihm gekommen, oder er zu ihr, und wenn manchmal dämmernd aus der Vergangenheit ein Bild aufstieg, ein junges Gesicht, fernher grüßend, sich zu ihm neigte, und er wohl auch Wehmut verspürte und etwas der Reue Ähnliches, so wußte er doch immer gleich wieder, tief innen, daß er nicht geeignet gewesen wäre für ein Leben zu zweien nebeneinander, ein Alleingänger zu sein vorbestimmt, und meinte, er sei es zufrieden.
Mußte er, was selten genug geschah, notwendiger Besorgungen wegen sich in das Geschäftsviertel der Stadt wagen, wo die großen Kaufhäuser wie Burgen sich erhoben, ward ihm ganz elend und ängstlich vor dem lärmenden Treiben. Dann stand er wohl, wenn das Verkehrszeichen es so verlangte, und wartete, und viele warteten mit ihm. Er ließ den Zug von Kraftwagen und Straßenbahnen und Radfahrern vorbeiströmen, und sah durch die Scheiben der Wagen Frauengesichter mit rot gemalten Lippen, und sah die kalten Gesichter der Geschäftemacher, und gab der Schutzmann den Weg endlich frei, wurde Kruch mit einer Woge von Menschen über den Platz gespült, willenlos wie Treibholz. Wenn er, nach einem solchen Nachmittag, noch aufgeregt in die Sammlung kam, für eine Stunde wenigstens, und er schritt durch ihre still hallenden Räume, so beruhigte sich sein Herz wieder inmitten der Zeugnisse und Abbilder einer vergangenen, besseren Zeit.
An einem klaren Oktobermorgen war Kruch, ohne Ziel durch die Straßen gehend, auf den Markt geraten. Vor den Buden der Metzger hingen an eisernen Haken die rotglänzenden Kälberhälften, auf den Verkaufsbänken der Wildprethändler lagen Fasane und Rebhühner und enthäutete Hasen, rote Apfel häuften sich in Körben, und buntfarbig prahlten die Herbstblumen vor den Ständen der Gärtnereien. Gleich hinter dem Markt war eine alte Kirche, deren Turm die Fremden der schönen Aussicht wegen gerne erstiegen. Er hatte nie daran gedacht, das auch zu tun, aber heute, die Oktoberfrische hatte ihn unternehmungslustig gemacht, wollte er es. Er sah zum Himmel hinauf, der war kalt und blau und wolkenlos, und um das Turmdach schwangen sich Tauben, und er zahlte dem Pförtner das kleine Entgelt und machte sich daran, die steinerne Wendeltreppe zu erklimmen. Das dauerte lange, und ziemlich atemlos kam er oben an, stieß eine schwere, eisenbeschlagene Türe auf, und stand in der achteckigen Turmstube, in einem Schwall von Licht, das durch die offenen Fenster hereinfiel.
War es ihm schon unten am Markt von dem Glanz der Früchte und Blumen und des grellfarbigen Fleisches seltsam fröhlich zumute gewesen, so wollte es ihm hier in dem vielen Licht wie schwebend werden. Er machte ein paar rasche Schritte, es ging sich hier so leicht, fast so, als trage ihn die Lichtflut. Es entzückte ihn das weißliche Himmelblau, das er draußen sah, und leicht schwankend, als hätte er Wein getrunken, trat er an eins der Fenster heran.
Da lag drunten die Stadt, die roten Ziegeldächer leuchteten herauf, und Türme waren groß und nah um ihn. Er sah in die Straßenschluchten hinein, auf deren Grund die winzigen Menschen sich bewegten, sah den Fluß silberblitzend sich winden, und sah, wie klein die Stadt war, die er doch groß wußte, und mächtig fluteten die Wogen der Wiesen und Acker gegen sie heran. Dann rauschte es in der Luft, dicht neben seinem Gesicht, und eine Taube hing mit ausgespannten Flügeln einen Augenblick lang vor ihm, und äugte ihn an, und ließ sich dann tiefer auf einem Gesims nieder.
Kruch wandte sich wieder in die Stube zurück. Die war altertümlich eingerichtet, in der Mitte stand ein großer Tisch, und an den holzgetäfelten Wänden hingen alte Stiche, die das Stadtbild zeigten, wie es in früheren Tagen sich dargeboten hatte, auch Erinnerungstafeln an den und jenen hohen Besuch, und Kaiser und Könige sogar hatten den Turm schon bestiegen.
Und hinter Glas und Rahmen stellte eine mit Wasserfarben ausgeführte Zeichnung dar, wie ein junges Mädchen in Biedermeiertracht zwischen Himmel und Erde schwebte. Das Mädchen, sah man, hatte sich aus dem Turm gestürzt. Oben, aus dem Fenster, streckte noch jemand, vergeblich rettenwollende Arme, das Mädchen hing zierlich in der Luft, und sein Schutzengel hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und flog in trauervoller Haltung weg von der Verlorenen, deren langer, blonder Zopf in einer lieblichen Schleife sich wand. So war es, trotz seines erbärmlichen Gegenstandes, ein fast heiteres Gemälde, und darunter stand in rührenden Worten zu lesen, daß aus Liebeskummer das zweiundzwanzigjährige Fräulein von Sichlern den Sprung in die Tiefe getan habe, und Jahr und Tag und Stunde waren angegeben.
Kruch betrachtete aufmerksam die Zeichnung, das schöne, ruhige Gesicht der Schwebenden, die, über hundert Jahre war es nun schon her seit ihrem Tod, nicht älter geworden war, und ihr Haar nicht grau, und nach einem langen Blick aus dem Turmfenster stieg er nachdenklich wieder zur Erde hinab. Und da oben, auf dem Turm, hatte sich auch sein Schicksal entschieden.
Um diese Zeit, einem schönen Herbst, der klare und warme Tage brachte, vertraute sich Kruch einem Maler an, dem er täglich saß. Es war ein Mann der alten Schule, der sich bereit erklärt hatte, für einen geringen Betrag das Gesicht seines Auftraggebers auf der Leinwand, nicht viel größer als zwei Hände groß, in Farben festzuhalten. Er hatte in den ersten Sitzungen in genauer Bleistiftzeichnung jede Falte und jedes Haar nachgebildet, und war dann erst zur Farbe übergegangen. Das erforderte, daß Kruch, ohne sich zu rühren, stundenlang geduldig ausharren mußte, und er leistete das so lobenswürdig, daß ihm der alte Maler seine Anerkennung aussprach. Als das Bild endlich fertig geworden war, betrachtete Kruch mit einem leichten Schauder und nicht ohne ein Gefühl stolzen Glücks sein eigenes Gesicht, das ihm da ein wenig steif entgegensah.
Es ging nun schon auf die Novembermitte zu, aber der Himmel war um die Mittagsstunden fast noch sommerlich blau. Kruch hatte nicht viel von dem schönen Wetter, er war öfter und länger als jemals früher in der städtischen Sammlung, und die Wärter schüttelten den Kopf über den Alten, der recht wunderlich geworden war in der letzten Zeit, leise Selbstgespräche führte oder auch, so schien es, mit den Leuten sich unterhielt, die gemalt an den Wänden hingen, aber es störte ihn keiner, und es lachte auch keiner über ihn.
Eines Morgens, als Kruch erwachte, sah er vorm Fenster Flocken wirbeln, es war Dezember geworden und der Winter gekommen. Er zog sich frierend an in dem kalten Zimmer und riß ein Blatt vom Abreißkalender und murmelte: Es ist Zeit! und: Es ist der Tag! und ging, und auf der Straße wehten ihm die Flocken naß ins Gesicht.
Er hatte die Sammlung gegen neun Uhr betreten, gleich nachdem geöffnet worden war, wie der Torwart aussagte, und es war gegen zehn Uhr gewesen, als der Wärter ihn am Strick hängen sah, der an einem der zwei mächtigen Haken befestigt war, die in der Wand eingelassen waren, ein Brett zu tragen, auf dem eine große Marmorbüste stand. Kruch war tot, das sah der Wärter gleich, der im Krieg gelernt hatte, Tote von Lebenden unterscheiden zu können. Aber er kümmerte sich in seiner Aufregung nicht einmal gleich um ihn, sondern mühte sich, zuerst das Uhrwerk des Kanarienvogels abzustellen, weil es ihm unpassend schien, daß der sein Lied jetzt grausam schmetternd sang. Es gelang aber seinen zitternden Fingern nicht, und er mußte schon warten, bis das Werk abgelaufen war, und dabei wurde es ihm auch klar, daß Kruch selber noch den Vogel zum Singen gebracht haben mußte, es waren ja um diese frühe Stunde eines Wochentags sonst keine Besucher in der Sammlung.
Der kleine Sänger drehte zierlich den Hals, riß den Schnabel noch einmal weit auf, dann kam ein sanftes Räuspern, und dann schwieg er auf seiner Stange, und es war nun feierlich still in dem kleinen Saal.
Bei dem Toten fand sich, verschnürt und versiegelt, ein Päckchen, das er auf der Brust zwischen Anzug und Mantel getragen hatte. Das Päckchen, stand darauf zu lesen, war für den Leiter der Sammlung bestimmt, und enthielt ein kleines, gerahmtes Bildnis des Toten und in einem Brief die Bitte, es an der Wand gegenüber dem Käfig des künstlichen Vogels anzubringen. Und, so bat er, auf einer kleinen Tafel möge man darunter melden, daß sich hier, an seinem siebzigsten Geburtstag, Heinrich Kruch das Leben genommen, um auch nach dem Tode und für immer zu sein, im Bilde wenigstens, wo er lebend am liebsten gewesen, und der beiliegende Geldschein sei für die Kosten der Anfertigung des Täfelchens.
Unter den Papieren des alten Mannes, als man in seinem Zimmer aufräumte, war auch sein letzter Wille, und er erklärte darin, daß er, zum Freitod entschlossen, aus dem Begräbnisverein, dem er lange angehört, ausgetreten sei, wohl wissend, daß die Kirche dem Selbstmörder ein ehrliches Grab verweigere. Er sei daher Mitglied eines Feuerbestattungsvereins geworden und wünsche verbrannt zu werden, obwohl ihm diese Art, Tote in Asche zu verwandeln, gar nicht gefalle.
Die Erbschaft, ein paar Möbel und Kleidungsstücke und auch ein wenig Geld, fiel einem Neffen Kruchs zu, der in einer anderen Stadt lebte, und dieser Neffe war nicht wenig erstaunt, als ihm eines Tages die Post eine Sendung brachte, die das Bildnis eines alten Mannes enthielt und einen Geldschein. Ein beiliegender Brief gab ihm Aufklärung, und teilte ihm mit, daß der Wunsch seines Onkels, der offenbar in geistiger Umnachtung gehandelt, leider nicht habe erfüllt werden können.
So hing er sich das Bild des Greises, den er nie von Angesicht zu Angesicht gesehen, an die Wand, denn es schien ihm recht gut gemalt, und hatte vielleicht seinen Wert, der sogar steigen mochte, von dergleichen hatte man gehört.
Heinrich Kruch, zu bemitleiden nicht nur, sondern gewiß auch ein wenig und traurig zu belächeln, hatte seiner Zeit entfliehen und sich in eine kleine Unsterblichkeit retten wollen, und das Bild des adeligen jungen Fräuleins in der Turmstube war ihm zu einer süßen und unwiderstehlichen Verlockung geworden.
In dem Brief des Museumsleiters, der ja des Absonderlichen vieles zu betreuen hatte, stand zu lesen, daß er zuerst geneigt gewesen sei, zu tun, was Kruch sich erbeten hatte, aber dann seien ihm doch Bedenken gekommen, und er habe höheren Orts nachgefragt, wie er sich verhalten solle in diesem Falle, und den Bescheid bekommen: Nein!
Daß er verbrannt werden würde, war dem Heinrich Kruch zuwider gewesen, weil es den neuen, ihm verhaßten Sitten gemäß war, aber er hatte nicht bedacht, wie er manches nicht bedacht hatte, daß auch das Flammengrab in alte Zeiten zurückreicht, Altes untersinkt und dann wieder aufsteigt und sich neu nennt, weil das unbegreifliche Leben ewig im selben Kreis geht.
Schließlich, er hatte der Vereinzelung zu entkommen und in einer großen Gemeinschaft aufzugehen getrachtet, und das war ihm, anders als er es sich gedacht hatte, dann doch gelungen, wie es allen und dem Einsamsten noch gelingt, im Tod, der alle einandergesellt im ewigen Schlaf.
Er griff in die zitternden Weinranken mit seinen braunen Fingern, wie eine Adlerklaue in ein Nest voll junger, flaumbehaarter Vögel, in einen Korb aufgeregter Zappelenten oder Gänsegelbschnäbel fährt, und die grünen Blätter zischelten und schnatterten, als wollten sie: Achtung! und: Einbrecher! rufen. Aber es kam niemand, und er stieg durchs Fenster in das Schlafzimmer des Gutsbesitzers und erbrach den Kleiderschrank. Mit den schwarzbehaarten Beinen fuhr er in die gelb und weiß gewürfelten Hosen, den Schlips knotete er sich um den Hals wie einen Strick, und weil er zu kräftig ihn zuzog, röchelte er, als hinge er am Galgen. Dann erwischte er noch den hohen, steifen, glänzenden schwarzen Röhrenhut, und schlüpfte in eine Joppe, und mit dem Hut auf dem Schädel streckte er nun zuerst das eine gelb und weiß gewürfelte Hosenbein durchs Fenster, schob das andere nach, saß einen Augenblick lang witternd am Rand, rutschte durch die aufschnatternden Weinlaubzungen und machte sich davon.
Über die abendliche Landstraße trabte er zur Stadt. Der Himmel hatte noch eine tiefe, weiße Bläue, und Glocken schlugen an. Im Straßengraben standen versprengte gelbe Blumen herum. Ein paar waren wie auf einen Haufen zusammen geweht, wie vom Wind zu einem lodernden Züngelbusch zusammen getrieben. Hallo! schrie er, und kreischend wichen ihm zwei Mädchen aus, die ihn für einen Betrunkenen nahmen. Er schnaufte, die ungewohnten Hosenträger schmerzten, sein dicker Bauch wackelte, um seinen Hals der Galgenstrick flog, und seine große, hügelige Nase schnupperte, und das Selbstgespräch, das er jetzt begann, einen wirren Schwall von vielen und saftigen und krummen Worten, hörten nur die gelben Blumen. Sie verstanden nicht viel davon, nur einzelne Brocken, aber das genügte ihnen, um sich kichernd auf ihren Stielen zu drehen und zu wenden, gelenkigen Halses, und auf der Unterseite der Blätter rosa errötend.
Nun kam er an die Brücke. Unten der Fluß schwang sich in einem starken Bogen nach Süden. Er legte die Hände auf die steinerne Brüstung, drückte, drückte fest zu, vom Stein bröselte warmer Sand, und als er weiter ging, blieb der Abdruck zweier Hände zurück, gewaltig vertieft, der Daumen neben je vier Fingern, wie in Lehm eingesenkt, und es war doch harter, grauer, körniger Stein! Die Taube, die schwarzblaue, die sich in einer der Handhöhlungen niederließ, flügelschlagend, äugte ihm wichtig nach.
Er trabte weiter, die Stadt baute sich nun schon vor ihm auf, mit kleinen Häusern erst, und Kinder balgten sich auf der Straße, und schwatzende Weiber standen vor den Türen. In einem verstaubten Gärtchen, vor grün gestrichenen Tischen, saßen Arbeiter und tranken ihr Abendbier. Er setzte sich zu ihnen, und der Wirt brachte ihm den schäumenden Krug, und den nahm er, und hob ihn, und trank, und legte den Kopf weit zurück dabei, und der Hut, den er aufbehalten hatte, stieß wie ein Kanonenrohr ins Abendrot. Als er zum zweitenmal getrunken hatte, war der Krug leer, aber als er dann ging, vergaß er zu zahlen, und der Wirt schrie: Heda!, aber da begann er zu laufen, und: Zechpreller! schrie der Wirt, und Flüche und Gelächter kollerten hinter ihm drein. Das Abendrot wurde feuriger, wenn er sich umsah, loderte es wild um Himmel und Brücke. Aber bald sah er sich nicht mehr um.
Und als er tiefer in die Stadt hinein kam, und auf einem Schild eine Weinflasche abgemalt erblickte, und das Schild hing über einer Haustür, schob er sich durch die Tür, und kam in einen schwach beleuchteten Flur, und tappte sich voran, und öffnete wieder eine Tür, und stand geblendet in einem Zimmer, wo viele weiß gedeckte Tische blitzten. Er ging nicht weit in das Zimmer hinein, nur ein paar Schritte, da war ein leerer Tisch, und ein leerer Stuhl davor, und schon saß er, und hatte auch schon die Weinkarte in der Hand.
Er fuhr mit dem fetten Finger auf der Karte auf und ab, die Weinpreisleiter hinauf und hinunter, und irgendwo machte er halt. Der Kellner brachte die bestellte Sorte, es war ein schwerflüssiger, spanischer Roter, und er trank davon in langen, gurgelnden Zügen, und sah dann glücklich um sich. Am Nebentisch saß bei einem Herrn eine Dame in weißer Bluse und mit weißem Hals. Der Dicke drehte seine Kugelaugen, und winkte der Dame zu, aber sie sagte laut: Pfui! und sah beleidigt weg. Der Kellner stellte die zweite Flasche vor dem seltsamen Gast nieder, und der setzte sich breit zurecht, und es wurde ihm warm und gemütlich. Glucksend trank er seinen Wein, sah fröhlich in das rötliche Schimmern, leckte sich die Lippen, und als das weiße Dreieck drüben immer blendender wurde, nahm er seine Flasche unter den Arm, und den Hut hatte er noch immer auf dem Kopf, und schob mit dem Fuß den Stuhl vor sich her, und siedelte an den Nachbartisch über. Cäcilie, so hieß das weiße Mädchen, bog den Kopf zurück, denn ein schwerer Weindunst ging von dem Mann aus. Einen Zipfel des Galgenstricks um seinen Hals nahm er, zog, daß er wie eine Saite stramm gespannt war, befeuchtete ihn mit Wein, daß er schlüpfrig gleißte, und klimperte darauf eine stumme Melodie. Und als die Melodie am stürmischsten wurde, spritzte der Dame ein roter Tropfen der weingetränkten Saite mitten ins weiße Gesicht, mitten auf die roten Lippen, und Rot auf Rot, das sah man nicht. Vorsichtig holte sie sich mit der Zungenspitze die Weinperle, und er lachte sie mit seinen Knopfaugen so vergnügt an, daß sie ihm gut wurde und mit der kleinen weißen Hand ihm den Rücken patschte. Er aber legte seine große Hand ihr auf das Knie, und heiß wurde ihr da. Er trägt keinen Kragen! rief der Herr empört, und rümpfte die Nase, und sprach: Oft wäscht er sich nicht!
Der Dicke war schon bei der vierten Flasche, und das Gesicht Cäciliens lag an seiner Schulter, und der Herr rückte unruhig auf seinem Stuhl, und winkte dem Kellner, und sagte: Zahlen! Aber der Dicke hatte kein Geld, stellte es sich heraus, und der Herr sagte höhnisch: Ach so!, und Cäcilie geriet in Verlegenheit, und wurde rot über und über, als sie aus ihrer Börse den Betrag dann auslegte.
Auf der Straße war der Herr auf einmal verschwunden, und der Mann mit dem Röhrenhut hatte den Arm um ihre Hüfte, wie eine goldene Schlange, so fühlte sie es. Am Himmel rauchten die Sterne, und sie gingen, und kamen in die Parkanlagen, und setzten sich auf eine Bank. Die Bäume sprachen mit dem Wind und die Sträucher, und in der Tiefe lief ein Fluß, der ein sprudelndes Wort manchmal dazwischen warf. Der Dicke war wie in sich versunken, und rieb nur den Rücken an der Banklehne, wie der Eber im schwarzen Wald an den Bäumen das borstige Fell schabt. Das schwang durch den Park mit einem brummenden Ton, und der Mond stieg eilig über die Bäume herauf, neugierig zu schauen, wer so singe, und Nebel wallten, und Wasserweiber tanzten vom Fluß her, und Bocksfüßige auch, den Meister zu hören. Und als wie ein Schauspiel vor ihm und zu seiner Lust, jagten sie die Mädchen, die flohen, so tuend nur, und das huschte, und brach Zweige, und stöhnte, und Cäcilie sah zu wie in Träumen. Und ausgeträumt war, und es geschah ihr nicht zum erstenmal, der erfahrenen, und was tat schon der Dicke mit ihr, der ein Meister war, und eine Jungfrau hätte verwirren können, lilienrein und schneekeusch, mit weißem Fleisch nicht bloß, mit weißer Seele auch – selbst die hätte gezittert bei solchem Ansturm und sie erst, die weißhalsige nur? Und das Gesindel stand um die Bank, Bocksfüße und Wassermaiden, mit glühenden Augen, und lachten wie nie, und am meisten lachte oben der Mond: den schüttelte es, daß er hüpfte wie ein Ball, auf und ab.
Der Dicke winkte hinauf zu ihm, mit seinem hohen Hut, und da stob das Völkchen unten auseinander. Und es war vielleicht eine Stunde später, und der Morgen graute schon, daß einer, der ein schlafendes Mädchen über der Schulter trug, wie ein erbeutetes Reh, weit draußen, vorm Stadtrand, bei einer Weide neben einem Graben, haltmachte, und die Schlummernde ins Gras legte. Dann zog er die Hose aus, und die Joppe, und warf sie im Bogen weit über den Graben und ins Feld hinaus, und den hohen Hut hinterdrein. Neben einem schwarzen Kamin stieg die rote Sonne herauf, und das Licht brandete in goldenen Wellen einher, Kamm hinter Kamm, Wiesen und Felder überschwemmend. Ein Hase jagte vorüber.
Der dicke Mann nun, nackt nun, braun, rotbraun, dunkelkupfrig, mit Armen, dick bemuskelt, daß sie wie die Äste eines Weidenstrunks aussahen – der dunkelkupferige Mann nun schwang die Hosenträger, die gestohlenen, blauseidenen Hosenträger, schwang sie wie eine Peitsche, knallte damit, er brachte es fertig, wahrhaftig, mit den Hosenträgern zu knallen, wie ein Ziegenhirt, wie ein Kuhhirt, und schwang die Hosenträger wie eine Waffe, wie eine altertümliche, blauseidene Waffe. Der Hase, der große, gelbe Hase, verhielt zuerst einen Augenblick lang, wie gelähmt, aber dann wich die Lähmung, er sprang los, und wie sprang er los! und wie sprang der Peitschenschwinger hinter ihm drein, der große Jäger! So ging die Jagd über die Ebene, einem Wäldchen zu, das unfern war. Der Hase schoß gelb ins Unterholz, und der dicke Jäger, immer dicht hinter ihm drein, brach durch die Brombeerstauden, ihm nach ins Wäldchen, ins dunkle. Das Wäldchen zitterte, so war es anzusehen, von der Jagd, die in ihm gejagt wurde, aber der Jäger und das Gejagte waren nicht mehr zu schauen, vom Wald geborgen, nur die zitternden Bäume waren zu schauen und die wackelnden Brombeerstauden.
Cäcilie lag immer noch schlafend unter der Weide, als von einem nahen Bauernhof ein Knecht gegangen kam mit starkem Schritt. Er blieb bei ihr stehen, in ihren städtischen Kleidern eine Prinzessin für ihn, und ihr Gesicht war weiß und unschuldig mit den gesenkten Wimpern. Er stand, verblüfft, wie das sein konnte, und mit törichten Augen, daß hier eine lag und schlief, und nicht im rosa Daunenbett, und dann fiel ihm ein Witz ein, dem Witzbold, und er zog sein Hirschhornmesser aus der hinteren Tasche seiner Lederhose, und prüfte die Schneide auf dem Daumenballen, der bäuerische Kerl und Hans im Glück – wem begegnet das? – und schnitt einen Zweig von der Weide, und streifte die Blätter davon, und die Rute nun bog sich nackt und geschmeidig. Er wippte ein paarmal damit durch die Luft, daß es pfiff, mit einem hohen Ton, und mit der Spitze der Rute kitzelte er die weiße Schläferin an der Nase, das traute er sich, mehr nicht, der Tölpel, aber das fand er gehörig. Sie erwachte, niesend, und griff sich an die Nase, und sah das fremde Gesicht über sich, und setzte sich auf, und der ohne Witz jetzt war, der Knecht, sagte blöde: Guten Morgen! und mit zarter Stimme sie das auch, und knöpfte die Bluse zu. Du bist es nicht, sagte die Stimme dann, wie Glöckchen klingend, so geh doch, Schweinehirt du aus dem Märchenbuch! Erschreckt sah er sie an, die vor ihm saß, ein Engel, aus dem Himmel gefallen, die Stimme klang so und was sie sagte, und dann ging er gehorsam, einen schmalen Wiesenpfad weiter, und die Hände hatte er in die Hosentaschen gesteckt aus Verlegenheit, und die Ellenbogen abgespreizt, und durch seine gekrümmten Arme strömte das Licht wie durch Fenster. Er selbst war schwarz, war finster anzusehen, und als er sich umwandte, nach einiger Zeit, und ihr zuwinkte, war auch sein Gesicht nur ein dunkler, ungewisser Fleck, zweimal handgroß.
Es war dann ein sehr heißer Tag geworden, der diesem Morgen folgte, und Cäcilie hatte ihn im Geschäft abgesessen. auf einem kleinen Stuhl, vor einem kleinen Tisch, träumend mehr als arbeitend, und oft getadelt, aber sie hatte kaum hingehört, und auch der Abend hatte keine Kühlung gebracht, ja, fast heißer noch war es jetzt in der braunen Dämmerung. Die Weide zu suchen, unter der sie geschlafen, war sie aufgebrochen am Abend dann, und war vor die Stadt hinaus gegangen, aber hatte sie nicht mehr gefunden. Gräben liefen durch die Wiesen überall, und Weiden standen manche herum, freundliche Geschöpfe, und eine sah aus wie die andere. Und wenn sie eine fragte: Bist du es? so plapperte die: Dort drüben ist sie! – aber die war es wieder nicht, und schickte zur nächsten sie, und die eine zur andern.
So gab sie es auf, und nahm den Heimweg zur Stadt, und hatte den Mond im Rücken und vor sich das sterbende Licht des Tages, und auch der Weg, den sie ging, mußte ein anderer sein als der von heut früh, denn sie kam an einer Bauernkapelle vorbei, die sie nie noch gesehen. Der Mörtel bröckelte von ihr, Brennessel wuchsen am staubigen Eingang, und auf der morschen Gebetsbank stand ein gesprungener Tonkrug, und ein Blumenstrauß, verwelkt und gedörrt, war in dem Gefäß. Eine hölzerne Frau auf dem Altar hatte ein Kind auf dem Arm, und eine Krone aus Rauschgold schief aufgesetzt. Die leuchtete aus dem schwülen Dunkel her, und stärker noch leuchteten die Augen der Frau, und die waren aus grünem Glas und größer, als es zu dem Gesicht paßte. Von einem Gewitter, das vielleicht kommen mochte in der Nacht, war ein Windstoß voraus gegangen, und der wehte Strohhalme und Staub in den heißen, kleinen Raum, und riß die Blumen aus dem Krug, und ein Wirbel von Staub und Halmen und Blumen füllte die Kapelle, gerade als Cäcilie die Krone auf dem Haupt der Hölzernen zurecht rückte. Und auch als die hustende Cäcilie schon gegangen war, schwebte der Staub noch wie eine Wolke unter der niedrigen Decke.
In einer Mulde, nicht weit von einer Weide und einer kleinen Kapelle, aber das war schon später, schon tief in der Nacht, und das Gewitter war doch nicht gekommen, knabberten drei große Mäuse an einem hohen, schwarzen Hut. Eine hatte ein Loch in den Deckel gefressen, die zweite zerfranste die Krempe, und die dritte trennte weißzahnig das Seidenband von der Wölbung. Und als der Mond dann schon so hoch gestiegen war, daß sein Licht milchweiß die Mulde füllte, waren sie alle drei im Dunkelhohlraum des Hutes verschwunden. Nur drei Schwänze ringelten sich wie feurige Regenwürmer empor.
Und ein Hasenskelett, ein armseliges, nacktes, gebleichtes, lag noch einen Herbst lang, einen weißen Winter lang, bis wieder zum Frühjahr, unter einer Buche, und selbst die Ameisen, als es wieder Sommer geworden war, selbst die schwarzen, ekelhaften Ameisen des Wäldchens verschmähten es, an ihm noch herum zu klettern.
Damals sah ich zum erstenmal Wildschweine. Simons Vater war Förster, weit unten, an der Donau, lag sein Forsthaus, und ich war an einem schulfreien Nachmittag mit dem Rad hingefahren. Simon war mein Freund. Er hatte ein Gesicht mit sehr weißer, etwas unreiner Haut, eine große, gerade Nase, helle blaue Augen mit einem schnellen, unruhevollen Blick – und er war, weiß Gott! und alles, was recht ist! ein so wenig guter Schüler! Das war nun weiter nicht verwunderlich: er hatte ja nicht Zeit und Aufmerksamkeit genug für die Weisheit der Schulbücher, für Edleres schlug sein Herz, für Freiheit und Menschenwürde. Mächtige Gefühle bedrängten ihn, alle großen Gedanken hatte er noch einmal zu denken, auch während der Unterrichtsstunden. Stets trug er irgendein Heft, auf schlechtem, faserigem Papier schlecht gedruckt, in der Brusttasche – das handelte vom Wohnungselend in den Arbeitervierteln der großen Städte, oder von der käuflichen Liebe, und wie, das tägliche Brot zu verdienen, die Töchter der Armen den Söhnen der Reichen sich hingeben mußten auf Seide und Plüsch. Die Hefte berichteten wohl auch von dem großen englischen Naturforscher Darwin, der furchtlos die Abstammung des Menschen vom Affen lehrte, und erzählten von dem berühmten Ernst Haeckel – der hatte das Welträtsel gelöst! Die Weltsprache Esperanto zu erlernen wandte Simon mehr Fleiß auf als je für das alte, greisenhafte Latein, und Esperanto werde auch bald, sagte er, alle andern Sprachen ganz und gar überflüssig machen. Verse in der neuen Weltsprache, sagte er, und warf mir das wie einen Köder hin, weil er meine Leidenschaft für Gereimtes kannte, Verse in Esperanto, klangvoller als im hartsilbigen Gang der Sprache unserer Väter, und überall auf dem Erdball verständlich – welche Aussichten für mich und jeden, der hinfort Gedichte zu machen beabsichtige!
Er, Simon, aufgewachsen im stillen Forsthaus, hatte nie eine große Stadt in ihrem Jammer gesehen, nie auch das heiße Abessinien, in dem noch Sklavenhalter die Peitsche schwangen, und wo man den Dieben grausam die Hand abhackte, und ihnen den Stumpf dann in siedendes Öl zu tunken befahl, die Wunde zu schließen, aber was er darüber glaubwürdig gelesen hatte, erschütterte ihn zutiefst. Ein gewaltiger Zorn war in ihm über den Zustand, in dem die Welt sich befand und sträflich verharrte. Wenn etwas besonders Abscheuliches ihn beleidigt hatte, kam er zu mir, und las mir darüber vor, aus einem der Hefte, und seine Stimme bebte. Blaue Blitze zuckten aus seinen Augen, und er wollte, ich sollte mit ihm in gleicher Empörung aufglühen, und einig sein mit ihm in dem Entschluß, die Welt zu ändern. Oft sagte er mir dann auch, daß ich zu lau sei in meinen Vorsätzen, ein neues Zeitalter heraufzuführen, und wenn alle so wären wie ich, tadelte er mich, gelänge das wohl nie, und seine Schultern, manchmal ein wenig gebeugt wie unter einer Last, senkten sich dann noch tiefer.
Rot ist die Farbe der Freiheit. Darum trug Simon seit einiger Zeit mit Vorliebe einen knallroten Schlips, der wild abstach von seinem bürgerlichen blauen Anzug, und keiner der Lehrer ahnte, daß er Aufruhr ansagte, Aufruhr gegen das satte Behagen der besitzenden Klasse. Nur ich wußte um die sinnbildliche Bedeutung, und manchmal, während des Unterrichts, wenn ich zufällig zu dem Freund hinsah, griff er an die flammenfarbene Seide, wie um mir zu zeigen, worum seine Gedanken treu und unablässig kreisten.
Simon wohnte während des Schuljahres bei Verwandten in unserer Stadt, und nur zum Wochenende, und an den Sonn- und Feiertagen, fuhr er heim ins Forsthaus. Das stand, wie ich nun sah, und wie er es mir oft beschrieben hatte, nicht allein und abgeschieden im finsteren Wald, sondern zwischen den Bauernhäusern, mitten im Dorf, das der Donau entlang sich erstreckte. Der Vater Förster war im Dienst des Herzogs, wie man den kurz, ohne den Namen hinzuzufügen, überall nannte – es wußte ohnehin jeder, wer gemeint war. Der Herzog war sagenhaft reich, hatte Besitzungen da und dort in der weiten Welt, in Ungarn und Böhmen, Schlösser und Rittergüter, Gestüte und Glasbläsereien, Wälder, darin zu jagen, und Seen, darin zu fischen, und hatte sich hier, an den Hängen über dem Strom, einen großen Wildpark angelegt. In ihm hausten Wildschweine, hinter festen Zäunen, mit Futterstellen, an denen ihnen Nahrung geschüttet wurde, und der Obhut von Simons Vater waren sie anvertraut.
Der Herzog, und wer hätte ihn nicht gekannt, ging an schönen Tagen gern und ohne Begleitung durch unsere engen, finsteren Straßen. Er bewohnte am Stadtrand ein mächtiges, häßliches, gelbes Schloß aus neuer Zeit – an Wucht und Würde nicht zu vergleichen mit den gotischen Bürgerhäusern und ragenden Geschlechtertürmen der Altstadt. Der Herzog trug die Hosen hoch aufgekrempelt, daß man die buntfarbigen, seidenen Strümpfe sah, und trug Handschuhe, an denen die überlangen Lederfinger baumelten. Das sei Pariser Sitte, sagte man, und starrte ihn bewundernd an, und jeder grüßte ihn, und jedem dankte er mit gleicher Höflichkeit, den Hut zierlich schwingend: der war vorne fesch aufgeschlagen. Als ihm auf dem Bürgersteig eine Bäuerin entgegenkam, im grün-blau schillernden Kopftuch, und eine aus Holz geflochtene Kürbe auf dem Rücken, trat er auf die Straße hinab, ihr Platz zu machen – ich hatte es beobachtet! Er grüßte sie, den Hut ziehend, und mit einer kleinen Verbeugung. Ja, das ist Paris! dachte ich, denn auch der Sonnenkönig, hatte ich unlängst gelesen, pflegte vor jeder Putzfrau, die ihm in den hallenden Gängen des Schlosses Versailles begegnete, zuvorkommend sein Haupt zu entblößen.
Daß er mir die Wildschweine zeige, hatte ich Simon aufgesucht. Der Vater Förster war nicht daheim, Simons Mutter, eine kleine, sommersprossige Frau mit fest an den Kopf gebürstetem, gescheiteltem Haar, begrüßte mich mit freundlichem Eifer, und mit der Mahnung, wenigstens nicht zu spät zum Abendessen zu kommen, wenn wir schon für jetzt jede Erquickung ablehnten, entließ sie uns Ungeduldige, und wir machten uns auf den Weg in den Wildpark. Langsam schritten wir bergan, und wenn wir einmal einen Blick zurückwarfen, sahen wir unten den Strom dahinziehen durch die in der Sonne glänzende Weizenebene. Laubwald nahm uns auf, mächtige Buchen und Eichen standen wie Säulen und weit auseinander. Ihre Früchte seien willkommene Nahrung für die Säue, belehrte mich Simon. Kühl und dämmrig war es im Wald, ein grünes Licht lag auf dem Boden, und Simon führte mich einen Jägerpfad, bergauf und bergab, der kein Ende hatte. Lange wollten sich die Tiere, die wir zu sehen begehrten, nicht zeigen, und Simon unterhielt mich einstweilen damit, wie gefährlich ein alter Eber sein könne, wenn er, aus oft unerklärlichen Gründen, sich gereizt fühle, und in solcher Laune den Menschen anginge mit krummen Hauern, und wie dann nichts übrigbleibe in Todesnot, als schnell auf einen Baum zu flüchten. In Gedanken schätzte ich den Umfang der Stämme ab, und überlegte, wie ich, immer schon ein schlechter Turner, einen sollte erklettern können, wenn so ein Untier plötzlich auf uns losstürzen würde, Schaum vor dem Maul.
Geschichten fielen mir ein, wie der mittelalterliche Jäger die Sauen mit der Saufeder jagte, und vom hürenen Siegfried, und auch von der Pfalzgräfin Genoveva, die, von ihrem Gemahl verstoßen, nur mit ihrem langen Haar bekleidet, und nackt darunter in schamvoller Blöße, das Söhnlein Schmerzenreich bei sich, in einem hohlen Baume wohnen mußte, und eine mitleidige Hirschkuh versorgte sie mit Milch und ließ sich von ihr melken wie das liebe Vieh im Stall. Bei dem Gedanken an die keusche Dulderin kamen mir Simons Töchter der Armen in den Sinn, die ihren weißen Leib verkaufen müssen gegen schnödes Geld. Lang konnte ich solchen Vorstellungen nicht nachhängen, denn, während der Pfad sich wieder einmal senkte, und der blaue Falter, der uns schon ein ganzes Stück begleitet hatte, auf einmal zurückblieb, auf einem Brombeerstrauch zu rasten, begann der Freund von Friedrich Nietzsche zu reden. Er hatte in der letzten Zeit viel, wenn auch nicht von ihm, so doch über ihn gelesen, den aufbegehrenden Umwerter aller Werte, der mit dem Hammer alles beklopfe, und nichts Tönernes sei vor ihm sicher, und bräche in Scherben. Voll Bewunderung war er für ihn, aber unwidersprochen könne er es nicht hingehen lassen, daß der große, grausame Mann jegliches Mitleid verächtlich abtue als Schwäche und Entartung. Oh, wie ihn das erzürnte, ihn, den von Menschenliebe hell Entflammten, der gepeinigt wurde von den Bildern des Elends und der Ungerechtigkeit, und schlaflos lag manche Stunde deswegen in schwarzer Nacht. Die Jünglingspusteln auf seiner Stirne glühten, und ein reiner Glanz war um sein Haupt, wie wir so hinschritten, und er mir Güte und Erbarmen predigte, einem neuen Heiligen gleich. Dazu wollte es freilich nicht recht passen, daß er den christlichen Glauben, in dem er erzogen worden war, so heftig ablehnte, und ihn volksverdummend schalt, und jedem aufgeklärten Menschen ein Greuel. Der Widerspruch war ihm noch nie aufgefallen, und mir auch nicht, und oben rauschte nachdenklich der Wald.
Da geschah es, daß wir die Sauen sahen. Erregt drängte ich mich neben Simon hinter einen dicken, graurindigen Buchenstamm. Aus der Tiefe des Forstes her kam ein Trupp von Wildschweinen, einige alte, und auch Ferkel waren dabei, die klein und niedlich waren, und dunkel gestreift. Gemächlich trotteten sie einher, und wir rührten uns nicht hinter unserem Baum. Die jungen Tiere schweiften manchmal seitwärts ab, oder blieben zurück, am Boden zu schnüffeln, und im Galopp holten sie die Gefährten dann wieder ein. Die Unholde waren nicht nur zu sehen, sie waren auch zu riechen, und mir schien, ein großer, schwerer Eber, schwarzzottig, sähe tückisch und mißtrauisch aus kleinen, verklebten Augen zu uns her. Wie sie gekommen waren, verschwanden sie wieder, der Zug eilte an uns vorbei, wie einem bestimmten Ziele zu, das Laub gab unter ihren Füßen einen leichten und geisterhaften Ton von sich, und dann verschlang sie das Dunkel. Wir gingen noch eine Zeitlang weiter, aber wir begegneten keiner Sau mehr. Einmal bückte sich Simon und hob einen gelblich-weißen, matt glänzenden, wie Elfenbein aussehenden Wildschweinzahn auf und schenkte ihn mir. Ich trug ihn noch lange als glückbringendes Andenken in der Hosentasche, aber dann kam er mir doch abhanden.
Beim Abendessen war auch Simons Vater da, gar nicht försterlich anzusehen, ohne wallenden Bart, ohne Hirschfänger und grünes Hütchen, eine gedrungene, feste Gestalt, mit Simons hellblauen Augen – die hatte der Junge vom Alten! Wir aßen im Garten, unter einem Apfelbaum, die Füße im grünen Gras, am weißgedeckten Tisch. Es gab kaltes Fleisch und Butter und Bauernbrot, und dazu ein fast schwarzes Bier aus der herzoglichen Brauerei, das dick war und süß. Ich konnte es nicht lassen, ich mußte immerfort die Hände der Försterin anschauen. Sie waren voll von Sommersprossen, wie ihr Gesicht. Es war ihnen, den Eltern, lieb, daß ich gekommen war, der vertraute Freund ihres einzigen Kindes, dessen Schulzeugnisse ihnen Sorgen machten. Es verschaffte mir eine leise Beklemmung, zu merken, daß sie sich von mir eine fördernde Einwirkung auf den Sohn versprachen. Aber wie hätte ich ihm helfen können, ihm, der von den Großen des Geistes sich Rats holte über alles, und von ihnen Antworten bekam, klüger als klüger als meine? – und der hier neben mir saß, verlorenen Blicks, wenig sprechend, die Schultern gebeugt unter einer Last, die ihn eben jetzt wieder besonders schwer zu drücken schien.
Der Holunder blühte groß und üppig, und sein Duft wehte durch den Garten. Ich atmete ihn in vollen Zügen. Der Förster schenkte mir immer wieder ein, und ein schöner, leichter Rausch ergriff mich, der mich geschwätzig machte und töricht lachen. Die Försterin trank wenig und betrachtete nur liebevoll den Sohn. Wenn sie das Glas hob und der Ärmel ihres Kleides sich zurückschob, sah man, daß die Sommersprossen auch den Arm zierten. Mir gefiels! Viel später, als ich mir vorgenommen gehabt hatte, brach ich dann auf, mit einem erschrockenen Blick auf die Uhr: ich hatte keine Laterne am Rad und mußte noch vor Einbruch der Dunkelheit in der Stadt sein!
Es war ein stiller, warmer Abend. Auch über dem Dorf lag der betäubende Holunderduft, an allen Zäunen glänzten die weißen Blütenteller. Als ich das Dorf hinter mir hatte, zog sich die Straße neben der Donau hin. Rechts traten Rebenhügel heran, die letzten, die es in unserer Gegend noch gibt. Die sorgsam ausgerichteten Reihen der Weinstöcke schienen schnelle Schwenkungen zu vollführen, wie ich so an ihnen vorbeiflog. Die Sonne war im Untergehen, rosig behauchte Wolken standen im Westen. Die Straße war glatt und fest, es war eine Lust, auf ihr zu fahren. Pappeln säumten sie jetzt ein, schwarze Flammen vor dem hellblau verblassenden Himmel. Wieder gings durch ein Dorf, durch einen Schwall von Blütenduft hindurch. Auf den Bänken vor den Häusern saßen Leute und winkten mir zu, und ich winkte zurück. Es kam die lange, weiße Mauer, die mir schon bei der Herfahrt aufgefallen war. Brennesseln wuchsen zu ihren Füßen, Weinlaub hing an ihr herab, und in Abständen hatte sie hölzerne Türen. Ich hatte sie gezählt, bei der Herfahrt, es waren sechs gewesen, diesmal zählte ich nur fünf. Der Holunderduft, dachte ich, der hat mich wirr gemacht, und am liebsten wäre ich umgekehrt, mit dem Zählen neu zu beginnen.
Es war schon fast Nacht, als die Domtürme sich vor mir erhoben. Das letzte Stück durch die Stadt schob ich das Rad, und die Mondsichel leuchtete mir silbern. Als ich im Bett lag, im Halbtraum schon, trotteten die Wildschweine an mir vorbei, und ich roch sie wieder, aber da war es wie Holunderduft, der von ihnen ausging, und in der Verwunderung darüber schlief ich vollends ein.
Das Ende des Schuljahrs war herangerückt, und wir waren uns alle darüber einig, daß es Simon nicht erlaubt sein werde, mit uns in die nächsthöhere Klasse aufzusteigen, und er selber rechnete auch nicht damit, ich wußte es von ihm. Mit noch weniger Anteilnahme als sonst saß er während des Unterrichts da, und die Lehrer, die ihn schon verloren wußten, plagten ihn nicht mehr mit Fragen. Eines Morgens fehlte er, und auch tags darauf, und die folgenden Tage. Und dann verkündete der Klassenleiter mit unbewegtem Gesicht, und wir hielten vor Aufregung den Atem an, Simon sei aus der Schule ausgetreten. Ohne mehr zu sagen, fuhr dann der Lehrer mit dem Unterricht fort, und er hatte vieles an uns zu tadeln an diesem Vormittag – unsre Gedanken waren bei Simon! Es war nicht schwer, sich, was geschehen war, auszumalen, und die Wahrheit sickerte denn auch bald durch: Simon war geflohen, in die weite Welt hinaus gegangen, nach einem Abschiedsbrief an die Eltern, und die hatten die Schule verständigt. In einem Brief fragte kurz darauf der Förster bei mir an, ob ich, der Freund, Kenntnis gehabt von Simons Plänen und ob ich Vermutungen hätte, wohin er sich gewendet haben könne? Ich mußte in meinem Antwortbrief bekennen, daß er nie zu mir gesprochen hatte von seiner erschreckenden Absicht. Es kränkte mich sehr, daß er mich nicht ins Vertrauen gezogen hatte – aber das schrieb ich nicht!
Wohin mochte er sich aufgemacht haben? Nach Norden, zu den großen Städten, in denen er sich am leichtesten verborgenhalten konnte vor Nachstellungen? Ich sah ihn auf der Landstraße dahintraben, im schrägen Regen, durchnäßt, den Kragen hochgestellt. Er nächtigte in Scheunen, auf raschelndem Stroh, so mochte es sein, und wenn sein hungriger Magen knurrte, erbettelte er sich bei den Bauern eine Wassersuppe und ein Stück Brot, und mancher scheuchte ihn vielleicht mitleidlos vom Hofe, oder ließ gar den Hund von der Kette, den Landstreicher zu hetzen. Und immer regnete es dort, wo er war, wenn ich seiner gedachte, und seine Hosen waren kotbespritzt, als wäre es nicht Sommer jetzt und die Sonne glühte. Möglicherweise wollte er sich nach Hamburg durchschlagen, dort auf einem Schiff als Heizer sich zu verdingen, um die neue Welt zu erreichen, das freie Amerika. In der ersten Zeit nach seiner Flucht erwartete ich mit jeder Post einen Brief von ihm, aber keiner traf ein. Lautlos war er im Nebel und Regen verschwunden.
Die großen Ferien waren wieder einmal gekommen. Das waren acht schöne Sommerwochen, mit Streifzügen durch die schwarzen Wälder, mit Ausflügen in die Dörfer, zu den ländlichen Wirtschaften, wo wir die hölzerne Kugel nach halbvermorschten Kegeln warfen. Lange Tage brachten wir am Wasser zu, an der Donau, badend, oder wir machten Ruderfahrten auf dem Flusse Regen, und beklommen und begehrlich, heimlicher Sünde schuldig, blickten wir auf die Mädchen hin, die im begegnenden Boot saßen, hell gekleidet und kichernd. Vergessen, tief hinabgesunken war die Schule. Wir spielten Schach an trüben Tagen, und auch Tarok, und Siebzehn und vier, und Bankeln, und lasen, was uns nur irgend in die Hand kam. Dann war es Herbst geworden, Mitte September, und das neue Schuljahr begann, mit den alten Gesichtern. Neue Kreise bildeten sich, Bündnisse fielen auseinander, im Hin und Her der wechselnden Anziehungskraft. Ich schloß mich um diese Zeit enger an die zwei Brüder Holtermeier an, Söhne eines Postamtmanns. Ludwig hatte einen dünnlippigen Mund in einem durchfurchten Gesicht, das älter war als seine Jahre. Uns hatte die Begeisterung für Bücher zusammengeführt, und wir liehen uns gegenseitig von unseren Schätzen. Zwar von den Werken der alten, großen Meister ging es wie ein erkältender Hauch aus, fremd und abwehrend, und nur zögernd nahten wir ihnen, den Gewaltigen. Aber wie ein Jagdhund eine erregende Wildspur wittert, so witterten wir die neue Dichtung der Zeit: regel- und zügellos, in einer noch nie gehörten Sprache redend und singend, zog sie uns an mit unwiderstehlicher Gewalt. Daß wir beide auch Verse machten, gestanden wir einander, und sein Bruder Franz, der Rotkopf, habe es auch schon mit Glück damit versucht, verriet mir Ludwig. Da war ich denn also an die richtigen Leute gekommen! Im weißgekalkten Stübchen der Brüder, das an Einrichtung nicht viel mehr enthielt als zwei schmale Betten und einen mit geblumtem Wachstuch bezogenen Waschtisch, auf dem zwei Blechschüsseln standen, trafen wir uns oft. Noch ein Vierter wurde zugezogen, ein blonder bebrillter Junge, den ich nicht recht leiden mochte. Der, mit seinem Milch- und Kuchengesicht, besaß die alte Ausgabe einer Verslehre, und übte fleißig in den antiken Maßen – Lehrlingsarbeit, wie er sagte, und ich fand das ziemlich langweilig, und meinte, die Lerchen sängen doch auch aus frischer Brust und ohne einengende Vorschriften, und eben deswegen wegen so schön! Aber im Schach besiegte er uns alle!
Während wir andern zu scheu waren, unsre Verse laut zu sprechen, und sie uns nur gegenseitig zum Lesen gaben, liebte Ludwig es, sich mitten im Kämmerlein aufzustellen, und seine Gedichte mit Kraft und Leidenschaft, durch ausdrucksvolle Gebärden unterstützt, vorzutragen. Wir bewunderten ihn sehr darob, und das schmeichelte ihm. Bald erbot er sich, auch die Gedichte, die wir gefertigt hatten, durch seine Kunst zu gehöriger Wirkung zu bringen. Dann sprang er wohl in seiner Begeisterung auf einen Stuhl, hielt mit der linken Hand die Lehne, als wäre der Stuhl ein Pferd, in der rechten Hand das Blatt, von dem er das Gedicht ablas, es bald nah an die Augen führend, bald es hoch über seinem glühenden Haupte schwingend, und knirschte mit den Zähnen, und säuselte wie der Frühlingswind, und donnerte wie ein Sommergewitter. Mit einem Gemisch aus Stolz und Verlegenheit hörte ich so zum erstenmal laut schallend ertönen, was ich in der Stille schwarz auf weiß niedergeschrieben hatte.
Eines Tages überraschte uns Ludwig mit der Mitteilung, es sei ihm, was er lange geahnt, zur Gewißheit geworden, daß er zum Schauspieler geboren sei nämlich, und daß er sich einen Dichter geglaubt, sei nur eine törichte, jugendliche Selbsttäuschung gewesen! Hin und her überlegte er nun, was zu tun, sich den Weg zur Bühne zu bahnen. Unser städtisches Theater hatte wie alljährlich im Herbst zu spielen begonnen. Wir besuchten eifrig die Klassikeraufführungen, was die Schule erlaubte, unser fortschrittlicher Deutschlehrer sogar wünschte, weil er sich davon eine Verbesserung unseres Aufsatzstils versprach. Wir schlichen aber auch verbotenerweise zu den Stücken der Lebenden, saßen auf den Holzbänken des obersten Rangs, mit Halstüchern abenteuerlich vermummt, die Mütze tief in die Stirn gezogen, um nicht erkannt zu werden, und lauschten den neuen, wilden, gefährlichen Worten. Wir Schüler schwärmten für eine junge Schauspielerin, der man eine große Zukunft voraussagte. Sie war zart und zerbrechlich anzusehen, mit großen Augen im schmalen Kindergesicht. Der verwegene Ludwig sagte uns, daß er sie besuchen werde, um sich prüfen zu lassen von ihr. Wir erschraken, denn die Höhle eines Löwen zu betreten hätten wir eher gewagt, als uns der Rehäugigen zu nähern. Aber er setzte es ins Werk! Holtermeier schien ihm ein zu alltäglicher Name für einen künftigen Heldendarsteller, und auch gar nicht geeignet, sich mit ihm einzuführen bei der Hochbewunderten. So beschloß er, sich einen klangvollen Bühnen-Namen zuzulegen, und er wußte ihn auch schon, und sagte ihn uns: Hanns Heinz Sperber! Auf eine Besuchskarte, die er zu überreichen gedachte, schrieb er mit adlerhaften Zügen diese drei Worte, und war nun bereit, wie der Raubvogel auf das Küken, auf sein Opfer niederzustoßen. Wir drei begleiteten ihn, der einen mächtigen Blumenstrauß trug, zu dem Haus, in dem die Schauspielerin wohnte, einem hohen finstern Gebäude, von dessen Wänden der Verputz bröckelte. Bevor er durch das Tor verschwand, drehte er sich noch einmal um, und hob, die Zuversicht selber, den Blumenstrauß gegen uns.
Uns war bang zumute, grundlos, sollte sich zeigen! Wir gingen vor dem Gebäude auf und ab und starrten zu den Fenstern im zweiten Stock hinauf, dahinter das Zimmer der Rehäugigen lag, und bald war es klar, daß er vorgelassen worden war. Eine Stunde und länger harrten wir des Eroberers, dann endlich trat er aus dem Tor, unverändert, derselbe geblieben, fast wunderte es uns. Er sagte kein Wort, wölbte die Brust heraus und nahm die Schultern zurück, und wir wagten auch nicht zu sprechen. Schweigend gingen wir zur Donau hinab, und jetzt endlich begann er zu erzählen, und seine Stimme klang heiser vor Erregung. Er hatte, mit einer tiefen Verbeugung, die Karte abgegeben, und den Strauß, der gleich ins Wasser gestellt worden war, in einen schönen, geschliffenen Glaskrug. Er hatte bitteren Tee zu trinken bekommen, Tee aus Ceylon, sagte er, in winzigen Tassen, und süße Mandelplätzchen zu essen, war auf schwellenden, roten Polstern gesessen, mit nachlässig gekreuzten Beinen, und hatte, ohne zu zittern, den nahen Blick der großen Augen ertragen. Er hatte dann vorgesprochen, was er eingeübt gehabt hatte, und es hatte ihr gefallen, und er war als begabt erklärt worden, für das Fach der jugendlichen Liebhaber. Er habe erwidert, sein Wunsch sei Helden zu spielen, und sie hatte dunkel gelacht und gesagt, es würde sich schon zeigen, im Lauf der Zeit, wo seine wahre Berufung läge. Dann war er entlassen worden, mit dem menschenklugen Rat, zuerst mit einem Zeugnis den Schulbesuch abzuschließen, für alle Fälle, das sei immer gut!
Die Sonne glänzte, mächtig stand sie am Himmel, im Westen schon, in einer Stunde mußte sie untergehen, aber noch schüttete sie ihr Licht auf den Strom und über die Pappeln auf der Donauinsel. Es war im Anfang November, aber er war noch warm und voller Bläue. Mückenfahnen schwangen sich, hingen schräg her durch die windlose Stille, wie goldener Rauch. Ein Sieger, schritt Ludwig in unserer Mitte, den Kopf stolz im Nacken, die Hand noch um den Schwertgriff, nach gewonnener Schlacht! Kupfern leuchteten die roten Haare seines Bruders. Ein Fisch sprang aus dem Wasser, Silber verspritzend. Fahl rosig war das Gesicht des Blonden, von der Farbe verblühender Heckenrosen. Das Gras auf der Uferböschung, lichtumrändert, war wie metallisches Gespinst. Von einem Strudel lief ein Zitterstreifen über das Wasser, das sah aus wie hundert kleine aufblendende Spiegelblitze. Überm Strom drüben bellte ein Hund. Dreimal heulte er, so wild bekümmert und langgezogen, daß wir erschrocken einander ansahen. »Der Zerberus«, sagte der Blonde, der es mit der Antike hatte, mit einem Versuch zu scherzen, aber wir lachten nicht. »Ein gewöhnlicher Spitz«, sagte Franz, »oder ein Schnauzer«, und schnippte bös mit dem Fuß einen Kiesel ins Wasser. »Ein Wolfshund eher«, sagte Ludwig, »das muß ein großes Tier sein! Kein Spitz bellt so!« Aber der Glanz der schönen Stunden war uns verdüstert, und Ludwig ließ, für den Augenblick wenigstens, den Schwertgriff los, ich meinte es zu sehen.
Zuweilen, an den Sonntagen, fuhren Ludwig und Franz zu ihrem Onkel, oder, wie sie auch sagten, zum Leutnant. Der wohnte auf dem Lande, in der Gegend, wo Simon zu Hause war. Ein Leutnant, nun, das ist ein junger Herr, hochmütig glänzend, mit silbernen Achselstücken auf dem blauen oder grünen Waffenrock, alle Tage sah mans. Ihr Leutnant aber, wenn sie von ihm sprachen, war ein schon alter Mann, der einsiedlerisch in seinem Häuschen lebte, sich die Schuhe selber putzte, und nur einmal in der Woche für ein paar Stunden eine Zugehfrau beschäftigte. Als sie, die Neffen, einmal, und ausnahmsweise, er mochte das nicht, bei ihm übernachteten, hatte er am Morgen sich in ihre Kammer geschlichen, hatte die bestaubten Schuhe unter dem Bett der Schlafenden hervorgeholt, sie gereinigt und schwarz und glänzend gemacht, und dann vor die Tür gestellt, in Erfüllung seiner Gastgeberpflicht.
Glatzköpfig sei er, der Leutnant, berichteten sie, wenn auch nicht ganz und gar. An den Schläfen habe er noch Haare, und am Hinterkopf, und wenn er lang nicht beim Barbier gewesen, seien sogar Löckchen zu sehen. Und kleine, goldene Ohrringe trage er. Die Bauernburschen bei uns tun das auch, im Glauben, das sei gut für die Augen. Von diesem Brauch seiner Jugend sei der Leutnant nie abgewichen.
Das Häuschen, erzählten die Brüder, zwischen Weinbergen gelegen, habe nur zwei Stuben, und eine kleine Küche, in der er sein Essen selber zubereite. Auch einen Garten habe er, in dem er Tabak pflanze. Er sei stolz auf die Ernten, die er erziele, und sei ein Meister darin, die getrockneten Blätter mit Honigsäften und dem Absud von Zwetschgen zu brühen und zu würzen. Auch vermenge er seinen Eigenbau mit den vom Händler gekauften Tabaken auf die verschiedenste Weise, immer die Mischung zu haben, die ihm gerade zusage. Und war ein Raucher, der die kurze Pfeife kaum je aus den Zähnen ließ, und dampfte den ganzen Tag.
Und dann erfuhr ich auch, wie es mit seinem militärischen Rang bestellt war. Der Onkel hatte sein halbes Leben in Afrika zugebracht, in der französischen Fremdenlegion. Er war, der Sohn eines wohlhabenden Wagenmachers, als junger Mensch von Eltern und Werkstatt fortgelaufen, einer trübseligen Liebesgeschichte wegen. Treulos war sie gewesen, die Wirtstochter aus dem Nachbardorf, und in seinem Schmerz, und um das arge Frauenzimmer zu vergessen und, wie er auch meinte, es zu bestrafen, hatte er sich zum Rhein aufgemacht, und hatte dort Handgeld von einem Werber genommen. In der fremden Truppe hatte er sich emporgedient, zum Korporal, und dann sogar, was selten gelingt, zum Offizier – es hatte aber auch zwei Jahrzehnte gedauert, bis es soweit war. Seine Auszeichnungen, Kreuze und Sterne, verwahrte er in einer Blechschachtel. Er hatte den Kram, wie er ihn nannte, den Neffen einmal gezeigt und dann plötzlich die Schachtel wild geschüttelt, und sie dann wieder in die Schublade gelegt. Die verräterische Braut, wußten die Brüder von ihren Eltern, war bald nach des Onkels Verschwinden im unehelichen Kindbett gestorben. Er selber sprach zu ihnen nie davon. Jetzt, in seiner Kinderheimat, lebte er von seinem Ruhegehalt, nach manchen Gefechten gegen die braunhäutigen Wüstensöhne, die mit Pfeilen und Lanzen und Gewehrschüssen ihm nichts hatten anhaben können – aber die stechende Sonne hatte ihm die Haare vom Kopf gesengt!
Das gab es also, nicht weit von unsrer Stadt, einen Mann, der solches erlebt hatte – nur in Büchern hatte ich von dergleichen gelesen! Da ging er durch seine zwei Stuben, der einsame Kahlkopf, oder saß auf der Bank vor seinem Haus, und die weißen Sommerwolken am Himmel mochten sich ihm in die flatternden Mäntel der Berber verwandeln! Glühendes Afrika, dachte ich, und schlug die Landkarte auf. Gelbe Löwen gab es da und grüne Krokodile, und jetzt sprangen vor dem Leutnant die Barsche aus der Donau, wenn er abendlich sich dort erging. Gelber Löwe, dachte ich, und der duckte sich zum Sprung. Wölbig breit war seine Brust, und zottelmähnig, schmal und hungrig dehnten sich seine Flanken, es glühten seine Augen groß und kugelhaft im bärtigen Gesicht. Mit dem Schwanz peitschte er den Wüstensand, Schlag auf Schlag, und immer schneller, einen Trommelwirbel, bis ihn der Staub verhüllte. Ich las die Namen der Berge und Flüsse auf der Karte, und die Namen der Städte Biskra und Sidi Bel Abbes, und wie auf einem Bilderbogen sah ich es vor mir: Moscheen und Paläste, den Märchenerzähler im Schatten des Tors, sich bäumende Rosse, von Menschen wimmelnd die Basare, und mitten unter ihnen, puppenhaft klein, den Leutnant in glänzenden Schaftstiefeln, und goldene niederbayrische Ringe in den Ohren.
Daß er den Wein gern trinke, der um ihn herum gedeihe, er, der Erfahrene, der doch den von der afrikanischen Sonne gekochten Rotwein oft im Becher gehabt hatte, erzählte Ludwig und sagte, er lobe die Festigkeit und würzige Säure des hellgrünen heimatlichen Rebensafts. Ich hatte es immer schon als Auszeichnung empfunden, daß ein paar trotzige Weinberge bei uns noch ausharrten, und daß der weltkundige Mann ihn schlürfen mochte, den Säuerling, über den mancher Spottvers umging, bestärkte mich in meinem Stolz über die Trauben- und Obstlandschaft, über das milde, gesegnete Gelände, dort unten am Strom.
In unserer Stadt gab es nicht nur blauröckige Soldaten, die waren vom Fußvolk, es gab auch die leichten grünen Reiter. Zu den Pferderennen, die alljährlich im Sommer stattfanden, fuhr stets auch das Herzogpaar, in einem prunkvollen Aufzug, mit Vorreitern an der Spitze, mit goldbetreßten Dienern auf der Rückseite der Wagen und neben den Kutschern hoch am Bock. Der Herzog fuhr vierspännig, seinem minderen Range gemäß, seine Frau, die aus kaiserlicher Familie war, ihm vorauf sechsspännig. Viele der grünen Offiziere stiegen zu den Rennen in den Sattel, die blauen sahen nur zu, mit Feldstechern vor den Augen, und wahrscheinlich war ihnen unbehaglich zumut. Ich war dabei, als das Rennen geritten wurde, das so aufregend verlief. Es war ein Hürdenrennen, für Herrenreiter, die Teilnehmer waren alle Offiziere, in seidenen Renn-Uniformen, die Hosen waren natürlich aus festem Tuch, aber auch ein Buckliger ritt mit, ein Gutsbesitzer aus der Umgebung, der eine rote Kappe trug zu einer veilchenblauen, mit weißen Sternen besetzten Jacke. Schon bei den ersten Hindernissen gab es schlüsselbeinbrechende Stürze, und schwerere dann bei den Sprüngen über heckengesäumte Wassergräben, und zuletzt war nur noch der Bucklige im Feld und ein grüner Rittmeister. Ihre seidenen Kappen blähten sich im Wind. Der Bucklige hatte sich an die Spitze gesetzt. »Dieser Teufel«, sagte ein Mann neben mir, und lachte, krähend wie ein Hahn, »und dabei hat er noch die Kriegskasse auf dem Rücken.« Unter dem schallenden Jubel der Zuschauer ritt der Bucklige als Sieger durchs Ziel. »Bravo, Kriegskasse«, rief der Mann neben mir, »Bravo!« Er hatte auf den Sieg der roten Mütze gewettet, und lief, sein Geld zu holen. Der Bucklige bekam als Preis von der Herzogin einen goldenen Pokal überreicht, und er küßte ritterlich ihre Hand, während auf Bahren die Gestürzten von der Rennbahn getragen wurden, zu einem Zelt, von dem eine Flagge mit dem roten Kreuz wehte.
Der grüne Rittmeister dieses Rennens war mir oft begegnet. Er war von geschmeidiger Gestalt, in den Gelenken federnd, und mit schmalen Hüften. Sein Gesicht war von einem Aussatz verunstaltet, nässende, rötliche Bläschen bedeckten es. Von der Krankheit, die ihn so gezeichnet hatte, wurde Schlimmes getuschelt: Frucht der Sünde sei sie, und Strafe dafür! Aber man wußte, daß er ein Neffe des Bischofs war, und oft bei ihm speiste, und so schalten die Frommen, Verleumdung sei es, was man ihm nachrede. Der Rittmeister nahm dann seinen Abschied, in vollen Ehren zwar, mit der Erlaubnis zum Tragen der Uniform. Aber jedermann war es klar, daß man an höherer Stelle gewünscht hatte, nicht länger mehr ein schwäriges Antlitz über einem Uniformkragen sehen zu müssen. Der Rittmeister blieb in der Stadt wohnen, und zeigte sich hinfort in bürgerlicher Kleidung, tänzergeschmeidig wie je, und auch bei seinem Onkel, dem Bischof, speiste er noch, und diente ihm manchmal bei der Messe in der bischöflichen Hauskapelle, das blieb nicht verborgen.
Oft war jetzt neben ihm die rehäugige Schauspielerin. Uns tat es in der Seele weh, den Eber dem Reh gesellt zu sehen, so drückte Ludwig sich aus. Fröhlich plaudernd schritten die beiden nebeneinander her, und beachteten nicht die glitzernden Blicke, die sie trafen. Dicht an ihnen vorbeigehend, hörte ich einmal die Stimme des Rittmeisters. Tief und dröhnend war sie, ein rabenschwarzer Baß, wie zu einem Riesen gehörend. Daß sein verwüsteter Mund sollte die Lippen der Künstlerin berühren, es war nicht auszudenken, und Ludwig meinte denn auch, es müsse sich um eine Seelenfreundschaft handeln! Die meisten aber waren anderer Ansicht!
Einmal abends, bei einem unserer Donau-Spaziergänge, sahen wir das Paar, weit vor uns. Der volle Mond stand am Himmel, sein Licht verzauberte die Welt. Von den aufgeschichteten Brettern und Stämmen der Holzlände kam ein modrig-feuchter Geruch, und mischte sich mit dem fischigen Moosduft des Wassers. Ratten hausten in dem Holzlager, und erhielten oft Besuch von den Wasserratten, mit denen sie in Eintracht zu leben schienen. Die Wasserratten waren größer als die Landratten, fürchterliche Tiere, wenn sie naß und triefend uns über den Weg liefen. Heut ließ sich keines blicken, vielleicht scheuten sie den Mond. Die beiden Menschen vor uns gingen Hand in Hand, wie Kinder, und blieben zuweilen stehen und sahen zum Mond hinauf. Dann blieben wir auch stehen, und hörten deutlicher den Strom gegen die Ufersteine plätschern. Und dann sahen wir, wie der Mann vor uns die Arme um seine Begleiterin schloß, und sahen, wie sie unerschrocken das schwürige Gesicht küßte.
Mit dem Ende der Spielzeit verließ die Schauspielerin die Stadt, und auch der Rittmeister ward nicht mehr gesehen. Ein früherer Schulkamerad von uns, der bei einer Reisevermittlung tätig war, berichtete uns, der Rittmeister und seine Freundin hätten Bahn- und Schiffskarten nach Venedig genommen und weiter nach Athen. Trübsinnig murmelte Ludwig, als er das vernahm, etwas von Polizei und Mädchenhandel, aber der Brillenträger widersprach, immer besonnen, wie er war, und sagte, man müsse sich hüten, voreilig zu urteilen, und sagte, die Liebe überwinde eben alles, auch den Widerwillen gegen ein nässendes Gesicht, und sagte, eigentlich sei es doch großartig von der jungen Frau, und er jedenfalls werfe keinen Stein auf sie!
Zwei Jahre später, da war schon Krieg, und ich war Soldat, und als Leichtverwundeter in der Heimat, in einem Lazarett, das der Herzogin unterstand. Manchmal erneuerte sie, in Schwesterntracht, meinen Verband. Sie war nicht sehr geschickt darin, und wenn ich Ausgang hatte, ließ ich mir von einer der schwarzen Klosterfrauen, die uns betreuten, einen anderen und gut sitzenden anlegen. Die Kameraden machten es auch so, die Herzogin wird es nie erfahren haben. Es war ja gut gemeint von ihr. Damals vernahm ich auch, der grüne Rittmeister sei gefallen. Er hatte sich bei Kriegsausbruch zum Fußvolk gemeldet, näher am Feind zu sein als die unnütz gewordenen Reiter. Von der Rehäugigen hörte ich nie mehr etwas.
Ludwig, zu ihm zurückzukehren, blieb nun doch nicht bis zur Abschlußprüfung auf der Schule. Er hatte, ohne es seinen Eltern zu sagen, bei dem ergrauten Väterspieler unserer Bühne Unterricht genommen: der afrikanische Leutnant hatte ihm das Geld dafür vorgestreckt. Nun war es ihm gelungen, an eine kleine Bühne der Nachbarstadt verpflichtet zu werden, und da erst deckte er zu Hause seine Karten auf. Auch Franz, der Rotkopf, hatte von der Schule genug. Er wollte Schriftsteller werden, und er hatte, er sah es als Sprungbrett an für seinen künftigen Beruf, durch eine Zeitungsanzeige eine Stellung in einem Berliner Verlag bekommen – und so verließen mich die beiden Brüder, Glück und Ruhm zu erwerben, und ihre Eltern blickten ihnen verängstigt und ratlos nach.
Ich hatte die Schule auch schon hinter mir, als ich Ludwig dann wieder sah. Er kam mir auf der Straße entgegen, und ich staunte ihn an. Er trug einen Anzug von auffallendem Schnitt, aus einem dicken, rauhen, haarigen Stoff von braungelber Farbe. Sein Gesicht war, wie es immer gewesen, faltig, als habe es zu viel Haut, und war rot und großporig, für das Gesicht eines Vierzigjährigen konnte man es halten, aber mit den weißen Zähnen der Jugend im Mund. Und vor dem linken Auge hatte er ein randloses Einglas. Er war nie kurzsichtig gewesen, erinnerte ich mich. Weltmännisch begrüßte er mich, wir gingen nebeneinander her, und mir war es peinlich, wie die uns Begegnenden ihn neugierig, auch lächelnd musterten, aber die Ladenmädchen senkten befangen den Blick vor dem Blitz seines Einglases. Ihn kümmerte das alles nicht, er war es wohl gewohnt. In ein paar Tagen schon, erzählte er, müsse er nach Thüringen fahren, bei den Aufführungen einer Freilichtbühne mitzuwirken. Dort spiele man im grünen Wald, unter rauschenden Bäumen, vor Fels und Höhle, und manchmal sei schon mitten in der Vorstellung ein Gewitter losgebrochen, mit Blitz und Donner, aber unter ihren Schirmen hätten die Zuschauer dennoch ausgeharrt bis zum Ende, von der Kunst der regentriefenden Darsteller auf ihren Plätzen festgehalten. Ich erkundigte mich nach Franz, dem Rotkopf, und dem Leutnant. Unverändert ginge es dem, sagte er, er lebe, er rauche, der gute, afrikanische Mann, morgen wolle er ihn besuchen. Und Franz? Franz sei im Begriff, sich einen Namen zu machen! Kürzlich habe er einer angesehenen Zeitschrift ein Gedicht zum Abdruck angeboten, und hier, er holte sie aus seiner Brieftasche, sei die Antwort der Schriftleitung: angenommen! Er blieb stehen, und wies mir mit ausdrucksvollem Finger die Anschrift auf dem gelben Umschlag. Da stand, mit der Schreibmaschine deutlich hingesetzt: Franz Holtermeier, Schriftsteller.
Ludwig hatte den kostbaren Brief wieder eingesteckt. Er solle mir künftig schreiben, wie es ihm gehe, mahnte ich ihn, und er versprach es. Nach dem Brillenträger fragte ich ihn. Der sei im Zollamt einer kleinen Stadt beschäftigt, sagte er, droben im Wald, und verspreche ein Meister der vierundsechzig Felder zu werden. Das Brett nicht vor Augen, blind spielend, habe er schon manchen sehenden Gegner besiegt, und sei die Turnierhoffnung des Schachvereins, dem er angehöre. Ob der Blonde noch antikische Verse schreibe, fragte ich ihn? »Das nicht mehr«, sagte Ludwig, »man kann nicht zween Herren dienen! Man muß sich entscheiden!« Wir waren, weiterschlendernd aus der finsteren Straßenschlucht auf die steinerne Donaubrücke ins Freie hinausgetreten. Ans Brückengeländer, das aus Steinplatten besteht, uns lehnend, sahen wir zum Strom hinab, der in blauschwarzen Strudeln sich hier dreht. Ein Angler, drunten an der Uferstraße, hatte eben in diesem Augenblick einen großen, weißen Fisch aus der Flut geholt und ans trockene Land geschleudert. Der Haken mußte nicht fest gesessen haben, denn der Fisch hatte sich von ihm befreit, und strebte in schnellen blitzenden Sprüngen ins Wasser zurück. »Oh, schön!« frohlockte Ludwig. »Was mag der Fisch jetzt fühlen? Ob ers den Brüdern erzählt, was ihm geschah, in der stummen Fischsprache?« Es klang ein wenig geziert, wie ers sagte.
Als wir zum Rückweg umdrehten, lag vieltürmig die Stadt vor uns. »Das«, sagte Ludwig hindeutend, »möchte ich zeichnen können!« Der vertraute Umriß hob sich scharf und glänzend vom Himmel ab. Er bückte sich und hob einen Kastanienzweig vom Pflaster auf. Zwei, drei große Blätter waren daran, und eine noch kleine, grüne gestachelte Kugel. »Oder das«, sagte er, und sah seinen Fund durch sein Einglas fast traurig an. »Wers könnte!« sagte er voll Sehnsucht, und wieder war ein wenig Ziererei in seiner Stimme. »Aber das Leben ist lang«, sagte er, mit Genauigkeit sprechend, als stünde er auf der Bühne, »wir werden noch manches zu lernen haben!« Dann verabschiedeten wir uns, mit einer Verabredung für übermorgen, weil er ja morgen zum Leutnant fahre. »Grüß ihn von mir«, sagte ich. Er nickte und ging davon, den Zweig mit Blatt und Frucht mit sich tragend. Das Wiedersehen sollte nicht mehr sein. Am gleichen Abend kam ein Zettel von ihm, daß er unerwartet und sofort an seine Berg- und Waldbühne abberufen worden sei.
In diesem Sommer hatte ich Kurt Kurilla kennengelernt. Er war ein Maler. Manchmal, in der schönen Jahreszeit, tauchte so ein Bildermacher bei uns auf, von irgendwo her, für eine kurze Weile, der Schwalbe gleich, die kommt und geht. Dann saß ein Mann, den man nie vorher erblickt hatte, vorm Dom, oder vor einem gotisch finstern Haus, als Fremdling und andersartig gleich kenntlich, die Leinwand vor sich, den Farbkasten auf den Boden gestellt, den Pinsel bewegend. So kam auch Kurt Kurilla zu uns, heuer, im Juni.
Als er die Donaubrücke malte, hatte ich mich hinter ihn gestellt, seine Arbeit zu betrachten, und er nahm das nicht übel, sondern begann ein Gespräch mit mir. Ich traf ihn dann noch öfter. Einmal lud er mich ein, ihn zu besuchen. Er hatte ein großes Zimmer zu ebener Erde gemietet, das sein Wohn- und Schlafraum war und zugleich auch seine Werkstatt. Auf einer altertümlichen Truhe lag eine Laute, mit bunten Bändern geschmückt. An den Wänden hatte er mit Reißnägeln viele seiner Zeichnungen befestigt, auch farbige Blätter. In der Ecke stand eine mächtige Ruhegelegenheit, auf der er auch schlief, wie er sagte, und darüber hingen gekreuzt zwei krumme türkische Säbel. Er bewirtete mich mit Schnaps, und schob mir ein Kästchen mit Zigaretten zu, und einen großen, bauchigen Steintopf, in dem gelber, langfädiger Tabak war. Ein paar Pfeifen lagen daneben. Leider habe er nicht viel Zeit, sprach er, in einer Stunde müsse er fort. Er war fertig gekleidet, für eine langweilige Teegesellschaft, und darum vorher Schnaps zu trinken, sei angemessen, gab er mir zu verstehen. Er stopfte sich eine Pfeife, und bot mir auch eine an. Ich rauchte lieber eine Zigarette. Sein Teeanzug war sonderbar. Zu neuen, gelben Reithosen, zu Wickelgamaschen und derben Schuhen trug er eine dunkelblaue Joppe aus Rippelsamt, dazu ein blühweißes und bretterhart gestärktes Hemd, und um den hohen steifen Kragen schlang sich eine blaue, weiß getüpfelte Schmetterlingsbinde. Wieder schenkte er mir ein, und sein gestärktes Hemd krachte bei jeder Bewegung. »Die lieben Leutchen wollen mir ein Bild abkaufen«, sagte er, »drum hab ich mich so fein gemacht!« Er stellte sich auf die Zehenspitzen, der mittelgroße, eher kleine Mann, und holte einen Säbel von der Wand, mir die eingelegte Goldarbeit des Griffes zu zeigen. Aus Afrika habe er den Degen mitgebracht, sagte er, und schwang ihn, dort gäbe es gute Goldschmiede. Als ich ihn betroffen ansah, warf er es hin, als sei es das Alltäglichste von der Welt: »Ich war fünf Jahre in der Fremdenlegion.« Ich fand mich nicht gleich zurecht unten, zwischen Weinbergen, der Leutnant, und hier, vor mir, Kurt Kurilla, der Maler! »Nicht einmal bis zum Korporal hab ichs gebracht«, sagte er und lachte, und legte den Säbel auf das Ruhelager. »Es kann nicht jeder Leutnant werden«, antwortete ich. Er achtete nicht darauf, und goß sich ein, er trank nicht wenig. »Bei Sidi Bel Abbes«, sagte er, »das war ein Höllentag! Heut ists ja auch heiß«, sagte er, »aber damals, die Hitze, Sie können es sich nicht vorstellen. Es ging da eine Schlucht empor, eine Steinrinne, hoch hinauf, bis zum Himmel hinauf. Alles war weiß, auch der Himmel war weiß. Wir sollten hinauf, und die oben wollten das nicht, und schossen herunter. Von den Felsblöcken splitterten die Steinsplitter, Steinmetzarbeit machten sie an den Felsblöcken, hinter denen wir lagen. Wir sahen sie nicht, die Steinmetze, natürlich nicht, sie lagen in Deckung. Wir auch, hinter den Felsblöcken, aber weil wir hinauf wollten, mußten wir manchmal aufstehen, und das nützten sie aus, die oben, und machten dann nicht bloß Steinmetzarbeit. Der Tag, sage ich Ihnen, war lang. Dante, die Hölle«, sagte er, »kennen Sie das Buch? Ich nicht. Nur so vom Hörensagen. Aber damals, als die Splitter um uns sausten, dachte ich immerzu an Dantes Hölle. Das ist so«, sagte er, »bei solchen Gelegenheiten, da zwingt es einen, immer den gleichen Gedanken zu denken, als ging einem ein Mühlrad im Kopf herum. Heißer kann seine Hölle auch nicht gewesen sein als unsre Schlucht. Die brodelte wie ein Suppentopf, und wir waren das Fleisch darin. Mir ist manchmal, wir seien nie droben angekommen, und hupften und hupften, immer noch! Wie in Dantes Hölle eben! Ich wollte das Buch immer einmal lesen. Es soll aber so langweilig sein!« Er tat den Säbel wieder an die Wand, zum andern, da hingen die Waffen, gekreuzt und die goldnen Griffe blitzten.
Er goß uns beiden ein, der Schnaps war nicht gekühlt, er trank sich fad und lauwarm, aber das nahm ihm nichts von seiner Wirkung. Aus einer Schublade holte der Maler einen Packen Bilder, und warf sie klatschend auf den Tisch, wie man ein Spiel Karten hinwirft. Sie waren in Postkartengröße, abgegriffen und verblaßt. Tänzerinnen sah man da, unbekleidet, den Bauch vorgestreckt, an den Handgelenken, auch um die Oberarme, Spangen und Ringe, Schmuckgehänge in den Ohrläppchen. Zierliche Arabermädchen, eine Kette von Münzen um den Hals, bogen sich in schwülen Stellungen, und eine feiste Negerin zeigte schamlos ihr schwarzes Fleisch, die Arme hochgehoben, das Haar zu ordnen, damit die kürbis-schweren Brüste sich spannten. Liebliche Gesichter waren neben gemeinen Gesichtern, nur Frauen und immer wieder nackte Frauen waren auf den Bildern zu sehen, auch solche, die noch halbe Kinder waren, noch ohne Brust, und mit magerem Schoß. Es waren auch weiße Mädchen darunter, die meisten aber waren farbig. »Das«, sagte der Maler, und wies auf die Bilder, »trägt jeder Legionär mit sich herum, und das bringt er dann auch nach Hause mit, sonst meistens nichts. Ich habe die Säbel dort noch mitgebracht. Nun«, sagte er, »besser als nichts, man lebt!«
Es war die Zeit gekommen, aufzubrechen, er mußte zu seiner Teegesellschaft. Die Bilder ließ er liegen, wie sie lagen, zwischen den Schnapsgläsern. Ich begleitete ihn bis zur Straßenbahn, er fuhr weg, ich sah dem Wagen nach, bis er um die Ecke bog, und dann ging ich nach Haus.
Viel, viel später, mehr als ein Dutzend Jahre später, tat ich, wie verstohlen durch ein Fenster, den letzten Blick auf ihn. Ein Mann aus unserer Stadt hatte ihn als den Wirt der Künstlerkneipe zum »silbernen Nashorn« wieder erkannt, in Prag. Ein buntes Halstuch umgetan habe er die Gäste unterhalten mit Liedern, die er zur Laute sang, oder auf ihr die Wirtin begleitet, seine Frau, wenn sie auf den Tisch stieg, mit geschürzten Röcken, und jodelte. Er hatte sich einen kurzen Vollbart wachsen lassen, und wenn er sang, sei es zu sehen gewesen, daß er zahnlückig war im Liedermund. Sei er, ausruhend, in einer Ecke gesessen, habe er immerfort zu seiner Frau hin geschielt, die mit den Gästen scharmutzierte und ein zutrauliches Wesen hatte mit dem jungen Volk. Doch wenn sie rief: Sing!, habe er zu singen begonnen, gehorsam. Der Mann aus unserer Stadt, der mir so berichtete, mochte sich ihm nicht zu erkennen geben, zahlte seinen Wein, und entfernte sich.
So sollte es also mit ihm sein, viel, viel später, noch konnte er es nicht wissen, und noch war er bei uns, Kurilla, der Maler. Er lud mich nicht mehr zu sich ein, aber ich verbrachte noch manchmal eine Stunde mit ihm im Kaffeehaus. Er erzählte, während wir unser Erdbeergefrorenes aßen, von einem Leutnant der Legion, einem königlichen Prinzen aus einem Land im Norden, er nannte den Namen. Der Prinz, sagte er, sei hinten wie vorn über und über mit Tätowierungen bedeckt gewesen. »Auf der Brust«, erzählte er, »hatte der Prinz einen Löwen, der sperrangelweit das Maul aufriß, und zwei Gazellen liefen vor ihm davon. Auf dem Bauch sah man ein Segelschiff in voller Fahrt. Feuernde Kanonen und einen Kamelreiter und so Zeug hatte er, wer weiß wo überall, und das Schönste war auf seinem Rücken: eine genau gezeichnete Ansicht der Stadt Fez. Ein Meisterwerk! Ein wahres Meisterwerk!« begeisterte er sich. »Es gab richtige Künstler unter den Tätowierern«, sagte er, »die berühmt und gesucht und hoch bezahlt waren.« Er zog seinen Bleistift und zeichnete auf die weiße Marmorplatte des Tisches einen vierblättrigen Klee. »Den«, sagte er, und steckte seinen Bleistift wieder ein, »hatte sich der Prinz gerade über dem Herzen eintätowieren lassen. So einen hab ich auch.« Er knöpfte sein Hemd auf und zeigte ein Stück seiner behaarten Brust, und über dem Herzen das Glückszeichen. Wir aßen jeder noch ein Erdbeergefrorenes. Es war ein warmer Tag.
Mit dem, was mir der Maler von dem nördlichen Prinzen erzählte, hatte es seine Richtigkeit. Ich sah später sein Bild in einer Zeitschrift. Er war aus Lust am Abenteuer zur Legion gegangen, diente lang, und wollte das wilde Leben dort nicht lassen, das ihm besser gefiel, als Hofluft zu atmen. Aage hieß er.
Einmal noch, nach unserm letzten Kaffeehausgespräch, sah ich Kurilla von weitem. Er sah mich nicht. Er hatte eine Begleiterin zur Seite, eine hochgewachsene und schöne Frau, die ihren Strohhut an einem blauen Band in der Hand trug. Er redete eifrig zu ihr hinauf, und ich hörte ihr helles Lachen, und schneller schwang sie ihren Hut am Band. Kurz darauf muß er die Stadt verlassen haben.
Ludwig hielt sein Wort und schrieb. Es kam ein langer Brief von ihm, in seiner ordentlichen, genauen Schrift, mit unmäßig dicken Punkten auf dem Buchstaben i und hinter jedem Satz. Er berichtete von seiner Freilichtbühne, und daß sie bisher mit dem Wetter viel Glück gehabt hätten. Freimütig gestand er, daß er seine Namensänderung bereue, und daß er sich hinfort statt Hanns Heinz Sperber wieder Ludwig Holtermeier nennen wolle. Er freue sich schon darauf, wieder in das alte Namenskleid zu schlüpfen wie in eine bequeme, nach Maß geschneiderte Hausjoppe. Für den neuen Beruf, den zu ergreifen er sich jetzt anschicke, sei es nicht nötig, pfauenmäßig sich aufzuplustern – bei den vom äußeren Schein viel mehr abhängigen Bühnenleuten sei das etwas anderes und entschuldbar! Und kurz – er wolle Maler werden! Ich solle ihn nicht eine Windfahne schelten, schrieb er, und er glaube, mir noch mit Leistungen beweisen zu können, daß er jetzt, endlich, auf dem rechten Wege sei. Und wenn der auch noch lang und steinig und mühevoll bergauf sich krümme – oben, auf dem Gipfel, dessen sei er gewiß, wachse ihm ein Lorbeerbaum, oder ein Lorbeerbäumchen wenigstens. Sofort nach Ablauf der Spielzeit wolle er zu seinem Bruder Franz, dem Dichter, nach Berlin ziehen, um dort eine Malschule zu besuchen. Daß er das könne, verdanke er einer kleinen Erbschaft, die sie beide eben jetzt gemacht hätten, und sie stamme von dem gleichen Manne, der ihm auch schon die Ausbildung zum Schauspieler ermöglicht hatte. Der Leutnant, schrieb er, sei tot, und besonders dick und schwarz war der Punkt, den Ludwig hinter diesem Satz anbrachte. Er, der alte Soldat, der Wagenmacher, bewandert in jeder Art von Handfertigkeit, habe seines Nachbars zwölfjährigen Buben, der haben wollte, was andere auch hatten, Pfeil und Bogen geschnitzt und ein paar vergnügte Abende damit verbracht, die Waffe kunstgerecht herzustellen, nach afrikanischem Vorbild. Auch eine Scheibe habe er gemalt, mit zwölf Ringen, und dem schwarzen Zielpunkt in der Mitte, und den Knaben darin geübt, nach ihr zu schießen. Der Pfeil sei mit einer harmlosen, kurzen Eisenspitze versehen gewesen, damit er in die Scheibe eindringen könne. Einmal habe der Lehrer sich zu nahe an der Scheibe aufgehalten, den Schuß des Schülers zu beobachten, und da sei ihm der Pfeil ins Gesicht gefahren, unter die Nase, in die Oberlippe, und dort steckengeblieben. Gleich habe er ihn wieder aus dem Fleisch gerissen, und den erschrockenen Schützen getröstet, und die beiden hätten das Scheibenschießen noch eine Weile fortgesetzt, und die kleine Schramme habe der Leutnant gar nicht weiter beachtet. An Wundstarrkrampf sei er dann, nach Tagen erst, und unter großen Schmerzen, gestorben.
So schrieb Ludwig Holtermeier, und auch, daß er sein Einglas nicht mehr trage. Den Namen des Rotkopfs, den Namen Franz Holtermeier, fand ich in keiner Zeitung oder Zeitschrift, obwohl ich manch eine mit dem Gefühl aufschlug, jetzt und jetzt könne er mir entgegenspringen. Den Lorbeerbaum, oder das Lorbeerbäumchen wenigstens, beide sollten es nie zu Gesicht bekommen! Der Weltkrieg, der jetzt ausbrach, nahm ihnen beiden den Atem aus der Brust, und dem Schachspieler auch.
Im dritten Jahr nach Friedensschluß sah ich Simon wieder. Ich war wieder einmal daheim, zu Besuch im Vaterhause, da kam er. Er war älter geworden, natürlich, mir fiel es an ihm auf, und ihm an mir, wir sagten es uns. Sein Gesicht war noch immer blaß, fast weiß, von der Art, die keine Sonne bräunt, und ohne die rötlichen Pusteln auf der Stirn. Er war in Afrika gewesen, in der Fremdenlegion! Ach, vieles hatte er erlebt, als er zu erzählen begann. Er sprach von Sonne und Hitze, von langen Märschen im gelben Sand, aber die eingeborenen Völker hatten Frieden gehalten während seiner Soldatenzeit, und er hatte keinen Schuß abzugeben brauchen gegen braune Reiter im weißen Flattermantel. Sie hatten ihm rote Ledertaschen verkauft, oder die Hand der Fatme aus Silberblech, die schützt vor Ungeziefer, Krankheit, und Liebesschmach. Während des Krieges war er still behütet in Frankreich im Gefängnis gesessen – man hatte ihm nicht recht getraut, als einem Deutschen! Er war im Küchengarten beschäftigt worden, die Erde umzugraben für Kohl und Spinat, die französische Erde, die das Blut der drei Freunde zu trinken bekommen hatte. Die hatten nie so Wildes im Sinn gehabt wie er, der aufgebrochen war, freiwillig Kriegsdienst zu nehmen unter fremden Herren, im schwarzen Erdteil, und nun stand er prall und glänzend vor mir, narbenlos, und sie waren bei den Schatten.
Er war, nach dem Gefängnis, noch einmal zur Legion gegangen, nun schon ein »Alter«, der Vorrechte hatte, und hatte zuletzt ein Lager von Scheiben und hölzernen Pritschen und Fähnchen für Schießübungen zu verwalten gehabt. Als sich sein Ärmel verschob, sah ich, daß über seinem Handgelenk zwei sich schnäbelnde Tauben eintätowiert waren, von einem Blätterkranz umschlossen. »Das trägt man dort«, sagte er erklärend. Ob er auch einen vierblättrigen Klee über dem Herzen hat?, mußte ich denken.
Er werde bald heiraten, sagte Simon. Seine Eltern seien gestorben, nun sei er ganz allein, aber nicht mehr lang. Er habe eine Stellung gefunden, in einem Kalkwerk, unten an der Donau, nah seinem Heimatdorf, und sie wünschten beide sich Kinder, er und seine Braut. Er sah mich an mit seinen hellen, blauen Augen, und fragte mich: »Wirst du nicht auch heiraten? Ein kleiner Garten«, sagte er, »und Frau und Kind, was willst du mehr vom Leben?« Ich suchte die Unruhe, die in der Tiefe seines Blickes gewesen war, früher, sie war nicht mehr da. Und von der Weltverbesserung sprachen wir nicht, und nicht von Gedichten in Esperanto. Breit um die Brust war er geworden. Und jetzt zog er die Brieftasche, und zeigte mir die Bilder in Postkartengröße, die mir schon Kurt Kurilla gezeigt hatte. Sie waren wie jene abgegriffen und oft betrachtet, und die fette Negerin mit den kürbis-schweren Brüsten erkannte ich wieder. »Deiner Frau darfst du aber die Bilder nicht zeigen«, sagte ich. Er lachte, und sagte: »Ich werde sie gut verwahren.« Und sagte: »Da, eins schenk ich dir!« Es war eine nubische Tänzerin.
Auf der kleinen Donau-Insel, vom Altwasser und dem eigentlichen Strom gebildet, stand eine morsche, braune Holzhütte. Die Insel war nicht viel größer, als daß gerade diese Hütte auf ihr Platz hatte, und ein krummer, alter Weidenbaum, der seine Zweige auf sie legte. Das Eiland war mit Gras und Brennesselstauden bewachsen, und von der Uferstraße führte ein schmaler Holzsteg zu ihm, wacklig war er, ein paar Bretter bloß. Auf der Hütte war ein Holztürmchen, indem eine kleine Glocke hing. Ich habe nie gehört, daß sie geläutet worden wäre. Weiter draußen brauste der Strom. Dort rüttelte an einer eisernen Kette eine Fischerzille. In der Hütte hauste einsiedlerisch und weltverborgen der Fischer-Jakl. Alt war er und ging gebückt, und vor allem: er hinkte, daß es ein Greuel war anzusehen. Der Jakl hatte brennrotes Haar auf dem Kopf, mit weißem gemischt, und ums Kinn trug er ein wirres, räuberhaftes Gestrüpp starrender Borsten. Das sah wüst aus, und der Jakl pflegte sich auch sonst wenig. Unordentlich und ungescheitelt hing ihm das Haar tief in die Stirn herein. Er war seit langem Witwer, hatte mein Vater einmal gesagt, und ich vernahm es staunend, daß der Jakl je eine Frau gehabt haben sollte, der rote Teufel!
Oft wenn wir der Donau entlang unsere Streifzüge machten, sahen wir den Einsiedelmann vor seiner Hütte. Grün war die Insel, recht verwildert, die Weidenäste zitterten im leichten Wind, es war wie auf Robinsons Insel, dort wo er war. Mit dem Kleinmachen von Brennholz sahen wir ihn beschäftigt, schnell und gewandt das Beil schwingend, oder, und das war fremdartig und aufregend für uns, er briet überm offenen Feuer am Holzspieß sich einen Fisch. Sicher ein Hecht! wisperte einer von uns. Noch sehe ich, wie das Feuer, das sonst doch dunkelrot brennt, am hellen Tag durchsichtig und rosa loderte, und ein hellblauer Rauch wirbelte empor. Es geschah dann wohl, daß ein Mutiger unter uns einen Stein auf den alten Mann warf. Und wenn der auch nicht traf, so hatten wir doch die Genugtuung, den Jakl sich aufrichten zu sehen, die Hand vor die Augen halten, nach dem Übeltäter spähen und das Beil nach dem unsichtbaren Werfer drohend schwenken.
Dann brachen wir hinter den Bäumen, die uns deckten, in ein johlendes Gelächter aus, ihn zu ärgern, und um unsere Furcht zu beschwichtigen. Ich war nie so frech, auch einen Stein zu werfen, aber in das Gelächter stimmte ich jedesmal aus vollem Halse ein. Wenn wir ihm auf der Uferstraße begegneten, was selten der Fall war, meist am Freitag, dem Fasttag, und er auf dem Schubkarren in einer Holzbütte, von der es naß tropfte, seine Fische zum Markt brachte, beachtete er uns nicht, obwohl er in uns die steinwerfenden Feinde vermuten mochte. Gleichmütig schob er seinen Karren dahin, stärker hinkend als sonst, und wir gingen, aber im gehörigen Abstand, hinter ihm drein. Auf ein verabredetes Zeichen, eins, zwei, drei! zählte unser Anführer halblaut, schrien wir plötzlich los wie die Wilden. Das Gelächter mußte ihm bekannt vorkommen, und dann sah er sich wohl auch nach uns um. Und einmal, als er sich wendete, war mir, er fasse gerade mich fest ins Auge. So streng ruhte sein Blick auf mir, daß ich hätte rufen mögen: Ich hab nie einen Stein geworfen! Unvergeßlich war mir dieser sein Blick, unter den buschigen, roten Augenbrauen her, und mir schien, auch ich sei ihm unvergeßlich, und unter Tausenden würde er mich wiedererkennen!
Einige Zeit darauf, es war spät im Jahr, mußte ich ihm ganz allein gegenüberstehen. Es mag zu Ende des September gewesen sein, mit noch sommerlich heißen Tagen, und an einem Nachmittag, gegen den Abend schon zu, hatte sich ein Wind erhoben, ein Sturm war es. Schwarz hatte sich der Himmel bedeckt, und die Kastanienbäume an der Uferstraße orgelten gewaltig. Wir wohnten nicht weit davon. Als ich das Unwetter heraufziehen sah, war ich in den Keller gegangen, den alten, gelben Blechkübel zu holen, den ich dort stehen wußte, und hatte mich eilig zu den Kastanienbäumen aufgemacht. Am Himmel zuckten die Blitze, der Donner rollte, aber es regnete nicht. Und von den Bäumen fiel, wie ich das erwartet hatte, ein Geprassel von Kastanien. Der Wind rüttelte an den Bäumen, die Äste krümmten sich und knirschten in den Gelenken, und abgerissene Zweige und Blätter bedeckten den Boden. Auch ein Vogelnest lag auf der Straße, graufilzig. Das wäre zu anderer Zeit ein willkommener Fund gewesen, aber jetzt galt meine Begierde nur den fallenden Früchten, die ich in den Blecheimer, in dem einmal Schmalz gewesen war, zu sammeln begann. Die Hölle war losgelassen, schien mir, wenn ich nach oben sah, in das wildgewordene Geäst. Grell wie von Feuern flammte es durch das grüne Dunkel. Die Bäume peitschten mit den Ästen aufeinander ein, ein schallender Kampf der Riesen. Manchmal war mir, bösartige Affen oder wilde Waldmänner säßen in den laubigen Gewölben. Und sie bewarfen mich mit Kastanien. Es prasselte auf mich herunter, die grünen Stachelkugeln zerplatzten auf dem Boden, und die braunen Früchte sprangen aus den Schalen und kollerten davon. Schneeweiß und unberührt schimmerte die Innenseite der Schalen, weiß war auch die Unterseite der Früchte, wie mit Mehl zart bestäubt. Und es regnete nicht, keinen Tropfen, und die Hitze war groß. Die Kastanien trafen mich am Kopf, auf die Schultern, auf die Hände. Manche sprangen vom Ast mir gleich in den Kübel. Der Wind packte das abgeschlagene Grünzeug, das auf der Straße lag, und wehte es dahin. Auch das Nest nahm er mit. Ich sah ihm nach, wie es in Sprüngen davoneilte, drehend sich bis zur Mannshöhe hob, und wie es dann im Geäst eines Baumes verschwand und so wieder dort war, wohin es gehörte, im Baumlaub. Mein Blecheimer füllte sich rasch, ich hätte zwei haben können, sie wären vollgeworden. So ging der Aufruhr eine Weile. Wenn ein wütender Windstoß fauchte und mich fast umwarf, schrie ich vor Vergnügen und schwieg dann wieder, wenn der Himmel über mir einzustürzen drohte. Er stürzte nicht ein. Und kein Regen fiel, es tobte das trockene Gewitter, und Staub verklebte mir die Nase und die Augen. Als es anfing, ruhiger zu werden in den Lüften, hatte ich meinen Eimer randvoll. Wie aus einem wirren Traum erwacht, sah ich mich um, und in der Stille nun, die mich umgab, sah die grüne Verwüstung nur noch gräßlicher aus. Ich fürchtete mich ein wenig. Und dann hatte ich wahrhaftig und wirklich Grund, mich zu fürchten. Auf der Straße daher, auf der ich die ganze Zeit allein gewesen war, kam ein Mann gegangen. Er hinkte und trug in einem Netz Fische mit sich: es war der Fischer-Jakl. Plötzlich stand ich vor ihm, in der Hand am Henkel den Kübel, und lieber wäre ich vor einem der Waldmänner gestanden, die mich aus den Bäumen mit Kastanien beworfen hatten, als vor ihm. Er sah mich scharf an, und ich wußte gleich, daß er mich wiedererkannt hatte. Sein rotes Haar leuchtete, greller als die Blitze vorher. Er sagte nichts und blickte mich nur an. Ich hatte sein Gesicht noch nie aus solcher Nähe gesehen. Die rotgrauen Stoppeln umgaben sein Kinn, seine Augen bewegten sich nicht, so lang er mich ansah und ich ihn. Sein Anzug war abgeschabt und mit großen Stichen geflickt und nicht ganz sauber, und Schuppen klebten an seinen Ärmeln. Die Bäuche der Fische in seinem Netz blinkten in matter Weiße.
Da hatte ich einen rettenden Einfall. Den Eimer mit Kastanien hob ich ihm entgegen und sagte, und wunderte mich, daß meine Stimme nicht bebte, ganz klar klang: »Willst du sie haben?« Er lachte nicht und sagte nichts, den Blick nicht von mir wendend. Er nahm mir den Kübel aus der Hand, hielt ihn hoch, an die Nase, und roch an den Früchten. Ich sah, daß ihm Haare aus den Nasenlöchern wuchsen, und es war mir neu, daß die Kastanien einen Duft haben sollten, wie Veilchen etwa, oder Nelken. Er setzte den Eimer dann neben seinen Füßen nieder, öffnete das Netz, griff hinein und holte einen großen Fisch heraus, ein Rotauge, erkannte ich. »Nimm den!« sagte er. Seine Stimme war wie von jemandem, der selten spricht. Ich nahm den Fisch, der so naß und kalt war, daß es mich schauderte, und weil er mir zu entgleiten drohte, faßte ich auch noch mit der anderen Hand zu. So stand ich, den Fisch in beiden Händen vor der Brust haltend, und wagte nicht, mich zu rühren. Ich brauchte ihn nicht an die Nase zu heben wie er die Kastanien: ein Geruch von Wasser und Schilf drang zu mir empor. Er hing sich dann das Netz mit den Fischen wieder um die Schulter, nahm mit der linken Hand meinen Eimer, und mit seiner rechten Hand faßte er mich am Ohr. Seine Finger waren hart und rindig. Er begann, mir das Ohr zu drehen, es zu reiben und zu quetschen und daran zu reißen, und dann zog er mich an ihm hoch, daß ich mich auf die Zehen stellen mußte, um es nicht zu verlieren. Es tat mir weh, sehr, aber ich jammerte nicht, keinen Laut gab ich von mir, vielleicht ächzte ich ein wenig, das kann sein. Lange dauerte die Folter. Und als er mein Ohr dann losließ, hatte ich eine feurig glühende Stelle am Kopf, und die Stelle glühte noch lange. Meinen Kübel am Henkel tragend, hinkte er davon, der Folterknecht, ohne ein Abschiedswort, mit den Füßen das grüne Laubzeug wegschleudernd, das herumlag.
Er war meinen Augen entschwunden, und ich stand noch immer am gleichen Fleck, den eingetauschten Fisch in den Händen. Ich betrachtete seinen gelblichweißen Unterleib und seine mit einem roten Hornring umgebenen Augen, daher er seinen Namen hat. Der Fisch war glitschig, und ich mußte ihn krampfhaft umklammern, daß er mir bleibe. Ihn vor mir hertragend, machte ich mich auf den Heimweg.
Es war heller geworden, schon kam die Sonne, und die Donau glänzte grün her. Über der kleinen Kirche mit den Zwiebeltürmen, jenseits des Stromes, auf einer Anhöhe, hatte sich ein ungeheures Schauspiel aufgetan. Die abziehenden Wolken waren dort versammelt. Grün und rosa kreisten und wirbelten sie, in unaufhörlicher Bewegung. In allen Formen und Farben zeigten sie sich, lang gestreckt und zipflig-flatternd wie riesige Fahnen, und runde waren dabei, üppig gebauscht, und glühten mächtig wie Pfingstrosen. Hoch über dem Gewimmel hüpften kleine, weiße, fedrige Bälle und zerplatzten und bildeten sich wieder. Schweflige Lichtbahnen schossen in ein aufgerissenes Blau, und daneben wars wie eine zarte, grüne Wiese. Grün und rot und gelb, das wogte durcheinander, lieblich und unheimlich leuchtend, daß einem das Herz wehtun konnte vor lauter Sehnsucht. Die keinen Regen hatten bringen können, machten es nun mit einem Farbenspiel gut. Auch die kleine Kirche bekam davon ab. Der eine Zwiebelturm war schwarz, der andere brannte kupferrot. Und die Sonne sah zu, wie alles Gewölk schäumend und strudelnd nach Osten abzog.
Der Fisch in meinen Händen wurde immer schwerer. Ich hätte ihn den Wolken mitgeben mögen. Ich schämte mich, wenn Vorübergehende mich mißtrauisch ansahen. Da kam von der steinernen Brücke her mein Freund Martin auf mich zu, hüpfenden Ganges, wie immer. Martin saß in der Schule neben mir auf der Bank. Er hatte keinen Vater, hieß es von ihm, er hatte nur eine Mutter, die war Zugehfrau. Immer war er sauber gewaschen, hatte ein rundes Blasengelgesicht, und wenn er lachte, zeigte er vorstehende, weiße, kleine Mäusezähne. Er lachte oft. Auf seine Pausebrote, die er in die Schule mitbrachte, sahen wir verlangend, so üppig waren sie oft mit Wurst und Käse belegt, und er ließ gern davon abbeißen: knauserig war er gar nicht! Vor ein paar Tagen erst war es geschehen, daß ich gemeinsam mit ihm fürstlich gespeist hatte, vor einer Haustüre stehend, auf der Straße.
Es wurde, hatte mir Martin augenzwinkernd erzählt, in einem wohlhabenden Bürgerhaus zu einer Hochzeit gerüstet, Hasen wurde das Fell abgezogen, Gänse wurden gerupft, das Zinn mit schwarzem Zinnkraut geputzt, Schüsseln und Kannen blankgerieben, Teppiche geklopft und die Zimmer gestöbert, und seine Mutter war dabei unentbehrlich, und ohne sie wäre alles durcheinander geraten. Und weil sie sich während dieser stürmischen Woche tagsüber nicht um den Sohn kümmern konnte, brachte sie ihm, das wieder gutzumachen, allerlei Leckerbissen, fürs Fest schon vorbereitet, ans abendliche Bett. An dem großen Tag selber hatten Martin und ich der Anfahrt der Hochzeitskutschen zugeschaut. An der Spitze kam ein Schimmelgespann, darin die Neuvermählten saßen, mit blassen Gesichtern, und die Schimmel hatten nickende Blumensträuße am Kopfgeschirr. Und Wagen auf Wagen fuhr vor, denen vornehme Herren entstiegen, im Frack und den spiegelnden hohen Hut auf dem Kopf, und Frauen in herrlichen Kleidern, mit nackten Schultern, aber manche hatten ein Seidentuch darüber gebreitet. Die also Prangenden gingen ins Haus, die Damen mit gerafften Schleppen, und wir wußten, nun begannen sie zu tafeln, auf damastenen Tischdecken. Wir tafelten mit: nicht bloß so in Gedanken und neidischen Träumen, nein, wirklich! Und die damastenen Tischdecken vermißten wir nicht!
Schon nach einer kurzen Weile erschien des Freundes Mutter unter der Haustüre und brachte uns auf einem Teller von den Vorspeisen. Es waren seltsame Dinge dabei, die ich nicht kannte, eingemachte Fischchen, Krebsschwänze, Pasteten und so was, und sie schmeckten uns. Martin, im Schlemmerwesen bewanderter als ich, wußte Namen und Art zu nennen. Wir hatten den Teller noch kaum leer gegessen, als die treubesorgte Mutter schon wieder kam und uns zuraunte: hoch ginge es her! und uns eine kleine Schüssel gab, gefüllt mit ich weiß nicht was allem, Hasenbraten war dabei, verriet mir Martin, und ein paar goldgelb Hühnerbeine, die erkannte ich selber, und unsere Taschenmesser wurden fett, und unsere Finger auch. Vorsorglich hatte Martin einen Löffel eingesteckt, den zog er nun heraus, so konnten wir auch die Preiselbeeren anständig essen, im Wechsel immer jeder einen Löffel voll. Mir schienen sie zu sauer zu sein.
Es kam und ging die spendende Frau und schleppte herbei, was nur gut und teuer war, und sagte, das seien nicht etwa gestohlene Sachen, Überbleibsel und Reste seien es, wie sie vom Tische des Reichen fallen – Brosamen waren aber nicht dabei! Die Brautmutter, sagte die Zugehfrau, dürfe es wissen und lüde uns sogar ein, zum Essen ins Haus zu kommen, in den Flur oder in die Küche. Das lehnten wir aber ab und sagten, es gefiele uns so viel besser, hier, im Freien, und gerade so sei es das Richtige und gemütlich, und mit den schwarzen Fräcken wollten wir nichts zu tun haben. Und immer von neuem kam die Gute, uns zu füttern, wie die Schwalbenmutter ihre Jungen atzt, und wir sperrten die Schnäbel auf wie die hungrige Brut im Nest. Die Mutter brachte Speisen, die nicht einmal Martin kannte, und sagte fremd klingende Namen dafür. Französisch sei das, sagte sie. Sie trug eine riesige, blühweiße Schürze und hatte ein gerötetes Gesicht, und ihre große Brust wogte so heftig, daß ich mich gar nicht hinzuschauen getraute. Zu den Tortenstücken und zu den Mohrenköpfen, aus denen der Schlagrahm troff, gab es ein großes Glasvoll süßen, gelben Weines, der uns ins Blut ging und unsere Lustigkeit steigerte. Der Wein, sagte die Schwalbe, sei ja eigentlich nichts für Kinder, aber heut sei ein besonderer Tag. Das fanden wir auch. Das Eis war rot wie Feuer und gelb wie Gold, Himbeer und Vanille, und unser Löffel bekam wieder zu tun, und es hätte mehr sein dürfen – so wunderbar war es, gar nicht zu sagen!
Das Hochzeitshaus lag in einem stillen Wohnviertel, so kam selten jemand des Wegs, der uns hätte stören können. Und wenn: gegenüber, auf der andern Straßenseite, hing eine Weide ihre Äste über den Zaun eines Vorgärtchens, bis auf den Gehsteig herab, und machte uns ein grünes Versteck, in das wir eintreten konnten, und dann waren nur unsere Beine zu sehen, und nicht der Teller, von dem wir schmausten.
Die zwei großen, purpurfarbenen Äpfel aßen wir nicht, sondern steckten sie als Vorrat in die Hosentasche, aber die Bananen enthäuteten wir und verzehrten sie auf der Stelle. Ich beneidete Martin um solch eine Mutter und sagte es ihm. Was brauche er einen Vater, sagte ich, bei dieser Mutter? Und kauend nickte er ein zuversichtliches Ja.
Noch einmal, zum letztenmal kam sie, mit einer Tüte voll Erdbeeren, und sagte, wir sollten jetzt nach Haus gehen, das Mahl sei zu Ende, aber für sie finge es jetzt erst richtig an, für sie gäbe es noch zu tun, ach Gott, ach Gott, sei das ein Trubel! Und sie drückte jedem noch ein Stück Emmentaler in die Hand. Wir aßen die Erdbeeren und gingen, und aßen im Gehen den Emmentaler, und als wir damit fertig waren, holte Martin seinen Apfel aus dem Hosensack und biß hinein, und ich tat mit meinem auch so. Er hatte ein schönes, rötliches Fleisch. Am besten sei doch das Eis gewesen, sagten wir beim Auseinander gehen, gleicher Meinung, wie meistens!
Meinen Freund Martin also schickte mir ein gnädiger Zufall entgegen, als ich hilflos stand, mit dem eingetauschten Fisch vor der Brust, und fast den Tränen nahe. Ich ließ es mir aber nicht merken. Er hob die Oberlippe, daß seine Mauszähne blitzten im Blasengelgesicht, und besah sich den Geschuppten. »Ein Rotauge«, stellte er fest. Er betupfte mit dem Zeigefinger den Fisch, und fragte: »Woher hast du ihn?« Er wippte sich auf den Zehenspitzen. »Vom Fischer-Jakl geschenkt bekommen«, sagte ich die Wahrheit, die er nicht recht zu glauben schien. »So einen großen Fisch?« meinte er zweifelnd. Da hatte er recht, der Fisch war groß und schwer, mir lahmten die Arme. Martin machte mit der Hand eine drehende Bewegung. Das hießen wir: »den böhmischen Zirkel« machen! und wollten damit sagen: gestohlen! Aber er fragte nicht nach Genauerem. Er zog eine Trillerpfeife aus der Tasche, ein schönes, blitzendes Stück. Es sei aus Silber, sagte er, und pfiff darauf. Es klang schrill und durchdringend, ganz herrlich. »Tauschen wir!« sagte er dann und tupfte wieder auf den Fisch. Warum ihn der so ins Auge stach, begriff ich nicht recht. Das Rotauge ist kein edles Tier, mit seinem weichlichen Fleisch und den vielen Gräten. Aber Martin wollte es nun eben haben. Er war verwöhnt wie ein Herrensöhnchen. Wieder trillerte er auf seiner Pfeife. »Meinetwegen!« sagte ich und gab ihm das Rotauge und wischte meine Hände an der Hose ab. Dann pfiff ich auf der Pfeife, die jetzt mir gehörte. »Aus Silber«, sagte Martin noch einmal und steckte den Fisch in seine Joppentasche, mit dem Kopf voran, und weil der Fisch so groß war, ragte er lang und mit dem Schwanze baumelnd daraus hervor. »Den laß ich mir braten«, sagte er und sagte »Servus« und ging.
Ich war von Herzen froh, das Tier los zu sein, und streckte und beugte meine steifgewordenen Arme. Der Himmel war nun abendlich klar geworden, in der Tasche wußte ich meine silberne Pfeife, ich konnte zufrieden sein mit dem heutigen Tag. Als ich daheim ankam, war es schon Abendessenszeit, und auch mein Vater war schon da. »Na, wo warst du?« fragte er. Warum sollte ich nicht die Wahrheit sagen? Es war nichts Böses und Strafe Herausforderndes, was ich getan hatte. So erzählte ich von dem Sturm und von den vielen Kastanien, und daß es nicht geregnet hatte, trotz des Gewitters, und daß ich meine Kastanien mit dem Fischer Jakl getauscht hatte gegen ein Rotauge. »Was tut der nur mit den Kastanien?« wunderte sich mein Vater. »Und wo hast du den Fisch?« sagte er dann, »der gibt einen Gang mehr fürs Abendessen.« »Ach!« sagte ich leichthin, »das lumpige Rotauge, das habe ich mit dem Martin getauscht gegen eine Trillerpfeife.« Ich zog sie heraus. »Sie ist aus Silber«, sagte ich. Mein Vater sah mich an. »Zeig einmal dein Gesicht her!« sagte er, »du bist so rot um das Ohr herum!« Diesmal schien es mir besser, nicht die Wahrheit zu sagen. Mein Vater brauchte ja nicht alles zu wissen. Eine fallende Kastanie habe mich getroffen, sagte ich und fühlte wieder des Fischer Jakls rissige Hände an meinem Ohr. »Da brauchst du dann heut kein Abendessen«, sagte mein Vater, »wenn du den Fisch gegen eine Pfeife getauscht hast. Da pfeifst du eben, statt zu essen!« Meine Mutter aber sagte, ein grätiges Rotauge wäre sowieso nicht wert gewesen, daß man es gebraten hätte.
Mein Großvater wurde im Jahre 1813 geboren – das ist nun schon so lange her; ein ganzes Jahrhundert und fast noch ein halbes dazu, aber ich habe ihn noch gekannt. Sein Geburtsort ist ein großes Dorf im Bayrischen Wald. Als er geboren wurde, fürchtete man dort noch die Wölfe, die von Böhmen herüberkamen in den kalten Winternächten und hungrig heulten. Der Kienspan brannte in der Stube, darin er den ersten Laut von sich gab. Sein Vater war Bader, wie es dessen Vater und Großvater auch gewesen, und das Baderhaus hieß darum das Haus, in dem er um Mitternacht auf die Welt kam, auch Bader zu werden. Eines unterschied ihn von seinen baderischen Ahnen: die starben alle auch in dem Haus, er nicht. Ich habe das Baderhaus, das auch meiner Mutter Geburtshaus ist, später aufgesucht, zweimal, in zwei Jahren hintereinander: da war ich vierzehn Jahre alt, und fünfzehn dann. Es ist eins der größten Häuser des Orts, am Marktplatz gelegen, neben der Kirche, mit einer großen weißgekalkten Diele, weiträumig die Stuben, mit viel Licht. Der mächtige Zwiebelturm der Kirche ist schwarz geschindelt.
Als ich dort war, ein Jahrfünft nach der Jahrhundertwende, da war schon eine ganz andere Zeit, niemand dachte mehr an Wölfe. Aber Schwarzbeeren gab es in den Wäldern und Pilze. Man sammelte nur die Steinpilze, und davon wieder nur die besten, die jungen, mit den harten, dicken Köpfen. Heute sammelt man jede Art von Pilzen, Rotkappen und Pfifferlinge, und alles eben, was eßbar ist – früher nur, was gut ist. Im Baderhaus war jetzt ein Kramer, der Geißelschnüre verkaufte und Zucker, vom Zuckerhut mit einem Holzhammer heruntergeschlagen, und Pfeffer – das Geschlecht der Bader war ausgestorben, aber den Namen hatte das Haus behalten. Ich war mit dem Rad gekommen, von der Donau herauf, in vielstündiger Fahrt. Die Straßen waren gut und glatt, das machte der harte Untergrund, der Granit. Sie waren mit feinem weißem Staub bedeckt. In der Morgenfrühe, als der Tau den Staub noch näßte, blieb eine Radspur zurück, flacherhaben geprägt, wie Inschriften auf einer Münze.
Einmal, als ich rastete, unterhielt ich mich mit einem Wegmacher. Er war ein schon weißhaariger Mann in bäuerlicher Arbeitskleidung, mit einer blauen Leinenschürze darüber. Als Wahrzeichen seines Berufes trug er um seinen Hut ein Messingband, in dem das Wort »Wegmacher« ausgezackt war. Er kam mir weise und gütig vor. Manchmal glaubt man voll Schrecken, solche Leute gäbe es heut nicht mehr. Er war bartlos, mit tief eingegrabenen Falten im Gesicht, und sprach von seiner Straße, sie lobend, wie ein Pferdeknecht von seinem Pferd spricht, das er zu pflegen hat und das er liebt.
Ich fuhr dann weiter. Wald war rechts und Wald war links, wie seit Stunden schon, immer Wald, schwarz, Tannen und Fichten, unterbrochen nur von Schlägen. Die waren von wildem Strauchwerk besiedelt, das in der Sonne glühte: es war Sommer und ich fuhr in die Ferien. Auf den Schlägen gedeihen die Himbeeren, im August, und die Brombeeren, im September, auch im Oktober noch, denn dort oben reift alles spät. Das meiste der Himbeeren und der Brombeeren verdarb am Strauch, in jener üppigen Zeit damals, niemand machte sich die Mühe, sie zu pflücken. Verdarb, das ist ein recht menschlich-eigensüchtiges Wort, als wüchsen die Beeren nur, gepflückt zu werden – doch haben sie anderes im Sinn, und der ist unergründlich. Die roten Himbeeren sind riesig dort, von einer erschreckenden Süße, die schwarzen Brombeeren sind nicht so süß und sind ein wenig zartsäuerlich auch noch in der äußersten Reife. Schon in den Farben, rot und schwarz, drückt sich der Unterschied aus. Oft fällt schon Schnee, da hängen die Beeren noch dick und fett am Dornstrauch – der Winter kommt früh im Wald.
Als ich in dem Dorf dann war, im Großvater- und Mutterdorf, hatte ich eine frühe Liebe. Das Mädchen wohnte dem kleinen Bauernhof meiner Verwandten gegenüber, gleich am Dorfeingang. Sie war groß und schlank mit bräunlichen Wangen und war kein Bauernmädchen. Ihr Vater war Gendarmeriekommandant, und an seiner grasgrünen Uniform blitzten die Knöpfe. In seiner Wohnstube, gründunkelnd von den Blumen am Fensterbrett, stand ein schwarzes Ledersofa, mit weißen Nägeln beschlagen. Das Mädchen hatte keine Mutter mehr und führte dem Vater den Haushalt. Oft sprach ich mit dem schnauzbärtigen Mann, öfter als mit seiner Tochter – mit der zu sprechen fürchtete ich mich ein wenig, obwohl sie immer sehr freundlich zu mir war. Ich war noch sehr schüchtern.
Einmal, es war abends, war ich mit ihrem Vater auf dem Feld, Gras zu schneiden. Er war nur mit Hemd und der grünen Hose bekleidet und schnitt, und ich sah ihm zu. Er schnitt sein Gras mit der Sichel. Da sagte mir der alte Mann, er fürchte die Türken. Die Türken, sagte er, denk an mich, die kommen wieder! Er stand aufrecht, die Sichel in der Hand, und sah nach Osten. Sie werden ihre Rosse im Rhein tränken, sagte er. Es klang wie aus einem alten Kalender. Er hatte eine große Adlernase, wilde, weiße Augenbrauen und einen durchdringenden Blick. Sein Gesicht hatte etwas Kindliches, trotzdem. Daß ich seine Tochter liebte, wußte er nicht. Sie ahnte es, aber gesagt habe ich es ihr nie. Sie heiratete später einen Unteroffizier, der zwölf Jahre zu dienen sich verpflichtet hatte, um dann als Militäranwärter das Anrecht auf eine kleine Beamtenstelle zu haben. Schulhausmeister, Gerichtsvollzieher, Amtsdiener, die waren meist alle ehemalige Militäranwärter. Der adlernasige Kommandant hatte die gleiche Laufbahn hinter sich. Eine sichere Stellung zu haben, darauf legte man großen Wert. Mit dem Mädchen und ihrem Vater saß ich manchmal abends auf der Bank vor dem Haus, und wir sahen den Schwalben zu. Da war sie noch nicht verlobt. Als ich das Jahr darauf wiederkam, hatte sie einen Bräutigam. Er trug breite, goldene Borten am Kragen seiner blitzblauen Uniform und war ein Bild der Stärke. Er machte am Querbalken der Haustür einen Klimmzug, als sie ihn mir vorwies. Stolz sah sie ihm zu. Ich war ein Schüler, und er ein Mann in prangender Fülle.
Mein Großvater war damals schon lange tot. Die letzten fünfzehn Jahre seines langen Lebens, er wurde fast neunzig Jahre alt, hatte er bei meinen Eltern zugebracht, in der Stadt an der Donau. Ich sehe den alten Herrn noch deutlich vor mir. Er hatte volles, schönes weißes Haar, das gewellt war, und einen kurzgehaltenen weißen Vollbart. Er war immer schwarz gekleidet, und nie wieder habe ich es gesehen, daß jemand stets so spiegelnd blank gewichste Schuhe hatte. Er hatte nur weiße Hemden mit angenähtem weichen Kragen, und das war auffallend in jener Zeit, in der die Männer bretterhart gestärkte Röllchen um die Handgelenke trugen und um den Hals den hohen, steifen Kragen. Seine schwarze Halsbinde war auf eine Weise zusammengelegt, wie man es auch schon lang nicht mehr tat. Als ich später Bilder des alten Bruckner sah, erkannte ich an ihm die Halsbinde meines Großvaters wieder. Er blieb gesund und kräftig bis in seine letzten Tage, und meine Mutter sagte, er hätte leicht hundert Jahre werden können, wenn er nicht im Winter, bei seinem gewohnten Spaziergang, auf der vereisten Straße ausgeglitten wäre. Er brach sich beim Sturz den Oberschenkel, mußte lang im Bett liegen, und davon bekam er eine Lungenentzündung, an der er starb. Ich war, als er starb, sieben Jahre alt, und zum erstenmal nahm ich an einem Begräbnis teil, an seinem. Meine Mutter weinte am Grab, mein Vater auch, mir blieben die Augen trocken. Auf dem Heimweg fragte mich die Mutter dann, ob ich denn gar nicht traurig sei, weil der Großvater gestorben. Ich wußte nichts zu antworten.
Die Erinnerung zeigt ihn mir fast immer, wie er, auf der Nase die Brille, die er sonst nicht benötigte, im Lehnstuhl saß und die Zeitung las oder ein Buch. Ich verehrte ihn im stillen, aber zeigen mochte ich es ihm nicht. Vielleicht weil ich ein wenig eifersüchtig war auf einen Vetter, der es besser und schmeichlerischer mit ihm verstand. Mir hat der alte Herr wenig von seinem Leben erzählt, ich war ja auch noch zu klein. Aber durch meine Mutter weiß ich Bescheid über ihn.
Er war der älteste Sohn seines Vaters und hatte schon früh mitgeholfen, den Bauern die Haare zu schneiden und ihnen das Kinn glatt zu schaben. Nur einmal in der Woche, am Samstag, für den Sonntag schön zu sein, ließen sie sich rasieren, nur der Lehrer und der Pfarrer kamen öfter. Damals mußte, und besonders auf dem Lande, der Bader auch den Arzt ersetzen. So lernte mein Großvater es, Hühneraugen zu schneiden und den Leuten das schwerfällige Blut abzuzapfen, mit dem metallenen Schröpfkopf oder mit den schwarzen Blutegeln, und auch einen Notverband zu machen, wenn ein ungebärdiges Pferd dem Roßknecht das Schienbein zerschlagen hatte. Sein Vater wollte aber höher mit ihm hinaus, und er selber war auch ehrgeizig, so ging er auf die hohe Schule nach Landshut. Dort hörte er fleißig die Vorlesungen, lernte Latein, soviel eben, wie er für seinen künftigen Beruf brauchte. Er bildete sich in der Kräuterkunde aus, das war später seine besondere Liebhaberei, übte sich im Auflegen von heilsamen, ziehenden Pflastern und wurde tüchtig darin, einen ausgekugelten Arm wieder einzurenken und zerbrochene Rippen zu heilen. Zwei Jahre blieb er in Landshut. Dann bestand er mit Auszeichnung die Abschlußprüfung, und als ein studierter Mann kehrte er in sein Dorf zurück.
Er hatte es nun schwarz auf weiß und mit königlichem Siegel, Wundarzt und Chirurgus zu sein. Hinfort rasierte er die Bauern nicht mehr, das tat sein Vater, der stolz war auf den vielwissenden Sohn. Wenn ich meiner Mutter glauben darf, stand er bald in Ansehen, und von weither kamen die Leidenden, und er wußte Rat und Hilfe und brachte Genesung den bäuerlichen Gebresten oder wenigstens Linderung. Das Badergeschäft gab er nach dem frühen Tod seines Vaters ganz auf. Er saß in seinem Sprechzimmer, umgeben von Flaschen, die voll waren von wunderkräftigen Pflanzensäften, auf dem Tisch lagen Zangen und Scheren und Schröpfköpfe, und auf der Diele warteten die geduldigen Bauern, zu ihm vorgelassen zu werden. Er las die gelehrten Bücher seines Faches und war selber ein halber Gelehrter, sagte meine Mutter, der gedruckte Schriften herausgab über die Behandlung offener Wunden mit Kräuterverbänden und mit von ihm ersonnenen Salben. Er hatte sich dann eine Frau genommen. Er war immer eine kühle Natur gewesen, so heiratete er nicht aus Liebe. Nein, es war keine Liebesheirat, sagte meine Mutter, die es wieder von ihrer Mutter wußte. Aber die Frau brachte etwas Geld ins Haus, und es wurde eine glückliche Ehe, der Söhne und Töchter entsprossen.
An das alles dachte ich, wenn ich an dem Baderhaus vorbeiging. Die Verwandten, bei denen ich wohnte, bewirtschafteten ein kleines Gütchen. Die Tante, eine hagere Frau, war aus einer Nebenlinie des Baderhauses, hatte meine Mutter im Spaß gesagt. Die Tante war geizig, merkte ich bald, und drehte jeden Pfennig um. Ich lebte nicht umsonst bei ihr, sondern zahlte ein geringes Beköstigungsgeld. Der Onkel hatte einen langen schwarzen Vollbart, an den Rändern angesilbert, der ihm auf die Brust herabwallte. Wie ein Perser sah er aus. Mit einem kleinen Kamm, den er stets in der Westentasche trug, strählte er viele Male am Tag den Bart. In den Bart, als er noch gänzlich schwarz war, hatte sich die Tante verliebt. Das hatte mir meine Mutter erzählt, und auch, daß der Onkel in seiner Jugend ein wenig ein Tunichtgut war, von der harmlosen Art, der den Frauen nachstellte. Er war Ladendiener in einem Gemischtwarengeschäft gewesen, in einem Marktflecken drinnen im Wald, und war nicht recht vorwärtsgekommen in seinem Beruf. Da hatte er sich entschlossen, die Tante zu heiraten, und war durch sie Besitzer eines Anwesens geworden. Der ländlichen Arbeit ungewohnt, die ihm auch gar nicht gefiel, war er bald nach der Hochzeit vom Heuboden gestürzt und hatte sich dabei ein Bein so schwer und mehrfach gebrochen, daß es ihm abgenommen werden mußte. Seitdem trug er ein Kunstbein und war wenig von Nutzen auf dem Hof. Dafür arbeitete die Tante für zwei. Von der Unfallversicherung bekam er eine kleine monatliche Rente, und oft sagte er und lachte und klopfte sich auf den künstlichen Schenkel, der Sturz sei das beste Geschäft seines Lebens gewesen, und die Tante widersprach ihm nicht.
Ich schlief in einem Dachkämmerlein, das herrlich nach heißem Holz duftete. Nicht weit von dem Haus war der Dorfweiher, auf dem die Enten schwammen und tauchten. Und viele Frösche gab es in dem Weiher. Tagsüber schwiegen sie, aber wenn es dunkel wurde, erhoben sie ein wildes Getön, an- und abschwellend, wie von tausend Trommeln. Es war nicht jede Nacht so. Es gab Nächte, da lag der Weiher still und lautlos. Ich habe es nie ergründen können, warum das so war. Dann kam das Feuer. Als ich ins Bett gegangen war, hatten die Frösche nicht gesungen. Ich erwachte durch das Blasen von Hörnern und das Sturmläuten der Kirchenglocke. Durchs Fenster sah ich, als ich traumtrunken in die Höhe fuhr, einen rötlichen Schein. Ich zündete die Kerze an, die auf dem Nachtkästchen stand, schlüpfte barfuß in die Schuhe, zog mich schnell an und ging auf die Straße hinab:
Es war kurz nach Mitternacht. Die Feuerwehr kam gerade mit der Spritze. Die Feuerwehrmänner hatten gelbe Messinghelme auf dem Kopf, trugen schwarze Röcke mit roten Aufschlägen, und manche hatten gerollte Stricke um die Schultern und an den Hüften Beile. Sie konnten nicht mehr viel nützen an der Brandstätte, das Feuer hatte schon zu weit um sich gegriffen. Ich stand in der Menge der Zuschauer, und neben mir stand das geliebte Mädchen. Die Funken sausten aus dem brennenden Dachstuhl, der Wasserstrahl fuhr zischend und vergeblich in die Glut, und in der Erregung faßte ich die Hand des Mädchens, die sie mir ließ. Ich sah sie an, und der rote Schein des Feuers zuckte über ihr Gesicht. Sie trug einen hochgeschlossenen Mantel und sagte, sie sei beim Blasen der Hörner aus dem Bett gesprungen, wie ich auch, und habe nur den Mantel schnell über das Hemd gezogen. Aber es sei ja eine warme Nacht, sagte sie, und das Feuer wärme. Es wärmte uns beide. Hinter uns redeten die Leute ganz offen von Brandstiftung und munkelten, der Gschwendtner habe selber angezündet. Ich sah verzaubert und sprachlos in das Feuer hinein. Es wäre mir nur recht gewesen, wenn es stundenlang weitergebrannt hätte. Dann hätte ich noch lange des Mädchens Hand halten dürfen, die neben mir stand, nur den Mantel überm Hemd. Da stürzte krachend der Dachstuhl ein.
Am andern Morgen hörte ich, man habe den Gschwendtner, einen verschuldeten und dem Schnaps ergebenen Kleinbauern, verhaftet, und er habe, noch betrunken, wie er die Tat getan, gestanden, daß er selber Feuer an sein Haus gelegt, in der Hoffnung, durch die Versicherungssumme wieder auf die Beine zu kommen. Ich mußte an das Bein meines Onkels denken. Der Brandstifter bekam ein Jahr Gefängnis. Als ich wieder im Dorf war, ein Jahr später, war der Gschwendtner auch schon wieder da, dem mildernde Umstände zugesprochen worden waren und der seine Strafe nicht ganz hatte absitzen müssen. Er hatte sich jetzt als Knecht verdingt.
Alles war im Dorf wie im vorigen Sommer. Es war schön und heiß, und es regnete wenig. Dem Baderhaus gegenüber war die Wirtschaft zum »Schwarzen Rappen«, und beim Rappenwirt trank ich manchmal ein Glas von dem braunen, bittern Bauernbier. Der Rappenwirt war ein Mann hoch in den Fünfzigern, dick war er, mit einem Bauch, der sich unter der weißen Schürze vorwölbte. Er hatte als junger Mensch meinen Großvater noch gekannt. Ob ich auch Doktor werden wolle, fragte er mich. »Ihr Großvater«, sagte er, »war ein gescheiter Mann und ein aufgeklärter Mann.« Und er erzählte, mein Großvater habe zu jener Zeit etwas getan, was die Leute in Erstaunen und manche sogar in Entrüstung versetzt habe, den Pfarrer besonders. Beide seien ja tot, da könne man ruhig drüber reden. Und überhaupt, es seien ganz andere Zeiten jetzt, und vieles habe sich geändert, und so engherzig wie damals sei man heut nimmer, Gott sei Dank! Der Rappenwirt hatte sich, schwer schnaufend, neben mir niedergelassen und rauchte an einer schwarzen Zigarre. Die Fliegen zu vertreiben, sagte er, grünschillernd umsummten sie uns. Es gäbe so viele Misthaufen im Dorf, sagte der Rappenwirt, daher käme es. In den siebziger Jahren also, fuhr er dann fort, sei eine neue Zeitung erschienen in Regensburg drunten, eine recht fortschrittliche. Die Leute im Dorf, alle, der Pfarrer und auch der Lehrer, alle eben, hätten sich von jeher eine Zeitung gehalten, die für das gute Alte und Hergebrachte sich einsetzte. »Die Leute hier waren alle schwarz«, sagte er, »und sind es noch. Ich bin es auch.« Mit dem Wort schwarz bezeichnete er eine Parteimeinung. »Aber Ihr Großvater«, sagte er und schlug mit der Hand nach einer Fliege, die er nicht traf, »Ihr Großvater hat sich sofort die neue Zeitung bestellt. Das konnte kein Geheimnis bleiben: der Posthalter wußte es und der Briefträger, und dann bald alle. Das gab ein Aufsehen!« Wir waren allein in der Wirtsstube, der Rappenwirt und ich, und die vielen Fliegen. »Für den Pfarrer war es ein richtiger Schrecken«, schnaufte der Rappenwirt, »ein Greuel war es für den ehrwürdigen Herrn, der gemütlich sonst war und keiner von den Strengen. Aber was sollte er machen? Und Ihr Großvater ging ja jeden Sonntag in die Kirche!« Er glaube, sagte der Rappenwirt, und grinste verschmitzt, daß der Lehrer sich das neue Blatt am liebsten auch gehalten hätte, aber er traute sich nicht. Mein Großvater habe es sich trauen können, das war was anderes. Zu ihm seien deswegen nicht weniger Kranke gekommen, auch der Pfarrer, der es mit dem Herz hatte. »Schließlich«, meinte der Wirt und trank sein Seidel leer, »wer die Wassersucht hat, dem ist es gleich, wer ihm das Wasser nimmt, und mag der auch ein aufrührerisches Blatt lesen.« So sprach er, und ich hörte ihm zu. Seine weiße Schürze hatte rote Flecken. Es waren Blutflecken. Der Rappenwirt betrieb auch eine Metzgerei.
Es war mir nicht neu, was er mir erzählt hatte. Ich wußte es von meiner Mutter, daß der Großvater Zeit seines Lebens ein aufrichtiger Freiheitsmann gewesen. Drum habe er auch Friedrich Schiller so gern gelesen. Er besaß eine Ausgabe von ihm in kleinen, braunen Lederbänden. Aber er hatte nie eines seiner Stücke auf der Bühne gesehen. Als er bei uns, in der Stadt, die Möglichkeit dazu gehabt hätte, war er schon zu alt, um Lust zu spüren, sich was vorspielen zu lassen. Er las ihn lieber.
Um es zu Ende zu sagen: der Großvater hatte, als er es an der Zeit fand, sich zur Ruhe zu setzen, das Baderhaus verkauft. Bei meinen Eltern gefiel es ihm, und er war nicht mehr, auch nicht zu einem kurzen Besuch, in sein Dorf zurückgekehrt. Als Wundarzt und Chirurgus hatte er keinen Nachfolger dort. Diesen Beruf gab es nicht mehr. Und wer krank war im Dorf, der mußte in das nächste kleine Waldstädtchen gehen, da gab es einen Doktor.
In so einem Dorf gibt es alles, Glück und Unglück, wie in der Stadt. Ich war dabei, als man mit langen Stangen eine Leiche aus dem Froschweiher holte. Eine junge, rothaarige Magd hatte eine Liebschaft gehabt, und es hatte sich gezeigt, daß die Liebe Früchte tragen sollte. Da hatte sich das junge Ding ohne viel Besinnen ertränkt. Die Bauern schüttelten den Kopf über ihr Ungestüm und meinten tadelnd, wegen eines kleinen Kindes, da ertränke man sich doch nicht gleich. Sie hatte es aber doch getan. Im Friedhof erhielt sie ein stilles Begräbnis. Der junge Pfarrer hatte gesagt, es sei gewiß in geistiger Umnachtung geschehen – man hätte ihr sonst die kirchliche Beerdigung verweigern müssen. Die Kleider klebten ihr am Leib, als man sie aus dem Wasser zog, und da war ihr Zustand deutlich zu sehen gewesen. Ihr Gesicht war wachsgelb und lächelte.
Ein paar Tage darauf machte ich mich auf den Heimweg, wieder auf dem Rad. Die Wälder kamen, und weil es nun in die Tiefe ging, war es ein müheloses Fahren, ich flog nur so dahin. Es war ein Gefühl des Schwebens, das ich hatte. Du bist eine weiße Taube! sagte ich zu mir und nahm die Arme von der Lenkstange und breitete die Arme weit aus und schwebte durch die Kurven wie im Gleitflug. Ich spürte deutlich, daß ich eine Taube war, weiß von Farbe, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn sich das Rad vom Boden erhoben hätte. So spielte ich. Einmal war ein Bussard über mir, der hell schrie. Da glitt ich aber schon wieder in ein schwarzes Tal, das mich barg.
Die Wasenmeisterei lag auf einem Hügel vor der Stadt, dem Galgenberg. Fast jede Stadt hat ja einen Galgenberg, und so heißt er von früher her, als noch die Schandgerüste auf ihm ragten. Die Straße, die beim Römertor den schweren Panzer des Kopfsteinpflasters abwarf, wand sich staubig zu dem einsam stehenden Gehöft hinauf, das mit einem hölzernen Zaun sich umgab. Im Zaun war eine schmale Lattentür, ein paar Bäume und struppiges Dorngebüsch machten den grasigen Vorgarten, dahinter stand das verrufene Haus.
Marion ging fast täglich hier vorbei. Nie waren die kleinen Fenster geöffnet, und als sich einmal die Haustür auftat, schnell schloß sie sich wieder hinter der Eintretenden. Die Frau war ohne Hut gewesen, nur in ein dunkles Umschlagtuch gehüllt, und sie hatte ein Bündel behutsam an die Brust gedrückt gehalten. Einmal auch sah Marion den Wasenmeister, einen mageren Mann in Schaftstiefeln, der eben eine Grube im Garten aushob, und dazu pfiff er. »Still ruht der See«, pfiff er, und Marion summte die Weise mit. Der Mann, der Wasenmeister, wenn er es war, sah sie nicht. Sein schwarzes Haar war seitlich gescheitelt. Er grub und pfiff, mit verzierenden Trillern und Schnörkeln, und seine Schaufel blitzte.
Marion wußte nicht, wie das war: aber nur selten gelang es ihr, den Abendspaziergang so einzurichten, daß er sie nicht vorbeiführte an dem unheimlichen Ort. Unheimlich? dachte sie, und dachte: das ist doch kein böser Mensch – und pfeift so schön und nachtigallisch! und dachte: aber morgen geh ich einen andern Weg! Aber tags darauf war sie doch wieder da, legte die Stirn an den feuchtkalten Zaun, rüttelte vorsichtig und spielend daran, wie Einlaß begehrend, und roch den strengen Geruch, der aus dem Garten herwehte und der anders war als sonst aus den Gärten – aber wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein!
Ihr Bräutigam, Otmar, der Afrikaner, war, wie stundenlang an jedem Tag, mit seinem blonden, emporgedrehten Schnurrbart beschäftigt. Die Medaillen und Kreuze, die er sich im Krieg, in Südwestafrika, erfochten hatte, klirrten über seiner linken Brust, auch wenn er sie, wie jetzt, nicht trug. Er neigte das Ohr und horchte auf das feine Klingeln. Dann, im Wirbel der Fingerspitzen die Schnurrbart-Enden schleudernd, stellte er an seine Braut die Frage, die er, weil ihn das Ungewöhnliche wieder einmal sehr bedrückte, jetzt und sofort stellen mußte: »Muß es bei Marion bleiben?« Er hätte lieber Maria gehabt! Aber sie nickte nur ein verträumtes: »Ja!« Seine rechte Hand mit der Narbe tändelte noch immer am längsten der Barthaare, und im Zerren schien es noch länger zu werden und immer länger, seine linke Hand jedoch lag regungslos auf dem weißen Tischtuch, wie ein Tier. Er spreizte die Finger, und sie erschrak, als er sie dann plötzlich zur Faust schloß. Sie hatte das Gefühl, eine Mücke oder blauglänzende Fliege säße jetzt gefangen im Innern. Spielend entknüpfte sie seine Finger und war fast betrübt, als kein Insekt surrend aufflog. Und sie fiel ihm um den Hals und küßte ihn stürmisch.
Wenn im Straßengraben unter versprengten Roggenhalmen eine hochstielige, blutrote Blume aufwächst, mit schwarzen Negerhaaren an dem Bindfadenstiel, mit papierenen, schlappen Blättern, und sie wiegt sich hochmütig, so meint einer leicht, hier zeige sich etwas Adlig-Besonderes! Und wenn des Afrikaners Braut in Stunden gelangweilter Unruhe die flache, trockene Wiese ihres Daseins überblickte, glühte der feurige Mohn des Namens Marion verwegen und prächtig über Grasbüscheln und Klee.
Am abendlichen Septemberhimmel drehten sich runde, weiße Federwolken in einem Wind, der da droben ging, hier unten wars windstill. Wie junge, weiße Pudel, die spielen, sind sie, dachte Marion. An einen Baum gelehnt träumte sie in die Landschaft hinaus. Weidensträucher zogen sich weithin der Donau, von der untergehenden Sonne beglänzt, der Strom warf ein Blitzen herauf, blaugoldenes Feuer, in schwarzen, schrecklichen Strudeln versinkend. Es war ein schmächtiger Holzapfelbaum, daran sie lehnte. Schüttel das Bäumchen! fiel ihr ein, und gleich begann sie zu schütteln, aber nichts plumpste ins Gras. Das bißchen Obst, das der Baum getragen haben mochte, hatten längst Kinder sich gepflückt. Nur ihr vorm Gesicht, an einem tief herabhängenden Ast, so nah, daß sie es mit der Nasenspitze zum Schaukeln bringen konnte, hing ein vergessenes Äpfelchen. So schaukelte sie es, zart zuerst, dann stärker, und hoffte, daß es falle, aber es saß fest und boshaft am Stiel. Mit einem wilden Griff riß Marion die Frucht vom Baum und biß hinein: bitter war ihr Fleisch, und gerbsäurig den Gaumen ätzend, und es verzog sich ihr der Mund, aber sie aß sie hinunter, samt der Schale und dem Kerngehäuse.
Schräg unter ihr lag die Wasenmeisterei, ein riesiges Schiff mit schwarzen Wänden, trieb sie langsam dahin, ohne Segel, und wie steuerlos. Der Mond, silberblaß und durchscheinend, war schon da, inmitten der weißen Wölkchen, sie hatte ihn zuerst gar nicht bemerkt. Nun drehte auch er sich im oberen Wind, und hüpfte und tanzte, mit den Pudelchen sein Spiel zu haben.
Erschreckt fuhr sie herum – von der Arche herauf kam ein Ruf, und der galt ihr! O Jammer! dachte sie, und schmiegte sich an das Bäumchen, wie ist mir? Niemand hat gerufen, und schon gar nicht nach mir – aber sie zitterte dennoch! Ihre dummen, rosigen Ohren hielt sie sich zu und strebte stolpernd zur Stadt zurück, wie mit gefesselten Füßen, und spürte das Eisen der Kette um die Knöchel, und es war dann schon dämmrig, als sie zum Römertor kam.
Aus den feuchten Gassen meinte sie Kröten und Molche im Funkelzug heranwallen zu sehen, zu ihr, der Prinzessin im Purpurmieder und in hochgeschnäbelten goldenen Schuhen. Bin ich denn krank? dachte sie, und habe Fieber?
Und bückte sich, einen steingroßen grasgrünen Frosch aufzuheben und an die Wangen zu drükken: da war es kein Froschprinz und bloß ein froschgrüner Stein! Und abends trank sie, und verbrannte sich fast die Lippen dabei, den siedheißen Fliederblütentee, den ihr die Tante ans Bett brachte. »Das kommt von deiner Herumlauferei«, sprach die Besorgte, »die Herbstluft ist schon kühl, und du mit deinen dünnen Blusen immer!«
Gegen Mitternacht erwachte Marion, und lief barfüßig zum Fenster, und öffnete es, und sah zum Himmel empor. Schwarz schlief die Stadt unter den weißen Sternen. Die gute Tante schläft, dachte sie, und Otmar, und jeder! Die kalte Zugluft zerrte an ihrem Achselband, und sie weinte. Weinend legte sie sich wieder ins Bett, und noch schluchzend schlief sie ein, auf tränenfeuchtem Kissen, und schlief fest und traumlos bis zum Morgen.
Daß die Rechnungsrätin im ersten Stock ihren kranken Spitz weggeben wolle, berichtete Marion, und daß die alte Dame sie gebeten habe, ihn zur Wasenmeisterei zu bringen – selber es zu tun, bräche ihr das Herz! Marion wand die Finger ineinander, daß sie schmerzten. Otmar zögerte. »Zum Abdecker, zum Schinder?« sagte er: »Nein!« Er sah sie strafend an. »Warum soll ich es nicht?« fragte die Braut, und drückte ihren Kopf gegen sein Kinn, und unter seinen Händen spürte er ihre Brust, und da sagte er: »Meinetwegen!« Und während das Mädchen einiges, und beileibe nicht alles, dem Bräutigam erlaubte, der wie ein Schatzgräber wühlte und suchte, flog ihr leichter Sinn wie eine Flaumfeder auf und fort und wiegte sich wie ein Engelsköpfchen vor den Fenstern des Galgenhauses. Aber die Fenster waren trüb und fliegenkotbespritzt, man konnte nichts sehen, und die Flaumfeder schaukelte wieder zurück, und Marion sagte entrüstet: »Aber Otmar!« Da hielt er beschämt inne, und auch sie glaubte an ihre Jungfräulichkeit, die unbezweifelbar vorhanden war.
Der Wasenmeister trug wieder die langschäftigen Stiefel, spiegelnd gewichst, und seine Hände waren schwarz behaart. Kurz waren seine Finger, und über seinen Backenknochen spannte sich die Haut. Breit war er um die Brust, schmal waren seine Hüften, wie bei einem Stierkämpfer. Daß er blaugrüne Augen hatte, paßte nicht zu seiner Haarfarbe. Seine Stimme war ein tiefer Baß, als er sagte: »Morgen denn Spitz!«, und den Spitz, der ihm demütig die Hand geleckt hatte mit der rosenroten Zunge, einstweilen in eine Kammer gab, neben der Wohnstube. Der Spitz bellte nicht einmal. Bratenheiß wars, bei geschlossenen Fenstern, und alles war sauber geputzt, auch die Scheiben, wie in der Kaserne die Rekrutenstube vor der Besichtigung. Ein Bild des Königs, in Lohengrinrüstung, hing hinter Glas und Rahmen über dem schwarzen Ledersofa, daneben eine Schwarzwälder Kuckucksuhr. Der Schwanenritter im Kettenhemd, auf sein Schwert gestützt, stand aufrecht und mutig in dem Boot, das der langhalsige Vogel über den See zog. Schwarz und gelockt war der kurze Vollbart des Königs. Die Berge um den See sahen aus wie aus Pappe gemacht, und der Schnee auf ihnen, und die Gletscher, waren weiß wie Rahm, und so dick und klebrig und sicher so süß auch! Blaugrün glänzte der See: wie seine Augen! dachte Marion, und so tief! Und sie suchte ihnen zu begegnen – umsonst, der Wasenmeister vermied ihren Blick. Um den Hals trug er ein Tüchlein statt eines Kragens. Gelb war das Tüchlein. Und so ging sie denn wieder.
Der Gestiefelte lehnte sich mit hängenden Armen über den Zaun und ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen und sah dem eilig davongehenden Mädchen nach. Wie einem Kater war ihm zumute, nur schnurren konnte er nicht statt dessen pfiff er sich eins! Vom Rattenfänger von Hameln hatte er wohl nie etwas gehört, der ungebildete Mensch, und der Vergleich stimmte ja auch gar nicht: das Fräulein war nur eine kleine weiße Maus, und überdies lief sie vor ihm davon! Er lachte, und biß zu – da hatte er einen rostigen Zaunnagel zwischen den Zähnen. Er spuckte aus und pfiff einen silbernen Triller. Dort sah noch einmal das Fräulein zurück.
Zwischen blitzenden Spiegeln saß des Afrikaners Braut und strählte ihr Haar. Auf den Zehenspitzen trippelte sie zur Kommode, hob Otmars Bild und küßte es, und die Trübung, die auf dem Glas blieb, wischte sie hurtig weg. Zärtlich betrachtete sie den Geliebten und seine Orden und sah in der Steppe den durstmatten Mann. Pfeile umschwirrten ihn, und ein nackter Wilder schwang den Speer gegen ihn: der galt seiner Brust, aber bös und pfeifend traf er nur seine rechte Hand! Oft hatte Otmar ihr von dem Überfall erzählt, und von der afrikanischen Sonne darüber – die deutsche sei dagegen armselig und sparsam, ein Mond bloß, sozusagen! Aus dem Hinterhalt, tückisch, im Dorngebüsch versteckt, hatten die schwarzen Teufel angegriffen – tapfere Männer sind arglos und leicht zu betrügen! Wieder küßte Marion das Bild des Geliebten.
Der ging eben durch die kühlen Gassen der kleinen Stadt, und als er unter einem Laternenpfahl einen kohlschwarzen Kater buckeln sah, blieb er stehen. »Schwarzer Teufel!« redete er ihn an, aber der Kater schlug nur einen Reif mit dem Schwanz und tigerte davon. »Schwarzer Teufel!« rief ihm Otmar nach und schritt versonnen und versponnen nach Haus, und spürte ein Zucken im Herzen, und wußte nicht, was das bedeuten sollte, aber es war Marions Kuß.
Wo der Kater die Nacht zugebracht hatte, wer weiß es? Hinter Ratten oder Mäusen her, oder hinter Kätzinnen, gelben und roten? Aber am Morgen lief er Marion über den Weg – klein, klein ist die Stadt! Zuerst sträubte er sich unter des Mädchens Griff. Marion sah sich um. Niemand hatte sie beobachtet. Sie streichelte das schwarze Fell, und der Kater begann behaglich und unwissend zu schnurren.
Das Gesicht des Wasenmeisters ging wie der Mond im Dämmer des Türrahmens auf. Und wie der Mond, der etwas Lustiges sieht, anfängt, die Lippen breitzuziehen, und gelb und schallend zu lachen, so wurde das Gesicht des Mannes rund und prall und pausbäckig. Wortlos dann faßte er den Kater am Genick und warf ihn in hohem Bogen von sich, daß der mit steif gehobenem Schwanz durch den Garten auf und davon sauste, die Dornbüsche vermeidend, klug, wie er war! Und ohne zu sprechen, nur einen Triller pfeifend, ging der Mann ihr voraus in die Stube, und sie folgte ihm, das gelbe Tüchlein vor Augen. Der Mann drehte sich um, sah sie starr an mit blaugrünen Blicken und pfiff nicht mehr. Dafür kuckuckte jetzt der Kuckuck über dem Ledersofa – es war gerade zwölf Uhr des Mittags. Der Vogel trat aus dem Gehäus und rief, wie er von der Arche heraufgerufen hatte, fünfmal, sechsmal rief er, und noch öfter dann, aber da zählte sie schon nicht mehr mit!
Ziegelarbeiter sind keine feinen Leute, durchaus nicht, und nicht höflich, und schon gar nicht gegen Damen, die ihnen am hellen Tag ins Rad laufen, als seien sie blind. »Verliebtes Mensch!« schrie der Indianer, rot vom Ziegelstaub und rot auch vor Wut. Fast wär er gestürzt. Am Straßenrand, im Straßengraben wuchsen Brennesseln, lodernden Zorns. »Rote Indianer, grüne Indianer – was kümmerts euch?« murrte Marion.
Als sie unterm Römertor war, merkte sie, daß sich die Schnüre an ihrem linken Schuh gelockert hatten. Sie stellte den Fuß auf die unterste Stufe der Tortreppe, die Bänder wieder festzuziehen. Ihre Füße waren klein, und zierlich ihre Gelenke, und lustig wippte und drehte sie sich oft auf ihnen, und gefiel sich selber sehr. »Bachstelze« nannte sie Otmar deswegen und manchmal sogar »Prinzessin Bachstelze«, wenn er zärtlich war und verliebter Laune. Die Tante, bei der Marion lebte, in dem Haus, in dem auch Otmar wohnte, hörte das ungern. »Es klingt leichtfertig«, rügte sie dann, »und bald bist du seine Frau, und vielleicht Mutter!« Marion errötete, jetzt unter dem alten Tor, und hörte die Tante reden. Und die Bachstelze stellte den linken Fuß, der noch auf der Stufe war, wieder zum andern, zum rechten, auf die feste Erde.
Zwei junge Nonnen in schwarzen Kutten gingen eben an ihr vorbei, mit blütenweißen Gesichtern, die Hände in den Kuttenärmeln verborgen, und wisperten leise miteinander. Sie hielten die Blicke gesenkt, wie es ihre Vorschrift verlangt, und die Rosenkränze, die von ihren Hüften hingen, machten ein frommes Geräusch. Ein Ziegelsteinbrocken lag auf dem Pflaster. Marion gab ihm einen groben Fußtritt. »So ein Kerl«, sprach sie, und meinte den Indianer, »was weiß der schon? Und was wissen die Nonnen?«
Steine sind immer genug da, mit ihnen zu werfen. Man kann auch Häuser aus ihnen bauen, mit festen Wänden, mit Zimmern, in denen Schränke sind, voll duftender Wäsche, Windeln dabei, und buntbemalte Wiegen, Rosiges darin zu schaukeln. Schön ist das Kindergeschrei, und das Zwitschern aus dem Schwalbennest unter dem Dach, und ein kleiner Garten vor dem Haus, mit Blumen und nützlichen Küchenkräutern, auch mit Salat, macht sich an Sonntagvormittagen lieblich.
Dem Afrikaner natürlich erzählte Marion nichts. Sie zog und zerrte mit ihm an seinem Schnurrbart, und bald feinhörig wie er, hörte sie das Klingeln seiner Orden, auch wenn er sie nicht trug.
An das Erlebnis mit dem Gestiefelten, blutrot und brennend und gleich einer Rauschnacht in Spanien nach einem Stierkampf, dachte sie nur noch selten zurück. Die heiße Pfeffersuppe noch einmal aufzukochen, fiel ihr nicht ein. Sie hatte ihren Otmar, und wenn sie beide jetzt abends aus dem Fenster schauten, und ein kohlschwarzer Kater, und deren gibt es viele, und sicher war es ein anderer, buckelnd über die Straße lief, sagte der Afrikaner: »Schwarzer Teufel!« und legte sich mit seiner Gott sei dank weißen Marion ins weiße Bett.
Und die weiße Marion aß das kräftige und nahrhafte Roggenbrot, zermalmte es knallend zwischen ihren gesunden Zähnen, und würzte es mit dem betäubenden Mohn der Erinnerung.
Schließlich hatte sie keinen sehr weiten Gesichtskreis, und einer Frau mit mehr Ansprüchen hätte dies eine Abenteuer nicht genügt, den Abendhimmel der Ehe magischrot zu überglühen.
Als Druckvorlage diente diesen Bänden die Ausgabe »Georg Britting - Gesamtausgabe in Einzelbänden« der Nymphenburger Verlagshandlung, München.
Zu den Bänden 13, 14 und 16:
Diese Bände enthalten die Beiträge des Bandes „Anfang und Ende“ der zuvor genannten Ausgabe, der nach dem Tod von Britting im Jahr 1964 erschien und folgende Nachbemerkung enthält: Mit diesem Band ist die Gesamtausgabe der Werke Brittings abgeschlossen.
Sechs Bände sind vom Dichter in den Jahren 1957 bis 1961 noch selbst redigiert worden, sozusagen als Ausgabe letzter Hand. 1965 erschienen und dem Titel »Der unverstörte Kalender« [Band 6 unserer Ausgabe] zunächst die Gedichte aus dem Nachlaß. Nunmehr wird der erzählerische und dramatische Nachlaß Brittings in Buchform zusammengefaßt. Wie schon der letzte Gedichtband, enthält er Werke aus allen Schaffensperioden: zunächst Erzählungen, sodann Bilder, Skizzen und Feuilletons, [unser Band 13] die Britting bisher in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hatte, das Fragment eines größeren erzählerischen Werkes aus der Spätzeit, »Eglseder« [unser Band 16] und schließlich drei dramatische Arbeiten aus den zwanziger Jahren. [Unser geplanter Band 14] Das dichterische Werk Georg Brittings liegt damit, abgesehen von einigen wenigen peripheren Arbeiten, in acht Bänden vollständig vor.
Ausführlichere Informationen unter: www.britting.de
Band 12
Hrsg. von Ingeborg Schuldt-Britting
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Informationen über den Dichter und sein Werk in www.britting.de.
Alle Rechte vorbehalten
© 2012 Georg-Britting-Stiftung
83101 Höhenmoos
Wendelsteinstraße 3
Satz u. Layout: Hans-Joachim Schuldt
Made in Germany
Gedruckte Taschenbuchausgabe:
ISBN 978-3-9812360-0-2 (Sämtliche Werke - Prosa)
ISBN 978-3-9812360-6-4 (Die bestohlenen Äbte)
1 Der irdische Tag
2 Rabe, Roß und Hahn
3 Die Begegnung
4 Lob des Weines
5 Unter hohen Bäumen
6 Der unverstörte Kalender
7 Die Windhunde
8 Das treue Eheweib
9 Das gerettete Bild
10 Das Liebespaar und die Greisin
11 Der Schneckenweg
12 Die bestohlenen Äbte
13 Anfang und Ende
14 Dramatisches
15 Der Hamlet Roman
16 Eglseder - Ein Fragment
17 Regensburger Bilderbögen
18 Italienische Impressionen
19 Theaterkritiken
20 Briefe an Georg Jung
21 Briefe an Alex Wetzlar
22 Nachlese Gedichte
23 Nachlese Prosa
Kommentare und Anmerkungen zu den einzelnen Bänden und zu Werkgeschichte und Biographien, sowie ca. 800 Buchseiten »Rezensionen, Interpretationen und Sekundärliteratur«, erhalten Sie online unter www.britting.de.