Herausgegeben von Ingeborg Schuldt-Britting
Band 15
Georg-Britting-Stiftung
Roman
Für Josef Achmann
In dicken Büscheln wuchsen Sonnenblumen. Nein, nein, nicht in Büscheln, sie waren wie Baumgruppen, das waren lange Stämme, Stecken, Stangen und Stengel, schwarz behaart, im Winde wankend, so müssen Palmen sein. Und hoch oben, ganz hoch droben, große, kreisrunde Teller, und die Tiefe der Teller schwarz, rabenschwarz, aschenschwarz, negerkraushaarschwarz, der Tellerrand geflammt, monstranzengelb. Es war ein Wald von Sonnenblumen, ein Gehölz von Sonnenblumen, die grünen Stämme prall von Saft, dampfend, wie schön, wie gesund!
Aber ein Weg lief durch den Sonnenblumenwald, ganz tief unten, im Dunkel und Dämmer, keine Eidechse auf dem Weg, keine Blindschleiche auf dem Pfad, keine Kröte, kein Käfer. Schnell und scharf und lehmig glitt der Weg durch das Tellerblumengehölz, durch den gelben Forst, und die Mondscheiben der Blumenköpfe warfen runde, schwarze Schattenkreise auf das laufende Band.
Aber da kommt nun doch ein Käfer, rennt eilig, mit vielen Beinen, und mit was für Beinen, mit vielen eifrigen Zitterbeinen, mit einem Büffelkopf, mit einem dicken Büffelkopf! Jetzt verschwindet er tief in einem grabschwarzen Schattenteller, aber da ist er schon wieder im lichten Lehm. Menschenfüße greifen weiter aus, Menschenfüße ziehen über den Käfer weg wie Riesenwolken, wie gepanzerte Goliathflugzeuge hinweg über den goldblechgeharnischten Käfer. Der Blumenwald schwankt, der Käfer läuft, aber der Weg ist schneller, ist schon jenseits, geht nun über Kies, über weißen, butterweißen Kies, munter, munter, er schlängelt sich weiter. Und hinter ihm rauscht der löwenköpfige Forst nun, und der Zappelkäfer wird schon wieder in eine Schattengrube gestürzt sein und wird die Beine regen, unaufhörlich, der eifrige, gepanzerte. Der Weg aber stößt abermals an einen Wald, an einen Wall, an ein Schilfgehölz. Ob er, der nun wieder lehmig wird, sich durchbeißt, ob der Binsenwald ihn einläßt? Doch, auch das Schilf gibt Raum, macht Platz, und der Weg schlüpft.
Nun ist er auch jenseits der wackelnden Binsen, und nun wird offenbar, daß das gelbe Gestänge wie ein knisternder Ring um einen Wasserring herumsteht. Der Wasserring, drei Meter breit, vier Meter breit, läuft wie um eine Insel herum um ein Haus; sind Wiesen davor. Das Wasser ist grünlich, tümpelschillernd, sicher von Fröschen bewohnt und Salamandern. Das Schilf spiegelt sich in der Flut, und der Wind bewegt die gelben Lanzen, und das Spiegelbild bewegt sich auch. Und der Weg, der zuerst den Sonnenblumenwald durchschnitt und dann ein Stück im Freien lief und dann auch den Binsenwald nicht scheute, da prallt er auf den Wassergraben. Schnell und nachgiebig dreht er sich, rennt im gleichen Bogen mit dem kreisrunden Grabenrand und erwischt einen hölzernen Steg und ist nun drüben, und fern nun schwanken die Sonnenblumen, nicken und zittern die Schilfstangen. Er ringelt sich, kiesgepunktet, durch die Wiese, kommt vor das Haus und hält nicht still und zaudert nicht einmal und fährt zischend durch die Tür des Hauses und ist drin verschwunden, wie die flüchtende Eidechse im Loch vor dem Raubvogel, dem freßlustigen.
Über dem Haus steht die gelbe Sonne wie eine große Sonnenblume, aus dem Samen emporgeblüht der kleinen Schwestern des absperrenden Waldes, nur mächtiger, nur riesig, der Stengel ist nicht zu sehen, aber an dem unsichtbaren Stengel hängt sie geneigt über das Hausdach und glänzt. Wie ist es heiß! Die Kühle und das Dunkel haben sich in das Haus zurückgezogen, und nur aus den Fenstern atmen sie heraus. Und so einsam ist es vor dem Haus, das Gras schwingt, das lautlose, nur Heuschrecken hupfen ritterlich, und die Grillen knirschen.
Aber jetzt steht ein Knabe vor der Tür, wohl siebenjährig, in einem zitronenfarbenen Gewand und einen kleinen Kinderspeer in der kleinen Rechten. Der Speer hat eine scharfe Eisenspitze, und der Knabe zielt damit auf die Sonne. Die zuckt nicht, als er nun wirft. Der Speer pfeift, steigt wohl auch eine Weile, sogar eine tüchtige Weile, aber die Sonne zuckt nicht, gar nicht. Der Speer sinkt, fällt zurück, die Sonne hat er nicht erreicht, fällt ins Gras. Und mit mürrischem Gesicht, sie stieg nicht hoch genug, hebt der Knabe die Knabenwaffe auf aus dem Gras. Dann geht er langsam über die Wiese und läuft plötzlich und liegt plötzlich im Gras und schreit zum Haus hin: »Anna!« Ja, »Anna!« schreit er und nochmals »Anna!«, und als sich ein Kopf in einem Fenster zeigt, zirpt er wieder: »Anna!« Und duckt sich hinter einem dicken Grashalmbüschel und glaubt, man sieht ihn nicht. Aber man sieht ihn. Ganz deutlich sieht die Dienerin Anna den zitronenfarbenen Rufer im Gras sich bergen. Aber der hat sie schon vergessen und starrt bezaubert in das Halmgewirr. Harte, stählerne Rispen steigen mit leichter Krümmung hinan, andere Halme sind breit, anderer Rand ist gezackt, ist gelappt, alle Formen wuchern durcheinander, und das grüne Dämmerlicht tut geheimnisvoll. Der Bezauberte streckt seinen kleinen Finger aus und berührt einen Halm, der besonders fett ist und keulenrund, und zuckt mit dem Finger zurück, weil der Halm gewaltig in die Luft saust. Es war der Schenkel eines Heuhupfers, der mit wütendem Pferdemaul nun eine Armlänge von ihm auf einer Blattschaukel hockt. Der Knabe sieht auf, weil ihn ein Schatten trifft, da steht die Dienerin Anna neben ihm. »Dienerin Anna«, sagt er zu ihr, »Dienerin Anna, das war ein Heuhupfer.«
Die Dienerin Anna trägt eine Maske, nicht eine Maske aus Stoff, aus Seide, ihr Gesicht ist selber wie eine Maske, eine gutmütige Larve, mit kleinen, verklebten Augen und einem breiten, hänglippigen Mund. Wahrscheinlich ist sie zahnlos, die Dienerin Anna, denn ihre Wangen sind ein bißchen eingesunken, und ihre Haare sind schwarz und fettig. Sie öffnet ihren Maskenmund und antwortet: »Hier gibt es viele Heuschrecken.« Der Knabe sieht zu ihr auf, und es tönt ihre Stimme von weit oben her, aus einer Höhle wahrscheinlich, herab zu ihm. Da springt er auf, und nun ist ihm das Maskengesicht näher, und die verklebten Augen werden noch enger und lächeln ihn an. Der Zitronenfarbige bückt sich und rupft sich eine Handvoll Gras und streut es der Maskenträgerin über die Brust. Da sind ihre Augen nur mehr zwei dünne Striche, und ihre Hängelippen wackeln vom Lachen.
Ja, so wars, und der Knabe lief zum Wassergraben, stützte den linken Fuß auf eine sachte Erhebung, stemmte die Brust auf den Speer, daß die Spitze tief ins Gras drang und starrte in die dämmernde Flut. Das Wasser war grün, dunkelgrün, schwarzgrün, bis auf einen halben Meter durchsichtig, dann wurde das Grün dicker, samtiger, es war, als würde es fest, wie Marmelade, zähe, harttropfig. Die Binsen bewegten sich leise und unaufhörlich. Der Knabe zog den Speer aus dem Rasen und neigte sich über das Wasser, und seine zitronengelbe Gestalt spiegelte sich licht. Natürlich flogen Libellen, blauen und grünen Glanz spritzend, mit Seidenflügeln knisternd, über die Wasserfläche, standen sekundenlang unbeweglich in der Luft, schossen wieder vorwärts, weiter, und auch Mücken tanzten. Tief, tief unten, wo das Wasser schon hart und honigfest wurde, sah er eine Schlange. Das dicke Wasser setzte ihr vielen Widerstand entgegen, aber sie krümmte sich angestrengt, stieß mit dem Kopf voraus, die Schwanzspitze arbeitete aufgeregt, sie kam schon vorwärts, wenn auch gemächlich. Nun bohrte sie sich noch tiefer. Der Knabe legte sich auf den Bauch, das Gesicht dicht über der Wasserfläche, kühl stieg es zu ihm auf. Jetzt sah er die Schlange nicht mehr. Dafür kam vom anderen Ufer, mit langen Beinen, mit flotten Ruderschlägen, ein Frosch geschwommen. Weit ausgreifend, die Schwimmhäute gespannt, so kam er an. Am Grabenrand dann hielt er sich, zwischen handgroßen Blättern schwebend. Der Jäger zog den Jagdspeer an sich, krümmte den Arm und spießte den Frosch. Er spürte noch und er sah noch, wie die geschärfte Eisenspitze dem Tier in den Bauch fuhr. Aber die Wucht des Jagdstoßes war zu groß gewesen. Mit dem durchbohrten Frosch fuhr die Eisenspitze tiefer, glitt an der Grabenwand abwärts, schlitzte die lehmige Erde, daß eine braune Wolke das Grün trübte, fuhr tief hinab ins grundlos Schwarze. Der Froschjäger strauchelte, fiel, klatschte ins Nasse, und er lag zitronengelb im grünen, wellenschlagenden Grabenwasser. Den Speer ließ er nicht los, nur mit der unbewaffneten Hand schlug er kräftig aus. Der Knabenkörper drehte sich, er lag auf dem Rücken, und über sich sah der Krötenfänger den knallblauen Himmel und eine blendende Glühkugel, die Sonne. Aber da drehte es ihm schon wieder das Gesicht nach unten.
Aber natürlich hatte ihn die Dienerin Anna nicht aus den Augen gelassen, hatte ihn stürzen sehen und war nun da und zog ihn, am Graben niederkniend, wütend, die Schlitzaugen nicht einen Spalt breiter als sonst öffnend, heraus und ins Gras. »Lausbub, Lausbub, verdammter!« murrte sie.
Der Knabe war nicht ohnmächtig, doch erschlafft, ließ die Augen zu, als brause noch das dunkle Wassergrün um seine Schläfen. Die Alte trug ihn ins Haus. Wie keuchte die! Wie schimpfte die! Der Knabe war nicht schwer, aber für die zierlich Gebaute doch schwerer als ein großer Fisch. Von seinem Zitronenkleid tropfte es, aber es waren keine grünen Tropfen, obwohl er doch im grünen Wasser gelegen hatte, es waren durchsichtig graue, ja farblose Tropfen, und sie näßten das Gras.
Die Dienerin hatte ihn ins Haus geschleppt und in ein Zimmer und ihn auf den Boden gelegt, und immer noch hielt er sich ohne Laut und bewegungslos. Das Zitronengewand klebte dicht am Körper, und das nasse Haar fest an den Schläfen. Durch eine Türe trat ein Mädchen, weißgekleidet. »Ach«, schrie es, »was gab es?«
Es schnurrte die Dienerin Anna: »Ich zog ihn aus dem Graben.« Das Mädchen blieb in zaghafter Haltung stehen, wandte den Kopf ab und weg und sagte mit blassen Lippen: »Aber er lebt?« Der Knabe richtete sich auf, am Boden sitzenbleibend, schwang den Speer: »Hier ist der Frosch, Mutter!«
Das Mädchen blickte ihn an, ihre Lippen hatten die Farbe von jungen, gelben Rosen, blickte den Frosch an, der noch lebte und schwamm, an der Speerspitze schwamm und nicht von der Stelle kam, und sagte: »Töte das Tier!« »Warum?« schrie der Jäger. »Gib den Speer her«, sagte die Dienerin und wandte ihm ihr Maskengesicht zu, »gib ihn her!« »Nein«, fauchte der Knabe und sah glücklich auf das grüne Zappelnde. »Ich hab ihn doch gejagt.« Und er stemmt den Wurfspieß mit dem Schaftende auf den Boden. Es war wie ein Zepter, und der lebende Zierat an der Spitze wand sich arabeskenhaft. »Trag das Tier hinaus und töte es!« befahl das Mädchen der Dienerin. Die blinzelte mit breitem Gesicht, das über dem Hals stand wie ein übergroßes Löffeloval über magerem Stiel, nahm dem Jäger den Speer und ging.
Der Knabe blieb sitzen: »Ach, Mutter, wenn ich die Schlange gespießt hätte! Sie schwamm tief unten, viel zu tief, und war so lang wie mein Arm. Aber sie wäre schwer zu treffen gewesen, weil sie nicht breiter war als ein Finger von mir.« Er stand jetzt auf »Geh in dein Zimmer und zieh dich um«, sagte Ophelia, und er ging. Wo er gelegen hatte, blieb eine feuchte Stelle auf dem Bretterboden, und das Holz trank begierig das Wasser. Bald würde der nasse Fleck verschwunden sein! Ophelia trat in den dunklen Kreis. Sie hob den Kopf. Ihre Augenbrauen waren auf eine schöne Weise zusammengewachsen, waren hellblond von Farbe, unbestimmt glänzend. Das Gesicht war blaß, die Stirne nicht niedrig, darunter der sanfte Strich der ungetrennten Blondbrauen, die Augen hellblau, ein wenig und lieblich her vor quellend, der Mund nicht klein, fast rosarot, und das Haar gelb wie Honig. Ihre Hände waren kurz, dicklich, die Finger rund, die Nägel rundlich geschnitten. Weiß das Kleid, hellgelb die Sandalen – so stand Ophelia auf dem dunklen Wasserkreis, und der Boden schluckte und schluckte die Feuchtigkeit. Schon waren einzelne Stellen mehr getrocknet als andere und zeichneten sich ab in der Form von Pilzen, von krummbeinigen Spinnen, und bald würde nichts mehr den Fleck erkennen lassen, wo Hamlets Sohn noch eben triefendnaß und zitronenfarbig auf dem Fußboden gesessen hatte.
Auf einem dicken Gaul von fuchsroter Farbe, einem schweren Roß, wie zum Ackern geschaffen, mit plumpem Kopf und roten Haarbüscheln hinter den Hufgelenken, auf einem solchen Pferd ritt der Prinz Hamlet auf der staubigen Landstraße. Er war ein beleibter Mann und brauchte ein solches Tier für sein Gewicht. Was hätte er auch mit einem schlanken Rappen getan oder einem mageren Schimmel, auf dem man stracks querfeldein reitet, weg über Tümpel, hoppla über Hecken, schwups über Wassergräben, da er doch niemals querfeldein reiten mochte, nie die Landstraße verließ, das Staubschlucken gewohnt war und noch früh genug sein Landhaus erreichte? Er ritt jetzt durch reifende Weizenfelder und horchte auf das Knistern, das sich erhob, wenn ein kleines Windlein einmal über die Dickköpfe hinfuhr und sie gegeneinanderstieß. Eine Lerche mußte in der Luft hängen. Er suchte sie mit unruhigen Augen, hielt den Gaul an und fand sie nicht. Unmöglich, ihn zu finden, den Vogel, den kleinen, grauen, laut lärmenden, und so ritt der Prinz weiter. Einmal blieb auch der Gaul von selber stehen. Ein Wiesel oder ein Marder, so etwas geschwind Huschendes, Vorüberwehendes, war quer vor seinen Hufen über die Straße geblitzt, und da hielt das Pferd, nicht einmal sehr erschrocken, und es scheute auch nicht, es scheute nie, es hielt nur und bewegte die Ohren. Und bewegte dann auch sie nicht mehr, bis der Prinz merkte, daß er mitten in der flammenden Hitze stand wie ein Standbild, und daß er eindorren würde und in der Sonne einschrumpfen, wie Leder werden, er und sein Gaul, in der Glut, und so trieb er das Tier wieder an.
Eine sanfte Bodenwelle kam, oben standen einige Nußbäume. Dicht über seinem Kopf waren nun die dunkelgrünen, glänzenden Blätter, und vor ihm dehnte sich weithin die Ebene, und auf der Ebene sah er sein Landhaus und sah die dreifachen Wälle, die es umschlossen, den Sonnenblumenwald und den Binsenkranz und den Wassergraben, und sah das Haus stehen. Nun, dort war Ophelia. Ihr Vater, der Staatsminister, hatte ihn heut beim Empfang wieder hilflos zornig betrachtet. Aber immer, wenn er des Alten Blick auffangen wollte, sah der weg. Wie unbehaglich, dachte der Prinz, wie sehr unbehaglich! Der Eisgraue, der Minister, trug einen langen Kinnbart, der hing wie ein Strick, der baumelte wie ein Seil ihm bis auf den Bauch. Weiß war der Bartstrick, oben ein wenig angebräunt, als wär er damit einem Feuer zu nah gekommen, das Mittelstück war mehr grau, grau wie Flechtenmoos an alten Bäumen, aber an der Spitze lief er klar weiß aus, silbrig sogar. Wie ein Tatar sah er aus, der stramme Greis, und manchmal, vielleicht taten das die Tataren auch, wickelte er sich den Bartstrick ein paarmal rund um die Hand. Das machte er, wenn er ihn, den Prinzen Hamlet, ansah, der Alte. Und wenn er den stoßenden Blick spürte des Chinesen, und sich zu ihm drehte, ließ der gleich die Vorhänge vor den Augen herunter und wickelte langsam seine Hand wieder aus. Wie ekelhaft, dachte der Prinz. Und dann sah er jetzt, wie er da so unter den Nußbäumen hielt, Ophelias Augen vor sich, hellblau, so den Ton von Vergißmeinnicht, und ein wenig und hübsch vorquellend. Er hatte nur noch eine Viertelstunde zu reiten, dann war er bei ihr, und an der Hausschwelle empfing ihn der Zitronenfalter, sein Sohn. Der sah ihn auch an. Aber gar nicht hilflos, und seine Augen waren gar nicht und nicht ein bißchen vorstehend, ganz richtig und in der besten Ordnung lagen sie in ihren Höhlen, wie sichs gehört.
Der Prinz griff nach oben, in die Blätter des Baums hinein. Die schlugen kühl und hart auf seine Hand, als er sich einen Zweig nahm, der sich nicht brechen lassen wollte, der widerstand, zäh, der zuerst Haut und Saft hergab, sich schälte. Endlich hielt er ihn. Er spürte Lust, Rast zu machen — was sollte er ihr nicht nachgeben? — er gab ihr nach, stieg ab. Den Gaul brauchte er nicht anzubinden und auch nicht am Zügel zu halten, der stand ruhig von selber, galoppierte nicht von dannen, trabte nicht in die Hitze hinein. Er freute sich des Nußbaumschattens, rieb den großen Kopf am Stamm und stand.
Der Prinz doch setzte sich ins Gras. Die Blätter trennte er vom Zweig, begann spielend sich einen Kranz zu flechten und hatte sein Vergnügen an den lackierten grünen Schiffchen. Der fertige Blätterring war schön anzusehen. Er setzte ihn sich auf den Kopf, er paßte gut, und er roch gut, und er kühlte auch. Den Cäsarenkranz um die Stirn, sann er, den Lorbeerkranz aus Nußbaumblättern. So träumte er. Er sah auf sein Landhaus hinab, da lags, ein Würfel aus Stein, innen waren viele Zimmer, er kannte doch jedes. In einem, in dem Zimmer in der Mitte, in der Würfelmitte, saß Ophelia. Blaß, nein, das nicht, nicht blaß, mehr gelb, oder Opalfarben, ölgelb, pergamentgelb, aber gesund, und ein wenig dicklich, mit sanften, hellen, taubenblauen Augen, ja, blau, wie es Tauben oft an der runden Brust sind, unmerklich und schön, und nur ein wenig hervorquellend diese Augen, so saß oder stand jetzt Ophelia in der Würfelmitte. Auf! Auf] Aufs Roß! dachte er, auf und geritten! Aber dabei erhob er sich nicht. »Auf, auf! und ich bring ihr den Nußblätterkranz«, sagte er vor sich hin, »den kühlen, harten Kranz bring ich ihr und geb ihn ihr und setz ihn ihr aufs Honighaupt.« Er scharrte verlegen mit dem Fuß im Gras. Er schlug wütend mit der Faust auf den Boden. »Ich setz ihn ihr nicht aufs Honighaupt. Ich geb ihr den Kranz. Kann sie ihn sich nicht selbst aufsetzen?«
Niemand beantwortete seine Frage. Er spielte mit den Fingern in der Luft, unruhig und schnell. »Sie soll sich ihn selbst aufsetzen, und wenn ich geschickt bin, wenn ich sehr vorsichtig bin, ich will schlau wie ein Fuchs sein oder wie ein Rabe, so kann ich ihn ihr so geben, daß unsere Hände auseinanderbleiben.«
Er sah seine Hände an, sie waren klein für so einen schweren Mann, und hielt sie in die Luft, die Handflächen nach unten, die Ellbogen hoch, und so, als hingen sie in etwas Flüssigem und würden von dem Flüssigen mitgetragen. Da zog jemand an dem Kranz, da zerrte etwas an den Blättern. Es war der Gaul, spürte er, das kluge Tier, schlauer als ein Fuchs, listiger als ein Rabe. Das Roß weidete auf seinem Kopf Er fühlte die weichen Pferdelippen, es zauste und riß, er hörte auch das Malmen der gelben Zähne, aber er sah nicht um und ließ sich den Kopf kahl fressen, ließ den Gaul die harte Kost schlucken und sagte laut in das Sonnengeflimmer hinein: »Listiger Rabe! Auf! Zu Ophelia! Ohne Kranz!« Aber er blieb sitzen und sah geradeaus, und über seinem Kopf der Pferdekopf tat es auch.
Aber dann ritt er doch weiter, Hamlet, der Prinz, den Hügel hinab und auf sein Landhaus zu, auf einem Weg, der ihn an die Rückseite des Gebäudes und an die Stallung brachte. War der Pfad, der zur Landhausfront führte, nur schmal und nur für Fußgänger berechnet, so war die Straße, die Hamlet geritten kam, breit genug, daß auch Wagen auf ihr fahren konnten. Zuerst nickten die gelben Sonnenblumenscheiben um sein Gesicht, und ihre schwarzen Augen drehten sich zu ihm, alle Köpfe drehten sich zu ihm, sahen ihm nach. »Neugieriges Pack«, sagte er. Die Binsenstangen wackelten und rieben sich, das klang wie: »Guten Tag, Prinz!« Das liebte er auch nicht. »Seid ruhig«, sagte er. Und ritt über die Brücke, daß der Hufschlag schwer polterte. Wie lautlos dann ritt es sich auf der Wiese! Er lenkte das Pferd zum Stall und hielt plötzlich, weil ihm ein nackter Knabe entgegensprang, sein Knabe.
Die Haare des Kindes waren schon wieder trocken, hübsche schwarze Haare. Hamlet sah ihn neugierig an: »Man sieht deutlich deine Rippen. Zähl einmal, wieviele du hast!« Der nackte Froschjäger begann: »Eins, zwei, drei, vier, fünf Ach«, sagte er dann, »das ist langweilig. Guten Tag, Prinz.«
Hamlet neigte sich vor, hatte den Kopf am Pferdehals und fragte: »Wieso springst du hier nackt herum?«
»Ich trockne mich, weil ich bei der Jagd ins Wasser fiel.«
»Was jagtest du?«
»Frösche.«
»Hast du einen erwischt?«
»Ja.«
»Wo hast du ihn?«
»Die Dienerin Anna hat ihn zertreten.«
»Wieso durfte sie das?«
»Die Mutter befahl es ihr.«
»Ja, dann«, sagte der Prinz und stieg schwerfällig ab, und der Gaul ging selber die paar Schritte, die ihn in den Schatten der Stallwand brachten, und blieb dort stehn. Der Knabe aber stellte sich unter den Bauch des Tieres, daß er mit dem Kopf knapp die Bauchwand berührte, die nun über ihm war wie ein atmendes Dach, und sagte: »Geh nur hinein, Prinz.« Als Hamlet an der Ecke umsah, hatten beide den Kopf zu ihm gedreht, der Gaul den riesigen, bebüschelten, der Knabe den schmalen, schwarzen.
Im Flur begegnete er der Dienerin Anna. »Guten Tag, Amme«, grüßte er sie, betrachtete ihre verklebten, geschlitzten Augen. Er hat einen Strickbart wie ein Tatar, der Alte, dachte er, und die hat tatarische Augen. »Chinesisch«, murmelte er, »wie kommen die beiden in unsre Landschaft?«
Er klopfte an Opheliens Tür und trat ein. Ophelia, das weißgekleidete Mädchen, hob die Augenbrauen etwas, die zusammengewachsenen Augenbrauen, die nun wie ein sanfter Strich sanft in die Höhe schwebten, oben, unterm Haar, etwas verweilten und dann gleitend wieder an ihren Platz zurückkehrten. Der schwere Hamlet verneigte sich, und Ophelia senkte ihr honiggelbes Fräuleingesicht, und dann blieben sie schweigend. Hamlet setzte sich, und der Sommer sah durchs Fenster herein und sie beide in den Sommer hinaus. Schnell begann der Prinz zu sprechen, die Worte rasch und fliegend hintereinander, aber große Pausen zwischen den einzelnen Sätzen. Ophelia hörte zu, das Mädchen, antwortete nicht, obwohl der Prinz manchmal einen so großen Zwischenraum zwischen Satzende und Satzanfang ließ, daß sie sich hätte bequem dazwischenschieben können. Aber sie tat es nicht. Und dann kamen wieder viele, flatternde Worte aus des Prinzen Mund, wie viele schwarze Fliegen, so eilig, flügelgeschwind, schwärmend, nicht bloß hintereinander, manchmal zwei nebeneinander, auch übereinander, dunkle, surrende Worte. Dann schwieg der Prinz auch. Ophelia war aufgestanden und in die Ecke gegangen, daß das Licht zum Fenster herein, schräg herein, sie wie Gold traf In einem gelben Schein stand sie, in einem rosiggelben Schein, und war ein wenig dick, und ihre sanften Augen waren wie schlummernd.
Auf einmal, Hamlet erschrak, und ein wenig erschrak auch sie, begann sie zu reden. Nicht wie der Prinz mit großen Pausen, nein, pausenlos, ohne einmal zu unterbrechen, unaufhörlich schien es Hamlet. »Seit der Geburt des Kindes«, sagte sie, »mein Prinz, hast du mich nicht mehr berührt, nicht mehr die Haut meiner Hand gespürt, nicht mehr mein Haar angefaßt, nicht mehr mein Kleid mit den Fingerspitzen betastet. Wenn du kamst, gabst du mir nicht die Hand, und wenn du gingst, gabst du sie mir auch nicht.« Sie neigte ihr honiggelbes Haupt, Ophelia, das Mädchen: »Nicht mehr den Hauch deines Mundes habe ich bekommen, denn nie mehr warst du mir so nah, seit das Kind geboren wurde, daß ich ihn hätte bekommen können. Du kommst täglich geritten und reitest täglich wieder weg, seit sieben Jahren, im Frühling, im Herbst und im Winter, aber nie mehr hast du mich berührt.«
Sie streckte beide Arme in sanfter Biegung nach vorn, öffnete die Hände, und Hamlet sah deutlich die Finger, die runden Fingerkuppen, die Polsterung der Hand, die rund geschnittenen Nägel, und er sah, wie die Finger leicht und anmutig im Schmerz bebten. Sie hatte nicht aufgehört zu reden, während sie die Bewegung machte, und die Worte kamen aus ihrem Mund, schien es Hamlet, dem Prinzen, wie eine Schar und ein Schwarm und eine Traube von hellen Sommermücken, gelbgeflügelt, schimmernd, lichtleibig, und tanzten im Zimmer und umtanzten ihn und sein Gesicht, das die Wortmücken anzog, wie die Kerze die Schwirrenden anzieht, und immer dicker wurde der Schwarm der Hellgelben, und er verneigte sich und verneigte sich nochmals und ging und ging zu seinem dicken, schweren Gaul, unter dessen Bauch noch immer im Gras, mit Grashalmen spielend, sein nackter Sohn saß. Er stieg auf, das ging nicht so leicht, denn er war gewichtig und ein wenig ungeschickt, und angelte ein paarmal zuerst nach dem Steigbügel, ehe er ihn erwischte, aber er saß dann endlich doch oben und ritt weg, wieder den Hügel hinauf, an der Nußbaumgruppe vorbei, und jenseits weiter, und zur Stadt. Und die Mücken flatterten manchmal noch um seinen Kopf, denn er schlug danach mit seinem ledernen Handschuh, und sie schienen wirklich da zu sein, denn auch der schwere Gaul, doch listig wie ein Rabe, schlug wütend einmal mit seinem langen, fuchsroten Schwanz nach rückwärts und nach vorn, daß er Hamlets Knie peitschte.
Und das Mädchen Ophelia, honiggelb stand es noch in der Zimmerecke, noch die Arme gestreckt, noch die Finger mit den rundgeschnittenen Nägeln anmutig und im Schmerz bebend. Aber die hellzartleibigen Fliegen waren weggeflogen, Ophelia sprach nicht mehr, stand nur, bebte. Ließ die Arme sinken, die nackt und schlüsselblumengelb aus dem weißen Kleid kamen, und ging ins Freie. Die Sonne war noch da, war noch hitzig da, aber sie war tiefer herabgegangen, stand aber immer noch fahnenstangenhoch über dem Hausdach. Ophelia wandte dem Haus den Rücken und schritt, wie schwebend, kein Heuhupfer sprang vor ihrem sachten Tritt hoch, zum Wassergraben. Sie ging über den Steg, machte einen Schritt in die Binsen hinein, von denen keine brachen, die ihr auswichen, die sich beugten und sich dann wieder aufrichteten, und nun stand Ophelia ganz wie ihresgleichen, gelb wie sie, nur ein wenig dicker, aber es gab auch Binsenstämme, die hatten eine runde Fülle wie sie, stand nun zwischen den Stämmen und wiegte sich mit ihnen und spiegelte sich mit ihnen im grünen Wasser des Grabens. Grad vor ihr reichte ihr ein junger Stämmling, mehr grün noch als gelb, bis ans Knie, und den Grünling riß sie aus, die erdigen Wurzeln mit, und machte sich einen Reif oder Ring davon und setzte ihn sich ins Honighaar, wo er lieblich abstach. Das Wurzelende war vorn, hing in die Stirn herein, bis zur Nase, und die allerfeinsten Wurzelhaare kitzelten ihr ein wenig die Nüstern, daß sie blasen mußte, wegblasen. Wie kam der Kranz auf ihr Haupt? Eine Stunde früher hatte Hamlet, der Prinz, auch einen getragen, nicht aus Binsen zwar, aus Nußblättern. Aber seinen hatte sein fuchsroter Gaul gefressen.
Ophelia trat aus den Binsen heraus, stand am Wasser, am Wassergraben, setzte sich und ließ die Beine ins Grüne, Flüssige, Klare und Kalte hängen. Das Wasser drang schnell vom Kleidsaum höher, bis übers Knie jetzt. Ophelia neigte sich vor, es hing keine Träne in ihrem Auge, das Auge verschleierte sich, an den Nüstern kitzelten wieder die Wurzelhärchen, sie blies und rutschte tiefer, hielt sich aber mit den Händen am Steg fest. Bis zur Brust hing sie nun im Wasser, in ihre Achselhöhlen drang es kalt, aber keine Träne hing ihr im verschleierten, ein wenig und sanft vorschwellenden Auge.
Nun ließ sie die linke Hand los, da sank sie noch tiefer, das Wasser brauste ihr übers Gesicht, aber die kleinen, ein wenig dicken Finger mit den rundgeschnittenen Nägeln hielten sich noch am Steg. Nicht mehr lange, so ließen sie los, sie sank unter. Sie strampelte nicht, sie zappelte nicht, es strudelte nicht im Wasser, sie blieb unten, das bauschige Kleid trug ein bißchen, so war ihr Tod.
Und Hamlets, des Prinzen Amme, Anna, die Dienerin, war wieder da und zog heut zum zweiten Male etwas Triefendes aus dem Graben, aber diesmal war es etwas Totes. Sie sah aus ihren Tatarenaugen auf das Tote herab, ihr Maskengesicht veränderte sich nicht, hätte sie einen eisengrauen Strickbart am Kinn gehabt, so wär es gewesen, als sähe der Staatsministervater sein totes Kind. Es war aber nur die Dienerin Anna, und die griff zu, fürchtete das feuchte Tote nicht und trug es zum Haus. Die Füße der Toten, in den gelben Sandalen, schleppten im Grase nach, nicht mehr so sanft wie vorher, da sie lebendig zum Graben gegangen waren, und jetzt sprangen die Heuhupfer hoch, gekränkt, und das Gras, vom nassen Kleidsaum genäßt, wurde niedergedrückt und blieb noch eine Stunde niedergedrückt, aber dann richtete es sich wieder auf, so kräftig war die Sonne denn doch noch, die Halme in einer Stunde wieder zu trocknen.
Als die Dienerin Anna mit der Last, mit der toten Ophelia, der Binsenkranz saß schief im Honighaar, aber er saß noch, bei der Haustüre ankam, sie schon aufgestoßen hatte, wer lief ums Eck, nackt, mager, alle Rippen sah man? Grad konnte sie die nasse Tote noch, ehe es der Knabe bemerkte, in den Hausflur schubsen, die Tür zuschlagen, vor der Tür stehenbleiben und ihm sagen: »Treib dich anderswo rum!« Dann ging sie ins Haus.
Die Sonne hing am gleichen Platz, die Nußbaumgruppe stand am gleichen Fleck, unter den Bäumen hielt ein Reiter, das Pferd den Kopf gesenkt, der Reiter den Kopf gesenkt, den linken Arm hoch in den Blättern verwühlt. Es war am andern Tag, und Hamlet ritt nach seinem Landhaus wie täglich. Der Gaul lief wieder von selber in den Stallwandschatten, und der Prinz ging ins Haus. »Guten Tag, Amme.« Sie antwortete: »Guten Tag, Königliche Hoheit.« Sie ging voraus, er folgte ihr, sie stieß eine Tür auf, die tote Ophelia lag, die Augen geschlossen, Binsen im Haar, auf einer Bank, im gleichen Kleid, das war getrocknet. Der Prinz trat ein, trat näher, wich dann zurück, zur Wand zurück, fiel auf die Knie, und die Amme erzählte.
Der Prinz sah immer Ophelia an und sagte der Magd, sie solle draußen warten. Sie wartete draußen auf ihn. Er näherte sich der Leiche, er stand nicht auf dabei, auf den Knien hinkte er zur Bank, er keuchte. Er sah sie immerfort an und streckte die Hände aus, sie zu berühren, und zog sie zurück, die Hände, und preßte sie fest gegen die eigene Brust, er konnte kaum schnaufen, und stand auf und sah sie an, immerfort an, immerfort an, und ging mit dem Gesicht zur Toten rücklings zur Tür und trat rücklings hinaus, und die Magd, die draußen wartete, schloß die Tür. Die beiden Hände fest gegen die eigene Brust gedrückt, er konnte kaum schnaufen, fragte er: »Weiß es der Knabe?«
»Nein«, antwortete die blinzelnde Amme.
»Begrabe sie«, sagte er, »begrabe sie, sage dem Knaben nichts, begrabe sie nachts, in dem Zimmer, in dem sie jetzt liegt. Nimm zwei Knechte, laß sie die Bodenbretter herausreißen, laß sie ein Grab schaufeln, leg sie hinein, laß die Bretter wieder drüber legen, im Zimmer, und sage dem Knaben nichts.«
Dieser Tag verging, und die Nacht kam, und man riß die Planken auf, die zwei Knechte tatens, und dem Knaben sagten sie nichts, und die Planken legten sie wieder drüber. Und die Nacht verging, und der Morgen kam, und die Sonne stieg und mit der Sonne kam herabgestiegen von der Nußbaumgruppe eine Schar von Männern, die Sensen mit sich führten und Sicheln und auch Beile und große Messer und Sägen und anderes Handwerkszeug. Sie hatte der Prinz geschickt, und sie begannen zu arbeiten, und die Sensen fuhren in den Sonnenblumenwald, wohl fünfzehn Sensen auf einmal, und schnitten, und die Blumen sanken. Die schweren Teller fielen, der Wald verging. Eidechsen raschelten davon, Vogelnester wurden entblößt, und Schlangen und Blindschleichen flüchteten und fuhren in den Binsengürtel, der gelb in der Sonne brandete wie immer. Und immer weiter rauschten die Sensen, die behaarten Stengel der Blumen fielen, schief durchschnitten, und an den Schnittflächen rann der Wundsaft, und sie fielen in Büscheln und in Gruppen, und mancher zähe Stengel wollte nicht fallen, die Wunde ging nicht tief genug, der Stiel war nicht ganz durchschnitten, da stürzte nur der schwere Kopf, traurig und zornig sah der schwarze Samenkern, wie ein Negerauge, und der Kopf hing nach unten am angeschnittenen, nur geknickten Stengel. Und immer weniger wurden, die noch standen, und die grünen, behaarten Stumpen gewannen die Überzahl und waren wie dünne Zaunlatten, wie die Zahnstümpfe eines verdorbenen Gebisses, als wollten sie in den blauen Himmel beißen. Und dann fielen die letzten, und weg war der Wald der gelben Tellerblumen, nur eine stand noch aufrecht inmitten des gefallenen Volks und drehte stolz das gelbe Gesicht, als einzelne entkommen.
Die Schlangen, die bläulichen, die sich in den Binsen verkrochen hatten, und die schnellen Eidechsen, sie mußten weiterfliehen, es gab keine Ruhe heut, die Männer gingen auch auf den Binsenwald los und legten ihn um. Wildenten fuhren daraus auf mit schweren Körpern und kurzen Flügeln, und dann waren die beiden Ringwälder weg, Haufen von Blumen waren nur mehr da, die rochen in der Sonne, und Bündel von Binsen, die begannen zu dorren. Weithin stieg der Saftgeruch der Gemähten, eine Duftwolke hing in der Luft, und wirre Vögel, deren Nester unter den Stengeln vergraben lagen, taumelten drüber hin. Manche Vögel schrien, und manche der Gefällten taten wie Schwerverwundete, die sterbend noch einmal sich regen. Sie drehten den schweren Kopf wenn die hitzige Sonne, die sie dorrte, ihnen einen Schein von Leben lieh, und manch ein Blumenhaupt, das mit dem Gesicht nach unten lag, schob sich noch einmal zitternd in die Schräglage.
Das Landhaus, das von den beiden gefällten Wäldern eingeschlossen, umhüllt, umgürtelt gewesen war, lag nun jedem Blick offen da. Und etliche von den Männern holten Leitern, legten sie am Haus an, stiegen aufs Dach, und andere kamen aus dem Innern des Hauses über die Treppen empor unters Dach, und sie fingen an das Dach abzudecken, ganz abzudecken, daß bald nichts mehr als das Gerippe der braunen Balken, der leere Dachstuhl, übrigblieb. Die Sonne, die um diese Zeit senkrecht über dem Haus stand, sah tief hinein in das Innere. Als die Männer so weit waren, zogen sie ab mit ihren Sensen und Handwerkszeugen und gingen den Weg zur Stadt, und als sie die Nußbaumhöhe überschritten, holte sie ein Wagen ein, ein trotz der Hitze geschlossener Wagen, der kam vom Landhaus, und an dem einen Fenster sahen die Männer ein Knabengesicht, ein lustiges, und ein Zitronenkleid, und am ändern Fenster sahen sie eine fette Maske mit tatarischen Augen, und der Wagen fuhr vor ihnen her zur Stadt, und sie gingen hinter ihm drein, ebenfalls da hin.
Und Tage vergingen, und viele Tage vergingen, und es kamen nach den vielen sonnigen Tagen auch Regentage, und der Regen fiel und spritzte in das Wasser des Grabens, daß es Zitterringe gab, und das Grabenwasser nicht mehr grün war, sondern schwarz. Die Sonnenblumen, schon getrocknet und welk, tranken jetzt begierig die Flüssigkeit, saugten sich an, wurden schwabblig fett und quallig platschend und rochen faulig und zerplatzten und drangen ineinander, verfilzten sich, verflochten sich, verbanden sich moosig. Die Binsen waren widerstandsfähiger. Die Sonne hatte sie wenig verändert, und auch der Regen konnte den Holzähnlichen weniger an.
Und durch den leeren Dachstuhl suchte sich das Regenwasser den Weg. In den kahlen Zimmern, deren Einrichtung man längst in die Stadt geschafft hatte, bildeten sich an den Decken nasse Flecken, schimmlig wuchs es in den Ecken, grüner, metallisch glänzender Schimmel. Aus den Brettern erhoben sich bräunliche, röhrenhalsige Pilze, zu Büscheln vereinigt, rasch in die Höhe geschossen. Und der Regen rann und nagte und biß und würde schon eines Tages das ganze Haus auffressen, der hungrige Regen mit seinen tausend Tropfenzähnen. Im Keller huschten Ratten, große Tiere, und bescheidenere Völker von kleinen Graumäusen, langschwänzig, und Vögel, aus dem Sonnenblumenwald vertrieben, nisteten in den leeren Räumen. Der Wind half dem Regen, einmal stürzte ein Balken, zeigte eine mehlige Wunde, und in die Wunde goß der Regen sein giftiges, ätzendes Wasser, und eines Nachts hörte der Regen auch wieder auf der grüne Mond stand über dem zähnefletschenden Dachgebiß, und morgen würde wieder die Sonne, die große, feurige Sonnenblume, die niemand mähen kann, ihr Löwenhaupt brüllend über das Zermorschte neigen.
Der Boden des Zimmers war mit Holz ausgelegt, schachbrettartig, gelbe, eigelbgelbe Vierecke neben schwarzen, ebenholzschwarzen, und das Zimmer war leer. Die Wände des Zimmers waren sehr hoch, mit gelben Tapeten bekleidet, die Fenster waren hoch und schmal, die Türen waren hoch und schmal, die Decke war gelbgetäfelt, es war kein Tisch in dem Zimmer, nur Stühle, hohe, lederbezogene, schwarze Stühle, und niedere, mit schwarzem Samt überzogene Hocker. Es war am späten Nachmittag, September wars, fröhliches Licht fiel in das Zimmer, in den gelben Saal, wie er genannt wurde. Kein Geräusch von irgendwoher drang in den Raum, und daß ein Summen zu hören war, war wohl nur Einbildung, und wenn es mehr war als Einbildung, dann hatte das Zimmer eine Stimme und summte hell und gleichmäßig hoch wie ein großes, gelbes, schwarzgepunktetes Insekt. Das Zimmer, das Zimmerinsekt, die zimmerige Fliege, hatte keine Flügel, aber zu verwundern wärs nicht gewesen, wenn das Summen stärker angeschwollen wäre und immer stärker und der bebende kleine Saal sich gehoben hätte und wär davongeflogen.
Jetzt ging die Tür auf, gleich wurde das Summen ganz fein, wohl unhörbar, und hereintrat eine junge Dame in einem grünseidenen Kleid, das Haar hoch hinaufgesteckt, und ging zu einem der schmalen Fenster und sah hinaus, sah in den Garten hinaus, wo die Bäume noch ihre grünen Blätter trugen, aber ein paar voreilige gelbe waren auch schon darunter. Wie die grünseidene Dame so am Fenster lehnte, sah sie selber wie ein großes, gebogenes, grünes Blatt aus, und nun wehte sie wie von einem Windstoß getrieben ins Zimmer zurück und setzte sich auf einen der Hocker. Sie war eine schlanke, junge Dame mit einer Wespentaille, mit einem etwas blassen Gesicht, hübsch, höchstens zwanzig Jahre alt, und saß nun auf dem Hocker, wartete, gähnte, gähnte laut und lang, mit großem, offenem Mund, links unten in dem schönen Gebiß fehlte ein Zahn, dehnte das Gähnen überlang aus, schien kein Ende zu finden, räkelte sich, während sie gähnte, nahm die Schultern zurück und schob die Brust vor, die fast zu üppig war für den mageren Körper. Sie hörte wieder auf zu gähnen, die Dame langweilte sich in dem leeren Zimmer, ging zu einem der hohen Sessel, setzte sich hinein und kratzte mit den Fingernägeln auf der ledernen Lehne, schlug mit den Schuhen gegen die Sesselbeine, zuerst unregelmäßig, dann in einem bestimmten Takt, und immer kräftiger schlug sie zu, bis sie »Au« sagte und nach ihrem Fuß griff, weil der letzte Schlag zu heftig geraten war.
An der Tür war ein Geräusch, die junge Dame sprang auf, die Tür ging auf, eine blauseidne Dame kam herein, größer als die grünseidne, älter als sie, nicht viel älter. In dem schweigenden Saal sprachen die beiden Damen nichts, sie begrüßten sich schweigend, und das war ein Spiel für sich, das nahm Zeit und Raum in Anspruch, das wurde mit Ernsthaftigkeit und Würde durchgeführt. Sie näherten sich mit kleinen Schritten und wie auf Befehl blieben sie plötzlich stehen, den linken Fuß hatten beide vorn, und dann wurden beide plötzlich kleiner, sanken in sich zusammen, und wuchsen langsam wieder an, und lächelten sich an und taten wieder je einen Schritt gegeneinander, und wurden wieder klein und wieder groß, und dann war die Begrüßung fertig. Aber reden taten sie noch immer nichts miteinander, die blaue Dame ging zum Fenster, die grüne setzte sich wieder in ihren Sessel und fing wieder an leise die Lehne zu kratzen.
Die blaue Dame hatte lange genug hinausgesehen und drehte sich um. Sie war hoch gewachsen, mit einem gesunden Gesicht, mit roten Backen, gar nicht mager, im Gegenteil, und mit großen, grauen Augen und einer großen, geraden Nase. Die Dame stand und sagte nichts und hätte am liebsten wohl auch gegähnt, aber das ging nun nicht, sie war ja nicht allein, und hätte sich am liebsten wohl auch geräkelt, und hätte die Schultern zurückgenommen und die Brust nach vorn geschoben, und dann hätte man gesehen, daß sie nicht üppiger war als die der mageren, grünen Dame.
»Ilsegund«, sagte die grüne Dame, »Ilsegund, wir sind wieder die ersten.« »Klara«, sagte die blaue Dame und ihre Stimme war zu laut, das wußte sie selber, und dämpfte sie möglichst, aber sie war doch zu laut, »Klara«, sagte sie mit tönendem Klang, »warum sind wir auch immer die ersten?« und ohne Grund lachten beide laut, Klara mit heller Stimme, schwebend, Ilsegund tief und tapfer. Mit gerunzelten Brauen dann auf einmal hörten sie auf zu lachen, Ilsegund hatte sich auch gesetzt, so gesetzt, daß sie Klara ins Gesicht sehen konnte, ein ernstes Gesicht machten nun beide, einen strengen Mund nahmen sie, feierlich saßen sie und sagten wie einen zweistimmigen Gesang: »Wir sind doch Hofdamen!«
»Herr von Xanxres«, sagte Ilsegund, »ist mir vorhin auf der Treppe begegnet.« Klara hörte das, aber ihr blasses Gesicht rötete sich nicht, ihre Hände zitterten nicht, ihr Mund bebte nicht, als sie antwortete: »So?« »So, so, so so«, sprudelte überlaut Ilsegund heraus, sang dann weiter: »So, so, so«, mit verschieden langen Pausen zwischen so und so, höhnisch, spottend, scherzend, bös, freundlich, mitleidig, wiegte sich auf dem Stuhl, sah scharf Klara an, ärgerte sich, »so, so, so«, plärrte sie, »ist das eine Antwort?« Klara legte ihre Hand flach auf die Lehne, ihre Finger waren schmal, aber kurz, die Fingernägel kurz geschnitten, die Hand nicht ganz sauber, unter den Nägeln ein schmaler Schmutzrand, Klara legte ihre Hand flach auf die Lehne. Ilsegund trompetete noch einmal »So, so«, dann standen beide schnell auf, Ilsegund und Klara, denn zwei Damen traten herein, und die vier Damen nun, wie seltsame Vögel, mit hohen Haarschöpfen alle vier, blau, grün, gelb und rot gekleidet, seidenraschelnd alle vier, verneigten sich tanzend voreinander, die Hände zierlich an den Rockfalten, knicksten und sanken und stiegen und begrüßten sich feierlich, Ilsegund und Klara begrüßten Sigrid und Bärbe.
»Ihr seid natürlich schon da«, murmelte Bärbe, ohne den Mund zu öffnen, ohne die Zähne voneinander zu nehmen und ging zum Fenster und sah hinaus, und Sigrid lächelte die beiden an mit gesenkten Lidern und ging auch zum Fenster, um hinauszusehen. Was draußen zu sehen war, kannten sie wohl, denn sie drehten sich gleich wieder um. Es suchten die vier ins Gespräch zu kommen, und es gelang so gut, daß alle vier gleichzeitig redeten eine Weile, und dann plötzlich schwiegen alle vier auf einmal, daß es dann ganz und gar ruhig wieder gewesen wäre, wenn da nicht sofort der gelbe Saal sein Insektensummen aufgenommen hätte, beruhigend. Aber, daß die eine sprach und drei zugehorcht hätten, oder daß sie paarweise miteinander ein ordentliches und regelrechtes Gespräch führten, das gelang nie. Trotzdem: in diesen verwilderten Gesprächen sagten sie sich doch manches und sogar vieles. »Herr von Xanxres«, sagte überlaut wieder Ilsegund und sah Klara an, aber Klara hörte es gerade nicht, und Bärbe murmelte mit zusammengebissenen Zähnen: »Prinz Hamlet.« Sie hatte wohl mehr gesagt als »Prinz Hamlet«, wohl einen ganzen Satz, den ganzen Satz hatten sie nicht gehört, aber das gemurmelte »Hamlet« hatten sie alle gehört, und das war wieder einmal ein Augenblick, wo sie alle verstummten, alle Bärbe ansahen, Sigrid mit gesenkten Lidern, schielend, blinzelnd, Ilsegund mit offenem Mund, Klara neugierig, gespannt, aber Bärbe sagte sonst nichts, sie waren alle enttäuscht, um eine Hoffnung ärmer, betrogen, und mit einemmal wisperten alle wieder durcheinander, ohne viel aufeinander zu hören.
»Der König und die Königin«, sprach Sigrid, »wollen erst im Oktober vom Landschloß Burla zurückkommen.« »So«, sagte Klara. »Ja«, sagte Sigrid, »ich habe Nachricht von meinem Bruder.« »So«, sagte Klara, aber die beiden anderen Damen sagten noch weniger, antworteten überhaupt nicht. Sollte es Sigrid zum drittenmal sagen? Aber sie sah Klaras blasses Gesicht vor sich, das ohne Aufmerksamkeit war, ihre Gedanken waren wohl irgendwo anders, und so sagte sie es nicht zum drittenmal, es war eben ganz und gar unmöglich, daß unter den vier Hofdamen ein Gespräch entstand, sie flatterten wie Tauben durcheinander, sie waren nie einig. Einig nur, wie Tauben einig sind, die aufrauschen mit einmal, wenn ein Stein unter sie fliegt, und so flatterten und hüpften sie mit kurzen Flügelschlägen durcheinander.
Bärbe, klein und zierlich, mit etwas zu großem Kopf, in ihrem roten Kleid, sprach nun gar nichts mehr, versank in Nachsinnen, biß die Zähne fest aufeinander, wollte nicht sehen lassen, was sie dachte. Freudiges oder Schmerzliches, obwohl das gar nicht so nötig war, denn es beobachtete sie niemand, nur vielleicht Klara, die blasse, aber auch die nur aus einer kleinen Neugier, ohne Teilnahme. Bärbe, die rote, dachte an einen großen, dicken, fetten Mann, dachte an den Prinzen Hamlet. Wie war sie klein neben ihm! Er ist zu dick, dachte sie. »So«, sagte die blasse Klara, und Bärbe erschrak, hatte sie laut gedacht? Sie hatte nicht laut gedacht, wie oft am Tage sagte nicht Klara »So?«, aber sie traute sich doch nicht mehr zu denken: er ist zu dick! Er ist stattlich, dachte sie, und nahm die Zähne ein wenig auseinander und sah wieder Klara an. Die atmete tief ein, ihre schöne, prall am magren Körper sitzende Brust stieg an, und die zierliche Bärbe dachte, daß ihre eigene Brust nicht häßlich war, aber kleiner als die Klaras, aber war sie deswegen weniger schön? Seufzend wandte sie den Blick von Klaras Brust, die aber auch eben wieder kleiner geworden war, weil Klara ruhig und tief ausgeatmet hatte.
Afra trat herein, in einem bräunlichen Kleid, die Hofdame Afra, mit bräunlichem Gesicht, schwarzen, runden Augen, einem vollen Mund, die Lippen gelblich, mit schwarzem Haar, einer Stumpfnase, Afra, klein von Gestalt, rundlich, fleischig, mit rundlichen, fleischigen Händen, unschönen Händen, mit zu kurzen Fingern, die Finger schlecht geformt, gleichmäßig breit. Afra trat herein, sank grüßend zusammen, Ilsegund, Bärbe, Klara, Sigrid sanken grüßend und schweigend zusammen, wieder hörte man nur den Saal summen. Afra ging zum Fenster, sah hinaus, die vier Damen, die vier ändern, sprachen Schnelles durcheinander, sahen aber alle auf Afra hin, auf Afras weitausgeschnittenen bräunlichen Rücken. Als Afra sich umdrehte, standen ihr die vier stumm auf einmal nun wieder und geschlossen gegenüber, nebeneinander standen sie, Ellbogen an Ellbogen, eine gedrängte Kampfreihe, sahen sie an. Afra ging auf sie zu, die vier blieben stehen, als wollten sie nicht ausweichen, erst als Afra dicht vor ihnen war, traten Ilsegund und Bärbe, die die Mitte hielten, je schrägrückwärts hinter Klara und Sigrid, und durch diese Lücke, wie durch einen Torbogen, ging Afra, und jetzt redeten die vier auf einmal alle wieder und gleichzeitig. Und Afra, die noch kein Wort gesprochen hatte, stand nun in der Nähe der Tür. Afra lächelte, fast lachte sie, aber lautlos, aber den Mund hatte sie weit offen, mit schönen, großen, etwas nach vorn stehenden Zähnen, lachte lautlos, die schwarzen Kugelaugen lachten mit, und die vier waren entrüstet, bebten vor Entrüstung, gleich würden sie mit Worten über Afra herfallen, aber nein, sie taten es nicht, jedes Wort, das Afra zufliegen sollte, machte eine Wendung, drehte sich einer der vier zu, jeder Schritt, der Afra zugehen sollte, wandte sich und führte weg von ihr, so stand sie allein, obwohl alle ihr zugewandt waren.
»Liebe Klara«, sagte Afra, und lachte lautlos weiter, und Klara ging auf sie zu, eilig und widerstrebend, aber doch, und dann stand sie stumm und erwartungsvoll vor Afra, aber Afra sagte nur nochmals »liebe Klara« und schloß dann die gelblichen Lippen über den blitzenden Zähnen und sagte nichts weiter mehr, und Klara sah sie an, zuckte mit den Achseln fragend, hinter ihr rief überlaut Ilsegund »liebe Klara« und Klara sagte »so« und Bärbe sagte »liebe Klara« und Sigrid sagte »liebe Klara«, und dann lachten die vier, nur Afra lachte nicht.
Die Tür wurde aufgestoßen, und der Knabe lief herein, in seinem zitronengelben Kleid, und lief quer durch den Saal, ohne irgendjemand zu beachten, und lief zum Fenster und sah hinaus. Er reichte mit dem Kopf gerade über die Brüstung, ein Vogel, der draußen vorbeigeflogen wäre, hätte nur, wie abgeschnitten, einen Kopf gesehen, aber es flog kein Vogel vorbei, nur hoch droben am Himmel eine Wolke, und der Knabe drehte die Augen nach oben, zur Wolke, und sah sie an. Die Amme kam auch zur Tür herein, neigte den Kopf vor den fünf Damen, ob ihre verklebten Augen irgendjemanden sahen, war nicht zu erkennen, und ging zum Fenster, und faßte den Knaben bei der Schulter, der wandte den Kopf, ließ die Augen nach oben gedreht, und die Amme sagte zum Knaben; »Du hast niemand begrüßt.«
Der ging weg vom Fenster, der Knabe, aber die Augäpfel immer noch nach oben gedreht, wie schielend, trat vor jede der vier Damen, machte vor jeder eine zierliche Verbeugung, die tiefer als seine erwidert wurde, sah jede der Damen lustig schielend an, und Afra küßte er die Hand, die dicke, unschöne Hand, die bräunlich, krötenhaft war. Afra sagte: »Prinz, warum schielen Sie?« Mit heller Stimme fragte der Knabe: »Schickt sich das schon wieder nicht?« Afra lachte, sagte: »Ich werde das in Ordnung bringen.« Mit Zeigefinger und Daumen der rechten Hand (wie war ihr Daumen dick, vorn ausladend, löffelig!), mit zwei Fingern drückte sie die Augen des Knaben in die richtige Stellung. Der Knabe ließ sich das ruhig gefallen.
Ilsegund und Bärbe und Klara und Sigrid schoben sich ohne Verabredung, aber wie auf Verabredung, näher heran, und der Knabe war das Wild, das sie fangen wollten, und sie versuchten, sich zwischen Afra und den Knaben zu bringen, und Afra ließ sie gewähren. Sie hatten den Knaben bald eingekreist, und »Prinz« riefen sie, der aber drängte nach Afra. Der Frauenring, der um ihn sich geschlossen hatte, gab ihn nicht frei, aber da der Prinz mit kleinen Schritten auf Afra zustrebte, mußte der Ring sich mitbewegen, aber er öffnete sich nicht. Die vier sahen sich verzweiflungsvoll an, und wie im Scherz reichten sie sich die Hand, hatten den Knaben nun vollends wie einen Gefangenen in der Mitte. Der ließ sich mit der Brust gegen ein verschlungenes Händepaar fallen, schaukelte, stieß mit den Füßen vom Boden ab, zappelte, stieß vor gegen Afra, wenn sie ihn nicht stürzen lassen wollten, mußten sie nachgeben, und so trugen sie auf Händen den Prinzen zu Afra, und erkannten das, und schwirrten auseinander, und wie vorher stand der Knabe vor der Hofdame Afra, lächelte zu ihrem braunen Gesicht auf, fragte: »Warum kommt denn der Prinz Hamlet nicht?«
Der Prinz Hamlet stieg eben langsam die Treppe empor, hinter ihm Herr von Xanxres. Das Treppensteigen fiel ihm schwer, dem Prinzen Hamlet, er stieg ganz langsam, und weil Herr von Xanxres hinter ihm war und es nicht sehen konnte, so hielt er sich mit beiden Händen den Bauch, trug ihn sorgsam wie ein Kindlein, und nur immer, wenn die Treppe eine Wendung machte, daß Herr von Xanxres ihn schräg von hinten beobachten konnte, ließ der Prinz den Bauch los, strammte sich, aber wenn er wieder im Sicheren war, ergriff er ihn schleunig.
»Xanxres«, sagte er plötzlich, »Xanxres, wir sind zu spät dran«, und blieb stehen und sah seinen Begleiter schwermütig an. Dieser Xanxres, dachte er, mager wie ein Hering, der braucht seinen Bauch nicht mit beiden Händen zu tragen. Er, Hamlet, war auch einmal mager gewesen wie dieser Fant, das war noch gar nicht einmal so lang her, zehn Jahre nur war es her. »Xanxres«, sagte er, »ob Sie in zehn Jahren auch so dick sein werden wie ich?« Xanxres, der Hering, lachte und sagte; »Mein Großvater ist dick, Prinz, und Sie sollten öfter einen Trab versuchen.«
»Xanxres«, sagte der Prinz erschrocken, »nein, traben, das nicht, aber öfter sollte ich schwimmen. Sie glauben nicht, wie mich mein Bauch trägt. Sie sind ein Hering, Xanxres, und Heringe können gut schwimmen, aber ich schwimme besser als Sie!«
Hamlet ging weiter. Es kamen jetzt die ersten Stufen der zweiten Treppe, und dann mußte noch die dritte Treppe überwunden werden. An der Treppenwand hing ein Bild, es stellte eine Dame vor. »Das ist meine Großmutter, Xanxres«, sagte der Prinz, »meine Großmutter«, und mit seiner kleinen Hand streichelte er die gelben Brokatschuhe der Dame, die übertrieben deutlich gezeichnet waren, und so natürlich ähnlich gemalt, daß man jeden Goldfaden der Schuhe sah, und sah, daß der Vorderteil der Schuhe je einen Drachen eingestickt trug, mit glotzenden Augen, und der Drachenschwanz ringelte sich rückwärts zu den Absätzen. »Der Maler, Xanxres«, sagte der Prinz, »war kein guter Maler. Können Sie das Gesicht meiner Großmutter sehen? Das hat er fast versteckt.« Das Gesicht der Dame war halb mit einem Schleier verhüllt, und die Dame sah fast nach rückwärts, so daß nur eine undeutliche Profillinie zu sehen war. »Xanxres, der Maler ist ausgewichen, er hat sich gedrückt, der Maler war feig. Er ging nicht auf sein Ziel los, der Maler.« Beide versuchten der Dame ins Gesicht zu sehen, aber das war nicht möglich, das Gesicht war auf eine sonderbare Weise nicht fest, verschwamm, veränderte sich, war nicht zu fassen. »Ja, Xanxres«, sagte der Prinz, »da kenne ich nun genau die Schuhe meiner Großmutter, und ihr Gesicht kenne ich nicht. Lebendig habe ich sie nie gesehen, meine Großmutter, und nun habe ich nur die Erinnerung an ihre Brokatschuhe.«
Seufzend stieg Hamlet weiter, die Reise war noch lang, noch war die zweite Treppe nicht überwunden. »Ihr Großvater lebt noch, Xanxres. Prägen Sie sich sein Gesicht genau ein. Ist er gemalt worden. Ihr Großvater? Da haben Sie nichts davon. Da kommen nur die Schuhe auf die Nachwelt. Xanxres, wissen Sie, wie Ihr Großvater aussieht?«
Der Hering schrie: »Ja, Königliche Hoheit!«
Hamlet sagte: »Sie würden ihn wiedererkennen, Xanxres, wenn er uns jetzt die Treppe herab entgegenkäme, natürlich, aber wenn er morgen tot sein wird, Xanxres, Ihr Großvater, dann haben Sie sein Gesicht verloren und werden es nie wieder finden.«
Der Hering schrie: »Ich habe ein gutes Gedächtnis, Prinz!« Hamlet antwortete ihm nicht. Er stand vor der dritten Treppe und begann den Aufstieg. Er hielt sich den Bauch, den schweren, und sagte: »Das bilden Sie sich ein, Xanxres, das mit Ihrem guten Gedächtnis. Sie sind ein Mensch, Xanxres, wie kämen Sie da zu einem guten Gedächtnis?«
Der Hering beschrieb: »Mein Großvater hat große Füße. Er trägt, weil ihn die Gicht plagt, nur weiche Halbschuhe aus Rehleder, vorne ganz breit, damit die Zehen Platz haben, die Zehen sich ausbreiten können, die Zehen müssen spazieren gehen können, im Schuh, wenn sie wollen, sagt mein Großvater. Diese Rehlederschuhe haben auch keine Absätze, und sie sind rotverschnürt, die Schuhe, und mein Großvater hängt sehr an diesen Schuhen. Er bekommt alle Jahre ein neues Paar, aber er will sich dann nie von den alten trennen, läßt die neuen noch wochenlang stehen, trägt noch die alten, und wirft die alten nicht weg. Er hat im Schrank schon neun Paar solcher Schuhe stehen, denn seit neun Jahren trägt mein Großvater seiner Gicht wegen die Rehlederschuhe.«
Hamlet sah auf seine Füße hinab, die in langen schwarzen Reitstiefeln steckten, deren Schäfte sich eng an die Waden legten, an seine dicken Waden, und sagte: »Ja, Ihr Großvater, Xanxres!«, und dann sagte er: »Der Mann gewann damals die Schlacht bei Zickeritz, damals, als er noch nicht die Rehlederschuhe trug, sondern solche Stiefel wie ich. Ein berühmter General, Ihr Großvater.«
»Ja!«, schrie der Hering und zitterte vor Aufregung und Ehrerbietung und Ehrgeiz.
Die Treppe machte die letzte Windung, noch fünf Stufen, dann waren sie droben, aber immerhin noch fünf Stufen, fünf gar nicht so niedrige Stufen, für jemanden, der einen Bauch hat, dachte Hamlet, für den Hering natürlich soviel wie nichts. Und er schob auf der dritten Stufe noch eine Pause mit der Frage ein: »Ob Ihr Großvater, Xanxres, die Schlacht auch mit Bauch und Rehlederschuhen gewonnen hätte?«
Da richtete sich Xanxres hoch auf und sagte: »Ich glaube, Prinz, daß Sie jede Schlacht gewinnen werden in allen Schuhen!«
Nun brauchte Hamlet nichts mehr zu antworten, um eine Pause zu stehlen, denn nun waren sie droben, schritten den langen Gang hinab, schweigend, der dicke Prinz voran, in seinem Schatten der magere Xanxres, Teppiche dämpften ihren Schritt, zart klingelten nur Hamlets Sporen, und schwebend und entfernt scholl das Gewisper aus dem Saal, in dem Sigrid, Ilsegund, Klara, Bärbe, Afra, die Amme Anna und der Knabe sich unterhielten.
»Xanxres,« sagte Hamlet, »nun muß es wohl sein!«
Aber Xanxres hatte schon die Tür aufgestoßen, Hamlet ging hinein, Xanxres hinter ihm. »Guten Tag, Prinz«, sagte Hamlet zu seinem Sohn, und der erwiderte »Guten Tag, Prinz«. Hamlet machte vor den Hofdamen eine kreisende Verbeugung, sie alle umfassend, die Hofdamen sanken grüßend in sich zusammen, und Hamlet ging eilig zum Fenster. Der Hügel, der Berg, auf dem das Schloß stand, sah weit in das flache Land hinaus. Hamlet sah die vielen Wälle, die wie graue Steinschlangen sich um das Schloß wanden, aber sie würgten das Schloß nicht, sie drängten sich ja mit ihren Leibern nicht dicht an die Mauern heran, zwischen dem roten Stein des Schlosses und dem grauen Stein der Wälle lagen Plätze und Höfe, breite, längliche, runde. Gleich unter ihm war der Sankt-Georgs-Hof, mit grünem Gras bewachsen, und der Ritter stach eben einen Drachen tot, wie gestern auch, wie vorgestern, seit Jahren schon. Hamlet sah den Gartenhof, herbstlich bunt, mit Bauernblumen, roten und blauen, mit Malven, die wie Lanzen standen, und den Gemüsehof, schon sehr kahl, und den Hof vor den Stallungen. Die Ställe waren in die Felsen getrieben. Grad putzte ein Knecht ein Pferd, beide, Mensch und Tier, sahen von hier aus klein aus, der Gaul schlug hinten aus, es hatte ihm der Knecht weh getan vielleicht, die Burschen sind ja nachlässig oft, oder vielleicht nur aus Mutwillen. Nun schlug der Knecht mit der geballten Faust dem Gaul gegen das Maul, strafend. Vielleicht gehörte dem Knecht die Faust aufs Maul, dachte Hamlet. Nun kam eine Magd vorüber, nun hielt der Knecht das Pferd mit der einen Hand an der Trense, mit der andern griff er nach der Magd, die wich ihm aus, er erwischte sie doch am Arm, da schlug der Gaul wieder hinten hoch aus, und die Magd sträubte sich wild, aber der Knecht ließ beide nicht los, nicht das Pferd und nicht die Frau. Ein tüchtiger Kerl, dachte Hamlet. Da hatte der Knecht die Magd stark an sich gerissen, er küßte sie, die Magd rannte davon, wahrscheinlich kreischend, aber das hörte man nicht, und der Knecht lachte wahrscheinlich, aber das hörte man auch nicht, und nun küßte er zärtlich das Pferdemaul. Und dann fuhr er fort, das Tier zu putzen, und dann schlug das doch wieder hinten aus, und wieder fuhr die Knechtsfaust auf das Roßmaul.
An den Schloßberg unten drängten Wiesen heran, noch sehr grün, und geradewegs aus dem Schloßtor heraus lief ein Weg, ein breiter Weg, und lief ohne jede Krümmung, gerade aus, wie ein weißer Stab, lief zwischen Wiesen und abgeernteten Feldern dahin, verschwand in Waldstücken, tauchte wieder auf, wurde immer schmäler und mündete weit hinten am Himmelsrand in ein umbuschtes Dorf. An beiden Seiten der schnurgeraden Straße standen Pappeln, wie sahn die winzig aus, von hier oben aus, wie kleine Stäbchen, mit krauser Holzwolle besetzt, angeleimt. Von rechts dort aus dem Wald kam ein Bach, mit vielen Krümmungen, dort, wo er die große Schleife machte, wie oft hatte Hamlet dort gebadet! Da lag ein großer Stein mitten im Bach, aber so hoch stieg das Wasser nie, daß es den Stein überschwemmt hätte. Auf diesem Stein hatte Hamlet oft gelegen, früher, an vielen Sommertagen, nackt, jetzt selten mehr, er war zu fett geworden, er sah nicht gern seinen unförmigen Bauch, es störte ihn, und wenn er doch badete und auf dem Stein sich sonnte, ließ er den Badeplatz von Soldaten absperren, um nicht ertappt zu werden, sein dickes, weißes Fleisch wollte er niemand zeigen. Den Stein konnte er nicht sehen von hier aus, der Bach war ja nur zwirnsdünn, und wenn er sich je wieder hineinlegte, das müßte eine Überschwemmung geben, mußte er lachen, das winzige Bächlein, so schiens, von hier aus. Der Bach schlängelte sich weiter, auf die Straße zu, die auf einer Brücke trocken über ihn weglief. Auf der Brücke stehend, war es eine Lust, die Fische zu füttern, die ihre offenen Mäuler blasenwerfend über die Wasserfläche stießen, wenn die ersten Brotbrocken zu ihnen gekommen waren, wie schmale Blätter, büschlig am Zweigende, wirbelten die Tiere durcheinander, wanden sich die grüngelben, schwarzgepunkteten und auch bläulichen Leiber geheimnisvoll und lautlos.
Die Ebene erstreckte sich auf allen Seiten bis zum Horizont, der Schloßberg war die einzige Erhebung auf dieser Fläche, auf diesem großen Teller. Eins, zwei, drei Dörfer lagen verstreut, und Waldstücke, wie schwärzliche Steine. Hamlet lief mit den Augen den Himmelsrand ab, dann sprang er schnell zurück, sah die Schloßwälle, im untersten Hof putzte der puppige Knecht noch immer das Pferd, und im Blumengarten leuchteten die knalligen Blüten, wie ein stummes, überlautes Geschrei. Die grauen Wälle hatten Risse, die sahen wie Spinnwebfäden aus, und alle zehn Meter saß auf den Wällen ein Wachtturm, wie eine verschimmelte Zwiebel. Und wieder auf die mächtige, schwellende Ebene richtete Hamlet sein Auge und über dem umbuschten Dorf, das von der schnurgeraden Pappelstraße erdolcht wurde, mitten ins Herz gestochen, mitten über dem Dorf hing, nicht sehr hoch überm Dorf, im blaugrauen Himmel silbrig die Mondsichel, schwebte mit gespreiztem Flügel ein Raubvogel. Die Hühner im Dorf dachte Hamlet, die schimpfenden Bauern, der Falk geht morden, bald. Der Vogel stieß senkrecht hinab, die Hühner schwirrten durcheinander, unsichtbar, der Räuber tat sein blutiges Werk, aber Hamlet sah ihn nicht mehr auftauchen, er war vielleicht im Schutz der Bäume abgestrichen, silbrig blieb am Himmel die Sichel. Langsam marschierte Hamlet die Landstraße zurück, auf das Schloß zu, ging über die Brücke, sah das schwarze Bachwasser, ging weiter, die Pappeln wurden größer, je näher er an das Schloß herankam, er sprang auf den untersten Wall, stieg auf den nächsthöheren, immer noch, sah er, putzte der Knecht den Gaul, und auf dem oberen Wall löste gerade ein Soldat die Wache ab. Der neue Posten kletterte in die Zwiebel, kurz darauf kam er heraus, setzte sich auf den Wall, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Wachtturm, streckte die Beine behaglich in die abendliche Sonne. So ein kleines Männchen ist Soldat, sagte sich Hamlet, mit dieser strohhalmdünnen Hellebarde will er das Schloß bewachen, mit diesen Ärmchen will er zustoßen, der Knirps.
Hamlet drehte sich um. Und hier lauter Riesen, dachte er. Er sah in die großen Gesichter dieser Riesinnen, die sich ihm alle erwartungsvoll zukehrten. Diese braune Riesin, dachte er, Afra, dachte er, steht für sich allein. Er ging auf sie zu, da wurde sie zusehends kleiner, sie war ja eher unter Mittelgröße, nur die Augen blieben zu groß und rund, Riesinnenaugen. Nun richtete sie ihre großen Augen fest auf ihn, und die rechte Hand, die dickliche rechte Hand, hob sie unmerklich grüßend, vertraulich willkommenheißend, an die Hüfte und ließ sie wieder sinken. »Ja«, sagte Hamlet, »der Mann hat den Gaul geschlagen und geküßt.« Afra fragte, sich vorbeugend: »Finden Sie das das Schlimmste, Prinz«, und Hamlet antwortete: »Der Mann liebt das Tier«, und Afra trat noch etwas näher an ihn heran, er sah ihren braunen Hals, die milde Haut ihres braunen Halses, fand es aber doch zu auffällig, daß Afra so dicht bei ihm stand, machte eine höfliche, unentschiedene Verbeugung und wendete sich seinem Sohn zu, der bei Xanxres stand und diesen am Gürtel festhielt.
»Prinz Hamlet«, rief er ihn, und der Knabe kam heran. »Wie war deine lateinische Stunde heut?« fragte er ihn, und der Knabe schürzte die Oberlippe und sagte: »Ich muß wohl diese Sprache lernen, Prinz, und du verlangst ja auch nicht, Prinz, daß ich Gefallen dran habe, und lernen tu ich sie.«
Der junge Hamlet blickte zu seinem dicken Vater auf; »Dir ist es ja auch nicht gefällig, jeden Nachmittag um diese Zeit zu diesen vielen Damen zu kommen.« Der redet wie ein Erwachsener, dachte Hamlet. »Hamlet«, sagte er zu dem Knaben, »wir wollen mit den Damen reden. Ich fange mit Bärbe an, geh du zu Ilsegund!« Sie blinzelten sich muteinflößend zu und gingen ans Werk.
Bärbe biß die Zähne fest aufeinander, als Hamlet zu ihr trat. Das Mädchen ist ein wenig in mich verliebt, dachte Hamlet. Er weiß, daß ich ein wenig in ihn verliebt bin, dachte Bärbe. Es ist doch so wenig zum Verlieben an mir dran, dachte Hamlet. Er ist doch zu dick, als daß man sich richtig in ihn verlieben könnte, dachte Bärbe. Was soll ich nur zu ihr sagen? dachte Hamlet. Worüber er wohl heut mit mir reden wird? dachte Bärbe. Aber da schoß schon der junge Hamlet heran, der mit Ilsegund fertig war, bereit, nun mit Hamlet zu tauschen, der nun zu Ilsegund mußte, und so sprach Hamlet heut nichts mit Bärbe, nickte, lächelte, verbeugte sich, der junge Hamlet trat an seine Stelle, der dicke Hamlet ging zu Ilsegund. Mit der zu sprechen, fiel ihm leichter, die war gewiß gar nicht in ihn verliebt, und dann ging er zu Sigrid, die ihn mit gesenkten Lidern empfing, und dann zu Klara, und der junge Hamlet ging von Dame zu Dame, und dann war ihre Pflicht getan. Sie gingen wieder zueinander, lächelten, »gut gemacht«, sagten sie zueinander.
Die Pflicht war getan, jetzt konnte Hamlet seinem Vergnügen nachgehen, und drum stand er auf einmal wieder neben der Hofdame Afra. Aber dann sagte er: »Ich kann nicht so stehen« und »die stechen so von hinten her auf mich«. Afra drauf: »Man muß eine Wand zwischen sich und die andern stellen.« Hamlets Gesicht rötete sich, denn Afras dicke Hand mit den kurzen Fingern war wieder, vertraulich und schamlos, zu ihrer Hüfte gestiegen, und Hamlet fragte: »Eine Gedankenwand, ich kanns nicht.« Afra lachte lautlos, mit weit geöffnetem Mund, aufreizend, Hamlet sah weg, er konnte den schamlos geöffneten Mund nicht sehen, und dann sagte Afra, ernst: »Eine Mauerwand, eine richtige Wand, eine Wand aus Stein, durch manche Wand geht eine Tür, sie können immer hindurchgehn, Prinz.« Hamlet zitterte, zog den Bauch ein, so schwoll sein Brustkasten an, sagte: »Gut! Diesen Abend!« »Gut! Diesen Abend!« sagte Afra.
Zu dreien standen Klara, Xanxres und der junge Prinz. Zu dreien standen Sigrid, Bärbe und Ilsegund. Allein in der Ecke stand die Amme Anna. »Herr Baron«, sagte der junge Hamlet, »morgen reiten wir wieder miteinander aus.« »Ja«, sagte Xanxres, »wohin?« und sah auf Klara. Klara sah Xanxres nicht an, während des ganzen Gesprächs sah sie nur den jungen Hamlet an, »Wohin, Herr Baron?« sagte der junge Hamlet, »natürlich wieder in unseren Wald!« Er sagte zu Klara: »Baronin, in unseren Wald würden Sie sich nicht trauen. Selbst Xanxres fürchtet sich ein wenig.« Klara schrie: »Bären?« Hamlet lachte auf: »Nein.« Klara faßte sich und sagte: »Wölfe, Luchse, Wildkatzen, Schlangen?« »Nein«, sagte der Prinz, »Fliegenpilze!« »Ja«, sagte Xanxres, »der Prinz fürchtet sie gar nicht.« Der junge Hamlet schloß die Augen und sah in die dämmernde Blattwildnis, grün schillernd, mannshoher Farn, Tannen riesig, Fichten, Moos am Boden, die großen Fliegenpilze neben dem Stein, giftig leuchtend. Er lachte. »Wir haben uns bis jetzt nicht getraut, einen zu brechen. Vielleicht haben wir morgen Mut genug!« Xanxres sagte: »Das sagen Sie jetzt, Prinz. Weil der Pilz nicht vor Ihnen steht. Aber morgen, ich glaube nicht.« Den Waldwind hörte der junge Hamlet um sich wehen, fühlte ihn kalt, mit weißen Kalkaugen sah ihn der Pilz an, und er sagte demütig: »Sie haben recht, Baron. Wir werden uns nicht trauen!«
Sein Vater rief ihn an: »Prinz, es ist genug für heute.« Der junge Hamlet machte seinem Vater als Antwort eine tiefe Verbeugung, machte eine weniger tiefe vor jeder der Hofdamen, die Amme kam heran mit Tatarenaugen, die schmächtige, stand neben dem Knaben. Sie war nicht viel größer mehr als der junge Prinz. Wie er gewachsen ist in den letzten Jahren! dachte Hamlet. Er ist fast so groß jetzt, als seine Mutter war. Er sah auf Afra hin. Dann winkte er den beiden, der Dienerin und dem Knaben: »Auf Wiedersehen!« Die beiden gingen.
Xanxres stand bei Klara. Seine Stirn war glatt und faltenlos, das Haar braun und glänzend, der Mund fröhlich, knabenhaft das Kinn, nur die Nase groß, gebogen, und auch die Haut der Nase nicht so jung und frisch wie das übrige Gesicht, da saß wahrhaftig eine alte, krumme Kriegernase, witternd, kühn, aber mit einzelnen borstigen Haaren in den Nasenlöchern, da saß wahrhaftig eine bejahrte Nase in dem Knabengesicht. Der Körper war mager und gelenkpuppenbeweglich, lang waren die Hände, lang die Füße. Der Mann und das Mädchen standen stumm nebeneinander, und Xanxres drückte sich gegen die Wand, preßte den Rücken fest gegen die Wand, als wolle er sich eine Grube schaffen, eine Nische höhlen, als wolle er weit weg von Klara. Aber die Wand gab nicht nach, und da winkte ihm Hamlet. Er war wie erlöst und schnellte sich behend weg von der Mauer und wirbelte zu Hamlet und Afra hin, und war jetzt auf einmal gesprächig, redselig, stieß mit seiner großen Nase in die Luft, aufgeregt und so laut redend, daß ihn Klara noch verstand. Jetzt hatte er die Gelegenheit, jetzt war die Stunde gekommen, wo er sich mit ihr unterhalten konnte, und wie ein unschuldiger Pfau schlug er Rad nach Rad, vor ihr.
Und Hamlet und Afra merkten das nicht, sie waren froh, daß Xanxres so gesprächig war, und er erzählte durcheinander von Jagden und Ritten und stand immer so schräg, daß Klara ihn sehen konnte. Und als sie gingen, Afra, Hamlet und er, war er der letzte, und seine schallende Stimme drang noch vom Flur her in den gelben Saal.
Die vier Frauen brausten, wie der Wind Blätter zusammenwirbelt, aufeinander los, in der Saalmitte trafen sie sich, und gleich konnten sie nicht reden, so aufgeregt waren sie. Und Sigrid mit gesenkten Lidern sagte: »Habt ihr Afra beobachtet?« Und Bärbe stieß zwischen den geschlossenen Zähnen hervor: »Und den Prinzen beobachtet?« Und Ilsegund dämpfte ihre Stimme nicht und schrie: »Afra! Afra!« Und Klara sagte: »So!« Aber so in der Saalmitte hätten sie unmöglich bleiben können, der Windstoß pfiff wieder, trieb sie auseinander in die vier Ecken, und ihre Rufe erreichten einander nicht, sie hörten auch gar nicht aufeinander, die kleine Bärbe drehte sich wie ein Kreisel und fauchte, Ilsegund, die starke, ordnete zornig ihr Haar, Sigrid hob die Augenlider, die stets gesenkten, einen Augenblick, graue männlich strahlende Augen sahen auf die drei Freundinnen, Klara war in die Nähe der Wand geweht worden, wo vorher Xanxres gestanden hatte. »Afra«, schrie Ilsegund, das Wort, den Namen hörten alle, und Bärbe stampfte auf und Sigrid schüttelte unwillig den Kopf, und Klara wiederholte lächelnd: »Afra!«. Dann ging Ilsegund mit starken, langen Schritten zur Tür, sank grüßend zusammen dort, und schleuderte sich herum und ging. Und mit kurzen Schritten, stämmig, ging Bärbe, und Sigrid ging hinterdrein, und Klara war allein in dem gelben Saal.
Sie stand nun allein und als letzte im gelben Saal, wie sie allein und als erste ihn betreten hatte. Sie stand in der Mitte des Saales, auf einem gelben Viereck, und spielend trat sie auf ein schwarzes und wieder auf ein gelbes, trat hin und her, auf der Stelle, einen leisen Tanz. Sie lächelte und setzte den Fuß vom Schwarzen ins Gelbe und lächelte, weil kein schwarzer Fußabdruck sich abzeichnete. Auf einem gelben Viereck verharrte sie und dachte: Da liegen nun lauter Honigscheiben nebeneinander, und nun tänzelte sie von Honigscheibe zu Honigscheibe und roch den süßen starken Honiggeruch. Sie nahm die Richtung zur Wand, an der Xanxres gelehnt hatte, sie vermied es, ein schwarzes Viereck zu betreten, von gelb auf gelb trat sie, erreichte die Wand, erreichte genau den Platz.
Ihr Lächeln wurde hilflos und glückselig, das blasse Gesicht, das edel war, und doch etwas von einem Schaf hatte, das blasse, edle Schafsgesicht näherte sich der Wand, und rasch und scheu küßte Klara die gelbe Tapete, an der Xanxres sich gescheuert hatte. Dann rannte sie, von gelb auf gelb springend, wie auf der Flucht, aus dem Saal.
Jetzt in der Stille und für sich allein begann der Saal wieder sein Summen. Schwankte nicht der Boden? Hob das zimmrige Insekt nicht unsichtbare Flügel? Schwoll das Summen nicht stärker an? Und bebend und brausend flog die gelbe Riesenfliege in den goldströmenden Abendhimmel zitternd hinaus.
Im Hohlweg ritten drei Reiter, hintereinander, im Schritt. Es fiel ein dünner Regen, der Hohlweg stieg bergan, die feuchten Lehmwände glänzten. Zwei der Reiter hatten neben sich je ein Packpferd, der dritte noch ein auffallend kräftiges Reitpferd. Die Reiter waren in Mäntel gehüllt. Jetzt hielten die beiden hinteren Reiter und sprachen beruhigend auf die Pferde ein, die die Köpfe warfen, weil der Gaul vor ihnen, der im Lehmboden ausgeglitten war, vor Angst und Wut hochstieg und mit den Vorderhufen gegen die Lehmwand schlug. Aber sein fluchender Reiter bekam ihn wieder in die Gewalt, und im Schritt gings weiter, und der braune Lehmregensaft spritzte den Pferden gegen die Bäuche. Es war ein unangenehmer Regen, nicht einmal ein richtiger Regen, der sich entschlossen hätte, fest und ausdauernd zu fallen, es war ein dünner, vom Wind hin- und hergewehter Regenvorhang, halb wie Nebel. Die Hufschläge klatschten dumpf, die feuchten Sättel knarrten unfreundlich. Der Gaul neben dem hintersten Reiter stieß mit der Nase gegen den Oberschenkel des Mannes, und der schrie: »He, Luder, was willst du?«
Der braune Hohlweg stieg in einer letzten Schleife empor, verengte sich, daß die Gäule sich zusammendrängen mußten, daß die Köpfe der Reiter dicht an den Lehmwänden vorbeiglitten, daß sie Regenwürmer sahen, die mit halbem Leib aus dünnen Spalten baumelten und sich ringelten, daß einer eine Spinne im Netz sitzen sah, trocken, in einem Riß, und bekümmert sagte: »Spinne am Morgen, bringt Kummer und Sorgen«, und mit der Hand nach dem Netz schlug, das sich löste, ihm in der Hand blieb, samt der Spinne, die aufgeregt sich nach unten spann, aber da kam sie vor das Maul des Pferdes zu hängen, der Gaul schnappte zu, weg war die Spinne, und der Reiter sagte befriedigt und boshaft: »Recht geschieht ihr!«
Nun hatte der Weg die Ebene erreicht, Wiesen lagen links und rechts, und ein mächtiger Himmel wölbte sich, und überm Wald drüben war ein blauer Himmelfleck, aber bei den Reitern regnete es jetzt sogar stärker. Es waren fünf Reiter, sah man nun, denn vor den dreien, hundert Meter vor den dreien, die Diener waren, ritten zwei Herren, ein Herr war gewaltig groß, auf einem gewaltigen Gaul, neben ihm ritt ein dünner Herr auf einem beweglichen Pferd. Der breite Rücken des dicken Herrn stieg wie eine mächtige Welle im Gang des Pferdes auf und nieder, der magere Herr war unruhig, stellte sich in die Bügel, trabte ein paar Schritt, hielt das Pferd zurück, sah sich um, aber der dicke Herr saß fett und unbeweglich im Sattel.
Der Prinz Hamlet war noch dicker geworden, er trug jetzt einen kleinen, zierlich geschweiften, blonden Schnurrbart, der seine vollen Lippen nicht verdeckte. Er zeigte auf den handgroßen, blauen Fleck überm Wald am Himmel und sagte: »Es wird nicht mehr lange regnen, Xanxres!« Der Hering schnupperte mit seiner uralten Nase nach oben und antwortete: »Es scheint so.«
Der Weg lief durch Wiesenland, und in der Ferne tauchte ein Dorf auf »Dort wechsle ich das Pferd, Xanxres«, sagte der Prinz. »Ich habe sicher abgenommen. Gestern den ganzen Tag im Sattel und heut. Was meinen Sie, Xanxres?« Der Hering sah den Prinzen zärtlich an: »Sie sind gar nicht so dick, Prinz.« Hamlet streckte seine kleine Hand aus: »Der Regen läßt nach.« Der blaue Fleck über dem Wald hatte sich vergrößert, er sah aus, als habe eine Faust ein Loch in eine graue Decke gestoßen, die Ränder waren zackig, und durch die Öffnung strömte viel Licht herein, und der Wald lag besonnt. Zwar regnete es noch immer in immer wechselnder Stärke, aber da das Auge dort die sonnige Landschaft sah, wollte der Körper hier an den Regen nicht glauben, und Hamlet schlug seine Kapuze zurück und Xanxres tat es.
Das Dorf rückte näher, das Blau nahm drüben schon den halben Himmel ein, im Grau über ihnen jagten Wolken, drehten sich, auch hier bildeten sich feuchtblaue Flecken, es regnete schon minutenlang gar nicht mehr, dann kam wieder ein kurzer Schauer, ein Hase schoß vorüber, es war, als ob das Gras sich aufrichtete, ein schöner Aprilmittag wollte es werden.
Zuerst kamen die beiden Herren ins Licht, als sie sich umsahen, waren ihre Begleiter noch im Schatten, aber das Licht lief nun schnell, auch die Diener erglänzten jetzt, nun war volle Sonne überall, und Dampf stieg von den erwärmten Wiesen.
Sie unterschieden schon die Häuser des Dorfs, die Bäume am Dorfeingang, die Aprilsonne stach, trocknete ihre regennassen Gesichter, die Pferde wurden munterer, Xanxres jagte in einem kurzen Galopp quer in die Wiese hinein, die Tropfen stäubten hinter den Hufen, er zog einen Kreis, der silberblitzend blieb, und kehrte, leise keuchend, an die Seite des Prinzen zurück. »Sparen Sie Ihre Kraft, Xanxres«, sagte Hamlet. Der Hering strahlte übermütig, der Knabe mit der Greisennase. Im Dorf vorm Wirtshaus hielten sie, stiegen ab. Der Wirt kam, er sah sie böse und funkelnd an, blieb unter der Haustür stehen, sein Gesicht wurde langsam rot, und dann schrie er: »Soldaten! Ich hab nichts! Ich gebe nichts ab an Soldaten!« Sein Gesicht schwoll an, sein Hals schwoll an, seine Hände, seine Fäuste, die er gegen die Reiter streckte, zitterten, nicht vor Angst, vor Wut, so schrie er: »Nichts gibts hier!« Und er kehrte sich um, tapfer, denn hinter ihm waren zwei Säbel, wenn auch in der Scheide, und ging ins Haus. Die Säbel rührten sich nicht, Hamlet sagte: »So ein Lümmel!«, und setzte sich vor der Bank am Haus nieder, Xanxres hielt die beiden Gäule am Zügel und lachte und sagte: »Soll ich ihn am Kragen herausschleifen?« Das Gesicht des Wirts, nicht mehr gerötet jetzt, braunfarbig, erschien am Fenster, sah geringschätzig den Hering an; »Versuchs!« Er schüttelte verächtlich den Kopf. »Gibt nichts für euch!«
Vor dem Wirtshaus stand ein fetter, alter Baum, die Äste noch feucht vom Regen, hellzartgrün und klein die Blätter, wie grüne Bartstoppeln in einem alten Gesicht, und Hamlet sah in die Äste hinauf und lächelte. Die drei Diener waren jetzt nachgekommen und abgesessen und hielten unter dem Baum. Der Wirt sah jetzt auf einmal aus einem Fenster des ersten Stockwerks heraus und herab, es war, als habe ihn der Zorn wie eine Wasserblase nach oben getrieben, es sah lächerlich aus, und die fünf Reiter lachten auch, als wieder sein Ruf tönte; »Reitet nur weiter! Bei mir gibts nichts!« »Grobian«, schrie Hamlet hinauf, »wir wollen nichts von dir!« Ein Diener brachte Flasche und Becher, Hamlet und Xanxres tranken, und die Blätterschatten zuckten auf ihren Gesichtern.
»Da droben sitzt er«, schrie ein Diener. Da steckte der Wirt seinen Kopf zum Dachfenster heraus, und sah, daß die da unten tranken, und schrie; »Wohl bekomms!« »Wirt«, sagte Hamlet, und hob sein Glas gegen ihn, »es ist kein Turmhahn auf dem Dach, wie wärs, wenn Ihr aufs Dach stiegt und krähtet!« »Kikeriki!« krähte der Wirt, »fort mit euch«, und verschwand. Hamlet strich mit beiden Händen zart seinen Schnurrbart, die Diener brachten gebratene Hühner und Brot. »Wie lange werden wir noch brauchen, Xanxres, bis zum Quartier von Jahannsen?« Der Magere schwenkte ein Hühnerbein und sagte kauend; »Gut noch drei Stunden, Prinz.«
Hamlet aß langsam und mit Genuß. »Davon werd ich so dick, Xanxres, daß mir das Essen so gut schmeckt.« Nach einer Pause sagte er; »Wir werden Jahannsen überraschen.«
»Jahannsen«, sagte Xanxres, »der ißt auch gern und viel und gut. Er sitzt aber auch hinten.«
»Ich esse gern und viel und gut, Xanxres, aber ich werde nach vorn gehen«, sagte Hamlet.
Xanxres sprang auf, er versammelte sich, nahm die Beine zusammen und die Arme eng an den Körper, und neigte sich leicht nach vorn; »Die großen Tage kommen jetzt, Prinz!«
Hamlet sagte; »Schon gut, Xanxres!« An seinem fetten Gesicht hing das Doppelkinn, seine grauen Augen waren klein in dem vielen Fleisch, das blonde Bärtchen war träumerisch und traurig zwischen Oberlippe und Nase, und das Licht, das grün auf sein Gesicht fiel, gab ihm etwas Unwirkliches, Xanxres starrte es ehrfürchtig an, Falten liefen wie Wellen über die Stirn Hamlets, eine jagte die andere, und Xanxres wußte; jetzt denkt er, der Prinz, Der Hering rührte sich nicht. Vieles, wußte er, ging hinter dieser Stirn vor, wie wenig hinter seiner. Dieser dicke Mann vor ihm, wie war er klug, wie schleuderten in ihm Gedanken sich hoch und Pläne und Entwürfe, und wie einfach, wie gewöhnlich sahs in ihm aus, in Xanxres, dem Hering,
So sagte er schnell aus dieser Empfindung heraus; »Daß ich soviel bei Ihnen sein darf, Prinz!« und drehte den Kopf seitwärts, als wage er nicht, dem Prinzen in die Augen zu sehen, »Aber weil ich nichts Besseres tun kann, so will ich immer bei Ihnen sein, Prinz, in den nächsten Tagen, Sie werden sehen, das kann ich tun. Ist das etwas?«
Hamlet war aufgestanden, »Ja«, sagte er, »das ist etwas, und jetzt reiten wir weiter.«
Der Diener führte den mächtigen Fuchs heran, der bisher reiterlos neben ihm getrabt war, Hamlet stieg auf die Bank, Xanxres hielt ihm den Steigbügel, und der Prinz saß auf »Hallo, Wirt!« rief er. Das rote Gesicht mit den weitauseinanderstehenden Augen sah aus dem Dachfenster herab. »Wir sind auf deiner Bank gesessen, Wirt«, sagte der Prinz, »und wir wollen nichts von dir geschenkt haben. Hier ist die Bankmiete!« Er warf ein Geldstück auf die Bank, die Münze kollerte herunter, fiel auf die Steinstufen, die zur Haustür führten, klirrte, drehte sich, blieb auf dem weißen Stein weißblitzend Hegen, der kleine Reitertrupp trabte an.
Wie mußte der Wirt die Treppen herabgeschossen sein! Vielleicht war er gestolpert oder gerutscht, oder hatte sich wie ein Aal von Stufe zu Stufe herabsausen lassen, denn die Reiter waren noch keine zehn Schritte weiter, da schlug den Gaul Hamlets was gegen die linke Hinterbacke, daß das ruhige Tier einen Satz nach vorn machte, und als Hamlet sich umsah, da stand der Wirt unter der Tür schon, die Hand noch nach vorn ausgestreckt, wie er die Münze eben geworfen hatte, und schrie; »Ich will nichts von euch! Von Soldaten will ich nichts!«
Sie ritten durch das Dorf, es war gegen Mittag, kein Mensch begegnete ihnen, die Bauern waren wohl beim Essen, aus manchen Kaminen stieg Rauch. Die Häuser waren alle wohlerhalten, es war ein reiches Dorf die Häuser groß, die Sonne schien jetzt lustig auf die Dächer, aber es war doch, als sei das Dorf tot, und Hamlet drehte den Kopf unruhig hin und her, und Xanxres zog hastig die Luft durch die große, alte Nase, und sie ritten einen schärferen Trab, bogen an der Kirche vorbei, an den letzten Häusern vorbei, die kleiner wurden beim Dorfausgang, als verlaufe sich das Dorf in die Ebene, und waren nun wieder in der freien Landschaft und wurden nun wieder fröhlicher.
»Für wie lange, Xanxres«, fragte Hamlet, »haben Sie von Ihrer Braut Abschied genommen?« Der Hering lachte glücklich; »Für vierzehn Tage, Prinz! Für vierzehn Tage. Länger brauchen Sie nicht!«
»Aber ein Jahr zieht sich das alles schon hin!« sagte der Prinz.
Xanxres schrie; »Vierzehn Tage! Dann heiraten wir!«
Hamlet sah den Hering spähend an. Der magere Bursch saß frei im Sattel, er ist glücklich, dachte er, er war es nicht, er beneidete ihn aber nicht. Er erstrebte diesen Zustand nicht einmal, er war ganz zufrieden mit seinem, der Nichtglück war. Er konnte sich nicht vorstellen, wie das war, glücklich sein, eine Einbildung wahrscheinlich. Aber er hatte den Hering gern, und er hatte das Vertrauen gern, das der Hering in ihn setzte. »Und die Hofdame Klara glaubt das auch«, fragte er, »glaubt auch an die vierzehn Tage?«
Der Hering sagte: »Ja, denn ich habs ihr gesagt.«
Die Sonne war nun schräg über ihnen, es wurde warm, das Dorf lag schon weit zurück, Hamlet war verstummt, da sprach auch Xanxres nicht mehr.
Es war ein Stück blauer Himmel zu sehen, scharf gerändert von dem überhängenden Felsblock, und vor dem Eingang ein dürrer Brombeerstrauch. Über altes Laub vom Herbst hatten sie Mäntel gebreitet, und wenn sich einer umdrehte, so raschelte es eifrig. Zwei schliefen, der dritte lag auf dem Rücken, hatte die Augen offen und sah zur Decke empor, die feucht glänzte, und sah einen Tropfen sich bilden, der zögernd anschwoll, zitterte, sich nicht trennen wollte, schmerzlich wie eine Träne sich langzog, aber dann doch fiel, in einen alten Tontopf fiel, der unten auf ihn wartete, in den schon viele solcher Tropfen gefallen waren. Der Mann setzte sich auf, griff nach dem Topf trank ihn leer, setzte ihn wieder hin, es war Zeit, denn an der Steindecke zitterte schon wieder fallbereit ein neuer Tropfen. Der Mann gähnte, stand auf das Laub rauschte, er ging zum Eingang, bog den Brombeerstrauch zurück und trat ins Freie. Die Sonne tat ihm wohl. Der Mann trug abgetragene Soldatenkleidung, der Mann gähnte.
Die Höhle lag am Waldrand, vor ihr standen versprengte Buchen, die sich bis zum Weg vorwagten, der vorbeilief. Der Mann brach einen Dorn vom Strauch, setzte ihn gegen die Handfläche, drückte ihn ins Fleisch, nicht tief zog ihn heraus, ein kleiner Blutstropfen quoll aus der Öffnung nach. Der Mann schüttelte die Hand, der Tropfen blieb, er schüttelte heftiger, der Tropfen flog. Der Mann war jung, hatte blondes Haar über einem hübschen Gesicht, das ungewaschen war. Der Mann gähnte.
»Karl!« rief eine Stimme aus der Höhle, und dann trat ein schwarzbärtiger Mann aus der Höhle, wie ein Uhu, schloß geblendet die Augen vor dem allzuvielen Licht. Als er die Augen öffnete, hielt ihm der Blonde seine Handfläche entgegen, aus dem Dornenloch war wieder ein Blutstropfen gekommen. Der Schwarze lachte heftig: »Verwundet? So weit hinten sind wir und bist verwundet?« Der junge Blonde drückte gegen die kleine Wunde, daß noch mehr Blut floß, mit dem Zeigefinger verschmierte er das Rote über die ganze Handfläche und sah die so bemalte Hand aufmerksam an, »Ja, verwundet«, sagte er, und ein wenig Scham war in seinem Gesicht. Der Schwarze kratzte seinen Bart, der knisterte, und sagte höhnisch: »Das gibt eine große Narbe, gib acht.« Karl, der Blonde, schwieg,
»Das gibt eine Narbe wie die«, und der Schwarze schob seinen Rock auseinander, er trug kein Hemd darunter, und über seine haarige Brust fraß sich rot und erhaben eine Schlange. »Der Säbel«, sagte er, »war ein wenig größer als der Dorn.« Karl sah mit Neugier und Grauen auf die Feuerschlange, sah, wie sie, ein flammender Weg, sich durch das Haargestrüpp fraß, sah zum blauen Himmel auf dachte, wie ein Blitz sieht die Narbe aus, und sagte: »Immer prahlst du damit!«
Der Schwarze sagte: »Man muß zuerst was haben zum Prahlen«, und schloß den Rock wieder. Erbittert schrie Karl: »Warum drückst du dich denn hier hinten rum, wenn du gar so tapfer bist?« Der Schwarze wiegte den Kopf hin und her. »Einer nach dem ändern! Jetzt solln einmal andre dran! Übrigens«, sagte er, »heut mußt du das Fleisch holen.« Karl nickte zerstreut: »Ja.« Ekelhaft, dachte er, die zwei Stunden zum Lager vor und vom Koch sich das Fleisch geben zu lassen und das Brot und so zu tun, als sei man irgendwo auf einem entfernten Posten eingesetzt, während man sich hier hinten in der Höhle gleich Nachtfüchsen verkroch. Vielleicht war es gar nicht wahr, daß es in den nächsten Wochen einen Angriff werde geben, und man hätte ruhig im Lager bleiben können, in dem sowieso sicheren hinteren Lager, wo höchstens Gefahr bestand, daß man unvermutet nach dem vorderen Kriegslager gezogen wurde, aber da hätte man sich ja immer noch drücken können. Wütend sagte er zu dem Schwarzen: »Du hast uns dazu angestiftet!«
Der Schwarze pfiff durch die Zähne, heiter, und sagte dann: »Du hast ja so darauf gebrannt, daß es losgehen sollte. Du bist ja ein tapferer Soldat.« Plötzlich, ernst, sagte er: »Sei froh, daß du hier bist. Du bist nun einmal nicht mutig.«
Karl sah weg. Der schwarze Schuft, dachte er, wieso bin ich nicht mutig? Woher weiß er das? Vielleicht, wenns drauf ankäme, wär ich mutiger als er! Da sah er wieder den Feuerblitz über die behaarte Brust zischen, und ergeben dachte er: er hat recht. Ich fürchte mich.
Pferdegetrappel erscholl. Die beiden sprangen zu ihrem Höhleneingang. Durch die Buchenstämme hindurch sahen sie auf der Straße zwei Reiter kommen, einen fetten auf einem riesigen Gaul und einen jungen mageren Herrn. »Prinz Hamlet«, sagte der Schwarze. Die beiden Reiter schwanden aus ihrem Blick, und jetzt kam das Gefolge der drei Diener mit den Packpferden. Das Getrappel wurde schwächer.
»Karl«, sagte der Schwarze, »es wird doch bald einen Angriff geben.« Und er ging in die schwarze Höhle hinein. Karl, der Blonde, war bleich geworden. Mit einem zornigen Griff faßte er den Strauch, ballte die Faust und fühlte, wie die Dornen schmerzhaft ihm ins Fleisch fuhren.
Es ist zum Frieren hier«, sagte Johann, der Diener, der Hamlets zweites Pferd zu führen hatte. Der Weg lief schnurgerade durch einen dichten Wald, aus dem es kühl schauerte. Es war ein Nadelwald, riesige Fichten, die graubemooste Schirme senkten. Über den nassen Weg lief oben ein zweiter Weg am Himmel, ein blauer Weg, schnurgerade und endlos, wie der, auf dem sie ritten. Vorne, weit, weit vorn, senkte sich der blaue Himmelsweg herab und vereinigte sich mit dem Waldweg, aber ob sie den Punkt dieses Zusammentreffens je erreichten? Der Weg war ohne Sonne, aber die leuchtende Bläue oben verriet, daß die Sonne schon da war, daß sie oben über den Wipfeln Licht verschüttete, viel Licht, aber da unten bei ihnen war kalter Schatten. Der Boden war mit Wasserlachen bedeckt. Der Hufschlag der Pferde war ungebührlich laut in der Stille, und manchmal, wenn ein Eisen auf Hartes traf, daß es klirrte, flog der Schall wie ein Stein in den Wald, prallte von Stamm zu Stamm, aber ermüdete dann, platschte in das Moos und blieb liegen. Ein Baum war verschieden vom andern, natürlich, aber dann glich wieder einer dem anderen brüderlich, ein großer, grobrindiger Baum mit einem Ast, der wie ein wütender, krummer Arm auf den Weg hergriff, glich einem, an dem sie doch vorher erst vorbeigeritten waren, so daß Johann sich umsah, ob sein Bruder noch am Platz stand dahinten, denn vielleicht war er vorgelaufen, hatte sie überholt, der Riese, um sie zu schrecken? »Es gibt Bären hier im Wald«, sagte Johann, und er sagte es, weil am Straßenrand ein hoher grauer Stein stand, wie ein Bär, der sich aufrichtet, ein atmender Stein, der gewölbte Bauch groß, und oben ein kleiner Kopf und die Pferde gingen scheu dran vorbei und spielten mit den Ohren.
»In einer halben Stunde wohl haben wir den Wald hinter uns«, sagte Xanxres und klatschte in die Hände, weil er auf einem Ast hatte einen Vogel sitzen sehen, der nun schwankend aufflog, tiefer in den Forst. Hamlet antwortete ihm nicht, sah zum blauen Himmelsweg hinauf.
Der Steinbär stand aufgerichtet. Die Reiter waren nicht mehr zu sehen, er atmete mit mächtigem Bauch, es schollen wieder Tritte, nicht Pferdetritte, Menschentritte. Ein Mensch sprang, wie um dem Arm der Riesenfichte, dem krummen Arm, der auf den Weg hergriff zu entkommen, und der Mensch stutzte vor dem Steinbären. Dann ging der Mensch weiter, den Weg, den die Reiter geritten waren, Karl war auf dem Weg, Brot und Fleisch sich und den beiden Kameraden zu holen. Die Riesenfichte griff vergeblich nach ihm, der Bär packte ihn nicht, und nicht einmal der Vogel flog auf von seinem Ast.
Sie setzten die Pferde in Trab, denn nun lag vor ihnen das Dorf das Ziel ihres zweitägigen Rittes, das vorläufige Ziel, denn wieder Tagemärsche vor diesem Dorf lag ein anderes Dorf von seinen Bewohnern geräumt, aber nicht mit leeren Ställen, mit Ställen voller als je, aber nicht mit leeren Straßen, mit Straßen voller als je, die Ställe voll von Kriegspferden, die Straßen voll von Kriegsleuten, aber vorläufig einmal wollten sie nur das Dorf Arngeb erreichen, und das lag vor ihnen, und in Arngeb wohnten noch Bauern, wenn auch zornige Bauern.
Das Dorf war groß, sah man, aber es bestand nur zur einen Hälfte aus Häusern, aus steinernen Häusern, mit einer Kirche in der Mitte, aber angehängt daran schloß sich ein Schwarm von Zelten, von großen, von kleinen, von runden und spitzen Zelten. Wenn jetzt ein kräftiger Wind kommt, dachte Hamlet, fliegen die Zelte auf und davon wie braune Blätter, wie von einem Spuk verweht, und das Dorf bleibt stehen. Aber es kam kein Wind, in der Sonne wehten von manchen Zelten kleine Fähnchen. Sie ritten jetzt in das steinerne Dorf hinein, ein paar Offiziere bummelten die Straße daher, aber keine Soldaten, sonst waren die Straßen leer, in einem Hof streuten Mägde Hühnerfutter, beachteten die Reiter nicht, was ritten auch seit einem halben Jahr viele Reiter durch das Dorf, wer sah da noch auf? Sie ritten weiter, ein Platz tat sich auf neben der Kirche auf einem großen Haus hing eine Fahne vom Mast, darunter hielt ein Soldat Wache, ganz in Leder gekleidet, ein blankes, kurzes Schwert in der Hand, das er wie ein Messer trug, unachtsam, ohne Feierlichkeit.
»Hier wohnt Oberst Jahannsen«, sagte Xanxres.
Sie stiegen von den Gäulen, gingen zur Haustür, der Soldat trat schnell heran, er schien einen Ausweis fordern zu wollen, aber Xanxres sah ihn so an, wie ein Offizier einen Mann ansieht, den Blick kennt der Soldat, den kennt er gut, der gilt für einen Ausweis, der ist besser als etwas Schriftliches. Der Mann nahm sein Messer straffer, ließ sie gehen, und sie gingen die Treppe empor, die schön weißgescheuert war. Sie kamen auf einen weiten Flur, und vor einer Tür saßen auf Bänken wieder Soldaten, lachten, lümmelten, lauerten, langweilten sich, sprachen, sprachen nicht, gähnten.
Xanxres öffnete die Tür, die Soldaten waren aufgesprungen, Hamlet und Xanxres standen in einem kleinen Zimmer, da saß ein junger Offizier an einem Tisch, ein mächtiger Kerl, riesengroß, der sah auf den mageren Xanxres, sah auf Hamlet und erkannte den Prinzen und sprang verwirrt auf, mit einer tiefen Verbeugung, machte eine zweite und dritte Verbeugung, vergaß nicht, auch Xanxres eine zu machen und schnell eine zweite, und eine vierte dann noch ehrerbietig dem Prinzen, und riß die Tür auf die zu dem großen Zimmer des Obersten Jahannsen führte, und rief »Prinz Hamlet!«
Da stand schon wieder ein sich verbeugender Mann vor den beiden, sie sahen weißes Haar, auf der Scheitelhöhe schon gelichtet, einen roten Hals und glänzende, hohe, braune Reiterstiefel, das sahen sie vor allem, einen weißhaarigen Hinterkopf und braune Stiefel, den Kopf vor den Stiefeln, und langsam erst stieg der Kopf höher, und sie sahen in ein glattrasiertes Gesicht, mageres Gesicht, zwei tiefe Falten von der Nase zu den Mundwinkeln, das Gesicht eines Mönches eher als eines Soldaten, aber Hamlet kannte das Gesicht und wußte, das war das Gesicht des Obersten Jahannsen.
Dann sagte Oberst Jahannsen mit hoher Stimme; »Im Lager Arngeb nichts Neues, Prinz«, und sah Hamlet blitzend an. Hamlet hatte sich leicht verneigt, hatte ihm die Hand nicht gereicht, sah sich jetzt etwas in dem großen, hellen Raum um. An der Wand hingen Pläne, Karten, auf denen liefen weiße und rote Linien gekräuselt und durcheinander, auf einer Karte sah man ein Dorf, sauber und genau gezeichnet, jedes Haus und jedes Fenster, und Wälle, auf den Wällen standen winzige Soldaten, peinlich getreu gezeichnet. Hamlet sah auf den riesengroßen Offizier, der demütig an der Wand stand, wie war der groß gegen die kleinen Soldaten, die da auf der Karte die Wälle verteidigten.
Des Obersten helle Stimme fragte; »Wollen Sie sich nicht setzen, Prinz?«, und der riesige Offizier schob einen hohen Lehnsessel herbei und einen Stuhl für Xanxres und zog sich dann wieder demütig an die Wand zurück. Sitzend sah Hamlet immer noch die Karten an. Da war mit blauer Farbe ein schöner hoher Damm gezeichnet, mit Wachttürmen, zierlichen Wachttürmen, und Ausfalltoren und Verhauen davor und Wolfsgruben, und auf dem Damm wieder spazierten die puppigen Soldaten, und diesem Damm gegenüber lag ein anderer Damm, der war rot gezeichnet. Und der rote war der feindliche Damm, und auf dem liefen auch winzige Männchen mit kleinen Schwertern, das waren Feinde. Diese kleinen Feinde, dachte Hamlet, und sah wieder auf den riesenhaften Offizier, daß der errötete, diese kleinen Feinde, wie Insekten, die waren leicht zu erdrücken, wie Insekten zu erdrücken, so schiens, wenn man sie auf dem Papier sah und den lebendigen Riesen hier im Zimmer betrachtete.
Wieder sagte die helle Stimme des Obersten: »Ein Haus ist für Sie bereitgestellt, Prinz. Salonson wird Sie führen.« Der Riese Salonson beugte sich, straffte sich, spannte Sehnen und Muskeln, war bereit, zur Tür zu stürzen, die Führung zu übernehmen.
Hamlet nahm den Mantel ab, im Zimmer brannte ein kleines Feuer, es war warm, auch Xanxres saß nun ohne Mantel, und an der Wand stand der Riese Salonson und lächelte glücklich und hatte zwei vom Regen noch nicht ganz trockene Mäntel über dem Arm.
Prinz Hamlet strich vorsichtig mit dem kleinen Finger der linken Hand seinen blonden Schnurrbart zurecht. »Und die Lage vorn. Oberst?« fragte er leise, und sah auf die Karte, und entdeckte, daß da, auf der Karte, aus einem kleinen Wäldchen ein Trupp Reiter hervorgaloppierte, ein Offizier an der Spitze, der einen Federhut trug, und die Hutfeder wackelte fröhlich im Wind.
»Die Lage vorn, mein Prinz«, sagte Jahannsen, »ist unverändert!«
»Und hier hinten bei Ihnen, Jahannsen?« fragte der Prinz.
»Hier hinten«, sagte Jahannsen, und die zwei Worte »hier hinten« kamen unwillig über seine Lippen, und bei den zwei Worten »hier hinten« war der Riese an der Wand kleiner geworden, »die Lage hier hinten«, sagte der Oberst Jahannsen, und machte eine Pause – »ist auch unverändert«, sagte er dann schnell und schrill und schneidend und sah den Prinzen fest an.
Die Männer vorn, die puppigen Kartenmänner, galoppierten, schwangen Säbel, warfen Schleuder, und der Riese Salonson hier trug gelbe Reiterstiefel, und der Prinz fragte ihn lauernd: »Wären Sie nicht lieber vorn als hier hinten?«
Das Gesicht des [Oberst] war rot angelaufen, seines, obwohl er doch gar nicht gefragt worden war, und der Riese Salonson, mit zwei nassen Mänteln über dem Arm, an der Wand stehend, versuchte noch kleiner zu werden, indem er etwas in die Knie ging, ein wenig kleiner wurde er ja auch dadurch, aber nicht so klein wie die kämpfenden Männer auf den blauen Karten, die Hamlet immer noch ansah, so daß er für den Riesen Salonson antwortete: »Sie wären ja auch zu groß für vorn.«
»Übermorgen reite ich nach vorn. Oberst«, sagte der Prinz, »der König hat mir den Oberbefehl übertragen. Wie schätzen Sie die Lage, Oberst?«
»Die Lage ist unverändert, mein Prinz, und ist gut.« Mit seinem Zeigefinger stieß der Oberst gegen eine Karte vor und fuhr mit dem Fingernagel die blauen Linien nach, und dann blieb er vor der Venskaschanze stehen, mit dem Nagel, und von hier aus, so schrie er, müsse der entscheidende Ausfall gemacht werden, hier müsse man den Kern der Truppen versammeln, hier stoße man dem Gegner in die schwache Flanke, von hier aus sei die feindliche Stellung aufzurollen, von hier aus könne man im Verlauf des Gefechts am leichtesten die Reiterei einsetzen, der Oberst erhitzte sich, jeder andere Plan sei falsch, die Venskaschanze, wiederholte er leise und eindringlich, und sah Hamlet an.
Hamlet sah auf die Venskaschanze, da stand auf der Karte ein kleiner Trupp Bewaffneter. Aber der Oberst war schon im verschanzten feindlichen Dorf und hatte auch das Dorf schon hinter sich gelassen, und rückte mit Fußtruppen nördlich, während er Reiterei Wälder entlang und über eine Bachfurt führte und dem fliehenden Feind den Rückzug abschnitt.
»Ich möchte jetzt doch in meine Wohnung, Oberst«, sagte der Prinz.
Der Oberst verbeugte sich und sagte: »Salonson wird Sie führen, mein Prinz.«
Der Riese Salonson trat von der Wand weg, schwang die Mäntel verlegen, trat vor den Oberst hin und sagte: »Ich bitte, den Truppen vorne zugeteilt zu werden.« Er drückte die Knie durch, stand in seiner ganzen Riesenhaftigkeit da. »Ich kann Sie eigentlich nicht entbehren, Salonson«, sagte der Oberst, »nicht entbehren hier hinten.« Der stolze Riese, mit seinem Bauerngesicht, kindisch stolz wiederholte er seine Bitte. Und dann legte er den einen Mantel, den Mantel des Xanxres, auf den Stuhl, trug ihn nicht mehr, nun, da er nach vorn ging, nur den Mantel Hamlets behielt er über dem Arm. Xanxres nahm seinen Mantel auf und der Prinz sagte: »Sie können gleich übermorgen mit uns reiten, Salonson.«
Der Prinz ging, hinter ihm Xanxres, dahinter Salonson, der Mantelträger. So gingen sie alle drei, hinter ihnen die Diener, die Pferde am Zügel, durch die Dorfstraße. Salonson überragte Hamlet, der auch groß war, noch um einen Kopf Sie gingen nicht lang. In einem Garten lag ein kleines Schlößchen, darauf hielt Salonson zu, es war für Hamlet bestimmt und sein Gefolge. Es waren für Hamlet drei Zimmer bereit, für Xanxres zwei, Stallungen warteten auf die Pferde, die Diener schliefen bei den Pferden, wo sonst? In einem großen Saal war eine Tafel gedeckt, und ein Koch erschien, ganz in Weiß gekleidet, und fragte, wann das Essen fertig sein solle. »Nur ein wenig kaltes Fleisch«, bestimmte der Prinz. »Und in einer halben Stunde.« Salonson wurde entlassen, und zu Xanxres sagte der Prinz: »Zur Tafel also in einer halben Stunde« und lachte, und Xanxres lachte, daß seine mächtige Greisennase bebte, und dann gingen sie, jeder in seine Räume.
Er hatte sich gesäubert, der dicke Prinz, und saß ruhig und nachdenklich auf einem Sessel, leicht nach vorn geneigt, die beiden Hände auf den Schenkeln, und dachte nach. Übermorgen nach vorn, dachte er, zu den Puppenkriegern, und, Oberbefehl!, dachte er. Der König, sein Stiefvater, der Mann seiner Mutter, hatte ihm den Oberbefehl übertragen. Er mußte um sein Reich fürchten, dieser König Claudius, wenn dieser lange Krieg nicht endlich beendet, siegreich beendet wurde. Sein Reich, dachte der Prinz höhnisch, mein Reich, das Reich meines Vaters, meines toten Vaters, und mein künftiges Reich. Sein Vater war tot, das mußte er wohl sein, wenn König Claudius herrschen wollte, so klug war Claudius schon, und so klug war seine Mutter auch, die Königin, so klug waren beide gewesen, zu wissen, daß sie da einen toten Mann brauchten. Dem dicken Prinzen Hamlet stand auf einmal der Schweiß auf der Stirn. Es gab da eine Aufgabe, die ihm bevorstand, da war etwas zu tun, da war etwas ins reine zu bringen, und es war seine Sache, das zu leisten. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, er klopfte sich leicht auf die dicken Schenkel. Das später, zuerst den Krieg gewinnen! War das schwer? Aber warum sollte er ihn nicht gewinnen? Er brauchte bloß anzugreifen, dann gewann jemand, er, oder der andere, der Gegner, einer gewann! Aber mehr als angreifen konnte man nicht, und Xanxres, der Hering, war überzeugt, daß er, Hamlet, gewinnen würde. Er würde also nach vorn gehen und befehlen: Angreifen! War das alles? Ja, das war alles? War das viel? Ja, das war viel, zu befehlen: Angriff! Und jetzt mußte der Riese Salonson auch mitangreifen. Er lachte, strich sein Bärtchen und ging ins Eßzimmer hinüber.
Xanxres war schon bereit. An der Tür hatte der Koch Spähe gestanden, kam herbeigestürzt und fragte, ob er nicht vor dem kalten Braten eine Suppe wenigstens bringen dürfe. Hamlet und Xanxres saßen sich gegenüber. Xanxres versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, der Prinz sah drohend drein und murmelte: »Aber Xanxres, mein Fett, ich werde zu dick!« und erlaubte dann doch die Suppe. Nach den ersten Löffeln sagte er: »Der Mann kocht gut.« Er setzte sich behaglicher zurecht, in seine Augen kam ein heiterer Schein, er sprach nichts mehr, aß langsam, mit Sorgfalt, und manchmal, leise, wie eine zärtliche Schlange, schlüpfte seine Zunge in die Mundwinkel, holte einen Tropfen Flüssigkeit aus dem Bart. »Xanxres«, sagte der Prinz, »auf die Suppe jetzt kalten Braten, Xanxres, das geht nicht.« »Eine Pastete vielleicht«, lachte der Hering und winkte einem Diener, der an der Tür stand und auf den Wink hin verschwand. »Wir dürfen den Koch nicht kränken, Xanxres, der Mann versteht was.« Die Pasteten kamen. »Wildpasteten«, sagte der Prinz. »Und zu trinken, Xanxres, was haben wir zu trinken?« Der Hering schenkte aus einem Krug ein, einen gelblichen Wein. Der Prinz hob seinen Becher und sagte: »Die Gesundheit Ihrer Braut, Xanxres«, und seine fette Gestalt neigte sich ritterlich, und der Hering war aufgesprungen, trank seinen Becher leer, seine Augen strahlten, zärtlich irgendwohin, fern, kehrten zu den Augen des Prinzen zurück, Treue und Ergebenheit lag in ihnen. Eine tiefe Ergebenheit, daß Hamlet sich fast schämte, er hatte den Burschen doch auch lieb, aber so nicht.
Nun kam Wildschweinsbraten, schwärzliches Fleisch, würzig, auf der Zunge zerfließend, der Prinz saß, eingehüllt in eine Wolke von Zufriedenheit, das Bärtchen kühn empor, Xanxres war glücklich auch, glücklich beide nun, schmausend, trinkend, Sonne sah durchs Fenster. Ich dicker Fresser, dachte Hamlet, ich soll »vorne« angreifen, morgen, in drei Tagen, in fünf Tagen, bei der Venskaschanze! Xanxres sah ihn bewundernd an und dachte: Er wirds machen, er, mein Prinz! Und beide nahmen jeder noch ein Stück von dem gebratenen Hahn, der dem Wildschwein gefolgt war, es schmeckte zu gut, wer sollte da so bald aufhören? Die Sonne hatte die Tafelmitte erreicht, spiegelte in den Bechern und machte die Tunke glänzend und funkelnd, wie bräunliches Gold.
Zwei Stunden später, länger konnten sie nicht mehr sitzen bleiben, es war wohl an vier Uhr nachmittags geworden, gingen sie beide durch die Straßen des Dorfes Arngeb. Das Wohlgefühl des reichlichen und guten Essens war noch in Hamlet, und so trug er eine heitere Miene vor sich her, und wenn der Prinz vergnügt war, war es Xanxres, der Hering, immer auch. »Der Hahn«, sagte der Prinz, »mein Lieber, der Hahn, ich schmecke ihn noch auf der Zunge.« Aber als er das sagte, sahen sie gerade durch ein offenes Hoftor in einen Hof da stand ein halbes Dutzend in Leder gekleidete Soldaten, die johlten und lachten und hatten die Hände in die Hüften gelegt und hatten die Mäuler offen, daß das gut aus ihnen herausfahren konnte, sonst wären sie erstickt von dem Lachen. Sie lachten über einen Hahn, ein schönes, großes, schwarzes Tier, auf mächtigen Beinen, mit einem riesigen blauschwarzen Schwanz. Der rannte, der Hahn, mit langen Schritten seiner bespornten Beine und mit wehendem Schwanz, im Hof umher, und manchmal, wenn er es besonders eilig hatte, schlug er mit den Flügeln und flog schwankend ein paar Schritte, dicht über den Boden dahin, und wenn er flog, lachten die Soldaten besonders laut. Bei seinem eiligen Lauf trat er einmal unversehens auf einen blutigen Vogelkopf, der Vogelkopf hatte einen starken Schnabel und einen dicken roten Hahnenkamm, es war der blutige Kopf eines Hahns, es war der blutige, abgeschnittene Kopf des laufenden und schwankenden und fliegenden Hahns, und der Soldat, der noch ein blankes Messer in der Hand hielt, hatte ihn geköpft, aber er war deswegen noch nicht sofort und gleich tot gewesen, der starke Vogel, und lief nun kopflos im Hof herum und trat auf seinen eigenen Kopf, und darüber lachten die Soldaten.
Hamlet und Xanxres waren weitergegangen. Hamlet fürchtete, erblaßt zu sein, und griff mit seiner kleinen Hand nach seiner Wange, aber die spürte sich warm an, wie immer, er war doch hoffentlich nicht erblaßt, dieses armseligen Hahnes wegen, und er sah ruhig Xanxres an, der nichts sagte und ein gleichgültiges Gesicht machte, möglichst gleichgültig, aber der Gleichmut war vielleicht so gemacht wie die Gleichgültigkeit Hamlets. Ja, dachte Hamlet, wenn ich Hähne esse, müssen Hähne geschlachtet werden, aber daß der geköpfte Hahn noch so herumlief, das war nicht nötig, das war eine Boshaftigkeit dieses Gockels. Sie zuckten beide zusammen, Hamlet und Xanxres, denn aus dem Hoftor, an dem sie eben vorbeigingen, scholl schon wieder ein lautes Lachen, aber sie trauten sich diesmal nicht in den Hof zu schauen, vielleicht lief da schon wieder ein Vogel ohne Kopf herum, und sie gingen schnell weiter.
Die Aprilnachmittagssonne wärmte schon ganz tüchtig, Soldaten saßen vor den Haustoren herum, ein Reiter sprengte die Straße herauf mit einem wichtigen Gesicht, er brachte eine eilige Meldung, eine schwerwiegende, bedeutungsvolle, das drückte seine Miene aus. »Platz da!« schrie er, aber es wich ihm sowieso alles aus, um nicht von den Drecktropfen bespritzt zu werden, die von den galoppierenden Hufen sprangen. An die Mauer gedrückt stand ein bärtiger Soldat, und Hamlet und Xanxres standen neben ihm, und der Soldat schnitt eine Fratze und sagte: »Soldatenspielerei! Die tun sich wichtig! Wahrscheinlich meldet er, daß sie eine Sau geschlachtet haben.« Der Mann dehnte sich in der Sonne, drückte den Kopf gegen die erwärmte Mauer: »Wie die sich aufspielen, hier hinten, nicht?« Er musterte die beiden. »Gehört ihr auch dazu?« Er schüttelte zweifelnd den Kopf, dann ging er mit einem Male, und nach ein paar Schritten fing er gar zu laufen an, sah sich ein paarmal um dabei, und verschwand um die nächste Ecke.
Xanxres schabte sich einen Schmutztropfen von den glänzenden Stiefeln: »Der Kerl hält uns für solche hier.« Er hatte einen roten Kopf bekommen. »Aber wir reiten ja bald, Prinz.« Sie gingen jetzt mitten auf der Straße dahin, ein blauer Himmel lachte über ihnen, sie gingen in der Richtung zum Zeltlager, sie waren schon ziemlich am Dorfende, da saß am Fenster eines kleinen Hauses eine geputzte Frau und winkte ihnen. Sie waren noch zehn Schritte von der Sitzenden entfernt, sahen ein maskenhaftes Lächeln im Gesicht der Winkenden, und mit jedem Schritt wurde das Gesicht deutlicher erkennbar, die Schminke sichtbarer, und auf sechs Schritte war die Frau dreißig alt, und auf drei Schritte vierzig, und auf einen Schritt fünfzig, und man sah die eingefallenen Wangen und die dünnen Lippen und die grauen, stechenden, alten Augen, die lustig schauen wollten, und den schmutzigen, grauen Hals sah man, der ungeschminkt war und faltig und ledern. Und mit einem Blick durchs Fenster sah man die schmutzige Stube, die zerbröckelnden Wände, einen wackligen Stuhl, eine Feuerstelle mit einem eisernen Topf an einem Haken, und an dem Topf außen liefen Reste der übergekochten Suppe herab, und in der Ecke der unaufgeräumten dreckigen Stube stand ein Bett, ein Himmelbett, und der Betthimmel war aus zerschlissener, weißer Seide, und die Greisin, die geschminkte Greisin am Fenster lachte verzerrt und nickte mit dem Kopf zu dem Himmelbett hin, das war, als sie gerade vor dem Fenster waren, und mit dem nächsten Schritt sahen sie nur mehr die Häuserwand, und nach fünf Schritten schon wieder ein anderes Haus, und Xanxres sagte: »Da sah ich lieber noch den kopflosen Gockel!«
Sie näherten sich jetzt dem Zeltdorf, und die Zelte sahen von weitem aus, als habe man Kartenblätter gegeneinandergestellt, so flach und glatt schimmerten die braunen Leinenflächen in der Sonne, und erst wenn man vor ihnen stand, sah man, daß über die Flächen Falten liefen und Rinnen, von den strammgezogenen Stricken verursacht. Kreuz und quer schnitten sich Gassen durch das Zeltdorf, aber es waren nicht viel Menschen zu sehen auf diesen Gassen, und weil aus einiger Entfernung Musikklänge herschollen, wußten sie auch den Grund für diese Stille. Dort irgendwo war die Marketenderei, und dort brausten die Soldaten zusammen und auf wie Bienen vor ihrem Stock. Hamlet und Xanxres gingen weiter, einer langen Gasse nach, die führte auf einen weiten Platz, von besonders großen Zelten umstanden, und vor einem Zelt stand eine lange Schlange von Soldaten an. »Essenempfänger«, sagte Xanxres. Sie schoben sich vor dem vordersten durch die Zelttür, und ein starker Geruch von Blut und Fleisch schlug ihnen entgegen. An langen Stangen hingen schaukelnd halbe Tierleiber, enthäutet, dunkelrot von Farbe. »Kälber«, sagte Hamlet, aber ein Soldat sagte geringschätzig »Hammel!«. Die Stangen waren biegsam, und wenn ein halber Hammel herabgenommen wurde, schnellte die Stange ein wenig in die Höhe, und die Tierleiber schaukelten stärker, Blut tropfte, und wie fleischerne Glocken schlugen sie gegeneinander. Wer einen halben Hammel zu bekommen hatte, wies eine kupferne Münze vor, das war der Ausweis, daß er für eine Gruppe Verpflegung zu empfangen hatte, der Metzger trug die Nummer ein, der Fleischempfänger legte sich seine Hälfte über die Schulter und verließ das Metzgerzelt durch den rückwärtigen Ausgang. In der Zeltdecke waren Vierecke eingeschnitten, die ließen ein wenig Licht herein, Dämmerung herrschte im Raum, rötliche Dämmerung, und die Tierleichen dunsteten. Und durch den Blutdunst her drang noch stark ein anderer Geruch, und der kam von großen Bottichen, drin schwammen wirre Schlangen bläulich verschlungen und verknäuelt, Eingeweide, und der Dunst dieser Därme, süß und ekelhaft, lag wie eine Wolke über allem. Xanxres hatte nur einen Blick in diese Bottiche geworfen und war dann schaudernd zurückgewichen, aber der Prinz war stehengeblieben bei ihnen und sah unverwandt hinein. Ja, langsam neigte sich sein Kopf tiefer gegen die brodelnden Eingeweide, und es schien, als atme er tiefer. Ja, er atmete tiefer, aber der üble Geruch war für seine Nase nicht mehr spürbar, er sah nur mehr die Schlangen sich winden, dicke und dünne, und er sah den Glanz, der über den Schlangen lag, einen bläulichen Glanz, und mit einer Willensanstrengung sah er, daß diese Gedärme schön waren. Im alten Rom, dachte er, lasen die Priester die Zukunft aus den Eingeweiden der Tiere, und er begriff schnell und heftig, daß das möglich war, jetzt, in diesem Augenblick, schien ihm das möglich, und angestrengt verfolgte er die wirren Schicksalslinien. Eine Schlange, zierlich, von der Dicke eines Strickes, lag wie eine Schlinge, und in das Schlingenrund hätte gerade ein Menschenhals gepaßt. Einen Hals wußte er, um den er diese Schlinge wünschte. Aber das war ein dicker Hals, und die Schlinge hier für ihn zu eng. Er fuhr zurück, der Prinz, und lachte lautlos, denn eben, es war aber fast zum Fürchten, hatte sich das Schlingenrund vergrößert. Die schlechten Lüfte in den Därmen hatten sich geregt, Blasen waren gestiegen, und die Schlinge hatte sich gerührt, hatte sich erweitert, jetzt wäre sie gut um den Hals gesessen, dem er die Schlinge wünschte. Aber zuvor die Schlacht, der Angriff vorn! Die stummen und lebendigen Schlangen wanden sich rätselhaft. Xanxres war neben den Prinzen getreten. »Xanxres«, sagte der Prinz, »können Sie lesen?« Der magere Xanxres streckte seinen Knabenkopf mit der Greisennase unruhig über die Schlangenschrift: »Pfui Teufel, Prinz«, antwortete er, »ja, aber wollen wir nicht weiter gehn?« »Sie können nicht lesen, Xanxres, Gott sei Dank nicht«, sagte der Prinz und sah ihn zärtlich an. Sie drehten sich um, weg von den Schlangenbottichen, vor ihnen stand ein Mann, der ihnen den Rücken kehrte, sie sahen seine jungen, blonden Haare, über die Schulter hing dem Mann ein halber Hammel, und der Mann war im Gespräch mit einem Soldaten, der sagte zum Blonden: »Karl, wo kriegst du nur immer die Marke her? Und ein halber Hammel ist zu viel für euch!« »Ach, kümmere dich um deine Sachen!« antwortete Karl, »ich muß jetzt auch noch Brot fassen!« »Karl, Karl«, sagte der andre drauf, »wenn sie dich erwischen, kriegst du einen Strick um den Hals.« Strick, dachte der Prinz, von einem Strick ist hier die Rede. »Du kannst«, sagte Karl, und seine Stimme zitterte ein wenig, »einen Hammelschlegel von mir haben.« »Ihr verdammten Drückeberger«, murrte der Soldat, »holt ihr euch eigentlich die Löhnung auch?« Xanxres war aufmerksam geworden. »Könnt ihr vielleicht noch einen Vierten brauchen in eurem Schloß?« fragte der Soldat weiter. Karl, der Mann aus der Höhle, wandte den Kopf und erkannte den dicken Mann, den ihm der narbige Schwarze als Prinzen Hamlet bezeichnet hatte. »Bequemes Bett habt ihr, was, und Frauenzimmer?« quarrte der fragende Soldat weiter, und sah jetzt, daß der Blonde bleich geworden war und unruhig an dem Hammelbein zerrte und dem dicken Mann ins Gesicht starrte, das ein schmales Bärtchen schmückte, und er sah, der fragende Soldat, der spottende, höhnende, daß der Blonde den Fuß zu heben versuchte und es nicht konnte, und daß der Blonde dem Dicken nicht mehr ins Gesicht starren wollte und es mußte, und daß der Blonde nun ein junges, hübsches Gesicht mit einer großen, alten Nase neben die Schulter des Dicken sich schieben sah, und daß die Augen neben dieser alten Nase zornig und aufmerksam funkelten, und der Fragende wußte nicht, was der Blonde wußte, daß der dicke Mann Prinz Hamlet war. Aber er fragte doch nicht weiter und gab Karl einen Stoß, daß der schwankte und im Schwanken auch der Kopf wegschwankte, und jetzt, da er nicht mehr mit seinen Blicken an den Blicken des Prinzen hing und er nicht mehr den jungen Kopf mit der uralten Nase sehen mußte daneben und nicht mehr die behaarten Nasenlöcher des jungen Offiziers, jetzt, jetzt konnte Karl auch den einen Fuß heben und auch den anderen und konnte gehen, zum Ausgang hingehen, ganz langsam zwar nur und schweren Schritts, als hielte zäher Lehm seine Füße fest, aber doch gehen, und er näherte sich dem Ausgang und horchte, ob man ihn nicht riefe, ob es nicht gleich »Halt!« hinter ihm drein riefe. Xanxres hatte auch schon angesetzt zu dem Ruf aber der Prinz winkte ihm ab, so hörte Karl den Ruf nicht und trat ins Freie, in die Aprilsonne, und ging nun rasch, nun war kein Lehm mehr unter seinen Füßen, und bleich war er auch nicht mehr, und als der Fragende sagte: »Was hast du denn gehabt?«, antwortete er: »Gleich sollst du deinen Schlegel haben!« und lachte laut.
In der Hammelhalle sagte Xanxres zum Prinzen: »Der Mann hatte ein schlechtes Gewissen.« Hamlet sah auf die schaukelnden Hammelhälften. »Hier hinten sind viele schlechte Gewissen«, sagte der Prinz, und sagte es laut, und ein Soldat, der dem Ausgang zustrebte, hörte es und zuckte zusammen und nahm seinen Hammel fester beim Bein und sah sich unter der Tür noch einmal um, ehe er ins Freie trat.
Der Himmel war blau, nur dünne, weiße Wolkenstreifen, wie weiße Fäden, liefen strähnig über ihn hin, und einen Augenblick lang wollte der Prinz die Wolkenfäden mit den grauweißen Schlangen in den Bottichen vergleichen und es auch aussprechen, und er sah auf Xanxres, aber er tat es nicht, weil der gerade tief und glückselig die frische Luft einsog.
Sie gingen quer über den Platz. Vor einem Zelt saßen Soldaten, ohne Stiefel an den Füßen, die Füße in Tücher gehüllt, saßen in der Sonne, rieben die Hände ineinander, lachten, redeten miteinander. Allein, am Ende der langen Bank, ohne Nachbarn zur Rechten und zur Linken, mit einer Haltung, die Nachbarn verscheuchte, saß ein nicht mehr junger Mensch, ein alter Mann fast, mit einem schwarzen Bart. Der Mann hustete von Zeit zu Zeit, in gemessenen Abständen, so, wie man eine Pflicht erfüllt, so, wie man eine angenehme Pflicht erfüllt, und nach jedem Hustenanfall sah er stolz und befriedigt und unnahbar um sich. Als der Prinz und Xanxres vor ihm stehen blieben, sah er sie nur kurz an, beachtete sie weiter nicht, wie jemand, der auf Posten steht, vielleicht wie jemand, der einen festen Auftrag hat und ihn ausführt. Als die beiden zu lang vor ihm stehen blieben, hustete er scharf und kurz. Geht weg, hieß das, sie gingen aber nicht. Er sah sie immer noch nicht an, hustete zweimal kurz, dann etwas länger, aushaltender, rollender, und schloß wieder mit zwei kurzen Hustenstößen. Geht endlich, hieß das. Und als sie aber wieder nicht gingen, begann er mit donnerndem Hustenlärm, mit einem schnarrenden Keuchen in der Tiefe, helle Hustentöne darüber, und wie hinter einem abziehenden Gewitter prasselten kurze Hustenstöße knallend nach. Jetzt sollt ihr aber merken, hieß das, daß ihr mich meiner Pflichterfüllung zu überlassen habt, ihr Aufdringlichen, Zudringlichen! So sprach der Mensch, aber er redete kein Wort, es bestand wohl auch keine Hoffnung, daß er reden würde, und so gingen die beiden, und hinter ihnen dröhnte noch ein siegesgewisser, selbstgefälliger Hustendonner schmetternd drein.
Sie gingen die lange Bank entlang, und der Prinz sah, daß die Soldaten mit Stolz und Zuversicht ihre umwickelten Füße von sich streckten. »Beinverwundete?« fragte der Prinz. »Ach, Fußkranke«, sagte Xanxres, »keine Lanzenstiche, keine Schwerthiebe, keine Pfeilschüsse, nur aufgescheuerte Haut, nur eitrige Zehennägel, nur wundgelaufene Fersen.« Er schlug den Zeltvorhang zurück und sie traten in das große Zelt. Zu den beiden Seiten des sehr langen Raumes war Stroh aufgeschichtet, nicht mehr ganz frisches Stroh, wenn die Kranken sich bewegten, raschelte es kaum, es gab nicht das helle, fröhliche, übermütige, spitze und klingende Geräusch jungen Strohs, es war ein unterdrücktes Räuspern, ein feuchtes Gemurmel. Ein junger Mensch, ein sehr junger Mensch, mit einem dünnen Mund im käsigen Gesicht, lag auf dem Rücken, mit einer Decke bis zum Kinn verhüllt, und er mußte sehr lange Beine haben, denn seine Stiefel, die unten aus der Decke hervorsahen, reichten bis in den schmalen Gang, der durch die Zeltmitte lief und Xanxres trat versehentlich auf den Stiefel. Der Junge fuhr mit einem Satz in die sitzende Lage, ein paar Strohhalme hingen in seinem Haar, die Decke war bis zu seinem Schoß herabgeglitten, und dann fluchte der dünnlippige Mund ein paar abscheuliche Worte. Xanxres sah ihm zuerst freundlich zu und schrie plötzlich: »Halt das Maul, Kerl!« Das käsige Gesicht machte einen Versuch, sich zu röten, es wurde auch wirklich bläßlichrot, wie das Rot auf manchen Äpfeln, und dann mischte der Mensch in seine Fluchwörter Schimpfwörter, häßliche und grobe Schimpfwörter. Xanxres sagte, sich vorneigend: »Ich werde dich ein bißchen an einen Baum binden lassen, mein Lieber.« Das mäßig gerötete Käsegesicht schloß die Lippen fest aufeinander, sah den Kopf wiegend von Hamlet auf Xanxres, es waren Offiziere, erkannte er. Furcht trat in seine Augen, er runzelte die Stirn zu ein paar sorgenvollen Falten, dann machte er die Stirne glatt, Schadenfreude trat in sein Gesicht, er schlug mit der rechten Hand die Decke ganz von sich, streckte den linken Arm herausfordernd gegen die beiden, und dieser herausfordernde Arm war überm Ellbogen verbunden, ein wenig Blut war durch den Verband getreten, und, sagte seine Miene, jetzt werdet ihr wohl sprachlos sein, nun kann wohl keine Rede mehr sein von an Baum Binden und solchen Sachen. »Xanxres«, sagte der Prinz, »ein Verwundeter.« »Was hast du da?« fragte Xanxres. »Vor fünf Tagen, an der Venskaschanze«, sagte der Junge gewichtig und betrachtete liebevoll seinen verbundenen Arm. »Tiefe Wunde?« fragte der Prinz. Das Käsegesicht strahlte. »Drei Wochen, sagt der Feldscher, wirds dauern, bis der Arm wieder heil ist. An der Venskaschanze«, murmelte er nachdenklich. Venskaschanze, dachte der Prinz und sah die Karte im Zimmer des Obersten Jahannsen vor sich und sah die kämpfenden kleinen Männer, und der hier vor ihnen war einer von ihnen und war gar nicht klein und hatte so lange Beine, daß Xanxres hatte drauftreten müssen. Und die kleinen Männer auf den Karten waren so mutig, setzten so tapfer Bein vor Bein, waren unaufhaltsam, hatten so kühn wehende Federbüsche und wehende Bärte und gar keine solchen Käsgesichter wie der Bursch hier. »Sind noch mehr Verwundete hier?« fragte Xanxres. Eitel strahlte der Bursch übers ganze Gesicht: »Fast nur Kranke. Es ist ja nicht viel los vorn.« Und nun legte er seinen verletzten Arm sanft und vorsichtig auf den gesunden, so, wie man ein Kind hegt oder ein verzärteltes Schoßhündchen, und legte sich selber auf das Stroh zurück, er war ja verwundet und hatte ein Recht dazu. »Der ist kein Held«, murmelte Xanxres, als sie weitergingen. »Ach, Xanxres, die kleinen Männer vorn mit den wehenden Büschen sind Helden, meinen Sie?« Der fette Prinz zog an seinem hochgedrehten Bärtchen. »Wir werden bald bei den kleinen Männern vorn sein, Xanxres. Und der verwundete Lümmel ist vielleicht doch ein Held.«
»Aber die da sind keine«, sagte Xanxres erbittert und meinte die Soldaten, die schlafend oder auch kartenspielend oder schwätzend auf dem Stroh lagen und saßen. Aber keiner trug einen Verband, und wenn sie krank waren, so sah man das nicht, und nur, wenn sie sich beobachtet fühlten, so gaben sie zu erkennen, daß sie krank waren. Dann seufzte der eine auf und der andere legte sich so zurück, wie es nur ein Kranker tut, sich schonend, und drehten den Kopf schwermütig und legten ein Bein sorgfältig zurecht, in dem die Gicht war. Und wie sie so zwischen den beiden Reihen der Kranken hingingen, spürten sie, ohne sich umzuschauen, wie hinter ihnen, wenn ihr prüfender Blick schon weitergeglitten war, sich die Liegenden und Sitzenden nicht mehr anstrengten, das Gespräch stärker anschwoll, sich die leidenden Gesichter wieder in frohe verwandelten.
Wieder im Freien, unter der abendlichen Sonne, standen sie auf dem Platz. Im leichten Wind wehte eine Fahne vom Dach eines Zeltes gegenüber, schlug kriegerische Falten, war wie ein lebendiges kühnes Tier mit schlankem Leib, und das Tier knurrte auch, knatterte angriffslustig, und der fette Prinz sagte: »Die Fahne, Xanxres, die Fahne, die gehört nach vorn«, und er sprach das »vorn« so aus, so ehrerbietig, wie das verwundete Käsgesicht es vorhin im Zelt ausgesprochen hatte.
Die Nacht war schon weit vorgeschritten, die Mitternacht war schon vorüber, an den Kerzen hatten sich Trauben von Wachsperlen gebildet und an manchen zierliche Gitter mit durchbrochenem Laubwerk. Zu beiden Seiten der weißgedeckten Tafel schwebten in gleichen Abständen rote Köpfe, junge und alte, bebartete und glatte, runde und schmale, weißhaarige und schwarzhaarige und blondhaarige und kahle und halbkahle, lauter gerötete Köpfe, und die Schnüre, an denen diese Köpfe hängen mußten, waren nicht zu sehen, der Prinz konnte sie nicht sehen, er sah nur die geröteten und gedunsenen Köpfe wie Kugelfische schwimmen. Die Köpfe schwebten und dazwischen die kleinen Lichter, die waren wie Funken auf dem Wasser, und der Prinz griff mit der Hand nach hinten an die Lehne seines Stuhls, sich festzuhalten, um nicht mitzuschwimmen und zu schaukeln in dem Tanz, denn er war nicht mehr ganz nüchtern. Das Reden ringsum ging nieder wie ein Regen ohne Unterlaß, und dieser viele Regen wohl war zu der Flut angeschwollen, in der die roten Kugelfische schwammen, und der weißflossige Fisch, der dem Prinzen gegenüber im Wasser sich drehte, nahm auf einmal die Richtung zu ihm her, schwamm ihm entgegen, kam näher, er unterschied die Augen und das Fischmaul, und plötzlich erinnerte er sich, daß das der Kopf des Obersten Jahannsen war, und der Kopf sagte etwas, und er erwiderte etwas, und während dieser paar Worte verwandelte sich der Fisch in den Obersten, und die weißen Flossen in die weißen Haare, aber das dauerte nur kurz, dann nahm der Oberst wieder Fischgestalt an, wie der Prinz halb erschrocken und halb befriedigt bemerkte, und schwamm wieder drehend und rotgefärbt an seinen Platz in der Reihe der anderen Flossenträger. Links vom Prinzen schwamm ein Kopf mit einer riesigen Nase, und der Prinz wußte, daß das sein getreuer Hering Xanxres war, und er erhob lachend, ohne Grund lachend, sein Glas gegen ihn, und der Xanxres sprang auf, nun schwamm sein Kopf als Fisch mit der langen Nase höher als die ändern, als ein einzelner und Einzelgänger, und leerte seinen Becher und setzte sich wieder. Ich darf nichts mehr trinken, sagte sich der Prinz, und schüttelte kraftvoll den Kopf, daß seine fetten Backen wackelten, und da sah er, daß er im Speisesaal mit dem Obersten Jahannsen und seinen Offizieren saß.
Vom Tafelende, dem Platz der jungen Offiziere, scholl auf einmal Lautenklang, und dann war auch eine Stimme zu hören, die zuerst den allgemeinen Lärm nicht durchdrang, bis ein paar Stimmen mit einfielen und das Lied allgemein wurde, alles sang, sich auf den Stühlen wiegte, und weil es ein Reiterlied war, das stürmisch dahinging, so war es, als ob alle auf Rossen säßen und sich im Sattel wiegten und ritten und ritten. Nun blickten die Gesichter alle kühn und entschlossen, und sie ritten über Hürden und Gräben und spürten den Wind um die Nasen sausen, und der Prinz sang mit und wußte, die hier würden singen und reiten, hier im Saal singen und reiten, während er vorn auf lebendigem Pferd ritt und nicht sang, nicht sang. Nur der hier neben ihm, der junge Xanxres, der ritt jetzt auf seinem Stuhl neben ihm, der ritt morgen auf dem Pferd neben ihm, der war treu, nun brach das Lied ab, die Reiter, die Stuhlreiter, tranken, und dann erhob sich unten am Tafelende der Sänger und Lautenspieler, stand leicht schwankend, hoch oben über der Tafelrunde der Kopf, es war Salonson, der Riese, winzig sah die Laute aus neben seinem gewaltigen Körper. Er begann ein anderes Lied zu singen, es sang niemand mit, das Lied war wohl nicht so bekannt, und es war auch ein trauriges Lied, vom Sterben, nach der ersten Strophe trat der singende Salonson von seinem Stuhl weg, machte ein paar Schritte, die ihn näher an den Prinzen heranbrachten. Hamlet konnte das runde Bauerngesicht des Riesen unterscheiden, und die Augen, die etwas gläsern blickten, und den Mund, der zuckte, und dann feuchtete der Sänger die Lippen und sang wieder. Der Mann, von dem das Lied berichtete, hatte jetzt den tödlichen Stich erhalten, eine klaffende Brustwunde, und das Blut rann aus der Wunde, und bevor er die dritte und letzte Strophe sang, schritt der Riese Salonson mit der kleinen Laute noch näher an den Prinzen heran, stand ihm gegenüber, die Tafelbreite war zwischen ihnen, er stand neben Jahannsen, und der wollte ihm abwinken, ihm bedeuten, er solle auf seinen Platz zurückgehn, aber das sah Salonson nicht, weil er nur unverwandt den Prinzen ansah mit seinen gläsernen, trunkenen Augen. Die Augen waren hündisch traurig, und ganz in der Tiefe der Kugeln war etwas wie Wut, aber da täuschte sich vielleicht der Prinz, nur die Traurigkeit war deutlich abzulesen, und mit den großen Händen rührte der Sänger die Saiten der kleinen Laute und begann die letzte Strophe seines Liedes, und da starb der verwundete Mann des Liedes, und bevor er starb, sprach er noch, er wisse nun, daß er sterbe, und er wisse nicht, warum er sterbe, und er wisse auch nicht, warum er gelebt habe, und er wisse nicht, wohin er nun komme, das sagte der Mann des Liedes vor seinem Tod, und dann starb er. Einen schrillen Zweiklang ließ Salonson der Schlußstrophe folgen und sah gläsern den Prinzen an, und ein paar Hände klatschten Beifall, und der Prinz klatschte auch Beifall mit seinen kleinen, fetten Händen, und Salonson lächelte und verneigte sich vor dem Prinzen und ging schwankend, der betrunkene Salonson, auf seinen Platz zurück, und der Prinz sah ihm nach, mitleidig, gehässig, schadenfroh und betrübt.
Oberst Jahannsen neigte sich gegen den Prinzen: »Er ist betrunken, Prinz.« »Tut nichts. Oberst, wir sind hier unter uns, es soll heut sein hier, wie es hier sonst immer ist.« »Schließlich ist Krieg«, sagte der Oberst, »die jungen Leute sind im Krieg und sollen sich austoben.« Krieg ist bei der Venskaschanze, dachte der Prinz, und bei den kleinen Männern vorn, und hier hinten bei den großen Männern ist der Wein. Aber der wird vorn auch sein, hoffentlich viel Wein vorn sein. Er hatte scharfe Ohren, Hamlet, und hörte rechts von sich zwei Offiziere sprechen, und hörte den Namen Salonson und: »er hat sich nach vorn gemeldet, Salonson, der Narr«. Der Prinz sah auf den Sprecher hin. Es war ein schöner Männerkopf, um Mund und Nase lag ein Zug von Kühnheit, die Augen waren offen und hell, und der Kopf hätte gut auf die Venskaschanze gepaßt, und dieser kühne Mund hieß Salonson einen Narren, weil der zur Venskaschanze ging. Der Prinz zog verächtlich die Mundwinkel herab. Er rieb sich die Augen und sah schärfer auf den schönen Sprecher hin. Das konnte kein Zug von Kühnheit sein, den er da zu sehen glaubte. Er war betrunken, der Prinz, und da fehlten seine Augen, und jetzt sah er auch, was er für Kühnheit gehalten hatte, war Frechheit. War Klugheit, schoß ihm durch den Kopf. Und er, der Prinz, war nicht klug, und kühn war er wahrscheinlich auch nicht und ging doch nach vorn.
Einen Augenblick lang schwammen jetzt wieder die Fischköpfe, und der schöne Sprecher war ein scharfmäuliger, tapferer Hecht, und er schoß davon auf der Flucht, auf der Flucht vor dem Tod.
»Es darf heute sein wie immer, Prinz?« fragte Oberst Jahannsen. Hamlet sah noch den Hecht schwimmen und murmelte: »Ja!« Der Oberst klatschte in die Hände, unten, bei den jungen, sprang einer auf riß die Tür auf und ließ einen Schwarm Frauen eintreten, die sich rauschend bei den Jungen niederließen, scheu zur Tafelmitte, kopfgeneigt, heräugten, Gefahr witternd, Verbot und Tadel. Junge Zierfische, dachte der Prinz, zwischen den Hechten, zwischen den Karpfen, verbesserte er sich höhnisch. Bald scholl Gekicher und Gelächter von unten her, hell zwischen den Bässen der Männer. »Und sie sollten keine Bässe haben!« sagte der Prinz laut. »Wer?« fragte der Oberst. »Nun, sie!« sagte der Prinz, und der Oberst verstand nichts und lächelte auf alle Fälle.
Frauenzimmer! dachte der Prinz und sah zu der bunten Schar hin, Weiber! Unterröcke! Aber der Blick, den er auf sie gerichtet hatte, den nahmen sie wohl für Zustimmung, den nahmen sie wohl für Freundlichkeit, den nahmen sie für Aufforderung, denn ein paar der kichernden Wesen trauten sich näher heran, saßen wie Vorposten nun schon ein paar Stühle links vom Prinzen, saßen auf dem Schoß der Offiziere, saßen auf dem Tisch, hoben die Gläser und kicherten und lachten und tranken und sahen den Prinzen mit einem schnellen und ehrerbietigen Blick an und lachten lauter und sahen weg. Der Oberst Jahannsen machte ein angespanntes und lauerndes Gesicht, und Bereitschaft war in ihm, die plappernden Wesen wegzuscheuchen, wenn der Prinz nur eine kleine Miene des Unwillens zeigen sollte. Aber da saß nun auf einmal ein junges blondes Geschöpf auf den Knien von Xanxres und schlang die Arme um Xanxres, und Xanxres errötete und wagte nicht, sich zu rühren, als das blonde Geschöpf seinen jungen roten Mund unter die Greisennase auf den Jünglingsmund legte und so verharrte und dabei groß dem Prinzen in die Augen sah. Der sah ihm aus so großer Nähe tief in die grauen Sterne hinein, bis er nicht mehr wußte, daß das Augen waren, diese grauglänzenden, schwimmenden, schillernden, beweglichen Kugeln. Da betrachtete er lieber den weißen Hals und den tiefen Brustausschnitt und sah, wie die linke Brust sich mühte, aus dem Kleid sich zu wölben. Da hörte er wieder die Stimme des Kühngesichtigen, wie er das Wort »Krieg« aussprach, und die vorgewölbte Brust der Blonden verwandelte sich ihm in die vorgewölbte Venskaschanze, und er sprang heftig auf. Sofort schnellte auch der Oberst Jahannsen hoch, und rauschend prasselten die Frauen zur Tür. Blieben dort stehen, und alle Offiziere waren aufgesprungen und standen und hielten sich an der Tischkante fest und schwankten wie ein Kornfeld im Wind, schwankten wie stramme, feste Ähren, und die bunten Kleider der Frauen waren wie Mohn und blaue Kornblumen, alle zusammengedrängt in eine Ecke des Kornfelds. Und der Prinz lächelte und sagte: »Gute Nacht, meine Herren«, und die Ähren knickten alle wie mit einem scharfen Schnitt gemäht, und der Prinz ging und wehrte dem Oberst, ihn zu begleiten, und ging mit Xanxres die Treppe hinab und hörte hinter sich den Lärm wieder anschwellen. Und trat durch die Haustür ins Freie.
Am schwärzlichen Himmel trieben Wolken dahin, in schneller Fahrt, da oben mußten Winde gehen, obwohl hier unten nichts davon zu spüren war. Der Mond hing in halber Höhe der ungeheuren Kuppel, und wenn man ihn ansah, schiens, er sause schnell dahin, die Wolken stünden still, und so tauchte er wie ein gelber Fisch in das Schwarzgrau der Wolken, verschwand, nur ein leiser Glanz verriet, daß er noch da war, dann erleuchtete sich der Wolkenrand, und dann schoß der Mondfisch hervor, schwamm durch ein Stück blauen Himmels und tauchte eifrig und beflügelt wieder in das grauschimmernde Wolkenzeug, und während so oben alles in Bewegung und Fluß war, war hier unten alles still, kein Wind, aber ein Drängen war zu spüren, das da aus der Erde kommen mußte, unfaßbar und doch vorhanden, das Blut meldete es, und dieser Meldung war zu vertrauen. Sie gingen über den Platz, ihrem Haus zu, im ungewissen Licht, und als der Mond wieder einmal in eine Wolke hineingeglitten war, fragte der Prinz: »Xanxres, was meinen Sie?« Xanxres sah zu ihm hin, er sah die große massige Gestalt, in den schwarzen Mantel gehüllt, und konnte das Gesicht nicht erkennen, aber seine Ohren sagten ihm, daß die Frage besorgt geklungen hatte. Jetzt kam der Mond wieder hervor, der Prinz blickte zu ihm auf, Xanxres sah die fetten Backen jetzt und den unruhigen Mund, und er antwortete: »Salonson geht ja jetzt nach vorn.« Der Prinz ließ den jagenden Mond nicht aus den Augen. Vorn, an der Venskaschanze, sahen jetzt auch die kleinen Männer zum Mond empor, und er sah die Karten des Obersten vor sich, und die erbsengroßen Männer auf den Karten, und der Mond dieser Erbsenmänner mußte auch winzig sein, wie ein Fliegenkopf so groß, dachte er, und bald war er auch vorn an der Venskaschanze und schrumpfte zusammen wie jene. Er blieb stehn und legte die Hände vor seinen großen Bauch und lachte, daß er so zusammenschrumpfen würde, und Xanxres auch und der Riese Salonson auch, aber hier hinten die Leute blieben groß. »Vorn, Prinz«, sagte da Xanxres, »sieht alles anders aus! Was hinten hin gehört, Prinz, ist hinten, und was vorn hin gehört, Prinz, ist vorn!« »Und wir?« fragte Hamlet. Xanxres antwortete: »Wir reiten ja nach vorn, Prinz!« »Und Salonson, Xanxres?« »Wir können ihn ja wieder zurück schicken!« lachte der Hering und sah den Prinzen fröhlich an.
Der Prinz war eingeschlafen. Der Mond schien durchs Fenster. Der Prinz lag auf dem Rücken, so wars am besten für seinen Bauch, und Xanxres schlief und lag auf der Seite, und beide träumten nicht. Sie lagen ruhig, mit entspannten Gesichtern und tiefen Atems.
Und der Mond, der fiiegenkopfgroß auf die Venskaschanze herablachte, auf die Erbsenmänner, und der durch die Wolken über dem Dorf Arngeb hinstürmte, daß es den vom Mahl heimtorkelnden Offizieren des Obersten Jahannsen taumelig vor den Augen wurde, wenn sie zu ihm aufsahen, der beschien hinten im Wald auch Karl, der vor seiner Höhle saß, die Knie hochgezogen, das Kinn auf die Knie gestützt, und seufzend. Und sein Seufzen wurde von den Bäumen aufgenommen und verstärkt, und der Wald seufzte mit, so schien es ihm. Dann schwieg er, und der Wald verstummte unheimlich, und im Gebüsch raschelte ein Tier, ein Fuchs vielleicht oder eine Wildkatze, der Boden war feucht, und Karl kroch in die Höhle und auf sein Laublager zu seinen schlafenden Kameraden und schlief ein.
Aber das Tier, ein Fuchs vielleicht, oder eine Wildkatze, schlief nicht, es setzte seinen Raubzug fort und fand bald die Beute. Denn aus dem Wald kreischte es auf einmal laut, der Todeslaut eines Hasen vielleicht, oder eines jungen Rehs, und dann war Stille. Und still und stürmisch jagte der Mond über den wolkenverhangenen Himmel.
Das Blau des Himmels war völlig wolkenlos und zitterte von dem vielen Licht. Die Sonne war nicht zu sehen, der Graben war so tief in die Erde geschnitten, daß man, auf der Grabensohle stehend, nur einen Streifen Bläue sah und das ungeheure Licht nur ahnte, das von irgendwoher seine Fülle ausgoß. Eine Lerche sirrte glühend, das Holz, mit dem die Grabenwände ausgelegt waren, war heiß, und so war das alles wie Sommer, der lärmende Vogel, das hitzige Blau, das brennende Holz, war alles wie Sommer, denn Bäume und Sträucher und Wiesen, an deren Aussehen die Jahreszeit abzulesen gewesen wäre, waren hier im tiefen Graben nicht zu erblicken. Der Prinz aber, an die Grabenwand gelehnt, wußte wohl, daß es nicht Sommer war, daß erst der April im Kalender stand. Ihm gegenüber stiegen drei hölzerne Stufen zu einer Nische in der Grabenwand, und in der Nische stand ein Mann, der ihm den Rücken kehrte, der, den Kopf ein wenig über dem Grabenrand, eifrig spähte. Der Späher war ein Soldat, der wohl wußte, daß hinter ihm ein Vorgesetzter stand, und der sollte wohl merken, wie gut und mit welcher Hingabe er Ausschau hielt. Der Prinz sah den breiten Rücken des Mannes und den kräftigen Hals, der krausbehaart den Kopf trug, und auf dem Kopf trug der Mann eine lederne Kriegshaube, die war so dicht über den Kopf gezogen, daß der Kopf so von hinten wie eine pralle, lederne Kugel aussah. Da stand er nun, der Posten an der Venskaschanze, den der Prinz hinten im Zimmer des Obersten Jahannsen zum erstenmal gesehen hatte, aber dort war er winzig klein gewesen, und auch sein Gesicht hatte man gesehen, denn der Mann auf der Karte hatte nicht zum Feind geblickt, das war aber falsch, der Zeichner war sicher nicht hier vorn gewesen. Hier vorn trug man das Gesicht dem Gegner entgegen, und man sah, wenn man durch den Graben ging, nur lederne Kugeln, alle paar Schritte ragte so eine lederne Kugel über den Graben hinaus, und ob das Gesicht des Mannes vor ihm bärtig war, war nicht herauszubringen. Denn auch wenn man den Mann angesprochen hätte, wenn man eine Frage an ihn gerichtet hätte, was aber der Prinz nicht tat, der Mann hätte schon geantwortet, aber den Kopf dabei nicht gedreht, wie das seine Pflicht war, wenn er auf Posten stand. Es war ruhig hier, vom Krieg nichts zu merken. Er hätte ja den Kopf drehen können, und hätte ein vorübergehender Kamerad ihn was gefragt, da hätte er nicht bloß den Kopf gedreht, der ganze Kerl hätte sich umgedreht, hätte dem Feind den Rücken gedreht und mit dem Kameraden geschwatzt. Aber der Prinz stellte den Soldaten gar nicht auf die Probe, leider, sonst hätte er gemerkt, was für ein tüchtiger Mann das war, der seine Vorschriften kannte. Der Prinz lehnte nur behaglich an der heißen Holzwand und sah die Lederkugel rund und prall in den blauen Sommerhimmel sich heben, und in Gedanken sah er einen Pfeil, einen gefiederten Pfeil von drüben herüberschwirren, und vielleicht war das Schwirren in der Luft, das er der Lerche zuschrieb, das Schwirren des Pfeils. Da stieg der Prinz schnell die Treppe empor, die drei Stufen, und stand neben dem Soldaten, und hatte jetzt auch den Kopf über dem Grabenrand und sah nun nicht mehr bloß einen Streifen blauen Himmels, er sah die große Kuppel ganz, und auf einmal war nicht mehr Hochsommer, wie drunten im Graben, es war April, ein heißer Aprilnachmittag zwar, aber doch nicht Sommer, denn das Hellgrün der Wiesen war noch frühlingshaft, und die Blätter der Bäume waren noch nicht von der üppigen Größe des Sommers und die Sträucher wehten jung und frisch, nur der Himmel oben war sommerlich und das unablässige Singen der unsichtbaren Lerche. Das sah er und fühlte, wie sein Hals Lust hatte, sich zu krümmen und den Kopf wieder unter die Grabenwand zu bringen, weil das Lerchensirren sich doch unvermutet in Pfeilsummen verwandeln könnte, aber der Lederkopf neben ihm sah gleichmütig gerade aus, da tat er es auch und sah das feindliche Dorf vor sich, befestigt wie das, das sie verschanzt hielten, sah das Dorf nah vor sich und glaubte die Posten zu erkennen, die drüben standen, und zu ihnen hersahen, wie sie hinsahen, und das sah kriegerisch aus und sah so friedlich aus zu gleicher Zeit, und am friedlichsten war eine Rauchfahne, lang und schmal, die drüben schlängelnd ins Blaue flatterte. Von der Venskaschanze aus, in der er eben jetzt stand, lief ein Weg zum feindlichen Dorf hinüber, ein breiter, gelber Weg. Lief so selbstverständlich und froh hinüber, als säßen drüben nicht lederne Männer mit Armbrüsten, die schossen auf alles, was sich ihnen nahte. Der Weg lief zwischen Wiesen dahin, und auf dem Weg war schon seit vielen Wochen kein Menschenfuß mehr gegangen, kein Reiter geritten, kein Wagen gefahren, und so hatte die Wiese schon kleine Trupps von Grasbüscheln ausgeschickt, die ihn besetzten, die ihn grün sprenkelten, und wenn alles so blieb, wie es nun seit fast schon einem Jahr war, so würde die Wiese wohl bald den gelben Weg überwältigt haben. Das Gelände zum Feinddorf hinüber stieg etwas an, eine Bodenwelle lag da, die erklomm der Weg, verschwand, und tauchte dann wieder auf und lief geradewegs zu einem verrammelten Tor, lief unter der Torschwelle weiter, lief weiter, wenn auch von hier aus unsichtbar, durch das feindliche Dorf und feindliche Ledermänner gingen auf ihm. Auf dem Kamm der kleinen Welle, wohl genau in der Mitte zwischen den beiden Dörfern, stand eine Baumgruppe, drei Bäume, drei Linden, eine mächtige alte und zwei jüngere, und der Schatten der großen Linde lag schwarz auf dem gelben Weg. Hinter dem feindlichen Dorf rechter Hand zog sich eine schwärzliche Raupe bis zum Himmelsrand, das war Wald, das war Buchenwald, links vom Dorf breiteten sich Felder und Wiesen, auf denen jetzt wohl Unkraut sprießen mochte, reichlich wie nie zuvor, denn seit einem Jahr war dort nicht gesät und nicht gejätet und nicht geerntet worden. Der Prinz sah schnell den unbeweglichen Soldaten neben sich an: Ja, da war ein Mensch, atmete ein Mensch neben ihm, denn auf dieser Welt, die handgroß vor seinen Augen lag, war nicht ein Zweibeiner zu sehen, hinter den Mauern und Wällen des Dorfes drüben da saßen sie wohl geballt. Menschen und Menschen und lauter Soldaten, und lärmten und lachten, aber auf der Wiese vor ihm regte sich nichts, und wenn sich jetzt eben ein Maulwurf in die Höhe grub und rosaschnäuzig zwischen den Halmen erschien, den sah er nicht, den konnte er nicht sehen, bloß den Lärm der unermüdlichen Lerche hörte er. Da stieg der Prinz wieder in den Graben zurück, in den sommerlichen Graben, und jetzt bestand die ganze Welt nur aus diesem einen Graben, und der Himmel war nur ein blauer Streif, und er reckte den Kopf nach oben, wie der Maulwurf draußen im Gelände den seinen aus dem Dunkeln zum Blauen hob. Xanxres, der die ganze Zeit neben ihm gewesen war, sagte jetzt: »Wir müssen zu der Besprechung, Prinz«, und seine Nase war noch größer geworden, schien es dem Prinzen, und ganz uralt, aber sein lustiges Knabengesicht noch jünger als sonst schon.
Sie gingen, der Graben machte eine Biegung, und der Soldat auf seinem Posten, er drehte sich noch rechtzeitig genug, um die beiden eben die Biegung nehmen und sie verschwinden zu sehen, er hatte es im Gefühl, wann man von seinem Platz aus die Biegung erreichte und man gefahrlos, ohne ertappt zu werden, Abziehenden nachsehen konnte. Es war eben zu langweilig, dieses Geradeausstarren, da tat einem der Hals weh, und so bewegte er ihn ein paarmal, wie eine unwillige Gans, und gähnte dann laut in die Stille vor ihm, in die plötzlich eingetretene Stille, denn auch die Lerche hatte das Singen satt und war verstummt.
Der Prinz und Xanxres, die Unzertrennlichen, gingen in einem Laufgraben nach hinten, durch ein Gewirr und Geflecht von Gräben, überall standen Posten, und sie gingen an zwei Feldschlangen vorbei, den neu eingeführten Feuerrohren, auf Rädern aufgebaut, und man wußte, daß der Gegner keine hatte. »Ob die viel taugen?« fragte der Prinz und sah zweifelnd die Geschütze an, berührte mißtrauisch die Rohre, die mit Blumen und Früchten in getriebener Arbeit geschmückt waren. Die Geschütze sahen wie Eidechsen aus, einen langen Schwanz hinten, einen schwarzen, immer offenen Mund vorn, die Geschütze, die stumm waren und nur selten sprachen, aber wenn sie sprachen, nicht imstand waren zu flüstern, die gleich schreien, gleich brüllen mußten, und schon diese laute Art war dem Prinzen unangenehm.
Der große Laufgraben endete in der Hauptstraße des Dorfes, und nun gingen sie ohne Aufenthalt zum Haus des Befehlshabers. Als sie die große Bauernstube betraten, waren die vier Obersten schon da, und jedem gab der Prinz die Hand. Der Oberst der Fußtruppen, bisher auch der Oberbefehlshaber, der Oberst Bahubsen, ein kleiner, runder Mann mit schnellen Augen, noch jung, kaum fünfzig, mit einem rötlichen Schnurr- und Knebelbart, verbeugte sich linkisch und stolz und fragte, was der Prinz denn nun beschlossen habe. »Angriff«, sagte der Prinz, und das machte, daß die vier Obersten vier rasche und tiefe und freudige Verbeugungen machten. »Prinz«, sagte Bahubsen, »das werden wir machen und das werden wir gut machen und das wollten wir schon lange machen, aber man hat uns das bisher nicht erlaubt, man wollte das nicht haben, hinten.« Er sah unternehmend alle an und war wie ein Ball, der losrollen möchte, federte, hopste, stand dann still. Graf Oldensleven, der Oberste der Reiterei, war ein magerer, mittelgroßer Herr mit einem schütteren Vollbart, der wie verfilztes Moos an seinem Gesicht herabhing, mit einem Vollbart, der längs der Ohren herabstieg, sich dann verwildert ausbreitete und bis zur Brust tief herabreichte, asch grau von Farbe, die schwarzen Augen waren wie dunkle Punkte im Gesicht, und wenn er sie hier und da zukniff, und das tat er manchmal, das tat er oft, und sie ganz weg waren, scheinbar, die Augen, wirkte das Gesicht wie eine wilde Maske, und das sah um so toller aus, sah um so verwegener aus, als er ganz glatzköpfig war, mit einer roten Glatze, als habe man ihm die Kopfhaut geschält, aber die Kopfhaut war noch da. Jetzt richtete er seine winzigen Augen auf den Prinzen, zog den kleinen Spitzbauch, der sonderbar zu seiner mageren Gestalt paßte, etwas ein und sagte: »Zuerst bei dem Olaftor einen Ausfall machen!« Er machte eine Pause. »Wenn sich dann die Sache entwickelt, und sie auch beritten kommen, Prinz«, fuhr er fort mit einem tiefen Baß, den er aus seinem schmalen Mund entließ, »Prinz, dann komme ich mit meinen Reitern!« Er stieß gewaltig den Spitzbauch vor, kniff die Augen ein, »mein Prinz, mit guten Reitern, mit sehr guten Reitern, wir werden ja sehen, Prinz«, und er schnitt mit der Hand scharf durch die Luft. »Venskaschanze, mein Prinz, Venskaschanze!« sagte Bahubsen und sah Oldensleven an, der seinem Blick nicht auswich, nur die Stirn und die Glatze faltete. »Der Graf Prinz, kommt mit seinen Reitern schon zum Zug, so oder so, aber am besten ist der Angriff von der Venskaschanze aus!« Er hatte es rasch und heftig gesagt, der Oberst Bahubsen, und das versuchte er nun zu mildern durch eine höfliche Verbeugung. Oldensleven antwortete ihm nicht, er stand aufrecht da und sah nur erwartend den Prinzen an, mit seinen kleinen Glasaugen. Da sagte eine heisere Stimme, langsam, mit Pausen zwischen jedem Wort, mit zu großen Pausen, daß man dachte, jetzt und jetzt sei der Satz zu Ende, aber der Satz war nicht zu Ende, es war nur eine besonders große Pause, und es kamen noch mehrere Worte, und während die heisere Stimme so langsam Wort für Wort tönen ließ, trat Bahubsen ungeduldig von einem Fuß auf den ändern, und Graf Oldensleven schob den Bauch vor und zurück, aber sonst blieb er ruhig, da schloß der Oberst Greon seinen Satz: »Ich empfehle Ihnen auch die Venskaschanze, Prinz.« Der heisere Oberst, der die Armbrustschützen befehligte und die Sturmbockträger und die Brückenschlager, ein großer, breitschulteriger Mann, hatte damit seine Meinung gesagt, langsam und nachdrücklich, und damit schien ihm genug getan, und so schwieg er wieder. Bahubsen schrie: »Ganz recht, Greon, nur von der Venskaschanze aus!« Der kleine, zierliche Ubsmann, der jüngste der vier Obersten, bartlos das Gesicht, mit kleinen Händen und Füßen (wie war er schön gekleidet! wie saß alles hübsch an ihm! jedes Fältchen der Kleidung war wohlberechnet!), der Oberst Ubsmann, der die Feuerwaffen unter sich hatte, sagte: »Olaftor, Prinz, ist meine Meinung, wenn ich sie sagen darf«. Die drei anderen Obersten sahen ihn an, und es war klar, daß sie alle drei der Meinung waren, daß der Führer dieser neuen Waffe eigentlich besser täte zu schweigen. Aber, immerhin, er war der Meinung, die Oldensleven vertrat, und so sah ihn der weniger ungnädig an, ein Bundesgenosse war er immerhin, immerhin.
Der Prinz Hamlet dachte daran, daß auch Oberst Jahannsen die Venskaschanze als den zum Ansetzen des Angriffs geeignetsten Platz bezeichnet hatte, und er lächelte in sich hinein. Es war ganz still geworden in der niederen Stube, nur das Atmen der sechs Menschen, die da standen, bewegte die Luft, ein Räuspern geschah, ein Hustenstoß, ein Scharren mit dem Fuß, ein Griff ans Kinn, schabend, mit Geräusch, als ob sich einer rasiere, aber sonst Stille, Stille. Hinter den sechs Stirnen arbeitete es, aber die Männer schwiegen, und jeder der Obersten dachte an seinen Plan, an seinen besten Plan. Bei Hamlet lag die Entscheidung, von ihm wollte man einen Befehl, und es war ihm so schwer, sich zu entscheiden, von ihm wollte man eine feste Meinung, und es fiel ihm so schwer, eine feste Meinung zu haben, wie gut hatte es der glatzköpfige Oldensleven und der dickliche Bahubsen und der stramme Greon und der geschmeidige Ubsmann, die wußten, was sie wollten. Er sah Xanxres an, der links hinter ihm stand, und fing einen so tief zuversichtlichen Blick des Greisennasigen auf, daß er unbehaglich wieder wegsah. Er fühlte, wie ihm das Blut in die dicken Backen stieg, vor Anstrengung sich zu entscheiden, und feig dachte er an irgend etwas anderes, irgend etwas Gleichgültiges, um nur die Röte aus seinem Gesicht zu treiben. Von der Venskaschanze aus! dachten heftig zwei, vom Olaftor aus! drangen zwei Willen auf ihn ein, aber, konnte es nicht von jedem Punkt aus gelingen? Das waren vier erprobte Soldaten und waren verschiedener Meinung, und lächelnd kam ihm die Erkenntnis, daß es wohl auch im Letzten gleichgültig war, wo der Angriff angesetzt wurde, daß er genug leiste, wenn er sich nur entschiede, gleichviel wie, wenn er nur befehle, gleichviel was, daß er ja nur gekommen war, den Angriff zu befehlen, und er sah die Karte wieder vor sich in Jahannsens Zimmer und den kleinen Trupp kleiner Menschen auf der Venskaschanze, und er war entschlossen, jetzt den Befehl auszusprechen, und das mußten die fünf Männer fühlen, daß er jetzt so weit war, denn unmerklich spannten sich ihre Körper, alle fünf drehten fast unmerklich den Kopf ein wenig, daß ihre Ohren ihm lauschend zugeneigt waren, und da hörte er sich auch schon sagen, der Prinz Hamlet: »Ich befehle im Namen des Königs, meines Stiefvaters, den Angriff und den Angriff übermorgen von der Venskaschanze aus!« Wieder war die Stille jetzt da, eine andere Stille als vorher, geladen, zitternd, und den Gesichtern des Grafen und des zierlichen Ubsmann sah man es an, daß sie sich umstellten, daß sie schon anfingen, die Meinung des Prinzen für die bessere zu halten, daß ihre Gründe hinschwanden vor dem Wort des Befehlshabers, und daß Bahubsen und Greon vergaßen sich zu freuen, rechthaberisch zu freuen, daß sie alle ihren Willen und ihre Kraft spannten, auf das, was da übermorgen kam, und als der Prinz sagte: »Herr Oberst Bahubsen, treffen Sie Ihre Vorbereitungen«, da sprang der runde Oberst zur Tür des anstoßenden Zimmers, riß sie auf rief: »Die Herren Offiziere«, und da quoll aus dem Nebenraum eine sporenklirrende Gruppe von Männern, von jungen und alten, und stellten sich hinter ihre Führer, vier Gruppen waren es auf einmal, und der Prinz sah über die vielen Männer hin und nickte und ging mit Xanxres.
Sie gingen langsam durchs Dorf an den Bauernhäusern vorbei. Aber Bauern waren nicht mehr im Dorf und keine Bäuerinnen, und nicht Knechte und nicht Mägde, und Hühner Hefen nicht über die Straße, und kein Kettenhund bellte, kein Hahn krähte, und wenn eine junge Stimme sich überschlug, krähend wie des Sporenvogels Ton, wars eines jungen Soldaten Stimme, der lachte und nicht wußte, worüber er lachte, nur lachte, des Lachens willen und weil er jung war. Kleine Trupps von Soldaten, einen Führer an der Spitze, marschierten daher und machten ernste Gesichter, machten ernste Gesichter zu den lustigen Worten, die ihnen die Herumlungernden zuriefen, sie waren ja auf dienstlichen Wegen, marschierten zu den Wällen, Posten abzulösen, und da ziemten sich verhaltene Mienen. Von manchen Dächern wehten Standarten, zeigten Löwen, große Vögel, auch Einhorn und Büffel und Fabeltiere, Streifen und Sterne, Helme und Kugeln, die Wappen der Führer, der Fähnleinsbefehlshaber, des Adels. Und die vielen ledernen Männer saßen in den Bauernhäusern, sahen aus allen Fenstern, sahen noch aus den Dachfenstern, hoch oben, als seien die Häuser so voll von ihnen, daß sie kaum noch Platz hatten und oben und unten und aus jeder Lücke hervorquollen.
»Setzen wir uns«, sagte der Prinz, und sie setzten sich auf eine Bank, die an einer Scheune angebracht war, und ließen sich von der Sonne bescheinen und legten den Rücken an das graue, warme Holz, das von vielen Sommern wie Zunder mürb geworden war, daß Holzmehl rieselte bei jedem Druck. Sie schlossen die Augen, da wurde die Welt purpurn und schwarz und mütterlich warm, und sie ließen sich tragen wie auf einer Woge, auf und ab, wunderschön schaukelte das Halbtraumschiff und nun fuhr ihnen ein Schiff entgegen, der Prinz hörte ein feines Geräusch, machte die Augen auf ein Mädchen kam näher, eine Soldatenfreundin, eine junge Frau, sah den Prinzen fest an, ohne Scheu, hier gab es nur Soldaten, was sollte sie Soldaten scheuen? Das hier waren auch Soldaten, waren Offiziere, sie war nun ganz nah herangekommen, lachte, mit glänzenden braunen Augen, zögerte kurz, sollte sie stehen bleiben, aber da mußte man sie ansprechen, sie sprach niemanden an, wie das die andern taten, manche andere, die älteren besonders, die weniger hübschen, sie war hübsch. Sie zögerte nur leicht, und das war schon Entgegenkommen, war schon eine Ausnahme, sie sah den Prinzen an, sah lächelnd auf Xanxres, der mit geschlossenen Augen saß und jetzt, aber jetzt, das Zögern gespürt haben mußte, die Augen aufmachte, ungläubig das Mädchen anstarrte, selig lächelte, aufsprang, wie ein Träumender auf sie hinging, den Arm zu ihr streckte, mit blinzelnden Augen im glücklichen Gesicht, Sonne, Sonne über sich. Das Mädchen war stehen geblieben, kannte sie diesen Mann? er tat so, dieser Mann, aber sie erinnerte sich seiner nicht, sie hatte doch sonst ein gutes Gedächtnis, und jetzt, es war also doch ein Irrtum dieses Mannes, trat Verlegenheit in das Gesicht dieses Mannes, er wandte sich verlegen ab, setzte sich wieder. Das Mädchen ging weiter, zwei komische Burschen, dachte sie, hätten doch ein Wort sagen können, der Jüngere hätte ein Wort sagen können, unhöflich eigentlich. Sie verschwand um die Ecke.
»Es geht mir jetzt oft so, Prinz«, sagte Xanxres, »wenn ich unvermutet eine Frau sehe, glaube ich, daß es Klara ist!«
Der fette Prinz sah ihn forschend an. »Sie sind arg verliebt, Xanxres?« »Ja«, sagte der Xanxres, »arg, Prinz!« »Wollen Sie noch ein Herz dazuschneiden?« fragte er und deutete auf die Bank, in die pfeildurchbohrte Herzen eingeritzt waren. Xanxres lachte, wie über einen Scherz, aber plötzlich zog er doch sein Messer und begann eifrig eine Herzfigur aus dem geduldigen Holz zu graben, blies die kleinen Splitter und Späne fort, die flogen, grub ein schönes und tiefes Herz, das weiß und frisch und wie blutig, wie naß sich abhob von dem trockenen braunen Holz der Bank, und dreimal, während er grub, dreimal sagte er; Klara und Klara und Klara!
Zu seinen Füßen hatte sich in einer Hufspur eine Regenlache gebildet, und wenn man diese Regenlache, wie der Prinz das tat, angestrengt betrachtete, wurde sie größer, wurde ein hufeisenförmiger See, trüb glänzend. Über den Wasserspiegel liefen rasche, zitternde Wellen. Daneben war wieder ein solcher See und noch mehrere, eine Seenplatte war zu seinen Füßen, ein Untier war hier über die Erde geschritten, ein Fabelwesen, hatte mit seinen Tritten die Erde aufgerissen, das Wasser war von unten heraufgeschossen. Der Prinz beschränkte sich nun wieder darauf nur den einen See, der vor seiner Fußspitze lag, zu beschauen und zu sehen, wie die spritzenden Regentropfen einschlugen. Der Prinz saß auf einem Faß, saß im Regen auf einem Faß, es hatte ihn im Hause nicht mehr geduldet. Er trug eine Lederkappe, wie seine Soldaten, so saß er vor dem See in der Hufmulde und sann. Sein schwarzer Mantel war weit um ihn, so war er zu sehen wie eine schwarze Kugel, eine kleinere rötliche Kugel darauf das war sein Kopf die zwei Augen, zwei noch kleinere Kugeln, sahen über die Seenfläche hin, so saß er im Regen, im dünnen Regen, auf dem Faß und wartete.
Und Schritte hörte er, eilige, der Boden schrie seufzend unter den vier Schuhen, die ihn traten, zwei Männer kamen eilig, ein großer Mann und ein auch nicht kleiner, aber während jener breitschultrig war, war dieser mager wie ein Fisch, wie ein Hering, es waren Xanxres und der Riese Salonson, die durch den Regen herstrebten. Der Prinz sah ihnen entgegen, stand nicht auf, trat mit seinem linken Fuß in den See, daß der weit über seine Ufer schwoll. Nun waren die beiden Männer dicht vor dem Prinzen, der seinen Fuß nicht aus dem See nahm, und des Riesen Salonson Gesicht ansah, das gespannt war, das einen fest zusammengehaltenen Mund zeigte, das Bestreben, sich keine Aufregung merken zu lassen, und während der Prinz diesen festgeschlossenen Mund sah, hörte er Worte, und aus dem geschlossenen Mund konnten sie nicht kommen, es war also wohl Xanxres, der da sprach, und was er sprach, das zu hören hatte der Prinz wohl erwartet, aber er zog doch wie erschrocken und schnell seinen Fuß aus dem See, als es scholl; »Der Angriff, mein Prinz, hat pünktlich begonnen. Die ersten Sturmwellen sind abgelaufen!« Der Prinz sah auf den See, er war kleiner geworden und lehmig von der Erde, die sein Fuß vom Grund aufgewühlt hatte. Der Regen fiel noch, er fiel jetzt auch auf die Sturmwellen, die von den Wällen aus vorgingen, Wellen, die aus Menschen bestanden, mit Lederkappen auf dem Kopf, wie er sie trug. Er sah zu Xanxres auf Da kam durch den Regen ein dumpfer, kurzer Knall, nach oben sahen sie alle drei, als müsse er aus den Wolken gekommen sein, donnerähnlich, aber aus diesen dahinwischenden grauen Aprilwolken, die nicht sehr dicht waren, Blaues unter ihrem Schleier ahnen ließen, aus diesen Wolken konnte der Knall nicht gekommen sein, sie wußten ja auch alle drei, woher er kam, der dumpfe Knall, und nun schlug der Knall nochmals an, als ob ein riesiger Hund belle, und Xanxres sagte; »Ubsmann schießt, wie das bestimmt worden ist!« Sie horchten, ob sich der Knall wiederhole, aber nur der rauschende Regen war zu hören, sie horchten eine Zeitlang, vorgebeugt, nach der Richtung zu, wo der Angriff begonnen hatte, aber der große Hund schlug nicht nochmals an.
»Wir gehen jetzt zu den Wällen vor«, sagte der Prinz, aber er blieb auf dem Faß sitzen, während er das sagte, und hatte den Kopf lauschend zum Schlachtfeld gerichtet und hatte aufmerksame, beobachtende Augen, aber es war doch nichts zu sehen, nur die Giebel der Dächer und die leere Straße, die im Regen da lag, im Regen, der nun schon viel dünner fiel. »Es wird gleich zu regnen aufhören«, sagte Salonson, der Riese. »Wir gehen jetzt zu den Wällen vor« sagte nochmals der Prinz, und diesmal stand er wenigstens auf, stand auf seinen mächtigen Beinen, wenn er sie auch noch nicht in Bewegung setzte, hatte beide Hände an seinem geschweiften Schnurrbärtchen, und nun hob er das Bein, aber nicht um zu gehen, er stieß das Faß um, auf dem er gesessen hatte, das rollte wackelnd ein Stück, daß aus den Wasserlachen die trübe Flut spritzte. Und als jetzt auf einmal der Hund wieder anschlug, gleich mehrere Hunde, hintereinander, jeder mit einer anderen Stimme, und Xanxres bei jedem Knall ungeduldig mit dem rechten Arm durch die Luft schlug, lächelte der Prinz und sagte: »Es regnet wahrhaftig nicht mehr. Jetzt gehen wir zu den Wällen vor.« Und diesmal setzte er sich wirklich in Bewegung, neben ihm der zappelnde Xanxres und der Riese Salonson, der wieder sein beherrschtes Gesicht zeigte, sein mühsam beherrschtes, während in den Zügen des Xanxres nur Ungeduld war, und des Prinzen Gesicht war wie immer. »Wer kennt sich in ihm aus?« dachte Xanxres. Die Dorfstraßen waren leer, sie erreichten den großen Laufgraben, der nach vorn lief verschwanden in ihm wie schnelle Maulwürfe. Die Holzroste unter ihren Füßen quietschten von dem Regenwasser, das sich unter ihnen auf der Grabensohle angesammelt hatte. Über ihnen der Himmel war schon blaugefleckt, und immer, wenn einer der großen Hunde bellte, neigten sie den Kopf nach vorn, wie sich verbeugend, Hamlet, Xanxres und Salonson.
Nun waren sie auf den Wällen, nun standen sie auf den Wällen, nun standen sie auf der Venskaschanze, und vor ihnen lief der Weg zum Feinddorf, vor ihnen standen die drei Bäume, über ihnen war der blaugefleckte Himmel, aber auf dem Weg gingen Trupps von Soldaten vor, gar nicht besonders schnell, im langsamen, zögernden Schritt, und immer, wenn so ein Trupp die Hügelwelle überschritt, die Hügelwelle mit den drei Linden, schob sich von den eigenen Befestigungen wieder ein anderer Trupp vor. Drüben, über Sönheim, dem Dorf, war die Sonne, hier bei ihnen noch nicht. Der Weg lief immer noch auf das Haupttor Sönheims zu, und der Weg verschwand immer noch unter der Torschwelle, und Soldaten wollten mit dem Weg nach Sönheim hinein, aber das Tor tat sich nicht auf und so wollten sie mit Gewalt hinein, die Soldaten, mit Sturmböcken und Leitern. Aber die schossen mit Pfeilen auf die Angreifer herab, und der Prinz konnte Soldaten sehen, die lagen wie schlafend zu Füßen des Tors und rührten sich nicht, und der Prinz wollte sich fast verwundern, wie man in dem Trubel und Lärm schlafen könne, bis Xanxres sagte: »Tote, wir haben schon Tote!« Da begriff der Prinz, daß die wohl schliefen, wohl tief schliefen und nicht mehr wach würden von all dem Lärm. Aber nicht bloß das Haupttor Sönheims wollten die Ledernen sich auftun, es gab noch mehr Stellen an den Wällen Sönheims, wo schwarze Haufen von Männern klebten und die Wälle berannten, und nicht bloß schossen die Verteidiger herab von den Mauern mit gefiederten Pfeilen. Um schießen zu können, um gut zielen zu können, mußten sie sich auch zeigen, und des Prinzen Soldaten konnten auch schießen, sie schossen hinauf auf die Verteidiger. Ubsmanns Kanonen brüllten wieder auf, die steinernen Kugeln sah man nicht fliegen, aber deshalb trafen sie vielleicht doch, sie fielen nach Sönheim hinein, und wenn es in Sönheim von Soldaten wimmelte, wie es hier auf den eigenen Wällen wimmelte, nun, da mußte die Kugel sich schon einen ganz eigenen Platz aussuchen, um niemand zu treffen, wo doch sonst überall jemand stand.
Ein lautes Gebrüll erhob sich plötzlich, alles schrie. Xanxres schrie, Salonson schrie, drüben hatte sich ein Tor aufgetan, ein Nebentor, nicht erstürmt, von innen aufgestoßen, und aus dem Tor strömte eine schwarze Flut von Soldaten, drum schrie und brüllte hier alles. Der Feind zeigte sich, der Feind machte einen Ausfall, der schwarze Bach schoß vorwärts, dann war es ein schwarzer, sich drehender Schlund, das war Handgemenge, das war tapfer, und ebenso schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden die Sönheimer wieder, das Tor schloß sich wieder, aber nun waren die Schlafenden zu Füßen der Mauern noch mehr geworden, sie lagen übereinander manchmal, schienen sich aber nicht zu stören, schliefen in den seltsamsten und unbequemsten Stellungen, aber schliefen gut und fest und tief.
Aber wache Männer nun gingen wieder vor, die breite Ausfalltreppe der Venskaschanze hinunter, über ein Floß hinunter aus Bäumen und Brettern, ein langer Zug, und der Oberst Greon war bei ihnen, und die trugen viel Gerät, große Leitern, eiserne große Haken, aber nicht zum Fischen bestimmt, und hölzerne Türme, aber nicht bestimmt, darauf Ausschau zu halten, und Sturmböcke und eine kleine Feldschlange zogen die Männer mit, so marschierten sie den Weg, auf das große Haupttor zu. Die ersten Verwundeten kamen ihnen entgegen, blutige Tücher um den Kopf, mit Armen, die sonderbar schlapp und schwankend herabhingen, auf Speere sich stützend, mit schleppenden Füßen, mit erregten Gesichtern, und sie kamen auf die Schanze herauf und erzählten mit hastigen Worten, sich überschlagenden, jagenden Worten, wie’s vorn war, und waren wohl auch froh, jetzt hinten zu sein, und fragten nach dem Feldscher und verlangten zu trinken.
Greon aber vorn vor dem Haupttor tat gute Arbeit, und wieder schrie es rund um den Prinzen wild auf, auf die Fußspitzen stellte sich alles, als ob es da besser zu sehen wäre, Greon vorn hatte das Tor gerammt, eine Lücke klaffte, und nun drang er mit seinen Leuten durch das Tor und war nun in Sönheim, und das schwarze Loch strudelte viel Volk in sich hinein.
Wieder waren es Puppen, die der Prinz sah, wieder waren sie klein und weit von ihm, er sah im Geist die Puppen sich festsetzen in dem Loch, das sie sich geschaffen hatten, wie Hunde an einem Eber hängen, wie Blutegel an einem großen Fisch, und sie soffen wohl auch Blut wie die Blutegel.
Die Norweger wieder machten einen Ausfall, ganz rechts kamen sie aus Sönheim heraus, in großer Zahl, und warfen die Leute des Prinzen zurück und stellten sich nun so auf, daß sie die Dänen von der Seite angriffen, sie marschierten ihre eigene Mauer entlang, wie ein großes Brett schoben sie sich ihre eigene Mauer entlang und schoben die Dänen vor sich her, bis es denen gelang, zu stehen zu kommen, und der Kampf begann, Mann gegen Mann. Wieder wichen sie, die Norweger, aber da sie nun vor ihrem Haupttor fast schon waren, nahmen sie die Flucht da hinein, als ob sie ihr eignes Dorf stürmten, so sah das aus.
»Nun fassen sie Greon im Rücken«, sagte Salonson, »nun wird er sich nicht mehr halten können.« Der riesige Mann zitterte leicht. Aber Xanxres sagte aufgeregt: »Sie werden sich halten. Ein Loch ist nun eingefressen in die Stellung, das müssen wir nun ausnagen.«
Vor den Wällen Sönheims ging der Kampf weiter. Bahubsen sandte immer neue Truppen vor, das kurze Schwert und der lange Speer trafen aufeinander, und während das dänische Lager immer noch im Schatten lag, war Sonne über den Wällen Sönheims, und der Prinz und Salonson und Xanxres waren wie im dunklen Zuschauerraum, während auf der beleuchteten Bühne das Schauspiel sich vollzog. Aber während der Prinz diesem Schauspiel mit den Augen folgte, war er in Gedanken bei Greon, der in Sönheim sich hineingefressen hatte wie eine Made in den Speck, aber während die Made im Speck sich wohlfühlt, so war zu bezweifeln, ob Greon sich wohlfühlte, und vielleicht war er jetzt auch schon einer der vielen Schlafenden, die nun immer zahlreicher herumlagen, und vielleicht schlief er und schliefen die Seinen von den eigenen Kugeln getroffen, denn noch immer bellten Ubsmanns eiserne Hunde.
»Wir gehen zu der Baumgruppe dort vor«, sagte der fette Prinz und stieg auch schon die schiefe Ebene des Holzfloßes hinab, und Xanxres und Salonson folgten ihm und eine kleine Schutzwache Bewaffneten Das war also der Weg, der, monatelang unbetreten dagelegen, sich schon angeschickt hatte, zur Wiese zu werden, aber nun die vielen Männerstiefel auf ihm gingen, war er wieder Weg und nichts als Weg geworden. Die drei Bäume auf der Anhöhe waren schon im Licht, sie stiegen die schattige Mulde empor, und als unter den Bäumen die grelle Sonne sie anblitzte, fiel dem Prinzen ein, daß sie nun auch sich bewegten auf der beleuchteten Bühne, nicht mehr Zuschauer jetzt, Mitspielende jetzt, und nur das dänische Dorf war noch im Schatten einer großen grauen Wolkenwand, die beharrlich darüber stand. Das Gewirr der fast nackten Äste zeichnete sich schwarz und kurvenreich auf dem Boden ab, ein zierliches Gitter, und der Prinz, wenn er hin und her ging unter den Bäumen, ging so, daß er nie eine der schwarzen Linien mit dem Fuß berührte, und das war manchmal schwierig. Sönheim lag nun viel näher vor ihnen, und jetzt sah der Prinz auch, daß das nicht Puppen waren, die Puppenschwerter gezückt hatten, sondern große, erwachsene Männer mit Männerschwertern, und er hörte ihre schallenden Rufe. Da kämpften sie vor ihm, und es waren nicht wilde Haufen, die da gegeneinander angingen, sie übten ihr Handwerk mit Kunst und Genauigkeit aus, nach vorbestimmten Regeln, da waren speerestarrende Vierecke, die sich langsam vorwärtsschoben, da hatten sich Kugeln gebildet wie Igel, und die Stacheln waren kurze Schwerter. Und wenn zwei solche Igel gegeneinander stießen, wild prallend und lärmend, und sich ineinandergebohrt drehten und schauerlich tanzten, und sich die Igelstacheln verlängerten, denn das konnten sie, denn diese Stacheln saßen an Armen, und Arme kann man ausstrecken, und sie streckten sie aus, und dann wieder abprallten voneinander, die Haufen Vikaren immer noch kuglig dann, nur waren die Kugeln kleiner geworden, und wieder die Schlafenden mehr, und mehr die Verwundeten, die mit träumendem Mund, mit offenem Mund, mit erstauntem Mund zurückgingen.
Salonson, der Riese, stand gelehnt an der dicken Linde, er hatte die Hand am Säbelgriff aber der Säbel steckte in der Scheide, und der Säbel war sehr klein, sah jedenfalls sehr klein aus an der Hüfte des Riesen. Er hat ihn noch nicht gezogen, den Säbel, dachte der Prinz, heute noch nicht und vielleicht noch nie, aber warum hab ich den Burschen mit nach vorn genommen, wenn er doch den Säbel nicht zieht? Der Prinz überschritt mit Vorsicht den dicken Schatten eines dicken Astes, trat in einen Kreis, einen wunderschönen klaren Kreis, den zwei Äste zeichneten, stand wie ein Zauberer in diesem Zauberkreis. Er redete Salonson an. »Bis zu uns, bis zu diesen drei Bäumen, kommen die Norweger nicht.« »Nein, sie kommen nicht«, antwortete Salonson und sah befriedigt auf die beweglichen Speerigel, die alle ihre Schnauze gegen Sönheim gerichtet hatten und immer wieder ein Stück vorrückten und wohl keinen Norweger hierher ließen, zu den drei Bäumen und zu den Männern, die im Schattenastgewirr standen unter den drei Bäumen. Der Prinz trat nicht aus seinem Kreis, und Salonson ließ nicht die Hand vom Säbelgriff »Tun Sie die Hand weg vom Griff Salonson«, sagte der Prinz, »tun Sie die Hand weg, wir sind ja hier in Sicherheit, wir brauchten überhaupt keine Waffe, hier unter den drei Bäumen.« Salonson nahm die Hand weg, rasch, ruckartig, daß der Säbel baumelte neben seiner Hüfte, hin und her schwang, stillhing endlich. Er stand ganz still, der Riese Salonson, hatte den Rücken weggenommen von der Linde, stand nun ohne Stütze, allein, und sein rotes Gesicht war bleich geworden, etwas bleich, und seine Augen unruhig. Der Prinz in seinem Kreis sah ihn bös an. »Seien wir froh, Salonson, daß wir keine Waffe brauchen! Seien Sie froh, Salonson, daß Sie keine Waffe brauchen!« Ein Zug Lederleute marschierte gerade vorbei, gab nicht acht auf die Schattenäste am Boden. Die Lederleute marschierten gegen Sönheim, noch war es ein Zug, bald würde er sich in einen Igel verwandeln, bald, da vorn. »Die wissen, warum sie einen Säbel tragen, Salonson«, sagte der Prinz. Der Riese Salonson schwankte etwas, wie ein Baum im Wind, es ging aber kein Wind, und dann stand er wieder gerad, und seine Augen blickten fest, und er sagte: »Darf ich mich diesem Zug anschließen, Prinz?« Der Prinz hielt seinen Bauch mit den Händen, trat nicht aus seinem Kreis, und sagte dann so nebenhin: »Ja, Salonson, gehen Sie mit, gehen Sie mit vor und kommen Sie dann wieder zurück und sagen Sie mir, wie’s steht, dort!«
Der Riese rannte den Zug entlang, um an die Spitze zu kommen, zu dem Führer, und war bald neben dem, und weil er riesengroß war, sah man ihn alle überragen. »Jetzt wird er den Säbel ziehen«, dachte der Prinz und sah dem Zug nicht mehr nach, wandte das Gesicht nach oben, dem Himmelsblau zu, als suche er die Lerche, die auf einmal losgebrochen war zu einem ungestümen Gesang, aber er konnte ihn nicht sehen, den schmetternden Vogel. »Wie brüllt das Vieh, Xanxres«, sagte der Prinz, und der magere Bursche sah auch in das Blau, beide starrten hinauf und wandten den Blick wieder Sönheim zu, das in der Sonne blinkte wie Gold, mit Mauern aus Gold, und die Dänen klopften gegen die Goldmauern mit harten Hämmern, aber noch hielten die Mauern, und nur Greon saß noch immer hinter den Mauern und kam nicht zurück, wenn er überhaupt noch gehen konnte, vielleicht saß er nicht, vielleicht stand er nicht, vielleicht lag er mit lächelndem Mund und schlief. Wenn ihn die Lerche schlafen ließ, die zu jubeln nicht aufhörte. »Wenn wir die Schlacht schon gewonnen hätten, Xanxres«, sagte der Prinz, »ließ ich mir das Jubeln gefallen, aber so ists voreilig!« Er sah hin auf den fernen Kampf, über dem die Sonne blitzend lag. Und er suchte Salonson, den Riesen, und weil der über alle hervorragte, mußte er doch eigentlich zu sehen sein, aber da vorne waren jetzt alle gleich groß. Er ließ doch nicht ab zu suchen, suchte ihn unter den Mauern von Sönheim, und wenn ein Schwert besonders hell aufleuchtete, dachte er, es sei Salonsons Schwert. Aber es konnte auch ein Speer sein, wer konnte das von hier aus unterscheiden? Immer unruhiger wurde der Prinz, der Lärm der Lerche (ob es wohl immer die gleiche Lerche war?) wurde immer heftiger und immer heftiger das Verlangen des Prinzen, Salonson zu sehen, und er hätte ihn auch sehen können, wenn er ihn nicht noch immer unter den Goldmauern Sönheims gesucht hätte, wo doch der Riese schon viel näher bei ihm war, schon wieder auf dem Weg zu ihm war, jetzt eben, wo er ihn unter den Mauern Sönheims suchte, den Hügel zu ihm heraufkam, zu den drei Bäumen heraufkam, der Riese Salonson.
Die Bahre war natürlich zu klein für ihn, es war eine Bahre wie die vielen, und es war schon mancher Mann auf ihr gelegen, und jedem war sie noch recht gewesen, aber Salonson, dem paßte sie nicht. Nun, sein Kopf lag bequem, und der Körper auch, nur die Beine baumelten über das Ende hinab, bis fast zum Boden, und so sah es aus, als gingen drei Paar Beine mit der Bahre, die zwei Paar Beine der Träger und das Beinpaar Salonsons, so sah es aus. Wer näher zusah, bemerkte wohl, daß die zwei Beine Salonsons keineswegs mehr Lust hatten zu gehen, daß sie nur herabbaumelten, träumerisch. Die Träger rasteten unter den drei Bäumen. Der auf der Bahre schlafende Salonson hatte ein ganz vergnügtes Gesicht, ein ganz und gar vergnügtes Gesicht, er schlief nur, der Riese, denn wäre er tot gewesen, hätte man Blut sehen müssen, aber Xanxres, der Hering, sagte: der Stich säße trefflich im Herzen, und das Blut sei nach innen geflossen. Der Prinz widersprach nicht, und der Riese schmunzelte, und der Prinz stellte sich vor, daß da innen im Leib des Riesen eine riesige Blutlache zusammengeflossen sein müsse, und er sah ängstlich auf den Mund Salonsons, denn konnte dort die rote Flut nicht ausströmen, wenn sie sich den Hals empor einen Ausgang suchte? Salonsons Gesicht war gelb, ja, es wurde schon gelb, und die Hände färbten sich schon gelb, der ganze Mann war schon gelb, aber man sah es nur an Gesicht und Händen, denn er trug ja Kleider.
Aber dann hatten die Träger genug gerastet und hoben die Bahre wieder auf und gingen aufs Dänenlager zu damit, und der Prinz, der ihnen nachsah, sah wieder unter der Bahre die sechs Beine, wie ein großer Käfer mit sechs Beinen wackelte die Gruppe dahin, fort, weit weg, und die Lerche, die Lerche dröhnte ohrenbetäubend.
Es war heiß, heiß unter den mageren drei Frühlingsbäumen, der Prinz wischte mit der Hand über seine nasse Stirn, wo sie Salonson hintrugen, da war es schattig, die Wolke stand immer noch über dem Dänenlager, der hatte es schattig und kühl jetzt, der Riese, und sie hier schwitzten in der Aprilsonne, die so tat, als sei es Juli oder August, und die verrückte Lerche tat auch so.
»Xanxres«, sagte der Prinz, »er hat den Säbel also doch gezogen, Salonson!« Er sah wieder auf die Goldmauern Sönheims hin, der Kampf ging weiter dort. »Er hat auch nichts ausgerichtet, Xanxres, der Riese Salonson.« »Sie kommen näher jetzt zu uns her«, sagte der Hering. Es war wahr, die vielen Igel drehten sich nun näher heran, immer wieder verbissen sie sich ineinander, drehten sich im Kampf, die dänischen Haufen gingen keineswegs zurück, aber immer, wenn sich zwei der Kugeln voneinander lösten, waren die dänischen schon wieder näher an den drei Bäumen. Bahubsen, hinten, von den Wällen aus, hatte das wohl auch gesehen, und er schickte Verstärkung, und von der Venskaschanze aus marschierten neue Züge vor, Schlangen, die aus dem dunklen Lager kamen und dann in das Sonnenfeld traten, blitzend, geringelt, von wilder Schönheit, und die sich über die Dreibäumehöhe wanden und dann hinunterglitten, Sönheim zu, und zu Igeln sich formten, zu starrenden Kugeln, immer wieder, immer neu.
Nun zog auch der Prinz, nun zog auch Xanxres den Säbel. Niemand war da, den sie hätten treffen können, und hätten sie den Arm auch noch so lang gestreckt, die Norweger waren immer noch weit weg, aber sie waren doch schon so nah, daß sie die Schwerter zogen, Hamlet und Xanxres, und die Sonne spielen ließen auf den Klingen und wie scherzend mit den Klingen durch die Luft schlugen, armerprobend und begierig und ein wenig furchtsam. Sie hatte der Führer der kleinen Leibwache gesehen, die blanken Säbel, und der Wache, die bisher sich untätig gelagert gehabt hatte in der warmen Sonne, und an Brot herumgekaut hatte, befahl er jetzt »Auf«, und er stellte die Leute, die bisher hinter dem Prinzen gewesen waren, so auf, daß sie nun vor dem Prinzen waren, er stellte sie in zwei Gliedern auf im ersten Glied Fußsoldaten mit dem Kurzschwert, und in gehörigem Abstand dahinter Armbrustschützen, und wenn der Prinz nun ins Getümmel sah, mußte er seinen Blick springen lassen, mußte Lücken erspähen zwischen den eigenen Leuten, um den Feind zu sehen, der immer noch herdrängte, immer noch herdrängte zu den drei Bäumen.
Ubsmanns große Hunde hinten heulten nun wieder stark auf, die ganze Meute war lebendig geworden, Schall schob sich hinter Schall, ein Knall holte den andern ein, manchmal schlugen zwei Hunde gleichzeitig an, und die Leibwache, die Leute der Leibwache und auch der Führer und auch der Prinz und Xanxres sahen bei jedem Knall in die Luft, als ob sie die Bahn der steinernen Kugel erspähen wollten. Aber die Kugeln, die so lärmten, waren so wenig zu sehen wie die lärmende Lerche.
Xanxres, der Hering, der magre, mit der Großvaternase im Knabengesicht, schämte sich des blanken Schwerts, das er prahlerisch hielt, prahlerisch in der Sonne drehte, unter den drei Bäumen, eine doppelte Kette von bewaffneten Männern vor sich, und um dem untätigen Schwert Arbeit zu geben, schabte er spielend an der Rinde der großen Linde, schlug leicht zu, ein handgroßes Stück der Rinde fiel, weißlich sah das Holz her, genäßt von dem Hieb, weiß weinend, weiß blutend, und er sah, daß die weiße Wunde ungefähr Herzform hatte, und wie vorgestern auf der Bank tat er das Seine, daß ein schönes, geschwungenes Herz draus wurde, und er tat es so eifrig, daß er Ubsmanns Hunde nicht mehr hörte und die lärmende Lerche nicht mehr und den Krieg vergaß und die Schlacht, und ein wunderbares glückliches Lachen war um seinen jungen Mund, und natürlich dachte er wieder an Klara, die Braut, und sah einen Augenblick lang, wie ihre Brust, fast zu voll für den magren Körper, sich unter dem Kleid spannte, und gerade den Gedanken an so Körperliches verbot er sich, und jetzt war auch wohl bald Besseres zu tun mit dem Schwert, als Herzen in Bäume zu ritzen. Der Prinz rief ihn an und rief ihn in die Wirklichkeit zurück, und er sah, daß das Getümmel jetzt schon dicht bei den drei Bäumen wogte, eine stürmische Schar Norweger, wie ein Keil gestellt, war weit vorgestoßen, und die vordere Kette der kleinen Leibwache stand schon im Gefecht, und es konnte ihr niemand zu Hilfe kommen, weil die anderen Trupps, die Männerigel und Rundhaufen, selber alle Hände voll zu tun hatten mit ihren Widersachern. Die Armbrustschützen, das zweite Glied der Wache, begann mit Zielschießen, und die drei Bäume würden jetzt wohl bald mitten in der Schlacht sich im leichten Wind wiegen.
Xanxres sprang an die Seite des Prinzen, und bald darauf standen sie Rücken an Rücken und wehrten sich und hatten es nötig, sich zu wehren, und sahen das Weiße im Auge des Gegners, und sahen den Schweiß, der über die Gesichter rann, und sahen verklebte Bärte. Und der Prinz sah sich einem Gesicht gegenüber, dem floß ein dünner Faden Blut aus einer Schramme über dem Auge, einer kleinen, nicht tiefen Schramme, und das Blut nahm sorgfältig den Weg vorbei an dem Augenbogen und lief von da ab über die Wange herab. Aber etwas Blut hatte sich in den Haaren der Braue verfangen, daß die Braue anschwoll, und bald mußte es sich durchgearbeitet haben durch den Haardamm, und mußte über das Auge laufen und ihm das Sehen erschweren, und dann brauchte der Prinz nur mehr mit einem Einäugigen zu kämpfen. Jetzt war es so weit, das Blut war durchgebrochen, hatte das Auge überschwemmt, und der Mann fuhr mit der linken Hand hoch, das Blut abzuwischen, aber das hätte er nicht tun sollen, hätte besser einäugig weiterkämpfen sollen, denn jetzt mußte er fallen, der Stich saß, den der Prinz führte, und der Mann stürzte und ließ das Blut nun ungehindert über das Auge strömen und merkte es gar nicht mehr. Der Strom, der unter seiner linken Achsel hervorbrach, schwemmte diese Sorge weg und viele andere Sorgen und jede Sorge, denn Tote haben keine Sorgen, im Gegensatz zu den Lebendigen, zu dem fetten Prinzen Hamlet etwa, der noch lebte und sich schon wieder einem andern Gegner gegenübersah und Sorge tragen mußte, sich seiner zu erwehren.
Aber diese Sorge wurde ihm dann abgenommen, denn jetzt eben erstieg Verstärkung den Hügel mit den drei Bäumen, und die war im Schwung des ersten Angriffs und warf die Norweger hinab den Hügel und warf sich hinterdrein, der Prinz drehte sich um und sah sich Xanxres gegenüber, beide lächelten etwas verlegen und atmeten tiefer. »Xanxres«, fragte der Prinz, »nun, wie war das?« Und der Hering sagte noch »es war«, dann sprach er nicht weiter, Worte kamen nicht mehr aus seinem Mund, er stand noch, aber er schwankte schon, lange würde er nicht mehr stehen, aber noch gings, weil der Baum ihn stützte, in seinem Knabenhals steckte ein Pfeil, und da kamen keine Worte mehr aus seinem Mund, es kam Blut. Er rutschte mit dem Rücken den Stamm hinab, saß, saß im Gras, immer noch an den Baum gelehnt, und mit der Rechten hielt er den Pfeil, der in seinem Hals steckte, und er hätte ihn gar nicht zu halten brauchen, der Pfeil saß fest genug, er versuchte den Prinzen anzulächeln, es mißlang, es sah töricht aus, und nun griff er auch noch mit der zweiten Hand nach dem Pfeil, hatte nun beide Hände am Schaft, und es sah nicht aus, als wollte er ihn aus dem Fleisch ziehen, es sah aus, als stoße er ihn sich selbst mit aller Kraft nun hinein.
»Xanxres«, sagte der Prinz, und da machte der Hering eine Verbeugung, er fiel mit dem Oberkörper nach vorn, der Leib hing in den Hüften, ein wenig schräg, und dann legte er sich ganz und gar auf den Boden, auf die Seite, und drehte sich dann auf den Rücken und hatte die Hände immer noch um den Pfeilschaft und zog die Beine an und streckte sie wieder von sich. Die Augen hatte er weit offen und sah irgendwohin, und dann bekamen die Augen die Zufriedenheit, die in die Augen aller Sterbenden tritt, und dann überzogen sich die Augen mit einem grauen Schleier und verglasten, und der junge Xanxres war tot, war einer der vielen Schlafenden, die sich von dem Lärm der Lerche nicht wecken ließen, und wenn die noch einmal so laut getobt hätte. Von der schwarzgrauen Wolkenwand, die über dem dänischen Lager stand, hatte sich ein mächtiger Teil losgerissen, wie ein schwarzer Fledermausflügel, und hing nun über den drei Bäumen, daß die nun im Schatten standen. Nur über Sönheim war immer noch Sonne, aber es sah aus, als würde es auch bald im Schatten sein.
Der Prinz hatte sich neben den toten Xanxres gesetzt, mühselig, sein dicker Bauch lag auf seinen Beinen, und er sah dem Toten unverwandt ins blutleere Gesicht. Die Greisennase saß nun gar nicht mehr so abstechend in dem Gesicht, das Gesicht hatte sich beeilt, zu altern, es war greisenhaft geworden, da lag ein uralter Mann, viel älter als der Prinz, viel weiser als der Prinz, oh, viel, viel weiser.
Der tote Hering hatte die Augen weit offen, und daß man sie ihm schließen mußte, wußte der Prinz, er hatte aber noch niemandem jemals diesen Gefallen getan, auch nicht seinem Vater, damals, aber hier gab es kein Ausweichen. Er streckte den Arm aus, aber so im Sitzen konnte er nicht bis zu diesen offenen Augen kommen. So legte er sich auf die Seite, tastete mit den kurzen Fingern das Gesicht ab, das schon kalte Gesicht, fuhr über den Mund, glitt an der großen, großen Nase vorbei, da waren die Augen, und jetzt waren sie geschlossen! Er blieb eine kurze Zeit so liegen, so auf der Seite, und jetzt war die ganze Welt weg, er sah nur das Totengesicht, das mit der Nase steil wie ein Berg stieg, aber dann gab er sich einen Ruck, er lag auf dem Rücken nun, den schweren Oberkörper in die Höhe zu bringen, gelang nicht auf das erstemal, aber als er es zum zweitenmal versuchte, reichte ihm ein Soldat die Hand entgegen und half ihm und half ihm auch auf die Beine, und der Prinz stand nun wieder.
Um die drei Bäume war es wieder ganz still geworden, der Kampf hatte sich wieder unter die Mauern Sönheims gezogen. Die Soldaten der Leibwache schleppten die Toten zusammen, legten sie nebeneinander ins Gras, es waren sechs, Xanxres war dabei und der Mann, der sich zur Unzeit das Blut aus dem Auge gewischt hatte.
Bahubsen kam, der kleine Befehlshaber, er kam zu Fuß, ein paar Offiziere mit ihm und ein Reiter. »Es steht gut, mein Prinz«, sagte er, und Hamlet nickte. »Graf Oldensleven steht mit der Reiterei bereit, befehlen Sie, mein Prinz, daß er eingesetzt werden darf?« Der Prinz nickte, und es fiel ihm auf, daß die Lerche nicht mehr lärmte. Bahubsen winkte dem Reiter, der davonritt, der Meldereiter, zu Oldensleven.
Der kalte Wind war stärker geworden, der Prinz fröstelte. »Sie kommen schon«, sagte Bahubsen. Die Reiter kamen hinter dem Dänenlager hervor, ein einzelner an der Spitze, das war Oldensleven, dann in Viererreihen hintereinander die Leute, ein langer Zug, sie kamen im Trab, und wie der Zug sich weiter entwickelte, sah man, daß die Reiter einen großen Bogen schlugen, auf einen Punkt zu hielten, der weit hinter Sönheim liegen mußte, auf einen Punkt zu, auf dem wohl jetzt die feindlichen Reiter im Sattel saßen, zu sehen waren sie nicht, aber Oldensleven war ja bis jetzt auch nicht zu sehen gewesen und war doch dagewesen, war bereit gewesen. Die Spitze der Reiter war jetzt schon mit der Gruppe unter den drei Bäumen auf einer Höhe, aber der Reiterzug, die Reiterschlange, hatte noch keinen Schwanz, Heß noch keinen Schwanz sehen, immer noch ringelte sich der Leib aus der Tiefe hinter dem Dänenlager hervor. Oldensleven, man sah es genau, streckte mit einemmal den Arm hoch, da riß die Schlange ab, das erste Drittel des Zuges entwickelte sich nach links hinaus, eine breite wogende Linie von Reitern, eine Doppellinie entstand. Aber hinter dieser Linie die Schlange ringelte sich in Viererreihen weiter, hatte einen neuen Kopf nun, einen unmäßig breiten, und der Schwanz hinter dem Dänenlager war noch‹ immer nicht zu sehen. Immer noch ritten sie Trab, und jetzt (Bahubsen schrie »dort, dort, Prinz!«) und jetzt kamen ihnen Reiter entgegen, in breiter Linie auch. Und auf einmal fielen die dänischen Reiter in Galopp und fielen die norwegischen Reiter in Galopp, und man hörte den dumpfen Aufschlag der Hufe, regelmäßig und gefährlich erdröhnend. Die beiden lebendigen Mauern näherten sich, zwei dünne Staubwolken erhoben sich über den Galoppierenden, zogen mit über den Häuptern der Galoppierenden und vereinigten sich zu einer großen, als sie zusammenprallten. Der Prinz griff nach dem Stamm der großen Linde im Augenblick des Zusammenpralls und wartete auf das schmetternde Krachen, das jetzt ertönen mußte, aber das kam nicht, so weit herüber hörte man es nicht. Nun waren dort Reiter zu sehen, die sich wie spielend balgten, weißes Blitzen lief huschend und springend über den Reiterquirl hin, das waren wohl Schwerter, und ein einzelnes Pferd, ein reiterloses Pferd, das auf die Wiese hinaustrabte, langsam, war vielleicht ein norwegisches Pferd, wer konnte ihm das ansehen, es konnte auch ein dänisches sein. Jetzt war übrigens auch der Schwanz der Reiterschlange zu sehen, der sich munter tummelte und zuckelte. Der Trubel vorn, der blieb, aber er schob sich Sönheim zu, und diesem Trubel näherte sich, in schöner Ordnung, Pferdekopf neben Pferdekopf ein Reiterviereck wieder, ein dänisches, und mit Wucht stieß das Viereck auf den Strudel, und nun sah es fast aus, als seien die Norwegischen schon auf der Flucht.
So sah es aus und so sah es wohl auch der Führer des Nachtrabs der Reiter, denn er gab das Zeichen zum Einschwenken und ritt auf die Igel los, die vor den Wällen Sönheims ineinanderverbissen immer noch rangen.
Und die Igel fürchteten sich, die norwegischen Igel, mußten ihren Kopf schützen gegen Säbelhiebe von oben und durften doch auch den Leib nicht unbeschützt lassen, weil die dänischen Fußsoldaten auch noch da waren. So zogen sie sich, fechtend, immer näher an die Mauern heran und drängten durch das große Tor, durch das Greon mit den Seinen gegangen war, und auf ihren Fersen folgten neugierige Dänen, die das Lager von innen besichtigen wollten, ob das wohl anders aussah als ihr eigenes, und viele Dänen waren so neugierig, so viele, daß Ubsmann nicht mehr nach Sönheim hineinschoß mit seinen Feldschlangen, weil er doch Norweger treffen wollte und nicht Dänen. Bald sah man nur mehr dänische Reiter vor der großen Mauer Sönheims und nur noch ein paar versprengte Norweger, die liefen davon, aber die Reiter waren schneller, vier Pferdefüße sind schneller als zwei Menschenfüße, auch wenn sie die Todesangst beflügelt, und so wurde noch mancher erschlagen, der nur sein Schwert in eine Pferdebrust rannte, weil es bis zur Brust des Reiters hinauf nicht mehr langte.
Der Prinz hatte nicht recht hingehört, als Bahubsen ihm gesagt hatte, daß er nun nach Sönheim hinein seine Befehlsstelle verlege, und hatte ihn gehen lassen und war wieder allein unter den drei Bäumen, allein mit seiner Leibwache und den sechs Toten, und Xanxres war unter ihnen. Nun war am Himmel fast kein Blau mehr zu sehen, schwarzgrau war er geworden, vielleicht würde es bald regnen. Dem Hügel näherte sich ein Haufen Soldaten von Sönheim her, und der Prinz wunderte sich, daß die Leibwache nicht in Stellung ging. Dann erkannte er, das waren Verwundete, Gefangene, Überläufer. Die Norweger, die doch noch vor kurzem die Dänen gar nicht geliebt hatten, wie waren sie nun zärtlich geworden, wie gingen sie behutsam mit den Dänen um, die sie auf verschlungenen Armen trugen, und die getragen wurden, schlangen ihre Arme zutraulich um den Hals ihrer Träger. Immer zwei Gefangene trugen einen verwundeten Dänen, es war ein langer Zug solcher barmherziger Norweger, die jetzt den Hügel erstiegen und die sich anstaunen ließen, wie man wilde Tiere anstaunt. »Na, Kerle«, schrie einer der Leibwache, »jetzt lassen wir euch freiwillig in unser Lager, beeilt euch! beeilt euch!« und schlug scherzend den Trägern auf die Schulter, wie man ein Pferd antreibt. »Aff«, schrie der Verwundete, »laß das!« und sagte, »daß ihr mir langsam geht, ich kann das Hopsen nicht vertragen!« und ritt stolz und im Schritt wieder hinunter den Hügel. Der sprach noch, dieser Verwundete, manche aber hatten keine Lust zu reden, sahen wie aus einem Traum auf die Gruppe unter den drei Bäumen, hatten bleiche Gesichter und schlossen gleich wieder die Augen, wollten nichts sehen. Manche, und die waren am schwersten zu tragen, hatten die Augen schon geschlossen, Ohnmächtige, die schief und nachlässig zwischen den Armen der Feinde hingen. Verwundete Norweger waren dabei, die trug niemand, die kamen mit niedergeschlagenen Augen, taumelnd, und dann war ein großes Gelächter, als ein Däne geritten kam auf einem richtigen vierbeinigen Gaul, ein blutiges Tuch um die Stirn, aber guter Laune, und an den Schwanz seines Pferdes hatte sich ein Norweger gehängt, der ließ sich mitziehen, und der geduldige Gaul schlug nicht aus, und dann machte der Däne einen Scherz, trabte den Gaul an, da baumelte der Verwundete am Schwanz drollig mit, von jedem Stoß geschüttelt, aber ließ nicht los den Pferdeschwanz, den hilfreichen, und der Reiter fiel auch wieder in Schritt, Traben tat wohl seiner Kopfwunde nicht gut und es war auch für den Norweger besser.
Oldensleven mit seiner Reiterei war nicht mehr zu sehen, er war schon im Rücken Sönheims, und die Abteilung, die in den Fußkampf eingegriffen hatte, sammelte eben und formte sich wieder zu Viererreihen, wie auf dem Übungsfeld, und schien sich bereit zu halten, für alle Fälle, wer weiß, was noch kommen konnte!
Nun regnete es schon, dünn, der kalte Wind trieb die Regenfäden vor sich her, daß der Regen flatterte wie ein Fadenvorhang. Aus dem dänischen Lager heraus, langsam über die Bohlenbrücke herunter, kamen Pferde, die zogen was, die zogen die Feldschlangen, es war Ubsmann mit seinen Hunden und mit Fußvolkbedeckung. Er selber, Ubsmann, der zierliche, galoppierte zum Hügel heran, stieg ab, näherte sich dem Prinzen. Aus seinem Lederrock, oben am Hals, sah ein blütenweißes Hemd hervor, und ebenso weiß blitzte es an seinen Händen, es sah aus, als habe er während der Schlacht das Hemd gewechselt, denn die Schlacht dauerte jetzt doch schon Stunden, viele Stunden, und so lange konnte er das erregend weiße Hemd noch nicht am Leib haben. Er näherte sich dem Prinzen, zeigte ihm sein peinlich rasiertes Gesicht und einen dunkelroten, kleinen, aufgeworfenen Mund darin, der lächelte und wies regelmäßige, weiße Zähne und verbeugte sich und sagte: »Ein besseres Zeichen, mein Prinz, daß alles gut und vortrefflich steht, gibt es nicht, als daß ich mit meinen Feldschlangen hierher nachrücke.« Immerfort lächelte sein Puppengesicht, in weiß und rot, als sei es bemalt und war doch lebendiges Fleisch.
Vier von den sechs Feldschlangen wurden unter den Bäumen in Stellung gebracht, während zwei am Fuß des Hügels angeschirrt blieben, um jederzeit noch weiter vorgezogen werden zu können. Auf dem Hügel unter den drei Bäumen war es nun sehr laut geworden. Daß man gesiegt hatte, das spürte man nun, wenn es auch noch nicht gewiß war, und wenn der Sieg ein Rausch ist, der die Augen glänzend macht und die Zunge lebendig, so war es nun, wie in dem Zustand, kurz bevor der volle Rausch einsetzt, dieser besonders angenehme und befeuernde Zustand, und so plapperte es rundherum aufgeregt durcheinander. Man schwatzte sinnloses Zeug, nur um zu reden, denn zu schweigen war nun keinem mehr möglich, und der dünne Regen, der fiel, besprengte nur die Lederkleider, spritzte kühle Tropfen in die heißen Gesichter, wurde nur als angenehm empfunden, und manche hielten ihr Gesicht nach oben, dem Regen entgegen, wie etwas Köstlichem.
Auch der Oberst Ubsmann war so ein wenig betrunken, und der Regen tat seinen zierlich geputzten Kleidern nichts, und der Regen schien es so einzurichten, daß er seinen weißen Hemdvorstößen nichts tat, er stand im Regen, ein unsichtbares Glashaus über sich, das ihn schützte, und fing an, dem Prinzen seine Geschütze zu loben und davon zu sprechen, wie weit zurück die Norwegischen seien in der Bewaffnung, daß sie keine Feldschlangen hätten, und wie es wohl der kleinen Feldschlange, der kleinsten, die er an Greon abgetreten hatte, die das große Tor nach Sönheim zerbissen hatte, und die der Oberst Greon nach Sönheim mit hineingenommen hatte, wie es der wohl erginge, der kleinen, glänzenden, so allein zwischen lauter Fußvolk, wie ein Füllen abgetrennt von der Herde der großen Tiere, tapfer und wahrscheinlich doch sehr verängstigt? »Der Oberst Greon«, sagte der Prinz, »der war der erste in Sönheim drin.« »Ja«, antwortete der kleine Ubsmann, »und er nahm meine kleine Feldschlange mit«, und er streichelte das regennasse Rohr der großen, neben der er stand, und hatte ein sorgenvolles Gesicht und gedachte des kleinen, eisernen Tiers, fern, in Sönheim.
Fern, in Sönheim, aus dem jetzt eine rote Flamme hochfuhr, einmal, sich wieder duckte, ein zweites Mal, ein drittes Mal, fern in Sönheim brannte es wohl, und eine sanfte Röte stand im Regenhimmel über dem norwegischen Lagerdorf Durch diese sanfte, milde Röte, durch diese blasse Röte fuhren immer wieder dunkelfeurige Zungen hoch, der Brand breitete sich aus, so schiens, und schien des Regens nicht zu achten, der auch nicht fiel, um zu löschen, der nur fiel, um die heißen Gesichter zu kühlen, und der Wind, der immer noch ging, der schürte den Brand und trieb sein Spiel mit den Flammen, die er wie rote Pappelbäume behandelte, schüttelte, bog, zurücktrieb, sie sich wieder steil aufrichten ließ, um sie von neuem und nur tiefer zu biegen und sie flattern zu lassen.
Die Reitertruppe, die [sich] vor den Mauern Sönheims gesammelt hatte, setzte sich nun auch in Trab, ritt links hin ab, den Weg, den Oldensleven genommen hatte, war bald nicht mehr zu sehen, war bald hinter dem Dorf und zwischen dem Hügel mit den drei Bäumen und Sönheim war nun nichts Lebendes mehr, außer den Verwundeten, die zurückgingen, außer den Verwundeten, die lagen und warteten, daß man sie holen werde, weil sie selber nicht mehr gehen konnten, und den vielen Schlafenden, die auch im Regen weiterschliefen.
Der Prinz ließ sich in den Sattel helfen, und nur von seinem Diener begleitet, ritt er den Hügel hinab, ließ die drei Bäume hinter sich, ritt gegen Sönheim zu. Er ritt gegen das große, nun klaffend offene Tor, durch das zuerst der Oberst Greon sich hineingetummelt hatte, aber es lagen so viele Tote hier herum, und es war auch sonst zu Pferde hier schwer vorwärts zu kommen, daß er seinen Gaul drehte und den Weg nahm, den Oldensleven genommen hatte, vorher, als er seinen Blicken entschwunden war. Der Weg war leicht zu finden, es lagen so viele gestürzte Pferde herum, tote Pferde, und noch viel mehr lebende Pferde, mit gebrochenen Beinen, mit zerknackten Rippen, auch tote Reiter lagen herum, aber sie waren so klein neben den toten Gäulen, daß es schien, als hätten hier Pferde gekämpft und nicht Menschen. Manche der gestürzten Pferde versuchten wieder hoch zu kommen, waren auch mit dem Vorderteil hochgestiegen, aber mit den Hinterbeinen konnten sie nicht aufstehen, und so, wie sitzend, streckten sie die langen Hälse und drehten den Kopf, und manche wieherten klagend. Der Prinz spürte, wie der Gaul, auf dem er saß, die Brustmuskeln bewegte, den Hals den Kopf warf und das Wiehern erwiderte. Er ritt nun an der Seite Sönheims entlang, die er von dem Hügel aus nicht hatte sehen können, und hier stand ein Tor offen, man sah, es war nicht im Sturm genommen worden. Das Tor war gar nicht beschädigt, es war klar, es war von den Eroberern von innen aufgestoßen worden, und durch dieses Tor ritt der Prinz in das brennende Sönheim ein. Er befand sich hier im hinteren Teil des Dorfes, hinter dem Gebiet der Befestigungen, der Gräben und Wälle, und daß Sönheim nun den Dänen gehörte, darüber war kein Zweifel, dänische Soldaten überall, dänische Worte flogen. Gekämpft war hier worden, das war zu sehen, jetzt wurde geplündert und gerastet und wurden Wunden verbunden, und es waren auch schon Betrunkene zu sehen, die auf Wein gestoßen waren. Von Flammen rötlich beleuchtet, tanzte eine große Frau, der Frau sahen Reiterstiefel unten aus dem Rock hervor, und im Gesicht trug die Frau einen Schnurrbart und tanzte auf dem Platz, und Soldaten klatschten mit den Händen den Takt zum Tanz.
Vielleicht wurde am anderen Dorfausgang noch gekämpft, denn es marschierten geschlossene Abteilungen, mit ihren Führern an der Spitze, eilig und mit verächtlichen Gesichtern an den Müßiggängern vorbei. Der Prinz ritt hinter einer solchen Abteilung drein. Er kam in einen Teil des Dorfes, wo es noch nicht brannte, und kam zum Dorfrand, und hier waren Truppen bereitgestellt, um sich einem Gegenstoß der Norweger entgegenzuwerfen, aber es sah ganz so aus, als sei der nicht mehr zu erwarten.
Bahubsen, schwitzend, den Knebelbart angesengt, kam ihm entgegen. »Mein Prinz«, sagte er, »ich beglückwünsche Sie als erster zu dem Sieg, den Sie errungen haben!« Er hatte mit einer schnellen Bewegung den Hut vom Kopf gerissen und sah treu und demütig zu ihm auf. Der Prinz sah auf seinen versengten Bart und sagte; »Danke, Herr Oberst! Wo ist Oberst Greon?« »Oh, Greon«, lachte Bahubsen, »er hat einen leichten Stich im Oberschenkel und läßt sich nun auf einer Tragbahre herumtragen, der Faulpelz!« Er wies mit dem Kopf nach rechts, und dort trugen vier Männer auf einer Bahre einen scheltenden Offizier. Der Prinz ritt zu ihm hin. »Wo haben Sie die kleine Feldschlange, Herr Oberst? Oberst Ubsmann ist sehr besorgt um sie!« Mit seiner heiseren Stimme antwortete der Oberst Greon; »Dort steht sie.« »Wie war der Empfang in Sönheim?« fragte der Prinz. Der Oberst lachte; »Unfreundlich, wie sichs gehört!« Der kalte Regen fiel noch immer und fiel dem liegenden Oberst Greon mitten ins Gesicht, und er war fortwährend damit beschäftigt, sich das aufdringliche Wasser von den Wangen zu wischen, aus den Mundwinkeln und den Nasenfalten. Dann schien ihm ein Gedanke durch den Kopf zu gehen, es war ihm eingefallen, daß man dort am rechten Flügel an der Aufstellung was zu verbessern hätte, und so entschuldigte er sich und ließ sich wegtragen, und durch den Regen scholl seine scheltende, heisere Stimme.
Das Feuer in Sönheim wurde schwächer. »Ich lasse löschen«, sagte Bahubsen, »es sind viel Vorräte im Dorf und die Kriegskasse, die sie nicht mehr fortbringen konnten, ist schon unter Bedeckung in unserm Lager.« Ein langer Zug Norweger tauchte im regnerischen Grau auf »Ach«, sagte Bahubsen befriedigt, »Oldensleven schickt uns noch Gefangene.«
Der Prinz ritt vorbei an den letzten Häusern, auf der großen Straße dahin, zwischen Wiesen nun dahin, unter einem niedrigen grauen Himmel, von dem der Regen unendlich fiel. Da vor ihm mußte Oldensleven sein mit seinen Reitern auf der Verfolgung der Norweger. Er ritt vielleicht eine Viertelstunde, nur den Diener hinter sich. Reiter, in Viererreihen, kamen ihm entgegen, der Graf an der Spitze. Als er den Prinzen erkannte, setzte er sein Pferd in Galopp, hielt kurz und scharf vor ihm, nahm den Eisenhut ab, sein langer Bart wehte, seine kleinen Augen funkelten, und in tiefem Baß dröhnte er: »Ich habe in dem Dorf vor uns eine Abteilung Reiterei zurückgelassen. Ich habe nur geringe Verluste gehabt.« Eine Falte bildete sich über seinen Augenbrauen und lief schnell bis zu seinem Scheitel. »Alles gut gegangen, mein Prinz!« Die Reiter waren herangekommen, der Prinz und Oldensleven waren zur Seite geritten, auf die Wiese, und der klappernde, lange Zug schüttelte an ihnen vorbei, alle Köpfe auf die beiden Offiziere gerichtet, der Prinz sah in viele Gesichter, junge und alte, bärtige und bartlose, hörte das Schnauben der Pferde, leises Sporenklingeln. Endlich kamen die letzten. »Ich komme später nach, Graf«, sagte der Prinz, und Oldensleven trabte hinter seinen Reitern drein, und der Prinz sah ihnen nach, sah Sönheim, einen rötlichen Glanz über Sönheim, das immer noch brannte, obwohl doch Bahubsen löschen ließ, und der Regen half ihm. Der Regen, sah der Prinz, ging in Schnee über, erst fielen einzelne Flocken, wässerig, grau, dann wurden die Flocken mehr, wurden auch weißer und weiß und wurden dichter, fielen immer dichter. Der Prinz hielt unbeweglich auf seinem Pferd und sah, wie Oldensleven mit seinen Reitern in das Wirbeln, in das Schneewirbeln hineinritt, und von dem Wirbel verschlungen wurde und nicht mehr zu sehen war, und auch Sönheim war nicht mehr zu sehen, nur ein roter Schein am Himmel zeigte an, wo es lag.
Die ersten Flocken, die wässerigen, grauen, waren gleich zergangen, als sie auf die Erde auffielen, wie sich das schickt für Aprilschnee. Aber der Schnee, der jetzt fiel, der war von einem Dezemberschnee, von einem Januarschnee nicht zu unterscheiden, und so nahm ihn jetzt auch die Wiese, nahm ihn die Straße hin, er blieb liegen, zuerst nur kleine weiße Stellen waren es, in Mulden, hingeweht an kleine Buckel und Hügel, aber dann faßte er überall festen Fuß, nur schwach schimmerte das Grün der Halme durch, die Straße war schon ganz weiß, und immer dicker und härter wurden die Flocken, schwarz wimmelte es vom Himmel herab, unermüdlich. Jetzt blieben die Flocken auch schon in der Mähne des Pferdes hängen, in die Mähnenhaare stieg die Wärme des Pferdeleibs nicht so hinauf, was an Flocken auf den Pferdehals fiel, das zerging, das zerschmolz, und kleine Bäche rannen den Hals herab. Der Gaul schüttelte den Kopf, da wirbelte der Schnee aus den Haaren, aber es kamen so viele Flocken nach, daß die schwarze Mähne gleich wieder weiß wurde.
Auf den Armen, die der Prinz nicht rührte, lag Schnee, und er hatte nicht einmal das Verlangen, wie es der Gaul hatte, den Schnee abzuschütteln, wie eine weiße Raupe lief es ihm von der Hand zum Ellbogen.
Er dachte an die Lerche, die so gelärmt hatte, die nun in ihrer Ackerfurche saß und sich an den Furchenrand wohl drückte, dem Schnee zu entgehen. Und auf die vielen Schlafenden fiel der Schnee herab, die sich so wenig rührten, wie er sich rührte, und die nicht mehr so viele Wärme hatten wie der Pferdehals, die Flocken zu schmelzen, und an die blutigen Wunden dachte er, in die nun Schnee fiel und die den Schnee so rot färbten, wohl wie das brennende Sönheim den Schneehimmel zartrot färbte, immer noch.
Es wurde dunkler, es war vielleicht schon die Dämmerung, oder fiel nur der schwarze Schnee immer dicker, so war das blasse Rot über Sönheim fast wie eine freundliche Lockung, versprach Wärme, er merkte, daß er fröstelte. Da trieb er sein Pferd an, ritt nicht im Trab, ritt im Schritt die Straße zurück, ritt der Diener hinter ihm drein, hohl klapperten die Pferdehufe, denn so dick lag der Schnee noch nicht, daß er den Hufschlag gedämpft hätte, so ritt er durch Schneewirbel und Dämmerung zu dem freundlichen Feuer über Sönheim, der eine Schlacht gewonnen hatte, der einen Freund verloren hatte, der siegreiche Feldherr, der fette dänische Kronprinz Hamlet.
Die zwei Buben, die zwei sechsjährigen Buben, vielleicht waren sie siebenjährig, aber älter nicht, liefen mit roten Gesichtern, mit Gesichtern rot von der Anstrengung des Laufens, nebeneinander her, die Ellbogen an den Leib gepreßt, sie liefen durch eine lange, dunkle Gasse, die ganz menschenleer war sonst. Alle Türen waren fest verschlossen, an keinem Fenster war ein Mann, eine Frau zu sehen. Alles war sonntäglich leer, und war auch sonntäglich sauber geputzt, kein Strohhalm lag auf dem rötlichen gestampften Lehm der Gasse, es war kurz nach Mittag, und einen blauen Maihimmel hätten die Buben oben über den hohen Häusern gesehen, wenn sie sich die Mühe und die Zeit genommen hätten nach oben zu sehen. Aber das taten sie nicht, sie liefen Schulter an Schulter nebeneinander und hatten ein festes Ziel, das war ersichtlich, dem sie zustrebten. Da zuckten sie und standen und hielten den Atem an, drückten den keuchenden Atem zurück in die Brust, daß er nicht den Klang übertöne, der jetzt zu ihnen herfand. Trompetentöne, entfernt, schollen zu ihnen her, über die Häuser weg zu ihnen her, gedämpfte Trompetentöne, und daran erkannten sie, daß sie auf dem richtigen Weg waren und aber auch, daß sie noch eine gute Strecke zu laufen hatten, denn die Trompeten waren gar nicht gedämpft, wenn man dicht bei ihnen war, das hatten sie vorhin schon erfahren, als der Zug dicht an ihnen vorbeigegangen war.
Sie hatten schon den ganzen Zug mit angesehen, und weil sie noch nicht genug hatten, liefen sie nun quer durch die Stadt, um noch einmal die Spitze des Zuges abzufangen und ihn zum zweitenmal an sich Vorbeigehen zu lassen. Jetzt erreichten sie das Ende der Gasse, bogen um die Ecke, liefen durch eine schmale Gasse, die auch ganz und gar leer war, die Trompetentöne wurden schon lauter, schollen schon mächtiger und kriegerischer an sie heran, und da sahen sie schon den Rücken der Menschenmauer, die den Einzug säumte.
Sie drängten sich hindurch, zwischen Männerbeinen hindurch und raschelnden Frauenröcken, und hörten von oben herab scheltende Stimmen und Gelächter, und ein Frauenarm packte sie und schob sie nach vorn, fast zu weit nach vorn, denn nun waren ihnen die Pferdebeine gefährlich nah, die an ihnen vorbei sich bewegten, und sie mußten die Köpfe hochheben, um die schimmernden Reiter zu sehen, die auf den Pferden saßen und lange blitzende Trompeten am Mund hielten und bliesen wie Erzengel. Das war die Spitze des Zuges, und also waren sie noch rechtzeitig gekommen, und sie verschnauften.
Aus allen Fenstern sahen Menschen, beugten sich weit vor, so wars, als hingen Trauben, Menschentrauben, an den Wänden, und weil die Menschen Tücher flattern ließen, so waren das die Blätter der Trauben, rote und gelbe Blätter, längliche und herzförmige.
Hinter der Bläserabteilung kamen Fußtruppen, in Viererreihen, und nicht im Leder der Schlacht, in buntes Tuch gekleidet, die Armbrust über der Schulter, das kurze Schwert an der Seite, Federn auf den Hüten, und es schien ihnen verboten zu sein, das Winken der Zuschauer und die Schreie der Zuschauer zu erwidern mit Wink und Ruf nur an ihren freudigen Gesichtern sah man und an ihrem eitlen Schritt, daß der Willkomm ihnen schmeichelte und Wohltat.
»Die Oldenslevenschen Reiter kommen jetzt«, sagte ein Baß hoch über den Knabenköpfen, und die Buben sahen jetzt wieder Pferdebeine verwirrend zappeln, braune und schwarze Pferdebeine, starke Fesseln und feingliedrige, und Steigbügel sahen sie und Reitstiefel in den Steigbügeln, und sie waren zu müd, den Kopf höher zu heben, sie drücken ihn zurück gegen die Röcke der Frauen und spürten, wie Frauenfinger sie an den Ohren zupften, spielend, ihnen auch leichte Streiche auf die Backen gaben, und sahen die Pferdebäuche glänzen, und die Reiter hatten auch ihre Trompeten mit, die sie bliesen, von hoch oben aus den Lüften schmetterte der rasche Marsch. Die Zuschauer und Zuhörer zuckten mit den Knien den Takt mit, und auch die Frauenknie taten das, an denen die Knaben lehnten, und so bebten ihre Köpfe mit, und sie schlossen die Augen, der Schall brauste in ihren Ohren, und wenn sie blinzelnd die Augen öffneten, das Pferdebeingewirr wogte noch vor ihnen, unaufhörlich. Nun spürte der eine der Knaben, wie die Frauenhand, die in seinem Haar war, wie ein aufgeregter Maulwurf wühlte, wie die Finger seine Stirnlocke faßten und daran zerrten, daß es ihm fast weh tat, und eine helle Stimme hörte er sagen: »Der Herr von Bratt!« Der Herr von Bratt, das waren wohl die beiden hellgelben, glänzenden Stiefel, die nur mit den Spitzen in den Steigbügeln spielten, glänzendere Stiefel als die anderen, die an schlankeren Beinen saßen, als die vielen, und der Knabe drehte den Kopf und sah den Stiefeln nach, bis sie wippend im Gewirr der vielen, vielen sich verloren, und da ließ auch der heftige Zug nach in seiner Locke, warm legte sich eine Hand ihm um Wange und Kinn, zärtlich, schmeichlerisch, und der Seidenstoff des Rockes rauschte.
Der Zug der Pferdebeine hörte nicht auf, aber nun waren es dickere Beine, Beine wie von Ackergäulen, mit zottigen Büscheln über den Gelenken, mit schweren Hufen, und dann rüttelte es und rasselte und schepperte, Räder drehten sich vorbei, langsam, auf denen lange, eiserne Rohre lagen. »Die Feldgeschütze des Obersten Ubsmann«, sagte der Baß, oben, über den Knabenköpfen, und die Knaben sahen den Rohren entgegen, die ihre dunklen Münder weit und gähnend offen hatten, wie schreiend, wie bereit, jeden Augenblick loszubrüllen, aber jetzt schwiegen sie, nur die Räder knarrten und krachten.
»Jetzt kommen schöne Tage, Karl«, sagte der Schwarzbärtige, der Mann mit der Feuernarbe über der behaarten Brust, »jetzt gibts gutes Essen und Trinken.« Er sah fröhlich den Blonden an, der neben ihm ging, und sagte: »Der Prinz Hamlet läßt sich nicht lumpen!« »Heil, heil«, scholl es ihnen entgegen aus allen Fenstern, ein grüner Kranz schaukelte von hoch oben herab und raschelte auf Karls Kopf zu, die Blätter schlugen ihn in die Augen, er spürte die Kühle mit seinem Mund, warf den Kopf da glitt der Kranz auf seine Schultern herab, lag siegerisch um seinen Hals. Der Schwarzbärtige lachte. »Der sitzt auf dem rechten Platz, der Kranz!« schrie er, aber der junge Blonde antwortete nicht, sah ihn gar nicht an, den Schwarzbärtigen, und spürte den Kranz, der seinen Hals rieb, und vielleicht war es ein Strick, der sich da zusammenzog, und er griff hastig in die Blätter hinein, zerrte und zog, aber der Kranz war fest gebunden.
Trommeln schlugen nun, hart, Kalbfellton, verzaubernder, wie machte es der, daß alles mutig wurde ringsum? Wer zuhörte, war ein Held auf einmal, und mancher dachte, wenns so wirbelte, daß, wenn es auch in der Schlacht so wirbelte, da wär er wohl auch auf manche Schanze gestiegen, und der Blonde mit dem Kranzstrick um den Hals dachte das auch.
Trompetenstöße wieder, helle, jauchzende, weiße Trompetenstöße, hinfliegend über die harten Wirbel, die schwarzen Kalbfellwirbel, hinfliegend über die Dächer, einfallend in eine Stube, in der ein alter Mann in einem Stuhl saß, gelähmt, nur den Kopf konnte er rühren, der Mann in dem leeren Haus in der leeren Straße, und den Kopf hob er den Tönen entgegen und sah weg von der Katze, die mit der Maus spielte. Die Maus war, alles war so ruhig, so ruhig wie sonst nur nachts, wie sonst nur nachts war die Maus aus dem Loch geschlüpft, aber die unhörbare Katze war doch da gewesen und spielte ihr uraltes Spiel nach den uralten Regeln mit dem grauen, langgeschwänzten Tier, und der alte Gelähmte war der einzige und stumme Zuschauer. Jetzt sah er weg, hatte den Kopf, denn nur den konnte er rühren, den Trompetentönen entgegengehalten, und als er wieder hinsah auf die beiden spielenden Tiere, da beschloß die Katze eben das Spiel mit dem Ausgang, den es immer nahm, sie saß kauend da, die Katze, und der Mausschwanz hing ihr noch aus dem Maul, hing leblos und schlapp herunter, daß es aussah für den Alten, der sie von der Seite sah, als habe sie einen fleischernen Schnurrbart wie manche Fische.
Die vier Obersten ritten nebeneinander, und sie bemühten sich alle vier, unbewegte Gesichter zu zeigen, und das gelang am besten dem Grafen Oldensleven, der mit seinen stecknadelkopfgroßen Augen die Menschenmauer entlang sah, als sei es irgendeine Steinmauer, eine gekalkte, leblose Mauer, eine Mauer, die nur wunderbarerweise schrie. Der Oberst Greon spürte die Wunde am Oberschenkel, die noch verbunden war, und er griff wie liebkosend manchmal hin, und der Ritt, der ihm wehtat, würde ja wohl nicht mehr lange dauern. Aber im Wagen, der ihn von Sönheim in die Hauptstadt gebracht hatte, aber im Wagen, das hätte sich doch nicht geschickt, im Wagen den Einzug mitzumachen! Am stolzesten sah Bahubsen drein, eitel und gebläht sah er um sich, und er war der einzige der vier, der manchmal grüßend seine Hand in Lederstulphandschuhen den Rufen der Leute entgegenhielt, er war nicht eitler als der Oberst Ubsmann, der blank und glänzend im Sattel saß, aber er konnte es weniger gut verbergen als der kleine Blitzende.
Der Schimmel war zu klein, den der Prinz Hamlet ritt beim Einzug, zu klein für einen so mächtigen Reiter, aber erst vor den Toren der Stadt war es ihnen eingefallen, daß der Sieger nur auf einem weißen Pferd einreiten durfte, und man hatte in der Eile nur dieses weiße Tier aufgetrieben, und bis zum Schloß würde es schon den riesigen Reiter tragen können. Allem Volk fiel es auf weil, es so befremdend aussah, überaus merkwürdig, manchen war er unheimlich, der Anblick, aber nur wenige konnten es sich erklären, woher das kam. Hier ritt der große Sieger, der die große Schlacht bei Sönheim gewonnen hatte und drei Tage später die kleine Schlacht bei Obs, und der einen ruhmreichen und glänzenden Frieden hinterdrein geschlossen hatte, der Kronprinz des Landes, ritt auf einem zu kleinen Pferd und kam seinem Volk befremdend vor, so daß es nicht zu rufen wagte, nur stumm stand, und doch war zu spüren, daß es nicht stumm blieb aus verweigerter Ehrerbietung, nur aus Scheu schwieg.
Die Trompeten jubelten, daß alle es hörten, selbst der Gelähmte im Stuhl, aber im Zug war einer, der es nicht hörte, er war der einzige im Zug, der nicht ritt oder schritt, der einzige, der ausgestreckt lag, bequem ausgestreckt und so mitgetragen wurde im Zug und taub war für das weiße Geschrei der Hörner und das harte Schwarz der Trommeln. Es war der hinterste in dem langen und prächtigen Zug, und er war auch gar nicht prächtig anzusehen. Er lag in einem Holzsarg, der Tote, und der Holzsarg wieder war eingebettet in einen Sarg aus Eisen, und über dem Sarg aus Eisen war eine schwarze Decke gebreitet, und die Zuschauer wußten nicht, daß es ein Sarg war, was da als letztes im Zug mitgefahren wurde. Die anderen Toten alle waren vor Sönheim begraben und fanden es dort so gut, als es nur ein Toter haben kann. Nun, der Tote hier im Zug war es auch zufrieden, und daß er der hinterste war, dagegen war auch nichts zu sagen, allemal kamen zuerst die Lebendigen, die ja auch alle einmal tot sein würden. Zwar der Jubel der Zuschauer verebbte, wenn der schwarze Wagen auftauchte, der in einem kleinen Abstand dem Zug folgte, aber vielleicht war das nicht, weil da ein Toter gefahren kam, das wußten sie ja nicht, das war vielleicht nur, weil mit dem schwarzen Wagen der Zug zu Ende war und damit auch natürlich der Jubel zu Ende ging. Xanxres, der Tote im Sarg, wie hätte er sich darüber grämen können, jetzt, da er nichts mehr hörte, nichts mehr hörte von dem, was hier geschah, denn ob er andere Lieder und Trompetenstöße und Trommelwirbel hörte, wer weiß das?
Der Prinz ritt in den Schloßhof mit einem kleinen Gefolge. Und der tote Xanxres war auch in dem Gefolge. Und hielt vor der großen Freitreppe und stieg ab, mühsam, und sah auf einer Wendung der Treppe eine Gruppe Leute stehen, die dort stehen zu sehen er erwartet hatte, und wußte, daß es der König war, sein Stiefvater, und die Königin, seine Mutter, und Hamlet, sein Sohn und der Hofstaat. Er zögerte nur einen Augenblick, dann stieg er die Stufen hinan, ließ sein Gefolge zurück, ging als ein einzelner aus einer Gruppe hervor, und oben lösten sich zwei Personen, ein Mann und eine Frau, aus einer Gruppe los und schritten ein paar Stufen herab, und sie mußten bald aufeinander stoßen, und die beiden Gruppen, die stehen geblieben waren, die Gruppe oben und die Gruppe unten, sahen, daß die drei jetzt dicht beieinander waren und sahen, daß der Prinz seine Arme um den Hals des Mannes legte, der der König war und sein Stiefvater, und daß er ihn küßte und daß er dann die Frau küßte, die Königin, seine Mutter.
Der König war ganz in rot gekleidet, und sein gelbes Gesicht saß auf einem gelben Hals, und das Gelb sah wie bei Kränklichen aus, wie bei Leberleidenden, und ein paar schwarze, schnelle Augen hatte er in dem gelben Gesicht und über den Augen fast keine Brauen und unter der Nase, eine Stumpfnase, die schief saß und nach oben ging, einen blassen, blutlosen Mund, der die Lippen nicht zusammenhalten konnte, daß man immer feuchtglänzende, weiße, kleine Mauszähne sah. Der Prinz hatte den Mann nicht auf diesen kleinen Mund geküßt, obwohl ihm der Mann diesen Mund mit den zitternden Lippen entgegengehalten hatte, sondern auf die gelbe, ungesunde Wange. Als er sich abwandte, sah er seine Mutter stehen, die Königin, mit verlegenem Lächeln, und er sah, daß sie die Arme breitete für ihn, die Frau. Diese küßte er auf den Mund und fand sich fest umschlungen, und es war ihm, wie schon seit seinen Knabentagen unangenehm, daß er dabei spüren mußte, daß sie eine Frau war, an der großen, mütterlichen Brust. Die Königin, seine Mutter, war nicht klein, sie war nicht groß, mit einem farblosen, wie verwaschenen Gesicht, rötlich blonden Haaren, das Gesicht nicht mehr jung, aber auch nicht alt, mit Salben und Ölen gepflegt die Haut, aber unfrisch die Haut, die Frau kämpfte um ihr Gesicht, sie war ja nicht bloß seine Mutter und hätte das als solche nicht mehr nötig gehabt, sie war die Frau des Königs, und diesem wollte sie gefallen, und wie sehr gefallen! Und da gab es also Salben und Wässer, um vieles schön zu machen, und das gelang auch.
Nun mußte wohl auch etwas gesprochen werden. Natürlich mußte der König zu reden anfangen, und er fing auch an, mit zuckendem Mund, und sprach etwas davon, daß das Land nun vom Feinde frei sei durch des Kronprinzen Tat, und daß er ihm seinen königlichen Dank ausspreche. Da hielt es die Königin für notwendig, nun ihrerseits ihm zu sagen, daß sie natürlich auch stolz sei auf seine Feldherrntaten, aber daß sie, als seine Mutter, vor allem froh sei, daß er wieder lebendig vor ihr stehe, und daß sie sich sehr gebangt habe um ihn, ihren einzigen Sohn, und der Prinz sah wahrhaftig eine Träne in ihrem Auge sich bilden und sah, wie sie die Träne mit sinkendem Lid zerdrückte, und er hätte ihr eine Träne, eine Träne seinetwegen, gar nicht zugetraut.
Das war die erste Begrüßung, und jetzt konnten sie auf der Treppe nicht stehen bleiben und schritten sie hinan, die drei, wo unter der Türe des Vorsaals der Hofstaat stand, und vor dem Hofstaat ein junger Mann, ganz in gelbe Seide gekleidet, ein Knabe noch, fünfzehnjährig, mager, sein Sohn Hamlet, ein Knabe, aber schon ganz wie ein Erwachsener, der Prinz Hamlet, und es war unerläßlich, daß sich Vater und Sohn umarmten, das taten sie auch, und daß sie einige Reden wechselten, auch das taten sie, und der Kronprinz Hamlet dachte, ob es wohl seinem fünfzehnjährigen Sohn ebenso unangenehm wäre, des Vaters fetten Bauch zu spüren und seine Barthaare im Gesicht, als ihm peinlich war seiner Mutter allzufrauliche Brust.
Und den Staatsminister Polonius sah er stehen, den Mann, der einmal eine Tochter gehabt hatte, den Mann mit dem Tatarenschnurrbart, wie Stricke lang herabhängend, und den Mann mußte er auch nun besonders begrüßen. Aber die Umarmung war hier weder vorgeschrieben noch erwünscht, ein Sich-die-Hände-reichen genügte hier vollauf das tat es, und wenn man den Damen, den Herren des Hofstaates einige Verbeugungen machte, so war das wohl auch genug getan und überreichlich.
Des Kronprinzen Gefolge klirrte die Treppe nun herauf, es war ein soldatisches Gefolge ohne Frauen, und es waren Männer mit Sporen an den Stiefeln, Sporen waren im Gefolge des Königs nicht zu finden, und nun flössen die beiden Gruppen zu einer zusammen, und Gespräche schwirrten und Frauenstimmen flogen hoch auf und Männerbässe brummten tief.
Im Jubel brauste unten die Hauptstadt, wo Wein aus Brunnen floß und Ochsen an Spießen gebraten wurden und alles Volk Gast des Königs war, selbst der Gelähmte in seinem Stuhl, wenn er einen barmherzigen Angehörigen hatte, der ihm seinen Teil an den Stuhl brachte, seinen Teil am Flüssigen und am Fleisch. Abends sollte das große Festmahl sein für den Hof und die großen Herren und die großen Damen, das Siegesmahl dem siegreichen Kronprinzen zu Ehren, der sich jetzt schon davor fürchtete und gierig war darauf aus einem besonderen Grund.
Einstweilen aber war man hier im Vorsaal, allein nur unten am Fuß der Treppe der tote Xanxres im Sarg unter der schwarzen Decke, aber bald sollte auch er die Treppe heraufgetragen werden, weil er, bevor man ihn begrub, noch ein Wiedersehen haben mußte mit jemand, der ein Recht darauf hatte und vielleicht auf diesem Rechte bestand, wer weiß es?
Der Kronprinz sah sich auf einmal allein und abgesondert, er hatte nichts dagegen, gar nichts, aber es sollte vielleicht doch nicht sein, hatte er denn ein zu ernstes und abweisendes Gesicht gemacht? Nun, er konnte auch lächeln, und er versuchte ein kleines Lächeln zum Fenster hinaus, an dem er stand. Als er das Lächeln fest und dauerhaft im Gesicht sitzen hatte, drehte er den Kopf und sah sein königliches Elternpaar, aber der König war nur sein Stiefvater, und sah, daß er hersah zu ihm, und war froh über sein gutsitzendes Lächeln. Es kam der König auf ihn zu: »Sind Sie einverstanden, mein Herr Sohn, daß ich den Empfang jetzt abbreche?« Und die Königin war ihm gefolgt und sagte. »Die arme Hofdame Klara, sie wartet im gelben Saal auf dich.«
Zwar, die Unterredung hätte der Prinz noch gern hinausgeschoben, aber daß er sich hier frei machen konnte, das lockte auch, und so war er einverstanden, und so gab es viele Verbeugungen, und dann war der Vorsaal leer bis auf den Kronprinzen Hamlet, der nun den Weg nahm über die drei Treppen zum gelben Saal hinauf. Am Fuß einer jeden Treppe hielt er schwer schnaufend, sein Bauch wollte getragen sein, und obwohl er etwas weniger dick war als noch im Vorjahre, etwas hatte er abgenommen, die drei Treppen hintereinander fielen ihm doch schwer. Er kam an dem Bild seiner Großmutter vorbei, berührte flüchtig ihre gemalten Brokatschuhe, und etwas später hielt er vor der Tür, blieb eine Weile stehen, um mit ruhigem Atem die Hofdame Klara begrüßen zu können, dann trat er ein.
Sie saß, in einem schwarzen Kleid, und stand auf, als er eintrat und ging über den schwarzgelben Fußboden ihm entgegen. Der Kronprinz hatte gedacht, man müßte es nicht notwendig jemandem ansehen, wenn er unglücklich war, und so wäre es ihm auch Heber gewesen, wenn man der Hofdame Klara nichts angesehen hätte, aber das bleiche Gesicht, das sie ihm entgegentrug, sah unglücklich genug aus, wenn sie auch sonst tadellose Fassung zeigte, nicht einmal Tränen ihr übers Gesicht liefen. Er sprach ein paar Worte und gab ihr die Hand, die sie nahm, aber sie sprach nichts. Er bat sie, sich zu setzen, und sie setzte sich, ließ sein Gesicht nicht mehr aus den Augen, es war, als wolle sie auf ihm einen Widerschein von den Blicken des toten Xanxres finden, der ja in dieses dicke Gesicht mit brechenden Augen geschaut hatte. Er verstand nicht zu trösten, der dicke Kronprinz, er ging zum Fenster, unten klein im Hof war die Bahre, er winkte, und die Männer faßten an und verschwanden im Eingang des Schlosses. Der Prinz dachte: Ich kann ihr doch nicht sagen, daß ich ihr was mitgebracht habe, sie wird es schon sehen, wenn sie ihn hereinbringen. Und er drehte sich um, daß sie wieder die Spuren von den letzten Blicken des Xanxres in seinem Gesicht suchen konnte. So blieben sie, Aug in Aug, sie sitzend, er stehend, und die Zeit lief sehr langsam auf diese Weise.
Inzwischen wurde Xanxres über die Treppen heraufgetragen, und weil die Träger gleichgültig waren, mit den Füßen voran, sie dachten wohl, daß einem Toten das Blut nicht mehr in den Kopf steigen könne, und damit hatten sie ja recht, aber trotzdem wäre es schicklicher gewesen, sie hätten es umgekehrt gemacht. Vor der Tür zum gelben Saal hielten sie und sprachen leise miteinander, nicht um den Toten nicht zu stören, um den Lebendigen nicht unliebsam aufzufallen, die hinter dieser Türe waren, zwei mächtigen, vornehmen Personen, eine davon zwar unglücklich, aber das machten sie sich wohl nicht klar, sie waren ja nur Träger, gewöhnliche Leute.
Sie sieht immer mich an, dachte der Prinz, und redet nichts, und es gibt wohl ein einfaches Mittel, ihre Blicke von mir abzulenken, und er ging zur Tür und bedeutete den Trägern, die Bahre hereinzubringen. Sie taten es und gingen schnell wieder. Ja, jetzt sah die Hofdame Klara nicht mehr auf den dicken Prinzen hin, sie sah die Bahre an, mit dem schwarzen Tuch darüber und blieb sitzen, und was sie dachte und empfand, wer wußte es? Sie stand dann auch auf und war wohl müd, weil sie schwankte, und mit schwankenden Schritten ging sie auf die Bahre zu und schlug das schwarze Tuch zurück, daß der eiserne Sarg sichtbar wurde und neigte ihr Gesicht über den Sarg, über die Stelle, wo des toten, armen Xanxres Gesicht sein mußte, und vielleicht konnte sie wirklich durch das Eisen hindurchsehen, sie schien etwas zu sehen, und der Prinz hielt es für möglich, daß der tote Xanxres die Augen aufschlug, eben jetzt im Sarg, und auch durch die Eisenwand hindurchsehen konnte, und so waren sie jetzt Aug in Aug die beiden und ließen nicht mehr voneinander. Dann weinte die Hofdame Klara, eine einzelne Träne zuerst, dann folgten mehrere, es war eine Tränenschnur, wie eine Perlenschnur, und jetzt konnte sie wohl der Tränen wegen das Gesicht des Toten nicht mehr so klar sehen, aber vielleicht weinte jetzt der Tote im Sarg auch. Sie fuhr mit der Hand über das Eisen, das war kalt, vielleicht wollte sie ihm die Tränen abwischen und vergaß darüber die eigenen, die ließ sie fließen nun, ungehemmt ganz und gar.
Das Fest mußte gefeiert sein, und es waren auch viele da, es waren die meisten, die es mit Freuden feierten, und die, wenn sie die Tafel entlang sahen, froh waren, daß man erst am Anfang war und daß noch eine lange Nacht vor ihnen lag, mit Wein und gebratenem Hirsch und vielen Kerzen und schönen Frauen. Wer hätte sich mehr freuen sollen über das Fest als der eitle Oberst Bahubsen, der doch, wenn auch unter dem Befehl des Kronprinzen, die Schlacht bei Sönheim geschlagen hatte, jedermann wußte das, und das hier war doch das Siegesfest für Sönheim und Obs, war sein Fest, und so sah er glücklich in seinen Goldbecher hinein, wo es wie Gold und Blut und Glanz heraufdämmerte, der Wein das Metall näßte, Funken die Becherwand hin und her liefen, je nachdem man ihn drehte. Er war prunkvoll gekleidet, der Oberst Bahubsen, scharlachne Ärmel am grünen Wams, und den Bart frisch gestutzt, aber was war seine Pracht gegen den Glanz des kleinen Obersten Ubsmann, der ganz in blau erstrahlte, himmelblau, vergißmeinnichtblau, und ein Gesicht hatte, daß viele Damen immer wieder hinsehen mußten, und er gab jeden Blick zurück, und sein kleiner dunkelroter Mund lächelte jede an, und wenn er so wie eine hellblaue, große, seltsame Blüte am Tisch saß, so war der Mund wie ein aufreizendes, rötliches Zungenblatt, geflaggt wie um Insekten anzulocken, giftig prunkend. Viele konnten nicht wegsehen. Den tapferen Greon aber übersah man leicht, obwohl er so groß und stark war, und das war ihm ganz recht, er war froh, daß man ihn in Ruhe ließ, und der Graf Oldensleven, dem war es überhaupt gleichgültig, was man von ihm dachte, ob man ihn beachtete. Sein schwarzer Bart hing tief unter den Tisch hinab, er hatte an ihn keineswegs eine Schere herangelassen wie der Oberst Bahubsen, und seine große Glatze glänzte. Nur wenn er die blauseidne Blüte sah, die der Oberst Ubsmann darstellte, bekamen seine kleinen stechenden Augen einen unfreundlichen Ausdruck, und einmal griff er so aus, als wolle er sie ausreißen mit Stiel und Wurzelfaserchen, aber er nahm lieber seinen Becher und trank, und daß des Ubsmann Feldschlangen tüchtig gewirkt hatten, das konnte er nicht bestreiten, immerhin, so ließ er ihn blühen und strotzen voll süßen und schönen Giftes.
Trompetenstöße kündeten einen neuen Gang an, Pasteten. Heut nacht war noch viel zu essen, man war noch am Anfang, aber man würde schon durchhalten. Die Hofdame Afra sah hinüber, wo erhöht die königliche Familie saß, sie konnte des Kronprinzen Gesicht von der Seite sehen, konnte sehen, wie seine dicken Backen sackartig, hamsterartig herabhingen, und wenn er den Blick gewendet hätte, hätte er den schwarzen Kugelaugen der Hofdame Afra begegnen müssen, aber er tat es nicht, er hatte es noch nicht getan den ganzen Abend, er beachtete sie nicht, sie fluchte wieder, lautlos, sagte böse Worte vor sich hin, ohne die Lippen zu rühren, ganz und gar abscheuliche Worte, und dann befahl sie ihm heftig, hierher, zu ihr her zu sehen, lautlos befahl sie ihm das, aber der Kronprinz gehorchte nicht. So sah sie die Tafel entlang, sah Ubsmann, den Himmelblauen, und fand ihn natürlich hübscher als den Kronprinzen, das fette Schwein, wie sie ihn wütend und lautlos nannte, und während sie den Oberst Ubsmann anlächelte, wiederholte sie heftig: dickes Schwein, unförmiges Schwein, sieh zu mir her, meinte den Kronprinzen damit, senkte den Blick, etwas schamhaft, als wolle sie so lange den Blick des Obersten nicht ertragen, schielte zur königlichen Tafel, aber der Kronprinz beachtete ihre Befehle nicht, er sprach mit seiner Mutter, angeregt, der dicke, schwarz gekleidete Kronprinz, die fetteste der Säue.
Die Kerzen brannten steil empor, unbeweglich, kein Luftzug war im Saal, und eine sanfte Wärme ging von ihnen aus und ein schöner Honiggeruch. Es war ja Mai draußen, Bienen brummten über die Wiesen, und die gelben Flammen hier waren auch wie Bienen, die unbeweglich standen, wie sie es manchmal über Blumen tun, die Honigvögel. Der Kronprinz sah von seinem erhöhten Platz über den Festsaal hin, und die stummen Befehle der Hofdame Afra hatte er wohl vernommen, vielleicht sogar ihre Beschimpfungen, ihre lautlosen, aber er gehorchte ihnen nicht, er hatte Wichtigeres zu tun, er wollte sich nicht ablenken lassen, er wollte alle Kraft sammeln zu dem, was er dumpf kommen spürte. Der König saß ihm gegenüber, aber vorläufig vermied es Hamlet, ihm allzuoft ins Gesicht zu sehen. Vorläufig wandte er seine Aufmerksamkeit seiner Mutter zu, die rechts von ihm saß, und er sah sie oft so forschend und fragend an, daß sie unruhig wurde, nicht daß sie gemerkt hätte, woher ihre Unruhe kam, sie machte es sich nicht klar, daß das von den saugenden Blicken ihres Sohnes kam, und vielleicht kam es auch gar nicht daher, sie spürte aber Unruhe und trank mehr als sie sonst zu trinken pflegte und hatte hitzige Wangen im welken, hübschen Gesicht, und wenn sie den Augen ihres Mannes begegnete, so lächelte sie ihn verliebt an, mädchenhaft verliebt lächelte sie ihn an, als säße nicht ihr großer erwachsener Sohn neben ihr, ihr fetter, dicker, mächtiger Sohn, selber nicht mehr ganz jung, und daneben ihr Enkelsohn, auch schon fast erwachsen, und sie lächelte schelmisch ihren Mann an, mit heißen Augen, wie verheißungsvoll, wie vielsagend, wie Geheimes sagend, wie ihn vertröstend auf die Nacht und das Dunkel, das nach diesem Festabend kommen mußte. Sie versprach ihm Küsse mit diesen Blicken, und Arm in Arm, Brust an Brust in rötlicher Morgenstunde, und der Kronprinz, der diese Versprechungen las in ihren Augen, spähte kurz zum König hinüber, ob der ihre Wünsche erwidere, ob der sich danach sehne, das Versprochene auch zu erhalten, aber der König trank gerade, er sah das Rund des königlichen Becher Bodens nur, und dann trank er auch, trinken war gut, trinken war immer gut, trinken war jetzt besonders gut, in dieser Stunde besonders gut.
Die Trompeten schmetterten, fuhren die Töne durch den Saal wie ein Windstoß, die Menschen im Saal gaben dem Windstoß auch etwas nach, nur die Kerzenflammen rührten sich nicht, brannten steil aufwärts, sich selbst verzehrend und weinten heiße Wachstränen. Der Kronprinz dachte an die Tränen der Hofdame Klara, und ob die wohl immer noch am Sarge des Xanxres stand oder kniete oder lag, die Wange am kalten Eisen des Sargs, und ihre Tränen waren wohl nicht so heiß wie die Wachstränen, aber doch wohl heiß genug, daß sie zischend auf das kalte Eisen niederfielen. Da war ein welkes Gesicht an seiner Seite, mit einem kleinen Kinn, das Neigung hatte zu fliehen, unbemerkt in den Hals überzugehen, und das welke Gesicht sah gierig in eines Mannes Gesicht, in eines lebendigen Mannes Gesicht, und da war das junge, edle, etwas schafige Gesicht der Hofdame Klara, und das starrte durch Eisen hindurch in ein junges Männergesicht, aber das war das Gesicht eines toten Mannes.
Der Kronprinz neigte sich weit über die Tafel vor. Vor ihm stand eine Platte voll von Stücken gebratener Gans, die braune Haut glänzte, sah großporig aus, ach, dachte er, da, in diesen winzigen, warzenähnlichen Erhebungen hatten die Federn gesteckt, einmal, als das weiße Tier noch über die grünen Wiesen ging, weiß auf grün. Er legte dem König ein großes Stück auf den Teller, und die abwehrende Handbewegung, die dieser machen wollte, übersah er, den Ansatz zu dieser Handbewegung übersah er, und der König auch verwandelte sie schnell in eine Eßgebärde, dem Sohn wollte er nicht »nein« sagen heut, dem Stiefsohn, nicht einmal in einer Kleinigkeit, nicht einmal in dieser Kleinigkeit, die von Fürsorge und Höflichkeit zeugte, und er begann eifrig zu essen. Oh, der Kronprinz aß auch, er nahm ein nicht kleineres Stück auf seinen Teller, sein Bauch wollte gefüllt werden, der war nicht gewohnt, daß ihm knauserig zugemessen wurde, aber es war ja noch zu Beginn der Schmauserei, da würde ihm sein Recht noch werden, heut, in dieser Nacht. Er trank, die Gans war gut, man hatte sie schlachten müssen, bevor man sie hier essen konnte, und der Norweger hatte besiegt werden müssen, bevor man hier essen konnte, und manches war noch zu tun.
Die Köche hatten eine unruhige Nacht, das war diese Nacht hier, aber waren sie nicht auch die Herren in dieser Nacht, die Befehlshaber, und zwangen sie nicht die Herren und Frauen zu essen, was sie sich ausgedacht hatten? Und auch zu trinken zwangen sie sie Herren und Frauen, zu trinken, je nachdem das zu trinken, was zu einem Gang paßte, und auch viel zu trinken, wenn sie es haben wollten, die Köche. Denn konnten sie nicht die Gerichte würzen, wie es ihnen gefiel, Speisen bereiten, in denen der höllische Pfeffer wie ein liebliches Feuer brannte und nicht gleich erkannt wurde? Aber dann schrie auf einmal der Gaumen nach Labe, und die Labe war Wein, weißer und roter. Und der labte auch und löschte auch, aber er tat nicht nur das, er tat auch ein anderes, was zu tun seine Bestimmung von jeher war, des weißen und des roten Weines, des gelblichen und schwärzlichen, des grünen, apfelgrünen und des bläulichschimmernden von der Farbe des Muschelhauses. So befahlen und herrschten die Köche in dieser Nacht, und jetzt schickten sie Wildpret in den Saal, und des zum Zeichen, daß sie große Herren waren, die Köche, gingen ihren Taten Trompeten voran, wie sonst nur Kriegsherren und großen Seefahrern bei der Landung.
Der Kronprinz war höflich heut, besonders höflich heut, gegen den König besonders höflich heut, und mit Wohlbehagen bemerkte es der, der den Stiefsohn sonst steif fand, ihm gegenüber, und sehr gemessen, und als der also Verwandelte ihm eine Rehkeule auf den Teller legte, mit gewinnendem Lächeln, mit Glanz in den Augen, da nahm sie der König an, obwohl er kein starker Esser war sonst, aber wer hätte da »nein« sagen können? Der Kronprinz aß ja auch, dem schmeckte es ausgezeichnet, und das Essen brachte ihn in gute Laune, in ausgezeichnete Laune, der Wein wars vielleicht auch, wahrscheinlich ganz besonders der Wein und daß er gesiegt hatte, erklärte es sich der König, und vielleicht war heut der Abend, da manches zwischen ihnen begraben wurde, wo einiges sich erledigte, wer weiß? Und ihn sollte es freuen, ihn sollte es mehr als freuen, und so nahm er einen großen Bissen Rehfleisch zwischen die Zähne und lachte stolz seine Frau an. Sie, diese Frau, die Königin, hatte ihm nicht widerstanden, hatte einiges getan, um einiges wegzuräumen, was zwischen ihrer Vereinigung stand, er hatte ihr geholfen dabei. Nur der Sohn war nicht recht damit einverstanden gewesen, aus verschiedenen Gründen, die ja nicht abzulehnen waren so ohne weiteres, aber nun schien er sich auch drein zu fügen, der Thron war ihm ja auch noch sicher später einmal, da war noch lang hin, aber sicher war er ihm.
Die Köche waren strenge Herren, sie ließen noch lange nicht ruhen, die Trompeter mußten schon wieder blasen, die Trompeter würden noch geschwollene Lippen heut kriegen, sie hatten Gesichter wie Pausengel, und für ihren Durst war gesorgt, sie bliesen gern und stolz und bliesen jetzt einen neuen Gang an, gepökelte Ochsenzungen, von vielen Gemüsen umgeben, und diesmal hatte der König fast Angst vor der Zutraulichkeit des Kronprinzen, der ihm ein tüchtiges Stück auf den Teller legte, und die Königin war auch besorgt, soviel vertrug er nicht, das wußte sie und wollte abwehren, aber der Kronprinz lachte sie aus und fragte, ob er denn ihren Mann vor ihrer schlechten Meinung in Schutz nehmen müsse, so ein Schwächling sei er doch nicht, daß er das Stückchen nicht noch könne genießen, und der König lachte mit und meinte, Frauen behandelten Männer leicht wie kleine Kinder, er wisse selber, wie viel und wenig ihm bekomme, und das hier auf dem Teller schon ganz bestimmt noch, und er aß munter, aber der besorgte Ausdruck im Gesicht der Königin verging diese Nacht nicht mehr.
Der König spießte sich ein Stück Zunge aufs Messer, es war das letzte, der Teller war sonst schon leer, der kleine Gemüsehügel, der würde rasch abgetragen sein, davor fürchtete er sich nicht, schwieriger war es schon dieses Fleischstück, das da auf der Messerspitze saß, hinunterzubringen, es sah auf einmal so groß aus, besser wars, er sah nicht hin, besser wars, man schloß die Augen, schlucken konnte man doch auch im Dunkeln, nun steckte der Bissen im Hals, er lächelte, das war erledigt, nun noch schnell das Gemüse, das ging leicht, und das Trinken schmeckte jetzt, schmeckte jetzt.
Aber Posaunen und Trompeten schmetterten und schmetterten dem König grausam ins Ohr. Diener liefen schon wieder mit neuen Platten. War er nicht der König? Hatte er nicht zu befehlen? Wenn er aufstand vom Tisch, schwankend, war dann das Mahl, das teuflische, nicht auch zu Ende? Er konnte die Trompeter zu Paaren treiben lassen, was bliesen sie ihm die Ohren voll? Und die Köche aus dem Schloß schmeißen, was kochten die Burschen da an roten Öfen wie für Heiden und Riesen? Schweiß stand auf seiner Stirn, in kleinen zierlichen Tröpfchen, vor seinen trüben Augen saß der fette Kronprinz und sah unverwandt zu ihm herüber, und neben ihm das Rosagesicht der Königin, das besorgte.
Und wenn er ihm jetzt wieder etwas vorlegen sollte, diesmal würde er danken, höflich danken, höflichst danken, aber schon recht sehr danken, »danke, nein«, würde er sagen, dem freundlichen, dem zuvorkommenden, dem übertrieben freundlichen Kronprinzen. Aber da lag schon wieder etwas auf seinem Teller, der noch eben so schön leer gewesen war, freundlich und silbern blinkend, reinlich, sauber abgegessen, da lag schon wieder etwas, irgendwas Fleischiges, genau konnte er nicht erkennen, was es war, er wollte es auch gar nicht kennen, er schielte schräg von der Seite hin. Der Schweiß stand auf seiner Stirn, wurde stärker, ein Tröpfchen war ein Tropfen geworden und rollte ihm abwärts in den Mundwinkel, es schmeckte salzig, und er hörte den Kronprinzen sagen: »Das kleine Stückchen noch. An meinem Freudentag werden Sie mir doch die Ehre geben!«
Er aß, in Gottesnamen, er aß, es war seine Siegesfeier, es war ja auch die Versöhnungsfeier, da mußte man schon ein übriges tun. Wenn nur die Bissen im Mund nicht so anquellen würden, er mußte Pausbacken haben, wie die Trompeter droben. Er schluckte schnell hinunter, damit die Pausbacken vergingen, aber der Teller war noch immer nicht leer, und nun rollte ihm ein zweiter Schweißtropfen über das Gesicht und fiel auf das Fleischstück, das er gerade aufgespießt hatte und das er nun trotzdem zum Munde führte.
Der Saal brauste um ihn, auf einmal stand der Kronprinz vor ihm, riesengroß, wie riesengroß! Und hob die Hand und hielt was Blitzendes in der Hand, das mußte eine Waffe sein, er wollte ihn erschlagen, er erschlug ihn hier im Saal vor den vielen Leuten, vor den Augen seiner Frau, das war also das Ende! Die Trompeten schmetterten gerade wieder, bei Trompetenklang also mußte er sterben, das war wie in der Schlacht. Der ihm gegenüber hatte nun nichts mehr vor ihm voraus, hier war also auch eine Schlacht, und seine Frau sah untätig zu, seine Leute sahen untätig zu, das war ja Mord, das war Königsmord. Königsmord, ein vertrautes Wort, für ihn sehr vertraut, aber dann sah er, was der Kronprinz hoch hielt, war ein großer Goldbecher voll Wein. War ein Becher eine Waffe? War auch eine Waffe. Anstoßen sollte er mit dem Kronprinzen, einen Becher leeren mit ihm, einen Becher leeren auf einen Zug bis zur Neige, ihm Bescheid geben, Siegesfeier war das ja hier, der Kronprinz war ja Sieger, gewiß war er der Sieger. Der König stand auf, hielt sich mit der Linken fest, jemand hatte seinen Becher voll gegossen, ein weniges schwappte über den Rand, desto besser, da brauchte er weniger zu trinken, es war immer noch genug, war mehr als genug, war viel, war viel zu viel, was sah ihn der Kronprinz so an? Ja, um Gottes willen, was starrte der Kronprinz ihn so an? Das war ja Königsmord, ja, um Gottes willen, er trank ja schon, er trank doch nun schon, es war ein großer Becher, den bekam er nimmer leer, den bekam er nicht mehr leer in diesem Leben. Die Trompeten dröhnten, er trank nun schon stundenlang, er konnte nicht so lang stehen, das hielten seine Beine nicht mehr aus, vielleicht konnte er im Sitzen weitertrinken, er setzte sich, er fand den Stuhl nicht, er fiel wie auf Wolken, fiel tief und tief aber den Becher nahm er nicht vom Mund, um Gottes willen, den Becher durfte er nicht vom Mund nehmen, am besten wars, sich zu legen, sich auf den Rücken zu legen, da floß der Wein in ihn, da stürzte der Wein in ihn, da konnte der Kronprinz mit ihm zufrieden sein.
Die Trompeten schwiegen, hatte ihnen jemand ein Zeichen gegeben? Alles stand im Saal, nur der König lag, lag am Boden, nur die Königin kniete, kniete neben dem König, kniete neben dem König am Boden, neigte sich zu seinem Gesicht, das mit Wein überschüttet war, mit rotem Wein überschüttet war. Dann kamen Diener, die hoben den König auf, die trugen den König vorsichtig hinaus, wann hatte er das zuletzt gesehen, der Kronprinz, daß vier Männer einen Mann trugen? Vor Sönheim hatte er das oft gesehen, und vor ein paar Stunden erst noch, da war Xanxres so getragen worden, der aber in einem Sarg lag, und die Königin ging hinter dem König drein, und dann gingen auch viele andere, hastig, aufgescheut, dann war der Saal leer. Die vielen Kerzen brannten noch, der Kronprinz saß allein am Tisch, wann war er zuletzt so allein gewesen? Nach der Schlacht bei Sönheim war das gewesen, als er gesiegt hatte, damals. Der Becher lag am Boden, in einer Weinlache, der Becher, den der König nicht mehr hatte leeren können. Der Kronprinz hob ihn auf, am Boden des Bechers schimmerte es noch flüssig, etwas Wein war noch darin, und der Kronprinz schüttete sich den Rest in die hohle Hand, und setzte die Lippen dran, und schlürfte sie leer.
Glühkäfer, wie flogen die große Bögen und Kurven, die sich trafen und überschnitten, und aus den Sträuchern heraus, die die Wiesen säumten, brachen oft ganze Geschwader im Taumelflug, und das schärfste Auge nicht sah Flügel und Leib, die doch da sein mußten, und Lichtpünktchen sausten und wogten unaufhörlich. Das Gras stand hoch und üppig, niemals gemäht, und zwischen den Bäumen stand der Mond, aber sein Licht erreichte die Wiese nicht, noch nicht, die im Schatten lag, dämmernd, dunstend, von Glühkäfern übersprüht. Hinter den Sträuchern floß ein Bach, unhörbar, im stillen Lauf, und obwohl man ihn nicht sah und hörte, spürte man ihn, Kühle schickte er her in die warme Nacht und ein Volk von Mücken, das in drehenden Säulen sich vereinigte, und die Säulen stiegen bis zum Mond auf vielleicht.
Der Bach war nicht tief, es war ganz klares Wasser, und die Kiesel am Grund schimmerten bleich herauf und ein Fisch, der an einer Bachkrümmung stand, unbeweglich, wäre leicht mit einem Stein zu verwechseln gewesen, der längliche Fischform hatte, aber ein solcher Stein hätte nicht eine haarfeine Schwanzflosse zart bewegt, steuernd, und er wäre auch nicht hoch gesprungen, über die Wasserfläche hinaus, weißblitzend, das Raubtier, sich eine Fliege zu fangen, um wieder unbeweglich zu stehen dann am alten Platz, lauernd, auch träumend vielleicht. Über den Bach lief ein Steg, ein Stangensteg, weiß glänzten die geschälten Äste, aus denen das Geländer bestand, das Geländer war neu, kaum ein paar Tage alt, noch floß der lebende Saft in den Stangen. Der Schattensteg auf dem Wasserspiegel zitterte leise von der sanften Strömung, ihn mochten wohl Wasserkäfer benützen. Schwereres trug er nicht, und er verging ganz, wenn weder Sonne noch Mond war, an trüben Tagen und in finsteren Nächten, aber heut hing der Mond rund am blauschwarzen Himmel, und da sah er fast so gediegen aus wie sein hölzernes Ebenbild oben.
Vom Steg weg führte ein Weg ins Buchendunkel, in ein kleines Buchen Wäldchen. Die Bäume standen dicht, aber Mondlicht drang doch durch, Lichttropfen sickerten von oben, die Stämme, rund und weißlich, glänzten schattenhaft. Und traten etwas auseinander, einem kleinen Teich Platz zu machen, der vornehm und künstlich und steinern eingefaßt da lag, keinen Abfluß sah man, keinen Zufluß, ungesund und unwirklich sah das aus. Wo kam nur das Wasser her? Weiße Seerosen schwammen inmitten großlappiger Blätter auf der Fläche, als hätte man sie irgendwo abgerissen und, um sie zu ertränken, in den Teich geworfen. Sie waren tot, aber schwammen, gingen nicht unter, stumm schreiend, die leblosen. Frösche hatte man nicht eingesetzt in den Teich, sie hätten gequarrt doch sonst, aber der Teich sprach nichts, nicht durch Froschesmund. Die Wärme war hier feucht und dunstend, das Wasser hier gab nicht Kühle, wie der still fließende Bach. Das Moos auf der Steineinfassung war feucht wie der Bart eines Trinkers, und der steinerne Bogenschütze, nackt, jung, mit zermorschtem Gesicht, zielte zwischen die Stämme auf ein unsichtbares Wild oder auf einen Menschen, auf einen Mann, auf eine Frau, und in seinem zermorschten Gesicht waren die Augen wie ausgefressen, er schoß wohl blindlings auf irgend etwas.
Verließ man das Buchenwäldchen, kam man in den großen Park. Hier standen die Bäume in Gruppen, Wiesenmulden dehnten sich dazwischen, Hügel schoben sich auf und senkten sich, und das Mondlicht lag in jeder Mulde wie gleißende Milch, und wer in solche Mulde hinabgeschritten wäre, dem wäre die Milch schäumend bis zum Knie gestiegen. Das Gras auf den ebenen Wiesenflächen stand unbeweglich, es ging gar kein Wind, und das Gras schien doch in ständiger Bewegung zu sein, schien in Wellen zu steigen und zu sinken, und auf den Wellenkämmen leuchtete gelber Löwenzahn, und das Halmgewirr war eine Wildnis, erschreckend und unerforscht.
Am Himmel waren alle Sterne. Blau und sanft erhellt war der Himmel, der volle Mond herrschte über der Welt, als wäre die Sonne nie dagewesen und als käme auch die starke Wärme von ihm, die diese Nacht erfüllte.
Hinter Baumgruppen, tiefer im Park, war ein Haus, ein kleines Schloß mit einem stumpfen, niedrigen Turm aus unbehauenen Steinen, einem viereckigen Turm, einem klotzigen, rohen, schwerfälligen Turm, aber das Haus, das Schlößchen, das Jagdschlößchen, war gefällig und zierlich. Alle Fenster standen weit offen in dem Schlößchen, weit offen auch im ersten Stock ein großes Fenster, türgroß, zweiflügelig, und der Fenstervorhang, ein weißer Vorhang, war vom Wind ins Zimmer geweht worden, hing schleppend am Boden, vom Abendwind ins Zimmer geweht, vor Stunden, jetzt war es schon gegen die Morgenfrühe, von der aber noch kein Zeichen zu spüren, zu sehen war, und kein Wind ging jetzt, und noch herrschte die volle Mondnacht. Es standen nicht viele Möbel in dem Zimmer, in einer Ecke ein großes, breites Ruhebett, und die gelben langen Bretter des Fußbodens sahen wie Lederriemen aus und liefen eilig nebeneinander her und kamen so auch gleichzeitig am Ziel an, ohne daß je eins das andere eingeholt hätte. Das Mondlicht erhellte das Zimmer, das große Zimmer, das auch sehr hohe Zimmer, und gedämpft drangen die Nachtgeräusche herein. Auf dem Ruhebett in der Ecke lag eine Gestalt, eine schlafende Gestalt, in eine weiße seidene Decke eingehüllt, aber der Mond machte alles gelb, die weißen Fußbodenbretter gelb, den Vorhang und die Seidendecke und das Gesicht gelb der Schlafenden, denn es war eine Frau, die da schlief, es war die Königin, und nun drehte sie sich im Schlaf, die Decke rutschte etwas zurück, Gesicht und Hals und Schulter lagen frei, und es war die volle Schulter einer jungen, schönen Frau, aber Gesicht und Hals waren einer reifen Frau, und im Mondlicht war das mehr zu ahnen als zu erkennen. Die Frau atmete tief, sie lächelte verliebt, daß das Gesicht den fast frommen Ausdruck bekam, der Verliebten in der Verzückung eigentümlich ist, und das war der Grund ihrer Freude, daß durch die Tür hinten im Zimmer der König eingetreten war, im Schlafgewand, und näher kam, aufgetrieben durch die unruhige, schwer atmende Sommernacht draußen, die ungehindert durch alle Fenster überflutend ins Haus drang, und sich auf den Rand des Ruhebetts setzte, der König, und die Königin leise auf die Schulter küßte, daß sie glücklich schauerte und dann glücklich verharrte, das Gesicht zu ihm emporgedreht, den immer blassen Mund bewundernd, der wie immer etwas offen stand, daß die Zähne zärtlich zu ihr her schimmerten, die eben noch ihre Haut gestreift hatten, beseligend. Jetzt schob der König seinen Arm unter ihren Nacken, da lag sie gut, da lag sie besser noch als auf dem weichsten Pfühl, im Arm des Geliebten zu ruhen, das tat ihr gut.
Es war gut und schön, daß er gekommen war jetzt mitten in der Nacht, aufgewacht im Mondlicht und nun nicht allein aus dem Fenster spähte in das schattenhafte Gewirr und Geschiebe von unendlichen Dingen da draußen, daß er sofort den Weg zu ihr ins Schlafzimmer genommen hatte und nun neben ihr saß. Sie machte eine Bewegung, das lose sitzende Nachtgewand gab die eine Brust frei, eine runde, volle Brust, eine schöne Brust, wenn sie auch nicht mehr so fest auf den Rippen saß wie die Brust eines jungen Mädchens, und sie bot sie willig und lockend dem geliebten Mann, den Augen und der Hand des geliebten Mannes, der nun seine freie Hand zart um die Brust legte, die andere Hand hatte er ja unter dem Nacken der Frau. Er hob die Brust zärtlich ein wenig, und ein wenig ließ sie sich heben, und küßte die Frau dann auf den Mund, und ihre Gesichter waren in der heißen Nacht ein wenig feucht, und die Frau atmete tiefer und, schien es ihr, der Mann auch, und als sie ihn nun leise ganz zu sich zog, und sie in seiner Umarmung, schwarz versinkend, schon fast gelähmten Auges ein schimmerndes Licht im Dunkel sah, das lange und wild brannte während des süßen Rausches, erkannte sie zurückkehrend, daß es der volle Mond war, der durchs große Flügelfenster großäugig hersah.
Sie lag auf dem Ruhebett, die Frau, die Königin, mit verjüngtem Gesicht, lag nackt nun auf dem Ruhebett, ein kühlender Hauch kam vom Fenster her, der über ihren Leib lief, daß sie angenehm erschauerte. Lag nackt nun auf dem Rücken, und der König saß ihr zu Füßen und spielte mit ihren Zehen und sagte leise durch das stille Zimmer: »Wie ist das nun mit deinem Sohn, mit meinem Stiefsohn, dem Prinzen Hamlet?« Er nahm die Hand nicht von ihren Zehen, und sie spürte, wie seine Finger zitterten, sein Gesicht war im Schatten, weil er dem Mond den Rücken kehrte, sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. »Ach«, sagte sie, und glaubte es selbst nicht recht, »ihr werdet euch aneinander gewöhnen«, und es war ihr nicht recht, daß das Gespräch diese Wendung nahm, aber der König war nun nicht mehr davon wegzubringen, er wiegte den Kopf bedenklich und murmelte: »Der Prinz, dein Sohn, mein Stiefsohn, will mir nicht wohl.« Er hatte den Kopf gedreht, seitlich, sie sah seine Nase, die nach oben stieg, und sah die immer offenen Lippen und die glitzernden Zähne, und jetzt warf sich der König nach vorn, und sie spürte seine feuchten Lippen auf ihren Knien, und er preßte den Kopf fest und furchtsam gegen ihre Knie, und mit den Händen griff er nach ihrer Brust, aber nicht schmeichlerisch wie vorhin, aber nicht wollüstig wie vorhin, er packte sie fest, daß es ihr wehtat, und von unten her, von ihren Knien her, schrie er: »Er will mir ans Leben, der Prinz, dein Sohn, mein Stiefsohn!« Die nackte Frau setzte sich rasch auf, daß seine Hand ihre Brust verließ und wie kraftlos zu Boden hing, und »Kiwitt« schrie draußen ein Vogel, der erste, der aufgewacht war, von einem taunassen Zweig her schrie er, und der Mond mußte seine Schnelligkeit verdoppelt haben, er mußte rasch, wie auf der Flucht, hinter den Bäumen hinabgetaucht sein, er war nicht mehr da, sein Licht war nicht mehr da, aber ein zartes Morgengrau war dafür da, und immer noch sang allein der voreilige Vogel »Kiwitt«. Die sitzende Königin griff nach dem Kopf des Geliebten, der auf ihren Knien lag, aber sie fühlte nur ihr eigenes Fleisch. Da lag niemand, sie war allein im Schlafzimmer, im grünen Morgenlicht, im eisgrünen, kühlen Morgenwind, und sie wollte losschreien und hatte den Mund schon aufgetan, aber sie tat es dann nicht und sprang vollends auf ging barfuß zum großen, türähnlichen Fenster im weißen Schlafgewand, aber sie sah nicht lange hinaus, begann im Zimmer auf und ab zu gehen, barfuß, leicht klatschten die nackten Sohlen die Dielen, und fing dann zu laufen an, hin und her zu laufen an, lange Zeit, und es tat ihr wohl, die kühlen Bretter an den Sohlen zu spüren, sie mochte nicht aufhören zu rennen, zu springen. Immer größere Sprünge machte sie, blieb stehen nach jedem Sprung, sah vor sich hin wie nach einem Ziel, sprang, als wollte sie das Ziel packen, sie keuchte schon vor Anstrengung, ihr Gesicht rötete sich, aber ihre Knie zitterten nicht bei dem Spiel. Der Morgen wurde heller draußen, er drang mit verstärktem Licht in das Schlafzimmer, wo die einsame Frau sprang und sprang, ohne zu fürchten, lächerlich zu werden, es sah sie ja niemand, und vor sich selber lächerlich zu werden, das fürchtete sie nicht, es tat ihr ja wohl, zu springen, und sie wußte ja auch, auf wen sie so tigerisch lossprang, auf ihn, dessen Bild sie deutlich vor sich sah, seinen fetten Hals, um den sie gern ihre Finger in mörderischer Zärtlichkeit gelegt hätte. Jetzt sprang sie auf das Ruhebett, kniete darauf, und wie sie bisher stumm gewesen war und nur hin und her gesprungen war, Satz auf Satz, sagte sie jetzt hintereinander: »Hamlet! Hamlet! Hamlet! Mörder! Mörder! Mörder!« und wollte nicht mehr aufhören, diese Worte zu sagen, laut und leise, mit hoher Stimme, bald wie ein Kind, dann tiefdunkel flüsternd, beschwörend, wie lachend manchmal, mit unbewegtem Gesicht dann und dann weiterplärrend, wie eine Litanei betend, die Worte wie Rosenkranzperlen unendlich rollen lassend, und warf sich erschöpft auf das Lager dann, die Augen geschlossen, aber nicht schlafend, redend und sagend und raunend unaufhörlich: »Hamlet! Hamlet! Hamlet! Mörder! Mörder! Mörder!«
Der alte Herr war abgestiegen und führte den Gaul am Zügel, hatte den Zügel um die Schulter geschlungen, ging Kopf an Kopf mit dem Gaul, einem mageren Rappen, nicht zu mager für ihn, er war selber dünn und dürr, lederig. Der alte Herr ging zu Fuß, weil er zu früh noch dran war, weil er noch Zeit hatte, klimperte mit den Sporen wie ein Junger, er sah einmal ärgerlich auf seine Stiefel hinunter, er war doch kein junger Offizier, so zu tönen, aber er hörte das Klingeln dann nicht mehr, weil er tief in Gedanken versunken war, weit und tief zurückging in Vergangenes, das Sporenklingeln aber blieb hier und zu dieser Stunde. Der schwarze, magere Gaul ging gutartig neben ihm, der Gaul war ja immer im Zeitlosen, was war ihm Vergangenheit und Zukunft, er war da und ging neben dem Herrn, und die kühle Morgenluft freute ihn, er blies einen Stoß durch die Nüstern und schüttelte den schweren Pferdekopf. Das wurde ein schöner Sommertag heute, blaudämmernd schälte sich der Himmel aus der Nacht, keine Wolke bis jetzt, und ein kühler Sommertag, dachte jetzt der alte Herr, eine kalte Flamme, das ist das Schönste. Er wickelte sich den langen, grauen Bart, der ihm vom Kinn herabhing, ein paarmal um die Hand, und nun war es ihm, als führe er nicht nur den Gaul an der Hand, er führte auch sich selber an dem Bartstrick, dem grauen, und weil der Weg jetzt eine Biegung machte, zog er sich den Kopf in die neue Richtung und zog den Pferdekopf in die neue Richtung, aber dann ließ er seinen Bart los, das Pferd aber nicht, er war doch klüger als das Tier. Wie ein Tatar sah er aus, der alte Herr, der Staatsminister Polonius, unter der Nase ein dünnes, graues Bärtchen, das bei den Mundwinkeln endigte, und am Kinn den langen, bis zur Brust baumelnden, strickähnlichen Bart. Ophelia, das Mädchen, seine Tochter, hatte ihn oft an diesem Strickbart gezerrt, hatte oft ihre kleine Hand drin verschnürt, ihre kleine, dickliche, weiße Hand, seine dagegen, er sah sie an, war braunrot und ledern, die Hand eines Uralten, aber diese uralte Hand lebte noch, er spreizte die Finger, schloß sie, machte eine Faust, drohte in die Luft mit der Faust, das konnte die Hand seines Mädchens, seiner Tochter, seiner toten Tochter, nicht mehr, und nur, wenn sie in der Todesstunde die Hand zur Faust geballt hatte, dann lagen jetzt noch die Knochenfinger so, in der Erde, und drohten, wem?
Hier lief in vielen Windungen der Weg zu Tal, und der alte Herr stieg umständlich zu Pferde und ritt weiter im Schritt, nach Barnz, dem Lustschloß, nach Barnz, wohin ihn die Königin befohlen hatte, für heute früh, und er solle sehr früh kommen, hatte sie ihm sagen lassen, und nun kam er, und hoffentlich war es nicht zu früh. Wieder machte der Weg eine Windung talwärts, und wenn er nach oben sah, sah er das weiße Band der Straße und sah den Baum, an dem er vorhin vorbeigeritten war, und so drehte sich der Weg hinunter nach Barnz, und die Spirale mußte er nachher wieder heraufreiten, und den Park sah er schon liegen, und er nahm jetzt einen kurzen Trab und ritt bald durch den Park und hielt bald vor dem Schloß und stand bald vor der Königin.
Die Königin saß in einem großen Zimmer, auf einem Sessel in der Ecke, einer Art von Thron, aber es war kein Thron, auf dem Thron saß der König Hamlet, ihr Sohn, der König Hamlet von Dänemark, in der Stadt, in der Hauptstadt, herrschte von seinem Thron herab, sie, die Königin, saß hier auf einem thronähnlichen Sessel, und vor ihr stand der alte Minister Polonius, der Minister des Königs Hamlet, und sie hatte ihn hierher befohlen, besser, sie hatte ihn hierher gebeten, befehlen tat in Dänemark der König Hamlet, befahl seit zwei Jahren, seit zwei langen Herrscherjahren, glücklichen Herrscherjahren, fand das Volk, das beherrscht wurde, und wer sollte in dieser Frage anders entscheiden und besser entscheiden als das Volk eben?
So führten sie das Gespräch zuerst, sie sitzend, die Königin, er stehend, der alte Herr, später beide sitzend vor einem Tisch, und es waren schlechte Mägde auf Barnz, denn der Tisch, vor dem die beiden saßen, war mit flaumigem Staub bedeckt, daß sie beide die Hände nicht auf den Tisch zu legen sich trauten, die Hände im Schoß hatten deshalb. Aber später einmal, eine Stunde später, nach vielen hundert halblauten Worten, und da war oft der Name Ophelia gefallen und oft der Name Claudius, am öftesten wohl der Name König Claudius, da setzte die Königin ihren Zeigefinger an auf der staubigen Tischplatte, hielt eine kurze Zeit die Zeigefingerspitze unbeweglich aufgesetzt, und dann schrieb sie in den Staub die zwei Worte: König Hamlet, und der Name stand nun glänzend und groß und herausfordernd auf der Tischplatte. Das Gespräch hatte aufgehört, die beiden Menschen sahen die zwei Worte an, bis die Königin rasch und quer einen Strich zog durch die zwei Worte: König Hamlet. Da waren nun die beiden Worte durchstrichen, wie von einem Speer waren die beiden Worte durchbohrt, und der alte Herr hatte seine Hände nun in den langen Bart gewickelt, und »wer?« fragte er, »wer soll den Strich ziehen?« Die Königin wischte mit der Faust die beiden Worte weg. Staub saß dick an ihrer Hand, sie blies den Staub mit geblähten Backen weg von ihrer königlichen Hand, daß in der Luft flimmerten die grauseidenen Flocken, und sagte nur: »Morgen habe ich in der Stadt eine Unterredung mit dem Prinzen Hamlet, meinem Enkel, Ihrem Enkel!« Der Großvater des Prinzen Hamlet sah ins Staubgeflimmer, und die Großmutter des Prinzen Hamlet tat es auch, sie sahen sich nicht an, und sahen vor sich die schmale Gestalt des nun siebzehnjährigen Prinzen Hamlet, des Sohnes der Ophelia.
Der Hof war mit weißem Sand bestreut, der blinkte in der heißen Nachmittagssonne, heiß und weiß war der Sand, schattenlos war der Hof, nichts Grünes war auf ihm, kein Baum, kein Strauch, nur ein Streifen harter, schwarzer Mauerschatten. Hoch oben war der blaue Himmel und die gelbe Sonne, hier unten der weiße Sand, der heiße Sand, kein Fußbreit grün, zitternde Hitzeringe flimmerten aufwärts. Das Schloß stieg hoch hinan, vor allen Fenstern Vorhänge, der Turm stieg am höchsten, bis zum Himmelsblau, stumm lag das Schloß, alles schlief wohl im Schloß, niemand war zu sehen. Doch, jemand war zu sehen, an einem Fenster verschob sich ein Vorhang, ein Arm war zu sehen, eine Frau im weißen Kleid, rasch schloß sich der Vorhang wieder. Es wachte also doch jemand im Schloß, vielleicht wachten viele im Schloß, da wars wohl kühl im Schloß, dunkel und dämmernd, hier im Hof kochte die Hitze, briet der Sand, glühte der zerriebene Stein, noch der schwarze Schattenstreif war wie schwarze Glut. Ein Torbogen führte über eine Brücke hierher in den Hof, von einem anderen Hof her kam die Brücke, viele Höfe waren hier, unterm Torbogen die Brücke war aus Holz, aus Bohlen, da donnerte die Bohlenbrücke, wie eine große Trommel wirbelte die Bohlenbrücke, ein Reiter ritt über die Bohlenbrücke, ein Reiter ritt in den heißen Hof auf einem gelben Pferd, der Sand qualmte in kleinen Wolken hinter den Hufen. Der heiße Sand brannte die Pferdefüße, vor dem grellen Glanz des weißen Hofes erschrak das gelbe Pferd, es bäumte, es stieg hoch auf den Hinterbeinen, es schlug mit den Vorderbeinen in der Luft, es stand so wie ein goldenes Denkmal, und der Reiter, gelb gekleidet, saß kühn wie auf einem Denkmal, zog die Zügel an, die breit waren, wie goldene Tücher aussahen, große Sporen blitzten an seinen Schuhen, an seinen schnabeligen Schuhen, er nahm das Bäumen des Gauls nicht ernst, er nahm es wie ein schönes Spiel, und die Frau, die jetzt wieder hinter dem Vorhang herabblickte, zeigte keine Angst, sah wohlgefällig auf das lebendige Reiterdenkmal im heißen Hof, winkte mit einem Tuch. Das Pferd war wieder auf allen Vieren, tänzelte langsam rückwärts, den Kopf gegen die Brust gehalten vom goldenen Tuchzügel, und der junge Reiter schwenkte seinen Hut gegen die Frauengestalt, und der Gaul stand jetzt, klopfte mit dem rechten Vorderhuf den Boden, grub eine kleine Höhle im Sand, eifrig. Aus dem Schatten war ein Mann gesprungen, ein Reitknecht, der Vorhang verbarg wieder die Frau, der Prinz Hamlet stieg ab, und der Knecht führte das Pferd weg in den Schatten, durch eine Tür in der Schattenmauer zum Stall, und der gelbe Prinz stand allein auf dem heißen Hof, sah zum blauen Himmel auf, und wie er lange hinsah, wurde das Blau weißlich zuerst, dann zartrosa, dann rot, dann purpurn feurig und kreisend, der Himmel schwankte, das Schloß schwankte, der Boden unter seinen Füßen schien zu schwanken, er breitete die Arme aus, Gleichgewicht suchend, und schwankend, wie betrunken, ging er in den Schattenstreif lehnte sich gegen die Mauer, verharrte mit geschlossenen Augen eine Weile und ging dann durch eine andere Türe in das Schloß und über eine Treppe und durch eine andere Tür wieder in das Zimmer der Königin.
Die Königin, die weißgekleidete Frau, drehte ihm ihr welkendes Gesicht zu, und während er sich tief verneigte, sah sie auf seine etwas zu kurzen Beine, und als er sich wieder aufrichtete, sah sie sein Gesicht, in dem die Augen seiner Mutter standen, ein wenig vorschwellend, und sah sein blondes Haar, das er vielleicht auch von seiner Mutter hatte, vielleicht aber auch von ihr, wenn ihres auch mehr rötlich war, und dann lächelte sie ihm friedlich zu und wartete auf die Dankrede, die nun kommen mußte, die er nun halten mußte, und die er auch nun hielt. Die Dankrede für das gelbe Pferd, das sie ihm gestern hatte in den Stall stellen lassen und auf dem er nun geritten gekommen war in den heißen Hof und sie hatte ihn das Pferd ja meistern sehen, unten im Hof und in seinen bläulichen, durchsichtigen Augen schimmerte echter Dank, wenn er auch in seinen wohlgesetzten Dankesworten es vermied, zu herzlich zu sein. Dann setzte er sich zu ihr, und sie begann nun ein Gespräch, das wohl schwierig zu führen war, wollte sie es zu dem Ziel bringen, das sie ihm gesetzt hatte. Man sehe ihn nur wenig, die letzte Zeit, leitete sie ein, er habe wohl viel zu tun, warf sie so hin, Prinz sein, sagte sie, und verbarg nur wenig den leisen Spott, bedeute wohl, viel Mühe haben, und er sah sie ein wenig unruhig an, wo wollte sie hinaus?, seine Großmutter, und ihm fiel ein, daß er sie nur in Gedanken so nannte, daß er das Wort Großmutter ihr gegenüber noch nie ausgesprochen hatte, und wenn er in das hübsche Gesicht sah, fast jugendlich wohl zu nennen, trotz der Krähenfüße um die Augen, trotz des ein wenig schon schlaffen Halses, wenn er ihre weißen, fraulichen Schultern sah und ihre glitzernden Augen, wie hätte er da das Wort Großmutter aussprechen mögen? Die Königin, die Mutter seines Vaters, fuhr fort, lässige und wenig spöttische Fragen an ihn zu stellen. Fragen, die sie alle gleich selbst beantwortete, und alle richtig beantwortete, wenn sie die Gründe seines Sichseltenmachens aufzählte, wenn sie auch den einen und entscheidenden Grund nicht nannte, bisher, weil sie ihn vielleicht nicht kannte, so hoffte er, aber als die Netze und Lassos ihrer Fragen immer dichter schwirrten, war klar, daß sie bald so weit sein werde, und er drückte entschlossen seine Knie gegeneinander, und dann preßte er auch die Handflächen gegeneinander. Jetzt, jetzt mußte die Frage fallen, deren Antwort sie wohl auch schon im voraus im Kopf hatte, in diesem hübschen Frauenkopf, der der Kopf der Mutter seines Vaters war, und wohl ein kluger Kopf und fast zu fürchten.
Er hörte die Schlinge pfeifen in der Luft und zog den Kopf in den Nacken und hörte geschlossenen Auges die Frage nach Greta. »Ja«, sagte er, und »Greta« sagte er, und die Königin horchte auf, als sie den Ton hörte, mit dem er »Greta« aussprach, und sie sah neidisch zu ihm hin, sie kannte diesen Ton, wohl, sie kannte ihn, aber hatte ihn lange nicht mehr gehört, und nun hörte sie noch Vieles und Langes in diesem lange nicht mehr gehörten Ton, und weil sie dazwischen immer wieder fragte, erfuhr sie immer Neues und hatte es dann nicht mehr nötig zu fragen, der Prinz, der gelbe Prinz, der Kurzbeinige, war aufgestanden auf seine kurzen Beine und sprach und sprach. Greta war hier im kühlen Zimmer, der Prinz sah sie mit glänzenden Augen, und obwohl er nicht einmal sagte, daß er sie liebe, Greta, das Mädchen, so sprach er doch so lange von ihrem Haar und den Knoten ihres Haares, und der Farbe ihres Haares, und dem Glanz ihres Haares, daß es der Königin weh tat, daß niemand mehr war, der von ihrem Haar so sprach, und das tut einer Frau arg, einer Frau wie dieser Königin. So litt sie Schmerzen während dieser Unterredung, obwohl ihr welkendes, jugendliches Gesicht lächelte, und der Prinz nahm dann ihre Hände, küßte sie zitternd, daß er ihr das alles sagen durfte, und er hatte vergessen, daß sie ihn getrieben hatte mit vielen Listen, das alles zu sagen. Heiß brannte drunten noch der Sommerhof und in der Kühle hier fragte die Königin über den Scheitel hinweg des Prinzen, der über ihren Händen war: »Wie lange wird das dauern, mit der Greta?« Der Prinz riß den Kopf hoch, den geröteten, es war, als trete Farbe in seine durchsichtigen Augen, der Königin Hand hielt er noch, ließ sie dann fallen, setzte zum Reden an, Antwort zu geben auf diese ungeheuerliche Frage, und fand keine Entgegnung in Worten und lachte nur, lachte lang und laut, fast unhöflich, und dachte, sie ist doch schon sehr alt, was versteht sie von Liebe, daß sie meint, dies hier mit Greta könne aufhören je. Er lachte immer noch, aber es war doch nur eine Scherzfrage gewesen der Königin, denn, sah er jetzt, sie lachte mit, den Kopf hintenüber geworfen, und lachte wohl über ihn, daß er ihre Frage ernst genommen hatte, aber rasch wurde ihr Gesicht ganz ernst. Er fühlte, wie seine Wangen, die noch wackelten von dem Gelächter, sich spannten, so rasch tat auch er das Lachen weg von seinem Gesicht, und in sein ernstes Gesicht hinein fragte die Königin: »Du willst sie heiraten, die Greta?« Er sah ihr in die Augen, in die grauen Augen, und er spannte die Brust, sein »Ja!« und »Ja!« recht hinaus zu rufen, aber er konnte es nicht, er wagte es nicht, in den Augen der Königin stand so viel Zorn und Wut, nicht in den Augen nur, das ganze Gesicht war in Erregung geraten. »Weißt du noch, daß du eine Mutter hattest?« fragte sie ihn. »Ach«, schrie sie, »Aufschneider, Sprüchemacher! Unzuverlässiger! Unbeständiger! Du wirst handeln an ihr, wie man an ihr, deiner Mutter, gehandelt hat!« Die Königin war schon wieder ganz ruhig. »Du bist sein Sohn«, sagte sie, »du bist wie er«, sagte sie, nun fing sie zu klagen an. »Ophelia«, sagte sie, »deine Mutter«, sagte sie, »das bleiche Herz, wie mußte es enden!« Sie sah ihn funkelnd an. »Deine Greta«, sagte sie, »laß alle Teiche mit Sand auffüllen im Land, alle Flüsse laß austrocknen, alle Brunnen mit festen Deckeln, mit Steinplatten laß sie verschließen, mit Steinplatten so schwer, daß ihre Arme sie nicht heben und nicht rühren können, einen Waldweiher wird sie finden, einen vergessenen.« Sie fuhr fort mit der Beschreibung: »Alle Bäume kannst du nicht fallen lassen, die Äste haben, dick genug, daß sie einen Menschen tragen können, der an einem Strick hängt, und alle Häuser kannst du nicht niederreißen lassen, hoch genug, daß man sich mit einem Sprung vom Dach erlöst! Warum erzählst du ihr nicht von Ophelia, deiner Mutter, und ihrem Tod, sie zu warnen?« Sie flüsterte leise: »Du hast das treulose Herz deines Vaters, und sie wird sterben an dir und ungerächt sterben, wie Ophelia, deine Mutter, ungerecht starb.« Die Königin war zum Fenster gegangen, sah zum heißen Hof hinab, und der kurzbeinige gelbe Prinz sah ihre Schultern zucken, sie weinte, und auf einmal war es Greta, die Geliebte, die da weinte, und er machte einen raschen Schritt auf das geliebte, bebende Mädchen zu, sie zu trösten, und da war es Ophelia, seine Mutter, die sein Vater in den Tod getrieben hatte, die da weinend und schulterzuckend stand, aber die Weinende drehte sich jetzt um, und da war es doch die Königin, und nun hatte sie allen Hohn auf der Zunge, als sie fragte: »Hast du schon einen Bastard mit ihr gezeugt, wie es dein Vater tat mit Ophelia, deiner Mutter?« Der Prinz hatte beide Hände geballt. »Als ein Bastard läufst du rum«, sagte die Königin, »wirst du die Greta heiraten, bevor es so weit ist?« »Mein Vater, der König Hamlet«, sagte der Prinz, und er war ganz blaß geworden, »hat seinen Vater, hat den Tod seines Vaters gerächt, hat den Tod meines Großvaters gerächt«, und mit seinen durchsichtigen Augen sah er auf die Königin, die seinen Blick aushielt, auf die Königin, die spürte, wie eine rote Welle über ihr Gesicht lief und die sich nicht rührte, die ein gleichgültiges Gesicht behielt, als liefe der rote Schein der untergehenden Sonne über ihr Gesicht oder einer rotverhängten Ampel und als sei es nicht ihr Blut, das stürmisch ihr Gesicht färbte. »Ich werde handeln wie mein Vater, sagst du«, wiederholte der Prinz, »ich bin sein Blut, sagst du, sein Bastard, sagst du, trotzdem sein Blut, das weißt du, warum soll meine Mutter ungerächt bleiben, meinst du, wenn ich schon so handeln werde, behauptest du, wie mein Vater? Und meine Mutter«, wiederholte er und sagte es ein paarmal, »meine Mutter« und nochmals »meine Mutter« und sah eine Gestalt im Wasser schwimmen, eine Frauengestalt, und sah ein nasses Kleid sich um eine junge Brust legen, daß es schamlos und unzüchtig aussah, und es war Greta, die da im Wasser trieb, und jetzt zerrte ein großer Fisch an dem Kleid, oder der Rock hatte sich an einer Wasserpflanze verfangen, denn langsam drehte sich die Gestalt, sank, über einen weißen Nacken liefen kleine Wellen, »Greta! Greta!« sagte er leise, da versank die Gestalt ganz, das Wasser strudelte, wo sie eben noch getrieben hatte, und nur wie ein weißer Schein strahlte es sanft aus der dunklen Flut, tief von unten herauf »Ich gehe«, sagte er zur Königin, »ich bitte, mich zu entlassen!« »Du gehst zu Greta?« fragte die Königin, und er sah in ihr farbloses Gesicht und mochte nicht antworten und küßte ihr die Hand und sah, während er seine Lippen auf ihrem Fleisch hatte, kleine rötliche Härchen sich krümmen, wie viele, viele winzige Würmer sah das aus, da hob er rasch die Lippen weg und ging.
Und dann standen sie sich gegenüber, unter dem Türrahmen beide, der König Hamlet und der Prinz Hamlet, und hinter dem König standen zwei Diener, die einen großen, bequemen Stuhl trugen, und hinter den beiden Dienern war wieder eine offene Tür und eine dritte und vierte dahinter, und jede sah kleiner aus als die vor ihr, und unter der vordersten also stand dick der König, und der Prinz dachte, der dicke König würde nun hinter seinem, des Prinzen, Rücken die Königin sehen, und das mochte er nicht, so schloß er rasch die Tür und verneigte sich tief »Ich bin auf dem Weg zum Mittagessen«, sagte der König, »ich esse heute nur Salat, es ist zu heiß, ich habe im grünen Zimmer decken lassen, es ist das kühlste, willst du mit mir speisen?« Als der König zu reden begonnen hatte, waren rasch die Diener mit dem Stuhl dicht hinter ihn getreten, und er setzte sich, als er in der Mitte des Satzes war, und sprach sitzend weiter seinen Satz. Und saß so unter der Tür, eingerahmt, das sah königlich aus, als säße er auf dem Thron. Wie fett sein Kinn ist, dachte der Prinz, und als habe er es gehört, faßte der König mit der kleinen Hand sich ans Kinn, ans Doppelkinn, hob es, schaute sorgenvoll und sagte: »Wenn ich heut nur Salat esse, das ist gut, da kann ich kein Fett ansetzen, was meinst du?« Des Königs leicht nach oben gedrehter Bart zitterte, während er sprach, der Bart war hellblond, er sah wie ein Schmetterling aus, schaukelte wie ein Falter, dann ist der Mund die rote Blume, dachte der Prinz, und die weißen, glattrasierten Flächen des Doppelkinns sind frischgemähte Bergwiesen, und nur die eine rote Blume ist stehen geblieben, und auf dieser sitzt der gelbliche Schmetterling. »Ach, ich habe Hunger«, sagte der König, »du bist entlassen«, und blieb sitzen, während der Prinz sich verneigte, und schüttelte nur die Hand, grüßend.
Es fiel ihm schwer aufzustehen aus diesem bequemen Sessel, den er liebte und den er sich überallhin im Schloß nachtragen ließ, aber der Gedanke, daß ja dort im grünen Zimmer gedeckt war, trieb ihn doch hoch, ächzend stand er auf, streichelte die Lehne des Sessels, die mit Leder gepolstert war, und strebte dann eilig der Türe zu, die dort schon winkte, sich ihm entgegen neigte, schien es ihm, die eigentlich jetzt müßte von selbst aufspringen, aber sie sprang nicht auf er mußte sie schon selbst aufmachen, und er drückte selber die Klinke nieder, stieß die Tür auf und sah vor sich die weißgedeckte Tafel, bleich schimmernd in dem verdunkelten, kleinen, grünen Saal. Den Sessel ließ er vor die Tafel stellen und schickte dann die Diener hinaus und war nun allein und sah zärtlich über die Salatschüsseln hin, die dämmernd rot und nächtlich blau und wassergrün funkelten. Er ging zum Fenster dann und blinzelte in den heißen Hof hinab, schüttelte den Kopf seufzte »diese Hitze« und ließ den Vorhang wieder fallen und erfreute sich der kühlen Dämmerung und setzte sich in seinen breiten Sessel und goß sich aus einer Karaffe roten Wein in ein Glas, betrachtete das Glas, hob es, trank einen kleinen Schluck, und der herbe Geschmack tat ihm wohl. Da nahm er noch einen Schluck und noch einen und trank das Glas leer und setzte es wieder auf den Tisch, goß es wieder voll aus der Karaffe und sah dann aufschnaubend die Tafel entlang. Da standen runde und längliche Schüsseln, große, flache Platten mit Salaten beladen, dicht vor seiner Hand schimmerte roter Tomatensalat, die Schüssel zog er noch näher heran, sah die flachen, blutigen Scheiben und die gelblichen Körner im Fruchtherz und die weißlichen Zwiebelscheibchen, die dazwischen geschnitten waren, und das Öl schwamm in glänzenden Ringen auf dem Essigsaft, und er spürte eine plötzliche Trockenheit im Gaumen und begann zu essen von den Tomaten. Er füllte sich den Mund mit den nassen und kalten Scheiben, ohne zu kauen füllte er sich den Mund voll mit dem Kühlen, schluckte den Saft, und dann erst ließ er die Zähne in die Frucht greifen, hörte die Körner krachen, die er zermalmte und aß schneller und aß die Schüssel leer dann. Er lehnte sich im Sessel zurück und trank wieder. Dann zog er sich eine Schüssel mit Gurkensalat heran, hellgrün blitzend, feuchtstrahlend, aß, trank wieder vom Wein, aber der schmeckte jetzt nicht gut, zu den Gurken paßte er nicht. Dort standen grüne Bohnen, die holte er sich, und da hatte der Koch Hammelfleisch hineingeschnitten, er wollte doch heut kein Fleisch essen, aber es schmeckte doch gut, und es war doch etwas Festeres, etwas Ausgiebigeres, es tat seinem Magen wohl, merkte er, das Fleisch, er fischte sogar die Fleischstückchen heraus, aß die Schüssel nicht leer, nur alles Fleisch aß er heraus, und jetzt schmeckte auch der rote Wein wieder sehr gut darauf. Ja, der Wein schmeckte sehr gut darauf, aber er hatte nun ein schlechtes Gewissen, Fleisch hätte er nicht essen sollen, es war zwar nur Hammelfleisch, tröstete er sich, war gar nicht fett, er seufzte, fettes aß er am liebsten, aber doch wie zur Buße zog er sich eine Schüssel mit gemischtem Salat heran, da war kein Fleisch drin, er durchwühlte die Schüssel, nein, war kein Fleisch drin, und aß nun von dem grünen Kopfsalat, der aus der Schüssel herausragte, betrachtete die schön gezackten Ränder und wie das Buttriggelbe des Herzens ins Hellgrüne überlief und als hinter ihm die Tür knarrte, sah er sich nicht gleich um, was wollte Ambrosius von ihm, sein Kammerdiener, er wußte doch, er wollte nicht gestört sein, aber Ambrosius scherte sich um so etwas nicht, wenn er irgendwas für dringlich hielt, und was hielt er nicht alles für dringlich, der Kerl?« »Kerl«, sagte er über die Schulter weg und hatte gerade Blumenkohlsalat erwischt, »Kerl, ich will meinen Salat in Ruhe essen, man gibt mir kein Fleisch«, log er, »gar kein Fleisch will man mir geben, du natürlich ißt soviel Fleisch wie du willst!« – Er wartete auf keine Antwort, es kam auch keine Antwort, er zerdrückte mit der Zunge die zarten Kohlköpfchen und hörte, wie Ambrosius die Tür schloß, aber nicht vorsichtig, wie er zu tun gewohnt war. Es war ja anstrengend, es mußte aber doch wohl sein, da mußte wohl einmal hingeschaut werden, es genügte ja, den Kopf zu wenden, ganz brauchte man sich nicht umzudrehen, und er wandte den Kopf und sah die Hofdame Afra stehen, ganz in Weiß gekleidet, und sah ihr braunes Gesicht und die aufgeworfenen Lippen, und jetzt mußte er doch wohl aufstehen, und er tats: »Ich esse Salat«, sagte er, »der ist kühl bei der Hitze, und ich habe mir auch das Fleisch verboten.« Und als er das sagte, er habe sich das Fleisch verboten, da öffnete sie mit einer Grimasse den Mund, zeigte ihre starken Zähne und kniff die Augen ein wenig ein, und so sah sie ihn höhnisch an und schwieg. »Ja«, fuhr er fort, »eigentlich dürfte mich hier niemand stören. Sie«, sagte er höflich, »stören mich ja nicht.« Sie grinste ihn an, ihre Augen waren kaum mehr zu sehen, sie zog den Mund auseinander, daß das Fleisch an den Backenknochen stieg und wulstig die Augen überschwemmte, so grinste sie, lautlos, und stand weiß an der Tür. Der dicke König Hamlet warf einen raschen Blick auf seinen bequemen Stuhl, und die vielen noch gefüllten Schüsseln sah er und roch den milden Essig, und dann sagte er: »Darf ich Ihnen hier nicht von diesem Salat anbieten?« und er zog irgendeine Schüssel näher, und es war Rettichsalat, »kann ich Ihnen von diesem Salat geben?« sagte er, »Fleisch«, sagte er, »Fleisch habe ich keines zu bieten«, und sah scheu zu ihr hinüber, zu der grinsenden, und dachte, wenn sie nur laut lachen wollte, daß ich irgendetwas hörte, aber sie grinste lautlos, ihr verzerrtes Gesicht stand braun über dem weißen Kleid. Und jetzt hob sie die Hand mit den zu kurzen, fetten Fingern, als griffe sie nach etwas, vielleicht will sie doch den Rettichsalat, dachte er, Gott sei Dank, sie will den Rettichsalat, und er nahm die Schüssel, als wollte er sie ihr reichen, ging ihr mit der Schüssel in der Hand einen Schritt entgegen. »Sie können ihn doch nicht im Stehen essen«, sagte er, »setzen Sie sich doch«, und wandte sich um, stellte die Schüssel wieder auf den Tisch, rückte einen Stuhl zurecht, hörte wieder die Tür knarren zuerst und dann ins Schloß fallen, nicht so heftig wie das erstemal, aber immer noch laut genug.
Er sah sich gar nicht mehr um, setzte sich in seinen bequemen Stuhl und begann von dem Rettichsalat zu essen, bis die Schüssel leer war, bis sein Mund brannte von dem weißen Feuer. Es war ja genügend roter Wein da, der kühlen konnte, hernach, und auch sonst wohl tat, in jeder Hinsicht.
Der Fichtenast hing tief herab, schwer und rund vom Schnee gebauscht. Man sah, wenn man diesen Weg daherkam, nur diesen einen mächtigen Ast, der sich neben einem niederen Steinturm vorbog, und er sah aus wie ein riesiger Pferdeschwanz, wie der Schwanz eines Fabeltiers, das man sich vorstellen konnte, wie es auf riesigen Hinterbeinen stand, hinter dem Steinturm, die Vorderhufe in der Luft, den mächtigen Hals gebogen und Dampf aus den Nüstern stoßend, bereit, in den hellgrauen Himmel aufzufahren, über Wälder hinweg und Felsen, zu den Tieren empor, zu Drachen und Wolken. Aber es war kein Pferdeschwanz, es war ein Fichtenast nur, denn eine Krähe ließ sich jetzt drauf nieder, das schwarze Tier, und da schwankte der Ast leise, und silberner Schnee bröselte ab von den Nadeln, dann trat wieder Ruhe ein, ruhig Ast und Vogel und schweigsam der steinerne Turm, ein verlassenes Postenhaus, ein ehemaliger Wachtturm vielleicht oder so etwas. Und der Weg lief weiter und hinauf und um das Steinhaus herum, da stand die große Fichte, und kein Riesenschimmel war zu sehen, und das einzige Tier nur die Krähe, die den Weg bewachte. Der Himmel war abendlich grau und die Dämmerung lauerte schon, den Tag zu überfallen, die Sonne war nicht zu sehen, das matte Licht kam vom Schnee, so schiens, der Schnee wehrte sich gegen das Dunkel, hatte Licht geschluckt den ganzen Tag.
Ein Klingeln scholl, ein Schlitten kam, ein reich verzierter Prunkschlitten, und die Krähe schrie ärgerlich und flog auf und flog auf den Hang hinaus, einen Steinwurf weit, und äugte zu dem Gefährt hin, das um das Steinhaus bog, den Steinturm, und den Weg weiter nahm in den grauweißen Abend und hinter einem Hügel bald verschwand. Da schwang sich der schwarze Vogel wieder auf, strich über den Boden hin, hob sich in langsamer Kurve und landete auf dem Ast wieder, setzte die Krallen in die Spuren, die er gelassen hatte. Die Nacht fiel rasch herein, kein Stern am Himmel, und es schwieg ringsum. Das Schweigen wurde groß und mächtig, lag zwischen Himmel und Erde tonlos summend.
Nur wer Flügel hätte wie die Krähe und sich vom Ast weg auf das Dach des Steinturms schwingen könnte, aber die Krähe tat das nicht, blieb sitzen auf ihrem Ast, der hätte fern ein rotes Licht glimmen sehen, das kein Stern sein konnte, es saß zu tief, ein Licht, das unverwandt wie ein funkelndes Katzenauge lauerte. Wer dem Weg nach ging, weil er nicht fliegen konnte, weil er keine Krähe war, der sah vom Steinhaus aus das Licht nicht, der mußte erst noch durch ein kleines Waldstück queren und die niedere Anhöhe erreichen, um das rote Licht zu erblicken, und er mußte noch ein gutes Stück weitergehen, bis er die Umrisse des Gebäudes schattenhaft erkannte, von dem das rote Licht ausstrahlte. Wer so weit war, der sah auch noch andere kleine, gelbe Lichtpunkte, beleuchtete Fenster zur ebenen Erde, aber mächtig aus einem großen Flügelfenster des ersten Stockes kam das dunkelrote Licht, unablässig, ohne zu zittern, wie ein Zeichen. Und wer wie ein Dieb über die Gartenmauer gestiegen wäre und sich an die Hausmauer gedrückt hätte, durch die Fenster zu spähen, der hätte in eine Küche geblickt, an deren Wand Kupferkessel blinkten und Töpfe standen auf dem Herd und Dienstboten saßen in einer anderen Stube. Wer aber den Quell des roten Lichtes erreichen wollte, angezogen wie ein Falter von dem Rubinglanz, wer gelenkig war und vorsichtig und mutig aus Neugierde, der mußte an den Holzlatten emporklettern, die wilden Wein trugen und sich nicht fürchten vor dem Rascheln der Ranken, dann kam er an das breitgeflügelte Fenster und sah, daß in dem großen Zimmer große rote Glasampeln brannten, die es zu einer feurigwarmen Höhle machten. Auf einem Ruhebett lag eine junge Frau, neben ihr stand ein Tischchen mit Schalen, die Gebäck trugen und Süßigkeiten, die Frau hatte Seidenhosen an den Beinen, um die Knöchel zugebunden, nach türkischer oder zigeunerischer Art, und um den Oberkörper ein Jäckchen, und das Jäckchen saß auf der blanken Haut, daß die Brust zu sehen war, daß der neugierige Kletterer am Fenster sich schämen mußte, und als jetzt die Frau das Gesicht drehte und zu ihm hersah, zog sie das Jäckchen über der Brust zusammen mit einem schnellen Griff und richtete sich auf und bewegte die Lippen und sagte etwas, was der erschrockene Kletterer nicht hätte hören können, sagte »Prinz, mir ist, als sähe da jemand durchs Fenster!« Und wenn da jemand am Fenster gewesen wäre, der wäre nun rasch die Holzlatten hinabgeglitten, hätte sich das Gesicht zerkratzt an den trockenen Weinreben, wäre keuchend unten stehen geblieben an der Mauer, an die Mauer eng gepreßt stehen geblieben, weil oben das Fenster klirrte, eine männliche Stimme sagte: »Niemand ist da. Der Wind hat den Vorhang bewegt.« Und der Keuchende unten, er hätte nun wieder über die Mauer setzen und den Weg zurückgehen müssen, und gelaufen wäre er sogar, weil man ihm vielleicht doch Verfolger nachschickte, und wie wäre er entsetzt zusammengefahren, wenn beim Steinturm, als er den erreichte, etwas Schwarzes sich schreiend in die Luft warf, und es wäre doch nur die Krähe auf ihrem Fichtenast gewesen, die aufgeschreckt davontaumelte.
Aber das war ja alles nur Traumgebilde der Schauspielerin, und als der Prinz das Fenster wieder schloß, den Vorhang dicht zuzog, sagte sie seufzend: »Wer sollte sich auch die Mühe nehmen, auf eine Leiter zu steigen und durchs Fenster zu sehen? Es lohnt sich ja nicht! Ach, es lohnt sich ja alles so wenig!« Sie verbarg ein Gähnen nicht, und dann nahm sie einen Schluck Wein und sagte: »Zu süß!« Der Prinz holte aus einem Wandschrank eine andere Sorte: »Versuch diesen!« Träg sagte sie: »Später vielleicht!« In dem vielen roten Licht, das den Raum füllte, waren die Gesichter der beiden nicht genau zu erkennen, es war, dachte der Prinz, zum Beispiel nicht zu sehen, ob ihre Lippen rot waren oder blaß, weil alles gleichmäßig rötlich überglänzt war, Gesicht und Hand und Brust. »Du bists«, sagte er plötzlich ungeduldig aus seinen Gedanken heraus, »die diese rote Beleuchtung haben will!« »Ach, und du hast was dagegen?« fragte sie zurück und hob ihren Kopf dicht unter die Ampel, die über dem Bettende funkelte und sah ihn mit schwarzen Augen an und gab der Ampel einen leichten Stoß, daß nun Ströme roten Lichts wechselnd über ihr Gesicht flössen, daß er nicht mehr hinsehen konnte, weil es ihn taumelig machte. Er drehte sich um auf seinen leichten Lederschuhen und ging zum warmen Ofen, legte die Hände daran und hörte sie sagen: »Wenn du was hast gegen das rote Licht, so laß andere Ampeln bringen. Mir ist es gleich, wie du das Zimmer beleuchtet haben willst.« Er schwieg, sie schwieg, so war es ganz ruhig im Raum, nur nach einer Weile klirrte es leis, sie hatte den neuen Wein gekostet, das Glas abgesetzt. »Schmeckt er dir besser als der andere?« fragte er. Sie lachte, sagte: »Ja. Vorläufig.« Und weil er am Ofen stehen blieb, bat sie: »Setz dich zu mir.« Er ging zu ihr, setzte sich zu ihr, sie lachte, deutete auf ihren Mund, er legte seinen Mund auf ihren Mund, so, daß die Lippen sich nur leicht berührten, dann drehte sie den Kopf, er spürte ihre Wange, sie war fest und fleischig, er kannte sie. »Willst du dich legen«, fragte sie und drehte sich einmal um sich selber, daß sie auf den Rand des Ruhebetts zu liegen kam und er sich neben ihr ausstrecken konnte. Er lag auf dem Rücken, sah blinzelnd die roten Ampeln an der Decke schweben, dann schloß er die Augen bis auf einen schmalen Spalt, lag nun wie auf dem Boden einer riesigen Wanne, Wasser spiegelnd über sich, das die rote Abendsonne durchglänzte. »Schläfst du mir ein?«, fragte sie. »An was denkst du? An die Gräfin Greta?« Sie sprach langsam, als ob sie Verse spräche, zu langsam, es ärgerte ihn oft zu warten, bis das letzte Wort des Satzes kam. Greta war das Gegenteil gewesen, sie hatte sehr rasch gesprochen, aber das hatte ihn nie geärgert, die ersten beiden Jahre wenigstens nicht, fiel ihm ein, aber zuletzt hatte es ihn gestört. Aber auch das war noch eine gute Zeit gewesen, als ihn was störte an Greta, später störte ihn gar nichts mehr an Greta und freute ihn gar nichts mehr an Greta, sie konnte langsam sprechen, sie konnte rasch sprechen, sie konnte ein blaues Kleid tragen, sie konnte ein grünes tragen, sie konnte lachen, sie konnte weinen, er sah es nicht, er hörte es nicht. Wie konnte er es auch sehen, wie konnte er es hören, wenn er sie wochenlang nicht traf, wenn er es viele Wochen vermied, mit ihr zusammen zu sein. »Hast du die Gräfin Greta lieber gehabt als mich?« Langsam fragte es die Schauspielerin und sah zur Decke auf und nahm seine Hand und legte sie sich aufs Gesicht. Und als er schwieg, wiederholte sie die Frage, und seine Hand, die auf ihrem Gesicht lag, hob und senkte sich mit den sprechenden Lippen. Und als er wieder nicht antwortete, lachte sie, jetzt zuckte seine Hand heftig auf ihrem lachenden Gesicht, und sagte: »Du darfst mir ruhig sagen, daß du sie lieber gehabt hast!« Der Prinz antwortete nicht und dachte daran, daß es damals November gewesen war, und er wußte, wie im November der Wald ausschaut, und ein bestimmtes Waldstück sah er immer vor sich, das er von der Jagd her gut kannte, der Weg stieg etwas hinan dort, ein schmaler, lehmiger Waldweg, und armdicke Baumwurzeln liefen quer über den Weg, einzelne Wurzeln liefen mit in der Richtung des Wegs, und wenn es tagelang geregnet hatte, und es regnete im November immer tagelang, so stand zäher, gelber Schlamm in den Schüsseln, die von den Wurzeln gebildet wurden, und wer in diese Schüsseln stieg, und wer den Weg ging, mußte in die Schüsseln steigen, dem stieg der Schlamm bis über die Knöchel. Und links oder rechts von diesem Weg zu gehen, das war nicht besser, da stand dorniges, wildes Gesträuch, kniehoch, das peitschte den Fußgänger wieder zum Weg hin, wer Jagdstiefel trug, der hatte es noch gut, aber wer unvernünftig genug war, mit leichten Schuhen diesen Weg zu gehen, und er wußte jemand, der unvernünftig genug gewesen war, der hätte wohl genau so gut barfüßig gehen können. Tannen und Fichten, auch Lärchen standen grau dämmernd um den Weg, und Regentropfen hingen in Flechten und Moosen, die wie Ziegenbärte von den Ästen wehten. Im Sommer wars dunkel hier, und im November, im Regennovember, wo die Nebel dampfend um die Brombeersträucher graugebauschte Kapuzen schlugen, wirds wohl auch dunkel genug und kellerig blauschwarz gewesen sein. Ein Himmel ist ja auch wohl über diesem Novemberwald, wenn man ihn auch nicht sieht, man weiß es doch, man hat ja ein Gedächtnis, auf das man vertrauen kann, wenn auch dieses Vertrauen manchmal wankend werden kann, und er wußte jemand, bei dem dieses Vertrauen wohl wankend geworden war. Jäger und Holzknechte, Köhler und Pilzsammler, Kuhhirten und Gebirgsbauern, Männer mit starken Knöcheln, die gingen diesen Weg, und wenns eine Frau war, dann eine Reisigsammlerin, und die alle liefen ihn ja nicht ziellos, die wußten, wo sie hinwollten, und eine geheizte Stube, oder wärs auch nur eine warme Höhle, in deren Ecke ein Reisigfeuer prasselnd und rauchend qualmte, wartete auf sie. Er wußte aber da jemand, der kein Ziel mehr hatte, als er diesen Weg ging, und nicht nur diesen Weg, noch viele andere Wege durch den Novemberwald, und alle Wege sind einander gleich, ungefähr gleich im Novemberwald. Wer damals durch den Wald ging, weiß wie der Nebel, der in den Mulden träumend lag, im weißen Kleid und mit weißem Gesicht, in dünnen Schuhen und dünnen Strümpfen, der den ganzen Nachmittag durch den Wald ging, bis der Abend kam und mit dem Abend der Regen, der brauchte, als es regnete, nicht mehr zu fürchten, daß die Tannen und die Fichten und die Lärchen seine Tränen sahen, der konnte seine Tränen ungehemmt fließen lassen, auch ein Mensch, ein Mann oder eine Frau, die ihm begegnet wären, hätten nicht unterscheiden können, ob es Tränen waren oder Regentropfen, die ihm übers Gesicht liefen, viel weniger die Tannen und die Fichten und die Lärchen. Und der wurzelige Weg wurde zu einem Bach, und die dünnen Schuhe und Strümpfe achteten es nicht, und die Füße achteten es nicht, die bald schuhsohlenlos im Wasser wateten. Dann wurde aus dem Bach wieder ein Pfad, der war nicht trocken, aber es war wenigstens ein Pfad, ein lehmiger Pfad, ein nasser Pfad, aber es war doch kein Bach, und der Pfad stieg immer nach oben, immer nach oben, und warum den schon längst nackten und bloßen Füßen allein die Mühe lassen, warum nicht auf allen Vieren gehen wie die Tiere des Waldes? Leichter geht es so bergan, und so schlüpft es sich auch leichter, wenn man auf Händen und Füßen geht, unter diesen Busch unter der alten Tanne. Und jetzt kann man vielleicht auch schlafen, was man schon so lang nicht mehr konnte, der Regen hat ja auch aufgehört, und der Lehm ist weich und das Fieber wärmt gut und der Nebel weht und die Tannen und Fichten und Lärchen schnarchen, wenn ein Wind über sie hingeht. Aber die Jäger holen den Fuchs aus dem Fuchsbau und den Bären aus seiner Höhle, so werden auch drei Brüder ein fieberndes Mädchen finden, unter einem Busch, und es heimtragen durch den Novemberwald in ein großes geheiztes Zimmer und es nach drei Tagen wieder hinaustragen zu einem kleinen ungeheizten Grab.
Und dem Prinzen fiel jetzt ein, daß er eine Mutter gehabt hatte, die Ophelia hieß, und er wußte auch, wie sie starb, und Greta hatte wohl keinen Teich gefunden, der ihr tief genug schien, und vielleicht war sie im Walde unter den Tannen und Fichten und Lärchen nur herumgeirrt, einen Waldweiher auszuspähen, der ihr gepaßt hätte, und da war ein Sohn, der über sich lächelte, weil ihn einmal etwas an seinem Vater empört hatte, und nun lag er hier auf einem Bett und sah zu den roten Ampeln empor, die wie große Erdbeeren glühten, und nichts in ihm empörte sich, nichts gegen seinen Vater, nichts gegen sich selber, und kein Mitleid empfand er, nicht mit Ophelia, seiner Mutter, und nicht mit Greta, dem Mädchen, das auf Händen und Füßen den Waldweg emporkroch, fiebergeschüttelt. Und nicht einmal die Frage der Schauspielerin wagte er zu beantworten, mit »ja« zu beantworten, denn wie konnte er sagen, daß er Greta lieber gehabt habe, als das halbentblößte Weib da neben ihm, da das, was er für Liebe gehalten hatte, fort war, ganz und gar fort war, nur mehr eine Erinnerung war, eine erstaunte Erinnerung, und nicht einmal Mitleid übrig geblieben war, und das wäre doch schon wenig oder nichts und gar nichts. Und seine Hand lag immer noch auf dem Gesicht der Schauspielerin, und jetzt blies die Frau gegen seine Handfläche, so, wie wenn man ein Blatt wegblasen will, und er zog die Hand zurück, und sie stand auf und ging träg im Zimmer auf und ab, und im Auf- und Abgehen stieß sie mit der Hand gegen jede der roten Ampeln, an denen sie vorbeikam, und es waren sieben Ampeln, und die schwankten nun alle sieben hin und her, daß rote Wellenringe nach der Zimmerdecke stiegen. Immer neue rote zitternde Kreise stiegen an den Wänden hoch, und die Schauspielerin stand in der Mitte des Zimmers jetzt, und es war ihr warm, sie warf das Jäckchen ab, daß sie mit nacktem Oberkörper nun dastand, und es war, fand der Prinz, als sei eine Nixe oder irgendein Fabelwesen in einen Brunnen gesprungen, in einen Brunnen voll roten Wassers, und die roten Wasserringe stiegen und stiegen, aber wie war er in die Brunnentiefe geraten? Er trat rasch zum Fenster und sah auf den Schnee hinaus, der fahlweiß über der Erde lag, und der Himmel über dieser Erde war fahl weiß, und wie er lange hinaus sah, fror ihn, und hinter ihm wars doch rot und warm und behaglich und wie voll Stalldunst, und als er sich umdrehte, schaukelten die Ampeln nicht mehr, und die Schauspielerin lächelte träge und schläfrig im roten Licht.
König Hamlet war ganz in weiß gekleidet, weiße Schuhe, weiße Strümpfe, weiße Handschuhe, das Gesicht rötlich, aber ein weißblondes, aufgedrehtes Bärtchen im Gesicht, und weil er es nicht vertrug und es nicht gern hatte, von so vielen Augen gleichzeitig betrachtet zu werden, war aus weißem seidnen Stoff auf Stäbe gespannt, eine weiße seidene Wand in der Ecke so schräg gestellt, daß er halb verborgen saß in seinem bequemen Stuhl, der ihm überallhin nachgetragen werden mußte, auch hierher in den Empfangssaal, auch zu diesem Hoffest, dem er nicht ausweichen konnte. In die weiße, seidene Wand waren kleine, viereckige Fenster geschnitten, durch die er den ganzen Saal überblicken konnte. Er war sehr dick geworden, der König Hamlet, in den fünf Jahren seiner Herrschaft, sein Atem ging schwer, wie ein dicker, geblähter, weißer Riesenfrosch saß er in seinem Stuhl, und mit seinen von Fett überrundeten Augen sah er von seinem erhöhten Platz aus in den Saal, überblickte den Streifen Saal, der, von der weißen seidenen Wand nicht verdeckt, vor seinen Augen lag. Sie standen wieder zusammen, die drei, düster, schwarz gekleidet, alle drei gleich groß, die drei Grafen, die drei Brüder. Und jetzt trat Polonius zu ihnen, der dürre Alte mit dem Tatarenbart, und wenn der dicke König Hamlet wie ein weißer Riesenfrosch auf seinem Stuhl saß, so waren das drei, waren das vier düster summende Fliegen, die er unverwandt im Auge behielt, die schwärzliche Jagdbeute. Sie waren ihm gram, die drei und der Alte, denn die drei hatten eine tote Schwester, und der Alte hatte eine tote Tochter, das vergaßen sie nicht, auch wenn er der König Hamlet war, und sein Sohn war der Kronprinz. Sie steckten nicht die Köpfe zusammen, die vier, das hatten sie nicht nötig, sie hatten nicht nötig, es hier zu tun bei dem Hoffest, es gab andere Zeit und anderen Ort für das Köpfe zusammenstecken, und da war dann auch noch ein fünfter Kopf dabei. Der dicke König Hamlet schloß die Augen und sah jetzt deutlicher die fünf Köpfe, die drei der drei Brüder mit den drei schwarzen Spitzbärten und den weißen Kopf des Alten mit dem Tatarenbart, aber der fünfte Kopf hatte keinen Bart, keinen Spitzbart und keinen Tatarenbart, denn seit wann trugen Frauen Bärte und gar die eitle Königinmutter? Ja, die fünf dachte er, fünf Feinde, und schaute durch ein anderes Fenster seines weißen seidenen Wandschirms, dort standen vier zusammen, die waren ihm wohlgewogen und er ihnen, und dem Hofmeister gab er ein Zeichen, die vier jetzt vor ihn zu führen, seine vier Obersten, die vier Sieger der Schlachten von Sönheim und Obs, die ihn den Sieger nannten, und jetzt standen sie vor ihm, die vier, und er freute sich, daß ihre Verbeugungen nicht so tief waren wie die der anderen, aber tief und ergeben waren die Verbeugungen. »Meine Herren«, sagte er und hob sich ein weniges von seinem breiten Stuhl, »was sagen Sie zu dem hölzernen Pferd, das ich hier reite? Und was meinen Sie, ich bin seit fünf Jahren auf keinem richtigen Pferd mehr gesessen, seit unserem Einzug in die Hauptstadt nicht mehr! Lachen Sie doch über mich, meine Herren!« Sie lachten aber nicht, und der Graf Oldensleven mit seiner heiseren Stimme sagte: »Sie haben zu Pferd die große Schlacht bei Sönheim gewonnen, Majestät, und die kleine Schlacht bei Obs, und jetzt haben Sie Besseres zu tun, Majestät, als zu reiten, und was Sie in diesen fünf Jahren zu tun hatten, das taten Sie von diesem Stuhl aus, und das läßt sich wohl am besten von diesem Stuhl aus tun, und wenn Sie wieder eine Schlacht schlagen müssen, Majestät, so bedenken Sie, daß der große Karthager Hannibal auf einem Elefanten sich tragen ließ, und wenn wir keinen Elefanten haben, so haben wir einen Wagen, der diesen Stuhl tragen kann, und dann gehts wie bei Sönheim und Obs.« So sagte der Graf Oldensleven mit seiner heiseren Stimme und verneigte sich, und die drei anderen verneigten sich mit, es verneigten sich Bahubsen und Greon und der schöne Ubsmann und waren wieder gnädig entlassen, und der dicke König saß wieder allein, weiß gekleidet, hinter seinem weißen seidenen Wandschirm und dachte: Feinde habe ich, ich weiß nicht recht wie, und Freunde habe ich, ich weiß nicht recht wie, ich habe weniges getan und vieles gewähren lassen, und so ist manches so gekommen und manches anders, und ich habe beides zu tragen, Freundschaft und Feindschaft, und als er Feindschaft dachte, sah er schnell durch ein Fenster seines Schirms, und die vier standen immer noch zusammen, die Brüder Gretas und der tatarenbärtige Polonius. Er dachte nachlässig und nebenbei: Was übertragen die ihren Zorn gegen meinen Sohn, den Kronprinzen Hamlet, auf mich, den König Hamlet? Er lächelte. Da hat nun mein Sohn, der Kronprinz Hamlet, mit der Gräfin Greta das gleiche erlitten, was ich mit seiner Mutter, der honiggelben Ophelia, des Polonius Tochter, erlitten habe, früher einmal. Erlitten, dachte er, sage ich, und die andern nennen es getan, und nun wollen sie uns etwas tun, und das heißt man Rache. Getan und erlitten, grübelte er, einer müßte klüger sein als ich, das auseinander zu halten, und klüger als die drei Grafen und der alte Polonius, und wohl auch noch klüger als die kluge Königin. Und die drei Grafen und der alte Polonius, vielleicht erleiden die noch heute etwas, und ich tue noch etwas, und jetzt wars, als blähte sich der weiße Riesenfrosch König Hamlet noch mächtiger auf, das weiße seidene Gewand spannte sich über Brust und Bauch, seine kleinen Hände und Füße, immer schon zu klein für den mächtigen Mann, sahen nun ganz winzig aus, waren wie die kleinen Flossenhände und Flossenfüße eines Frosches, wie sprungbereit saß der Frosch da, und weil er zu den Vieren hinsah, den drei schwarzen Grafen und dem alten Polonius, mager die drei, Polonius dürr, vier schwarze Fliegen, wars, als quöllen seine Augen etwas vor, drohend.
Die Königinmutter mußte eingetreten sein, er brauchte nicht hinzusehen, um das zu merken, die plötzliche Stille sagte es ihm, und das Scharren der Füße bei den Verneigungen. Wo wird sie jetzt stehen, dachte er, und wußte es, er sah nicht durch sein kleines Fenster, sie stand natürlich bei den drei Grafen und beim alten Minister. Ja, aufstehen, sagte er sich, mühsam stand er auf und hinaus zu den vielen Leuten, diesen ekelhaft vielen Leuten, und kam hinter seinem Wandschirm hervor, der König, ganz in weiß, und dachte, Handschuhe habe ich an, weiße Handschuhe, wenn ich ihr jetzt die Hand gebe, Gottseidank, eine weiße Maske müßte ich tragen, warum soll ich das nicht einführen? Ich bin der König, wie lächerlich? dachte er und ging zwischen den Reihen durch auf seine Mutter zu und sein Bauch schwankte vor ihm, schwer, und mit den Händen stützen mochte er ihn nicht, wie es wohl notwendig und gut gewesen wäre, und küßte seiner Mutter die Hand. Als er den Kopf hob von ihrer mütterlichen Hand, sah er die vier Gesichter seiner vier Widersacher vor sich, die drei bleichen Gesichter der drei Grafen und das lederne des Polonius, und dachte: die pflegen ihren Gram aber gut, die drei, warum sind sie immer noch so weiß im Gesicht mit den spitzen schwarzen Bärten? Muß bleich sein, wer Gram hat? Der Polonius hat auch Gram und ist gelbbraun wie ein alter Schuh, der in Sonne und Wind lag, lange. »Es ist wieder sehr kalt heute«, sagte der König zu seiner Mutter, »da wird mir ein heißer Punsch gut tun, den kann ich ja jetzt rasch trinken und noch ein paar Leute empfangen, im Einzelempfang. Es sollen wieder viele Vögel erfroren sein, heute nacht!« Mit der weißbehandschuhten Rechten schüttelte er einen unsichtbaren Ast: »Sind von den Ästen gefallen, die toten Vögel wie Eicheln von einer Eiche. Waren reif abgeschüttelt zu werden.«
Er war dann auch wirklich gegangen, der König, hatte sich zuvor noch einmal unauffällig hinter seinen weißen, seidenen Wandschirm zurückgezogen, der weiße, seidene König, es war ja die Königin im Saal, das gab dem Saal königlichen Glanz genug, und den einen Empfang, der ihm noch bevorstand, den konnte er auch im Nebenzimmer abmachen, bei Punsch und Torten. Der Wandschirm versteckte eine Tür, durch die ging er, den Stuhl trug man ihm nach, nun saß er vor dem kleinen Tisch, schöpfte in einen Becher den roten Punsch und kostete ihn. Er war heiß, er war süß, er war stark gewürzt, er war nicht zu heiß, er war nicht zu süß, er war nicht zu stark gewürzt, da war ein paar Becher zu leeren gut. Er leerte zunächst einmal den ersten, langsam, in kleinen Schlucken, aber ohne abzusetzen, und schenkte sich dann den zweiten voll, aber bevor er den ansetzte, aß er ein paar von den kleinen, runden Torten, die nach Mandeln schmeckten, die so schön krachten unter den Zähnen, die verstand er zu machen, der Kerl, der Koch. Und besonders gut schmeckte es, wenn man, den Mund noch voll von Mandeltorte, einen Schluck Punsch nahm, das durfte man nur tun, wenn man allein war, und er war ja allein, und die Torte im Mund nun durchfeuchtete mit dem roten, heißen, würzigen Zeug, was nicht abging ohne Schnalzen und Plantschen, aber das hörte niemand, er war ja allein, und den Brei nun schluckte in kleinen Schlucken, kaum als Kind hatte man es je so schön und gut gehabt. Er trank wieder gierig, schwenkte den Becher zu freudig und gierig, ein Tropfen fiel rot auf seinen weißen Seidenärmel, ein dunkelroter, feuchter Fleck blieb, wie Blut. Er verwischte ihn mit dem Finger und sagte: »Blut! Vorbedeutung? Nein! keine Angst, meine drei Herren Grafen und mein Herr Polonius! Kein Blut! Ich will weißen Punsch trinken sogar, euch zuliebe, das gibt weiße Flecken, nichts zu sehen! Wohlan!« Er tats, trank weißen Punsch, bequem in seinem bequemen Stuhl sitzend, er fands behaglich fast, er sah freundlich im Zimmer herum, er wußte einen weniger freundlichen Raum für ein paar Leute, für ein paar Männer, aber kein Blut! dachte er schläfrig, und trank, wie beruhigend, wieder vom weißen Punsch. Es war jetzt fast gemütlich hier, warm, warm, er sah zum Ofen hinüber, draußen fielen erfrorene Vögel von den Baumästen, draußen knirschte der Winter, hier war man geborgen, nur durch jene Tür in seinem Rücken würde jetzt bald jemand kommen, nicht abzuweisen, das mußte erlitten werden, der mußte empfangen werden, bald. Er sah sich lieber nicht um nach der Tür, obwohl ers gern getan hätte, er hatte ja seine Ohren, er würde es früh genug hören, wenn sie aufging und jemand hereintrat, den seine Augen schon seit Jahren nicht mehr erblickt hatten, der aber lebte, gewiß und wahrhaftig lebte, kein Gespenst war, und mit dem er reden mußte, dies und jenes sprechen mußte, er wußte nicht was sprechen, es würde sich schon geben, er konnte ja wenigstens trinken und Torten essen dabei, da gings leichter, vielleicht.
Und nun stand sie auch schon im Zimmer, der Hofmeister hatte sie hereingeführt, und war wieder gegangen, nun stand sie vor ihm, der sich auch schwerfällig erhoben hatte, stand vor ihm, die Hofdame Klara, die er zuletzt vor der Leiche des Xanxres hatte knien und weinen sehen, fünf Jahre war das her, und es gab wohl keinen Schmerz, der fünf Jahre dauerte, sie hatte sich gefaßt inzwischen, ihre Augen waren wieder trocken geworden, auch gar nicht mehr gerötet, ihre Lippen bebten nicht mehr wie damals, ihre Lippen lächelten, ihr Gesicht war frisch und jung, sie hatte älter ausgesehen damals, an des Xanxres Sarg, vor fünf Jahren. Der Xanxres nun, der war wohl nicht auch jünger geworden, in seinem Sarg, der mußte nun ein schon sehr greisenhaftes Gesicht haben, er hatte ja immer greisenhaft ausgesehen, aber die fünf Jahre Sarg hatten ihm doch wohl noch mehr zugesetzt, Totenschädel ohne Fleisch und Haut, die sehen immer uralt aus, selbst Totenschädel von Kindern tun das, und ein Kind war er ja doch nicht mehr gewesen, der Xanxres, wenn auch noch lächerlich jung. Ob sie wohl erriet, daß er an Xanxres dachte? Er durfte es sich nicht merken lassen, daß er den Xanxres ausgestreckt im Sarg liegen sah, mit einem Grinsen im Gesicht, warum grinste er, aber Totenschädel grinsen ja immer, aber warum denn grinsen Totenschädel immer? Werden wohl Ursache zu grinsen haben, diese toten Burschen, diese verdammten klappernden Gerippe, diese morschenden Knochenpuppen. Ja, was wollte denn nun die Hofdame Klara von ihm, dem König? Er hatte schon so etwas gehört, hatte etwas läuten hören, was er nicht recht glauben wollte, obwohl es doch sehr glaubhaft war, der Xanxres lag ja im Sarg, den konnte sie nicht mehr haben zu diesem Zweck, aber Xanxres war nur ein Mann gewesen wie andre Männer, im wesentlichen nicht unterschieden von anderen, auswechselbar, ersetzbar, und nun ersetzte sie, nun wechselte sie aus, Klara, die junge, die lebendige, die strahlende Hofdame, und nun bat sie, ihren Bräutigam dem König vorstellen zu dürfen, und der König erlaubte es, und der Bräutigam trat herein, und es war ein Mann wie andre auch, ein tüchtiger Mann, mit einem tüchtigen Brustkasten, mit zwei strammen Beinen, und hübscher war er auch als der Xanxres, der doch eigentlich gar nicht hübsch gewesen war, erinnerte sich der König, mit seiner langen Greisennase, der hier aber, der lebendige, hatte eine schöne, stattliche Nase mitten im Gesicht, am richtigen Platz, über einem vollen Mund. Der sprach auch, der volle Mund, ganz vernünftige und richtige Worte, er sprach lauter damit, als der stumme Tote im Eisensarg, und da die Hofdame Klara zwei gesunde Ohren hatte, hörte sie den Lebendigen sprechen, vom Toten hörte sie nichts mehr, der schwieg unerschütterlich und antwortete auf keine Frage mehr, grinste nur zu allem und jedem, das war unverschämt und nahm nicht für ihn ein, während der Lebendige allerhand Einnehmendes an sich hatte. So klug nun redete er nicht, der Lebendige, solche Weisheiten kamen nicht von seinen hübschen, vollen Lippen, daß die Hofdame Klara hätte gar so gespannt und bewundernd auf sie hinschauen müssen, da mußten es doch wohl die Lippen selber sein, die sie so bewunderungswürdig fand, und sie hatte wahrscheinlich schon andere Erfahrungen mit diesen Lippen gemacht, die ja nicht nur zum Reden da waren, sie wußte es wohl, auch zu ganz anderem. Und jetzt wars wohl an der Zeit, die beiden zu entlassen, die beiden Liebenden zu entlassen, gnädig zu entlassen, den stattlichen Mann und die Hofdame Klara, und er entließ sie gnädig, und der Xanxres im Sarg grinste schon zu abscheulich. Totenkopf was willst du? fragte ihn der König. Hast dirs wohl anders vorgestellt? Was hast du dir denn wohl gedacht? Er griff nach seinem eigenen Kopf der König, faßte das wackelnde Fleisch an den dicken Backen, wir tragen alle unsern Totenkopf schon mit uns herum, du hast nicht so viel vor uns voraus, wir werden auch bald grinsen wie du und nicht weniger. Er saß schon wieder und sein Gesicht war bleich, fühlte er, obwohl doch gar nichts zu erblassen war. Es fehlt ihm an Fleisch und Blut, dem Xanxres, dem Gerippe, und er aß ein Törtchen, der König, und trank den blutroten Punsch, um wieder Farbe zu bekommen, und sah dann aufmerksam das kleine Bild an, das kleine Bild in einem goldenen Rahmen, das an der Wand hing, und seinen Vater darstellte, seinen toten Vater in Jägertracht, einen erlegten Eber zu seinen Stiefelfüßen, und hob sein Punschglas, seinem toten Vater zuzutrinken und um ihm zu sagen, er solle nur ja nicht glauben, er solle sich nur ja nicht einbilden, ihm sei etwas Besonderes geschehen, als auf einmal seine Nase seiner Frau nicht mehr gefiel und sie den Hauch seines Mundes auf einmal als nicht mehr angenehm empfand, wenn auch, natürlich, das müsse er zugeben, die Schlußfolgerung, die seine Frau daraus zog, nämlich die, daß man den Blasbalg ja abstellen könne, der den Atem betreibt, daß diese Schlußfolgerung als übertrieben und als zu weitgehend zu bezeichnen sei. Sein Vater im goldenen Rahmen schien etwas sagen zu wollen, der König Hamlet aber schrie unhöflich dazwischen, er habe ihm da ja wohl einige Genugtuung verschafft, glaube er von sich sagen zu können, das dürfe er doch nicht vergessen, und es sei Zeit, daß er sich damit nun nachgerade abfinde und sich endlich zufrieden gebe. Der Mann im Goldrahmen wollte immer noch nicht schweigen, aber der König Hamlet legte seine kurze fette Hand sich auf die Lippen und bedeutete dem Jägersmann nun ganz stille zu sein, er höre jemand kommen, der dürfe und brauche gar nichts von dieser Unterredung zu erfahren, und es war wirklich die Königin, die eintrat, und die Frauen werden immer jünger, dachte er, zuerst da diese Klara und nun diese da, meine Mutter, des Jägers Frau, früher, und dann eines ändern Mannes Frau gewesen, späterhin, aber seit zehn Jahren gleich aussehend, er dagegen, er legte die Hand auf seinen Bauch, er war wohl auch einmal schlank gewesen, kaum erinnerte sich noch jemand daran, er selber nur manchmal.
Er schob der Königin ein Törtchen hin, schob ihr ein Glas Punsch hin, der sitzenden, aber sie lehnte ab, ihr Magen sei nicht ganz in Ordnung, seit ein paar Tagen schon, eigentlich wohl ständig, sie kränkle so dahin, ganz auf der Höhe sei sie schon lang nimmer, nicht mehr die alte, er dagegen, bei allerbester Gesundheit, möge es sich nur schmecken lassen, ihm bekomme es ja, ihm schlage es gut an, und er solle auf ihr Wohl trinken, und das freue sie, und das tat er. Sie sah zu, wie er trank und während des Trinkens schon wieder nach einem Törtchen spähte, und es hätte sie wohl auch gelüstet, eins zu essen, sein Koch war tüchtig, das war bekannt, aber Hirsebrei und Schwarzbrot warteten zu Hause auf sie, und das war wohl nicht so gut wie Torten und Punsch, aber das war gesund, und man bekam keinen Bauch, wie dieser da, ihr fetter Sohn, und für den Blutumlauf sei es gut, Hirsebrei und Schwarzbrot zu essen, hatte ihr der Arzt gesagt, und ein guter Blutumlauf sei gut für eine schöne Haut, und für was eine schöne, glatte Haut gut sei, nun, sie war eine Frau und wußte das ganz genau. Vor ihr auf dem Tisch stand eine leere Silberschüssel, der gefräßige König hatte sie leer gegessen, drin spiegelte sie sich, es gab zwar nur ein etwas verschwommenes Bild, und sie konnte auch nur so verstohlen hie und da einmal hinspähen, wenn es der König nicht sah, der brauchte es ja auch nicht zu sehen, er hielte sie sonst wohl gar für eitel, und sie war nichts weniger als das, aber es war doch gut, daß die blitzende Schüssel so bequem lag, und sie schob sie sich unauffällig noch näher heran. Was fraß dieser dicke Kerl da, ihr Sohn, nicht alles zusammen an einem Tag! Wie lang er da wohl noch so weiter machte? Die menschliche Haut, dachte sie, wie ist sie dehnbar, sie platzt nicht, nie hat man erlebt, daß sie geplatzt wäre, sie dehnt sich nur, dehnt sich, dehnt sich. Nun saß sie ganz prall um das Fett ihres Sohnes, des Königs, praller und glatter, das war nicht zu leugnen, als ihre eigene, trotz des Schwarzbrots, das sie aß, und des guten Blutumlaufs, den sie hatte. Ihre Haut saß nun wieder zu locker um ihr Gesicht, Falten warf sie sogar, trotz der vielen Salben und Wässer, die sie anwandte, das hatte nun wieder andere Gründe, immerhin war sie etwas älter als dieser ihr dicker Sohn da, der war auch schon vierzig jetzt, wie alt sie da wohl war? Sie hatte ganz jung geheiratet, das wußte alle Welt, aber daß sie älter war als dieser ihr Sohn da, das wußte nun auch alle Welt. Sie spähte gierig in die Silberschüssel, verwaschen und verzittert sah sie ihr helles Gesicht, aber das kam von der Wölbung der Schüssel, selbstverständlich.
»Sind wir alle so vergeßlich, Königin?« fragte der König plötzlich. »Die Hofdame Klara hat vergessen, daß mein Freund Xanxres tot im Sarg liegt, hat sie ganz und gar vergessen.« Die Königin drehte ihr Gesicht, um in der Silberschüssel ihre linke Seite zu sehen, sie hatte sich zu lange von vorn gesehen, sie mußte wissen, wie’s nun links aussah und antwortete langsam; »Es kommt vielleicht auch drauf an, wer im Sarg liegt«, und dachte auf einmal, daß ihr dicker Sohn da, der König, der ja wohl auch einmal sterben mußte, so oder so, er aß schon wieder ein Törtchen, krachend, man brauchte sich um seinen Tod wohl nicht zu mühen, er gab sich selber die allergrößte Mühe, nun trank er auch schon wieder, daß der tote König Hamlet da einen riesigen Sarg einmal brauchen würde, und nun den in die Gruft hinabzulassen, an dicken Stricken, da brauchte man die Stärksten der Adeligen, und es war immer noch zu fürchten, er riß ein paar mit, wenn man sich nicht fest gegen den Boden stemmte, der gewaltige tote Mann.
Sie, Gottseidank, sie selber, die Königin, hatte sich schlank erhalten, nicht mager, sie neigte eher zur Fülle, aber Fett ließ sie nicht heran an sich, tat sie nicht, eher aß sie tagelang bloß Schwarzbrot und Früchte, Brot wie ein schmutziger Bettler, der König, dachte sie, der König hat grad das an mir geliebt, das nicht zu mager sein, meine Schultern liebte er, das Gerundete an ihnen, er sagte es mir oft, der König. Sie sah den Jägersmann im goldenen Rahmen. Nicht der König da oben, dachte sie, der Vater dieses fetten Mannes hier, der wußte kaum recht, wie ich aussah, den andern König mein ich, der ist jetzt auch schon fünf Jahre tot, der fette Mann hier mir gegenüber lebt noch, aber vor allem auch ich lebe noch, wahrhaftig, ich lebe noch, sie spiegelte sich in der Silberschüssel, ihr blondes Haar, sie wußte, wieso es noch blond war, und eine alte Kammerfrau wußte es, sonst wußte es niemand, mancher würde ja manches munkeln, sollen sie, mögen sie, ihr blondes Haar in der Schüsselspiegelung war schön gewellt, ihre Lippen sahen verwaschen rötlich her, das kam vom Silber, ein ziemlich junger Frauenkopf bebte und schwankte wunderlich in der Tiefe des Metalls, und das war ihr Kopf, und dieser Kopf saß lebend auf ihren Schultern. Der Kopf des Mannes dort, des Jägers im Goldrahmen, der schon so lang tot war, der war vielleicht schon hinab zu seinen Füßen gerollt, damals, als man den Sarg, der schon in der Erde gewesen war, ziemlich tief drunten, wieder heraufholte und zur neugeschaffenen Familiengruft brachte, die sie hatte bauen lassen, auch wenn man noch so acht gegeben hatte, wenn der Kopf schon locker saß, warum sollte er nicht hinab zu den Füßen gerollt sein? Auch kein schlechter Platz übrigens, für einen toten Kopf, dem ist das doch ziemlich gleichgültig, wahrscheinlich, sieht einmal seine Zehen ganz in der Nähe, auch etwas verändert gegen früher, die Zehen, aber doch die gleichen, nur mit sehr wenig Fleisch, und der andere Mann, der andre Ehemann, der zweite Ehemann, auch schon ein toter Mann, dem hatte man Ruhe gelassen im Grab, dessen Kopf wird sich nicht von der Stelle bewegt haben, zwei tote Ehemänner und sie lebendig, jetzt, sie trauerte keinem mehr nach, alle zwei tot, der zweite war ja besser gewesen, aber auch tot, tot! Sie nahm einen festen Atemzug Luft, daß sich ihre Brust bewegte, die zwei hatten nichts mehr zu bewegen, konnten keine Kinnbacke mehr rühren, sie konnte es, sie aß jetzt sogar ein Mandeltörtchen, das krachte herrlich, eins konnte soviel nicht schaden, sie spürte keine Trauer wegen der beiden Toten, keine Reue wegen des Todes des ersten, des Jägers, des Mannes im Goldrahmen, sie war ja ein bißchen beteiligt gewesen an diesem Tod, und keine Lust mehr zur Rache an dem Dicken da ihr gegenüber, die Zeit hatte alles ausgelöscht, Trauer und Reue und Rache, es war schon zu lange her, wer hatte ein so gutes Gedächtnis? Sie nicht, sie nicht, sie lebte und hatte sie diese zwei überlebt, würde sie auch diesen dicken Sohn überleben, vermutlich, ohne sich da hineinzumischen in den natürlichen Ablauf. Gib mir ein Glas Punsch! wollte sie schon sagen zu ihrem Sohn, sagte es aber nicht, trinken war nicht gut, wenn man lang leben wollte, und sie hatte doch eben schon ein überflüssiges Törtchen gegessen. Sie stand auf und wiegte sich jugendlich in den Hüften. Was hat sie, die alte Frau? dachte der König. Und jetzt lachte sie, während sie nicht aufhörte sich zu wiegen und sah ihn gutmütig an und dachte, ich will dich in Ruhe lassen, ich schon, ich schließ Frieden mit dir, ich schon, tu was du willst, ich lebe. Sie lachte und dachte: Ich lebe, ich lebe!
Der König in weißer Seide, von seiner Mutter verlassen, von Pünschen und Torten umgeben, im warmen Zimmer sitzend, sich gegenüber den gemalten Vater in Jägertracht in goldenem Rahmen an der Wand, er hörte jetzt auf zu essen und zu trinken, er saß in seinem bequemen Stuhl und rieb sich die Hände, rieb sich immer wieder die Hände, ohne darauf zu merken, und ertappte sich erst nach einiger Zeit darauf, daß er das tat, und besann sich, warum er das tat, und fand heraus, daß er fror, im warmen Zimmer fror, im bequemen Stuhl, Punsch und Torten im Leib, fror, fror. Nicht daß es ihn an den Händen fror, weil er sie rieb, das nicht einmal, die Kälte saß eigentlich mehr im Rücken, daß er sich die Hände rieb, das war so gewohnheitsmäßig, wenn man fror, rieb man sich eben die Hände, nun gut, wenn es der Rücken war, den Rücken konnte man auch an der Stuhllehne scheuern, das tat er, aber das half auch nicht viel, das frostige Gefühl blieb. Was fiel ihm überhaupt ein zu frieren, es war warm im Zimmer, vielleicht war es zu warm, und es war besser, aus dem Zimmer zu gehen, ins Freie zu gehen, in die Kälte zu gehen, sich Bewegung zu machen? Er seufzte und ging einstweilen einmal zum Fenster, draußen krachte der Winter, er hörte natürlich das Krachen nicht, es krachte ja auch gar nicht, aber wenn man den gefrorenen Schnee sah, weiß und überall, fiel es einem ein zu sagen, daß der Winter krache. Der blaue Himmel, eisblau, schien sich in der Kälte ganz wohl zu fühlen, und die blitzende, spritzende Sonne am Himmel, war das die gleiche, die im Sommer schien, im Frühling und im Herbst? Die kahle Pappelallee sah er, die zur Stadt führte, die schwarzen, mageren, ausgehungerten Bäume, steif es ging kein Wind, der sie gebogen hätte, und der Schatten, den sie warfen, war ein armseliger Schatten, und auch der war überflüssig, es hatte ja doch jetzt niemand Bedürfnis nach Schatten, und im Sommer, wenn man Schatten liebte, wem sollte da der kümmerliche Pappelbaumschatten genügen? Der König schwankte leise auf seinen Säulenbeinen, und trat ins Zimmer zurück und warf auf Punsch und Torten einen Blick und schüttelte den Kopf ablehnend und ging auf den großen Flur hinaus. Dämmerig lag der da, grau, kellerig kalt, und der weiße, seidne König ging nun durch diesen dunklen Flur, langsam, Schritt vor Schritt bis zu einer kleinen Treppe, einer kleinen Treppe von drei Stufen, da machte der Flur einen Bogen und lief nun langgestreckt, ohne Ende dahin, die Fußbodenbretter knarrten leise unter dem schweren Tritt des schweren Königs. Der Frost saß in den hallenden Gängen, der Frost eines halben Winters, und hatte sichs schön bequem gemacht im Gemäuer, jede Ecke hatte er wacker ausgekältet, jeden Balken tüchtig durchschauert, und wie den König jetzt fror, da wußte er warum, da hatte er ein Recht zu frieren, das war anders als vorhin im warmen Zimmer. Er stand vor einem Fenster, die Scheiben silbergrau gefroren, aber eine Scheibe fehlte, kalt sauste die Winterluft herein, wieder sah er drunten die Pappelallee, und in der Allee fuhr ein Schlitten zur Stadt, zwei Reiter vor dem Schlitten, zwei Reiter hinter dem Schlitten, die vier bewachten den Schlitten, wer saß wohl in dem Schlitten? Viere saßen in dem Schlitten, die fuhren nicht in den Tod, wie sie wohl dachten, die viere, sollten es nur denken, fuhren warm geheizten Räumen entgegen, wenn sie auch keine Schlüssel hatten zu diesen Räumen, die Schlüssel hatten andere. Ob es ihnen gefiel in diesen Räumen, da wurden sie nicht gefragt, und wie lange sie wollten bleiben, wurden sie nicht gefragt, wie lang andere am Leben bleiben sollten, wurden sie auch nicht gefragt, Xanxres zum Beispiel, der tote Bräutigam. Und sie sollten ja nicht stumm liegen, wie Xanxres zum Beispiel im Sarg, die drei schwarzen Grafen und der uralte Polonius, sie sollten in warm geheizten Räumen auf und ab gehen, wer weiß wie lang! Eine unbestimmte Zeit lang, eine kurze Zeit, eine lange Zeit. Je nachdem, bis sie auf andere Gedanken kamen, mit der Zeit, auf die konnte man alle und jede Hoffnung setzen, auf die Zeit, und daß sie andere Gedanken bringt, das hatte schon mancher erfahren, die Hofdame Klara zum Beispiel und ein dicker König von Dänemark, warum sollte es anders sein bei den Vieren?
Die schneidende Luft trieb den König weg vom Fenster, und er nahm seinen Gang durch den Flur wieder auf den hallenden, knarrenden, und ging treppauf und ging treppab, das alte Schloß hatte viele Flure und Dielen, er ging über viele Treppen, an vielen Fenstern vorbei, der weiße, seidene König, fröstelnd in der Kälte, sich die Hände reibend, stehen bleibend, hin und wieder, bei einem Spinnennetz zum Beispiel, das verwildert an einem Balken hing, grauwollig aussehend, und kleine, schwarze Klümpchen klebten in dem Netz, Fliegenleichen, ausgesogen, vertrocknet, nun auch noch von der Kälte gedörrt, und wo die Spinne steckte, wußte niemand.
Einmal, als der dicke, in weiße Seide gekleidete Mann, den die Menschen König Hamlet nannten, um eine Ecke bog, und er war nun schon zu den Fluren und Gängen des Schlosses hoch oben unter dem Dach gestiegen, wohin sich selten jemand verirrte, war es ihm, als sei eben jemand tief im Dunkel des Ganges vor ihm untergetaucht. Hier oben war es noch kälter als in den unteren Stockwerken, die Kälte hauchte in eisigen Zügen aus dem Gemäuer, Staub lag auf Gesimsen und Kanten, und was den dicken König, der sonst so ungern ging, hier herum trieb, wer weiß es? Vielleicht machte das der Punsch, der rote und der weiße, vielleicht trieb ihn der so herum, aber der Punsch konnte es nicht auch sein bei dem Prinzen Hamlet, der auf einmal bei einem Treppenabsatz seinem Vater gegenüberstand, denn er hatte keinen getrunken.
Sie fanden es anscheinend beide gar nicht sonderbar, Vater und Sohn, daß sie sich hier auf den eisigen Gängen unter dem Dachboden des Schlosses trafen, umherstreichend wie streunende Katzen, in dünnen Kleidern beide, ohne Hut und Mantel, wie sie ihre Zimmer verlassen hatten, schaudernd unter der Kälte. Sie blieben stehen, ohne sich zu grüßen, als wären sie schon die ganze Zeit zusammen gewesen, und gingen dann eine kurze Strecke nebeneinander her, bis der Prinz in einer Ecke mit dem Fuß an ein längliches Ding stieß, ein verstaubtes, längliches Ding, ein Stück flaches Brett oder so etwas, aber es war nichts Hölzernes, es war eine steif und hölzern gefrorene Katze, mit struppigem Fell, die Leiche stank nicht, die Kälte verhinderte das. »Erfroren«, sagte der dicke König. »Vielleicht nicht«, antwortete der Prinz, »vielleicht hat sie ihre Zeit gelebt, die paar Jahre, die Katzen zu leben haben, und ist hier verreckt im Herbst und im Winter steinhart gefroren, an der Zeit also gestorben und nicht an der Kälte.« Der König blies Staub von seinem weißen Ärmel und dachte, daß Zeit und Kälte dasselbe seien und auch im heißen Afrika die Menschen starben und kalt wurden, starben und kalt wurden unter jeder Sonne, und rote Leidenschaften und schwarze Schmerzen und weiße Freuden und gelber Neid und Freundschaft und Liebe und Haß und Trauer und Habsucht und Ruhmgier, daß alles starb an der Zeit, die auch die Kälte war, nicht nur Katzen im Winter und Menschen zu jeder Jahreszeit. Das dachte er, aber er sagte es dem Prinzen nicht, und beide sahen die tote Katze an, die brettähnlich sich vor ihnen streckte.
Und dann, als wäre das eine ausgemachte Sache und das Selbstverständlichste von der Welt, gingen sie wieder voneinander, Vater und Sohn, König und Kronprinz, der dicke und der magere, der alte und der junge, und sahen sich nach einander um, bogen jeder um eine andere Ecke, hatte jeder andere knarrende Bretter unter den ruhelosen Füßen, das alte Schloß hatte viele lange Gänge, überall war Frost und Eisluft, frierend gingen sie dahin, sich die Hände reibend, treppauf und treppab, begegneten sich nicht wieder, wischten Staub von den Wänden, stießen graue Wolken aus den roten Mündern, zitterte, ungeschützt vor der Kälte, und mußten das doch lieber haben als die Wärme ihrer Zimmer, die rot und heiß sie vergeblich lockten, streunende Katzen, die sie waren, streifend unermüdlich durch Zeit und Kälte.
Zuerst war es ganz still gewesen, so gegen das Ende der Nacht, so gegen den frühen Morgen zu, denn den Gang der Sterne zu hören und den Wandel des Mondes, ist kein Ohr fein genug. Vom Wald war zwar manchmal ein kurzes Rauschen herüber gekommen, das in Erinnerung brachte, daß dort im grünen Dunkel sich manches regte, Fuchs und Reh und der zottige Bär, aber das war eben Erinnerung nur, zu hören war nur ein schwacher Schlag vom Windstoß und dann wieder die Stille, die Stille. Wenn einer schlaflos lag, und viele liegen schlaflos, in dieser Nacht und in allen Nächten, wenn einer in einer sanften, guten Schlaflosigkeit lag, die gibt es, nicht nur die böse, aufreizende, wenn auch die böse Schlaflosigkeit die häufigere ist, das weiß mancher, und die gute kennen nur wenige, der schwang in einer reinen, klaren Stille und spürte die Polster nicht, die ihn trugen, und wenn ihn eine harte, hölzerne Pritsche trug, so spürte er auch die Härte nicht und nicht das Holz.
Dann, später, mußte sich draußen irgendwas verändert haben, daß es mit einem schwachen Lichtschimmer begann, wer hätte das feststellen können, im Zimmer, wo die hölzernen Fensterläden geschlossen waren, aber es mußte sich was verändert haben draußen, unbestimmbare, wehende Geräusche flogen auf, auch der Wind war wohl munterer geworden, und dann klang ein Vogelpfiff verhallend. Daß jetzt die Sterne weggingen, das hätte man vielleicht sehen können, wenn die Fensterläden nicht gewesen wären, und daß der gelbe Mond graublau wurde, und der schwarze Himmel bläulich und überm Wald rosafarben, aber zu hören war da nichts, doch daß jetzt ein Hahn krähte, das hätte einen Schläfer geweckt, wie hätte es ein Wachender überhören können also? Und da mußten mehrere Hähne da sein, hier und dort, der rauhe, krächzende Ruf stürmte zwei-, dreimal, viermal empor, ganz nah, und erhielt Antwort von fernher, da saßen sie vielleicht auf taufeuchten, braunen Zäunen oder standen blaurot schimmernd auf hölzernen Stalltreppen und schmetterten schnabeloffen, federngeplustert ihren wilden Schrei. Vielleicht schreckte sie das Blutrot der aufgehenden Sonne, vielleicht hatten sie feinere Ohren als die Menschen und hörten das Donnern und Prasseln des Lichts und, um ihre Angst, ihre tiefe tierische Angst zu verjagen, schrien sie mit in dem ungeheuren Lärm des erwachenden Tages. Jetzt kam da noch ein anderer Klang durch die Luft gezogen, tief dröhnend, das kam von keinem Tier, das müßte einen Brustkasten haben wie eine Scheune und ein Maul wie ein Scheunentor, das Tier, jetzt müßte drunten ein Rauschen und Flattern und Flügelschlagen beginnen, und grelles Schreien der Gockel und sich überschlagendes Furchtgerufe der Hühner, wenn das, was da tief dröhnend brüllte, ein Tier wäre. Aber die Hühner gackerten nur dummeifrig weiter und die Hähne röchelten weiter prahlerisch, während das Glockentier schallte, dessen tiefe, brausende Stimme ihnen wohl bekannt war.
Wenn einer schlaflos lag im dunklen Zimmer, der wußte den Morgen jetzt da, auch wenn er ihn nicht sah, und wie der Morgenlärm angeschwollen war, plötzlich, so schwoll er jetzt wieder ab. Das Glockengeläute verstummte mit ein paar nachhallenden Schlägen, die Schreie der Hähne tönten seltener, und der Wind strich leise pfeifend nur an den Fensterläden vorbei, der fromme Morgenwind.
Nicht alle lagen noch um diese Stunde schlafend oder schlaflos, mancher, der ein Jäger war, ging schon durch den Wald und spürte die nassen Baumäste, die ihm ins Gesicht fuhren, und mancher, der ein Fischer war, stand schon am Bach und sah die Nebel steigen vom Wasser und die fette Forelle lauern hinterm Stein, mancher, der ein Bauer war, ging über den Hof kam schon vom Stall zurück, wo die Kühe standen mit schlagenden Schwänzen, und sah zum Himmel auf, zu einem Septemberhimmel, der einen schönen Nachsommertag versprach, und sah zu den Hähnen hin, die gingen Schritt vor Schritt, blieben stehen auf einem Bein, kopfschüttelnd, daß die roten, fleischigen Kämme schwankten und wackelten. Ihre Halsfedern glänzten, und die krummen, schwarzen Schwanzfedern hingen unaufhörlich zitternd nieder.
Die Luft war klar und durchsichtig, im Wiesengrund zerfielen die Nebel, wehten in kleinen weißen Streifen schleierig dahin, zergingen bald ganz. Der Wald unfern, auf einer sanften Anhöhe, Nadelwald, Tannenwald, rührte sich leise, die Wipfel der höchsten Bäume standen scharf gegen den noch bläßlichen Himmel, daß man die Zapfen sah, die in Büscheln hingen und die kurzen, dünnen Äste niederbogen, schmerzhaft zerrend. Tau glänzte überall, weißgrau am Gras, glashell an Zaun und Tor, hatte die braune Erde der Straße gefeuchtet, saß auf den Kanten der Radspuren.
Inmitten der Wiesen, und die Wiesen waren noch nicht zum zweitenmal gemäht, das Gras stand hoch und üppig, wilder roter Klee dazwischen und die Fächer der weißen Schafgarben, und vereinzelt sogar Königskerzen, lag, von einer weißen Mauer umzogen, ein langgestrecktes, schloßartiges, aber nicht sehr hohes Gebäude, an das wieder sich ein paar kleinere Häuser anschlossen, und man hätte das wohl für einen Gutshof gehalten, wenn nicht noch innerhalb der weißen Mauer auch eine Kirche einen weißen Turm erhoben hätte, und das müßte schon ein sehr frommer Gutsherr sein, der sich nicht mit einer Kapelle begnügte. Im Kirchturm sah man im offenen Gebälk die Glocke hängen, die vorhin, schallend, die Hähne nicht erschreckt hatte, in der Mauer ein mächtiges, braunes Holztor, aus festem, harten Eichenholz war es, reich und kunstvoll geschnitzt, stand weit offen, vom Tor weg führten große viereckige, in den Boden eingelassene Steinplatten über einen baumbestandenen Hof zu einer offenen steinernen Säulenhalle, die wiederum erst vor dem eisernen Tor endete, durch das man in das große Hauptgebäude trat. Die Steinplatten waren noch dunkel von der Nässe des Taus, schon aber mit helleren Flecken gesprenkelt, die Sonne fing schon an zu trocknen, die Sonne, die nun schon ein Stück höher gestiegen war am Himmel, der nun schon vom Grau ins Blau überging. Von den alten Nußbäumen im Hof, dunkelgrün gewölbt, hatte der nächtliche Wind voreilig ein paar Früchte abgeworfen, die fett und hellgrün auf den Steinplatten lagen. Der Himmel war gänzlich wolkenlos, die runden weißen Steinsäulen schimmerten freundlich, und einer der Hähne, ein großes, rotes Tier kam über den Rasen daher, sah die runden, grünen Nüsse liegen, kugelig prall, stieg vorsichtig auf den steinernen Weg, schüttelte sich, blieb stehen, drehte den Kopf und sah schräg und mit bösem Kamm auf das grünsaftige Zeug. Mit ein paar Schritten ging er dann ganz nahe heran, hackte wild los auf die größte der Nüsse, daß grüne, näßliche Splitter flogen, hob die Frucht einen Augenblick im Schnabel hoch und verharrte in dieser Stellung, aber es schmeckte ihm wohl nicht, er schmetterte die Nuß nieder und heftig gegen den Stein, daß sie ein Stück fortrollte, dann lag, geschunden, mit weißlichen Flecken, und er, der Hahn, schlug wütend mit den Flügeln, krähte laut und entsetzlich, abscheulich gereizt, rannte geschwind und wackelnd ins grüne Gras, und weil das nicht rasch genug ging, flog und flatterte er, eine Handbreit über dem Boden, den Hals vorgestreckt, die Schwanzfedern wehten, und landete im Brennesselgestrüpp, das zu Füßen der Mauer wucherte.
So begannen viele Tage des Septemberanfangs in diesem Jahr, die schöne Zeit wollte nicht gehen, und die vielen guten Tage hob sich der Kirchturm in die blaue Luft, und der Morgenschrei der Hähne tobte sommerlich. Im Schatten der Säulenhalle stand ein weißgedeckter Tisch, und vor dem Tisch saß in einem Stuhl ein Mann, der sein Frühstück einnahm. In einer bläulichen Tonschüssel lag ein Stück gelber Butter, mit einem großen, grünen Salatblatt zugedeckt, in einer anderen bläulichen Schüssel war Honig, eine Biene saß am Rand dieser Schüssel und saugte eifrig und holte sich wieder von dem, was man ihr genommen hatte, und der Mann wehrte es ihr nicht. In einer dritten bläulichen Schüssel lagen einige Scheiben Schwarzbrot, und auch an Milch fehlte es nicht, die weiß in einem becherähnlichen Tongefaß schäumte. Der Mann, der sich jetzt ein Butterbrot strich und dann das zähe, gelbe, süße Zeug auf die Brotmitte fließen und tropfen ließ, bis sich dort ein kleiner Weiher bildete mit unregelmäßigen, sich verändernden Grenzen, und der mit dem Finger den klebrigen, gelben Faden durchriß, der, als er die Honigschüssel wieder auf den Tisch stellte, sich vom Schüsselrand bis zum Brot spann, der Mann, der mit Lächeln sah, daß die Biene inzwischen ihren Platz an der Honigschüssel aufgegeben hatte, der Mann trug eine gelbe, wollene Kutte, hatte an den nackten Füßen Ledersandalen, in seinem schönen, dichten, schneeweißen Haar war in der Scheitelmitte ein talergroßer Fleck ausgeschoren, der Mann war, das sah man aus alledem, ein Mönch. Und das langgestreckte, schloßähnliche, aber nicht hohe Gebäude war ein Kloster, und die Kirche, die den weißen Turm so hoch erhob, war die Klosterkirche, nie hätte ein auch noch so frommer Gutsherr sich eine so große Kirche erbaut, hätte sich mit einer Kapelle begnügt, und die Hähne, die so heiser und scharf grölten, waren die Klosterhähne. Wenn man das schöne, dichte, schneeweiße Haar des Mannes sah, wenn man von hinten heran kam an ihn und nur das Haar sah, hätte man ihn für einen Greis haken mögen, aber ein Blick in das dunkelrote, bartlose, mächtige Gesicht mit den fetten Backen, die wulstartig herabhingen, dem fleischigen Kinn, das, ohne sich deutlich abzusetzen, zum Hals überfloß, zeigte, daß der Mönch ein Mann um die Fünfzig sein mochte, und in diesem Alter ist man noch kein Greis, mögen auch die Haare weiß sein wie die Milch, die vor dem Mann steht und von der er nun einen guten, langen Trunk nimmt, sich die Lippen wischt mit der kleinen Hand, um dann wieder in das Brot zu beißen mit weißen, gesunden Zähnen. Das Frühstück schmeckt ihm gut, dem Mann, dem Mönch, und als er jetzt auf den Steinfliesen Schritte hört, sieht er sich um und sieht einen gelben Kuttenmann vom eisernen Tor her aus dem Haus kommen, einen jüngeren, gelben Kuttenmann, einen Mönch auch, dick auch, nicht so dick wie er selber, der Kommende ist ja auch noch jünger, viel jünger, aber er wölbt schon einen ansehnlichen Bauch unter der Kutte, und wenn er erst die Jahre des Sitzenden und Schmausenden haben wird, wird er vielleicht noch nicht seine schneeweißen Haare haben, aber an Fett und Mächtigkeit wird er ihm nicht nachstehen. Wie der jüngere, fette Mönch näher kommt, und vom Wald, den man auf seiner Höhe durch die weißen Säulen grün sich rühren sieht, wie vom Wald her ein kühler Luftstoß kommt, wie scherzend, da flattert ein Kuttenärmel des jungen, dicken Mönches, schlägt durch die Luft und fällt dann wieder sanft herab und schwankt nur bei jedem Schritt leise mit, und es ist der rechte Kuttenärmel, und der Ärmel ist leer, kein Arm steckt darin, der drin stecken sollte, es ist ein einarmiger Mönch, der da jetzt über die Steinfliesen durch die Säulenhalle dem sitzenden und schmausenden dicken, weißhaarigen Mönch sich nähert. Sie begrüßen sich mit einem frommen Gruß, die beiden, nicht mit »guten Tag« oder »guten Morgen« oder einem »wie gehts« oder »meine Ehrerbietung«, nicht mit solchen weltlichen Wünschen oder Beteuerungen, sondern der junge Mönch sagt etwas mit einer kleinen Neigung des Kopfes, was den großen Schöpfer lobt, droben über dem hellblauen Himmel, und der Ältere neigt seinen weißhaarigen Kopf und sagt eine kurze Schlußformel, die besagt, daß er sich diesem Lob und Preis demütig anschließe. Der junge, dicke Mönch bleibt stehen bei dem Weißhaarigen, lehnt sich an eine der Steinsäulen, und mit seinen hellen, durchsichtigen Augen übersieht er die Frühstückstafel des Schmausenden, sieht die Biene wieder am Rand der bläulichen Honigschüssel, emsig saugend, greift rasch mit der linken Hand nach ihr, armselig flattert sein rechter, leerer Ärmel, hat die Aufbrummende schon in der hohlen Hand und wirft sie im Bogen in die Luft und sieht ihr nach, wie sie brausend wegtaumelt.
Der Weißhaarige sagt, und seine Stimme ist wie die Stimme von fetten Leuten, ein wenig röchelnd, ein wenig pfeifend, und seine Worte kommen stoßweise, er ist sehr kurzatmig, der Weißhaarige, und als strenge ihn das Sprechen an, färbt sich sein rotes, mächtiges Gesicht noch röter, und seine Lippen sehen komisch klein aus in dem übermäßig vielen Fleisch ringsum, sind dunkelrot, feinhäutig, als wolle Blut aus ihnen hervorbrechen, der weißhaarige, dicke Mönch, in seinem bequemen Stuhl, die Hände über dem gewaltigen Bauch gefaltet, sagt: »Ich habe, wie einem das manchmal so einfällt, du kennst das sicher auch, jetzt gerade, die ganze Zeit bevor du kamst, daran gedacht, daß ich früher einmal ein kleiner Knabe war, ein magerer kleiner Knabe mit einem dünnen Knabenhals, wie ein Blumenstengel war mein Hals, und mein kleiner Kopf saß hoch droben auf dem Stengel, wie, wie denn? Ja, wie eine kleine rosa Rosenknospe, so saß mein Knabenkopf auf dem mageren Stiel, der mein Hals war, sozusagen mein Knabenhals.« Der weißhaarige Mönch betastete seinen schwammigen Hals, kopfschüttelnd, und das war keine Rosenknospe, was der jetzt trug. Der Einarmige mit seinen wasserhellen Augen sah den Sitzenden prüfend an, vielleicht versuchte er es sich vorzustellen, wie der Fettwanst da vor ihm an Gewicht verlor, es brauchte ja nicht so schleunig geschehen, vielleicht ließ er ihn langsam magerer werden, zu einem beleibten Herrn immer noch, zu einem stattlichen Mann dann, zu einem schlanken Jüngling gar, das war schon schwer, das kostete schon viel Einbildungskraft, zu einem halbwüchsigen Burschen sodann mit schlenkrigen Gelenken, und jetzt, jetzt war er so weit, jetzt sprang aus dem Stuhl heraus ein sechsjähriger, ein siebenjähriger Knabe, rannte über die Wiese, kletterte an dem alten Nußbaum empor, saß schreiend in den Blättern, warf schreiend grüne Nüsse herunter, schaukelte auf dem Ast, brachte den Nußbaum zum schwanken, der war ja damals auch jünger gewesen, der Nußbaum, damals, als der weißhaarige Fettwanst als Knabe auf ihm saß. Und dann war es gar nicht mehr der verwandelte Fettwanst, dann war er es selber, er war ja auch einmal ein Knabe gewesen und war auf Nußbäumen gewesen, auf Kastanienbäumen, auf Apfelbäumen, auf Zwetschgenbäumen, ja, er war früher oft auf Bäume geklettert, das konnte er heut auch schon nicht mehr, nicht mehr mit seinem einen Arm, nicht mehr mit seinem Bauch, obwohl er doch noch bedeutend jünger war als der Weißhaarige vor ihm im Stuhl, aber seine Haare würden auch weiß werden, wenn sie ihm nicht vorher ausfielen, und sein Bauch würde noch anschwellen, und seine Backen würden dick und hängend werden, noch dicker, hängender als sie jetzt schon waren, und nun saß er, der Einarmige, fett und unbeweglich im Stuhl, mit dem keuchenden Atem des Fettsüchtigen, alt und weißhaarig, und vor ihm, in den Blättern des Nußbaums, schrie der zum Knaben Verwandelte und schaukelte und warf mit grünen Nüssen.
»Die Königin«, sagte der einarmige Mönch, »ist in den Wäldern der Umgebung auf der Jagd, seit einer Woche schon, mit großer Gesellschaft, und sie soll nicht nur Zuschauerin sein bei der Jagd, erzählt man sich, es wird wohl wahr sein, sie ist eine tüchtige Frau, sie soll große Feste geben, in Schloß Burla. Nachts, erzählen sich die Bauern, sollen alle Fenster taghell erleuchtet sein, oft bis zum frühen Morgen, man sieht die Schatten der tanzenden Paare sich drehen, Musik schallt durch den Wald, die Fledermäuse taumeln gegen die Fenster, und die Königin, das erzählen Schloßbedienstete den Bauern, die Königin«, der Einarmige hatte jetzt ein vergnügtes Zucken um die Mundwinkel, als er das sagte, das mußte ihn sehr erfreuen, was er da sagte, und auch den Weißhaarigen freute es sehr, der blinzelte schelmisch, und seine kleinen, von Fett überquollenen Augen strahlten, »die Königin soll keinen Tanz auslassen, keinen Rundtanz und keinen Reihentanz, sie soll die eifrigste sein, die Königin, unermüdlich soll sie sein, wirbelnd, sich drehend, neigend, hüpfend, springend, springend!« Der Einarmige wiederholte das ein paarmal, die Worte »springend, springend«, und seine Freude hatte noch zugenommen, und der Weißhaarige im Stuhl lachte lautlos und schlug mit der kleinen Hand lustig durch die Luft, das lautlose Lachen schüttelte ihn, und dann sagte er, der Alte im Stuhl: »Die Königin, in Schloß Burla, hüpfend«, und nun überwältigte es ihn, »hüpfend, hüpfend«, röchelte er, »wie ein Heuhupfer hüpfend«, sein Gesicht schwoll rot an vor Vergnügen, und er wackelte mit dem mächtigen Kopf und trank einen Schluck Milch, sich zu beruhigen, seine Fassung wieder zu gewinnen, Haltung zu haben, wie sich das ziemt für einen weißhaarigen, gelbkuttigen, dicken Mönch. Aber der Einarmige machte ihm das schwer, als er nun weiter erzählte, daß, wie er gehört habe, der Königin während des Tanzes, während eines stürmischen, wilden Tanzes, bei dem die Jüngsten atemlos wurden und aufhören mußten, Paar nach Paar auf die Bänke niedertaumelnd an den Wänden des Saals, als zuletzt nur noch sie sich gedreht habe mit einem schwarzbärtigen mageren Grafen, der auch schon keuchte, aber der durfte sich nichts merken lassen, so lange die Majestät munter war, daß da während des Tanzes ihr Haarknoten sich gelöst habe, und da habe sie mit offenem Haar weitergetanzt, und das Haar, das schöne, blonde, hellblonde, rötlichblonde Haar, sei geweht und geflattert, und als der Einarmige so weit war mit seiner Schilderung, da wackelte der Weißhaarige stürmisch mit seinen beiden kleinen Fäusten und schrie lachend: »Blondes Haar!« und drehte sich im Sessel und schrie: »Hör aufl« und schrie: »Blondes Haar!« und lachte rasselnd und beruhigte sich nur langsam, aber es gelang ihm doch, er saß wieder still im Stuhl und ließ die Freudentränen rollen, ohne sie wegzuwischen, die ihm die dicken Backen näßten.
Er setzte ein paarmal zum Sprechen an, der dicke Weißhaarige, aber er traute sich noch nicht recht, als fürchte er, wenn er den Mund öffne, kämen statt der Worte wieder Lachsalven, aber dann war er doch so weit und konnte fragen, ob man gehört habe, daß alle drei Grafen auch mit zur Jagd seien, drüben, in Schloß Burla? Auch das habe man gehört, mußte der Einarmige bestätigen, alle drei seien dabei, seien ja immer um die Königin, die drei, wohl die ersten bei Hofe jetzt, und, fuhr der fort, der Einarmige, er habe sie nicht mehr vor Augen bekommen, seit damals, vier Jahre sei das ja jetzt auch schon her, nicht mehr vor Augen bekommen habe er sie, die drei Grafen, aber vergessen würde er ihre Gesichter wohl nie, hätten sich ihm denn doch sehr eingeprägt, damals, obwohl sich doch anfangs wenigstens alles im Schatten und grünem Morgendämmer abgespielt habe, später seis natürlich heller geworden, mit fortschreitender Zeit, und fast eine Stunde habe es doch gedauert, auf der Waldwiese damals, bis alles so weit gewesen sei. Mit dem ersten sei es ja sehr schnell gegangen, mit dem Jüngsten der drei, kein besonderer Fechter der, alle drei übrigens keine besonderen Fechter, er selber übrigens auch nicht, aber der Jüngste, der Schwächste noch dazu, hatte seinen Stich in die Hüfte rasch weg, wollte aber nicht aufhören, wurde aber dann sehr blaß im Gesicht, und der zweite Bruder zog ihn dann halb mit Gewalt weg. Er sehe noch, erzählte der Einarmige, wie man dem Jüngsten die Kleider vom Leib riß, der hatte eine schneeweiße Haut, wie ein Mädchen, und wie das Blut aus der Wunde floß, und er habe genau zugesehen, wie man ihn verband, und wär doch besser gewesen, mehr auf den Fechtenden zu schauen, der ihm sehr auf den Leib rückte, allzusehr auf den Leib rückte, er war der beste Fechter von den dreien, und drängte ihn zurück, bis zur Baumgruppe zurück, da habe sein Fuß eine Wurzel gespürt, eine dicke, tüchtige Baumwurzel im Gras, gegen die habe er seinen Fuß gestemmt, da habe er standgehalten, und habe auch nicht mehr zu dem Verwundeten hinübergeschielt, den man verband, habe mehr in das Gesicht seines Gegners geschaut, sehr aufmerksam hingeschaut, drum vergäße man so ein Gesicht wohl auch nicht mehr, und da schrie gerade ein Raubvogel über der Waldblöße, einen langen, wie klagenden Pfiff der aber schrill wie ein Messerschnitt endete, er sah nicht auf zu dem Vogel, sah nur ins Gesicht des Grafen, und da habe er auf einmal das Gesicht nicht mehr gesehen, so voll Blut sei es gewesen, als habe der messerscharfe Pfiff es zerschnitten, es sei aber natürlich seine, des Einarmigen Klinge gewesen, der Hieb sei über dem Aug in der Stirn gesessen, wohl auch noch ins Haar hinein, ins schwarze Haar, und es sei viel Blut herabgeflossen, und er habe den Fuß nicht von der Wurzel weggenommen, während man den Grafen abführte. Die Wunde sei übrigens später gut geheilt, habe er gehört, auch die Hüftwunde des Jungen, sei kein Nachteil geblieben den beiden, und der mit der Hüftwunde, der habe gestern so wild getanzt mit der Königin, habe er gehört, sei also alles nicht so schlimm gewesen, auch nicht so schlimm gewesen der Stich in den Oberarm, in den rechten Oberarm, den ihm, dem Mönch, dem einarmigen, damals war er ja noch nicht Mönch und noch nicht einarmig, der älteste der drei Grafen, der als letzter antrat, beibrachte, die Blutvergiftung, die später kam, hätte ja nicht zu kommen brauchen.
Im Ameisenhaufen seis wild zugegangen, während man ihm die nicht tiefe Wunde verband, hier sei sie gesessen, er tippte mit dem Finger an eine Stelle des rechten Kuttenärmels, er habe mit dem Degen im Ameisenhaufen herumgewühlt, der war am Fuß der Föhre aufgewölbt gewesen, die hätten sich furchtbar aufgeregt, die Ameisen, große, braune Tiere seien es gewesen, und immer, wenn er die Degenspitze neu angesetzt habe, um ein neues Loch zu wühlen, hätten sie sich in Klumpen auf die Degenspitze gestürzt, es hätte fast ausgesehen, als hätten sie versucht, in das Eisen zu beißen, aber so unvernünftig konnten doch nicht einmal Ameisen sein! Ja, und so seien schließlich die Ameisen die einzigen ernsthaft Geschädigten geblieben an diesem frischen Waldmorgen. Der Bau war so ziemlich zerstört, sollen ja fleißige Tiere sein, werden ihn rasch wieder aufgerichtet haben, aber es seien auch Tote auf der Strecke geblieben, aber so genau habe er gar nicht hingesehen, er nehme es nur eben an.
Der Mönch im Stuhl hatte den leeren Ärmel des Einarmigen jetzt erwischt, schlug damit ein paarmal klatschend gegen die Steinsäule und sagte dann, er nehme an, auch die Hofdame Klara sei drüben in Burla. Aber das sei sie nicht, erfuhr er, das keineswegs, sie habe in diesen Tagen ihrem Mann das vierte Kind geboren, ein Mädchen, aber was sich der weißhaarige Mönch zu dieser Nachricht dachte, das sagte er nicht, vielleicht machte sie auch keinen besonderen Eindruck auf ihn, er antwortete jedenfalls nichts und sah sich um, weil er in seinem Rücken hatte die Eisentür gehen hören und sah vier Mönche aus der Tür treten, die kamen paarweise hergeschritten, in ihren gelben Kutten, sahen alle wie Brüder aus, mit den gleichen, dicken, bartlosen Gesichtern, und schlank war keiner von den vieren, jeder trug einen stattlichen Bauch, und auf den Bäuchen trugen sie die Hände, die man nicht sah, die hatten sie in den Kuttenärmeln übereinandergeschoben, und drollig aus den Sandalen sahen die rosigen, fetten Zehen hervor. Sie wandelten durch die Säulenallee daher, sahen sauber und frisch geputzt aus wie der saubere und frisch geputzte Septembermorgen, gleichmäßig klappten ihre Ledersandalen auf den nun schon ganz trockenen Steinplatten, laut schallte ihr frommer Gruß, als sie bei dem Sitzenden und dem Einarmigen angelangt waren, von ihren dicken Lippen. Sie blieben stehen und waren nun wie sechs Brüder und schwätzten nun vergnügt durcheinander mit der Heiterkeit, wie sie ein klarer Herbstmorgen gibt, in einem wohlgeordneten Garten, mit einem einfachen guten Frühstück hinter sich, mit einem guten Magen in sich, mit einem großen Haus vor den Augen, in dem viele kleine wohlgewaschene Zellen sich befinden, und jeder weiß, daß eine für ihn da ist, und in der Zelle für ihn ein Bett und im Bett keine Frau, weit und breit und nirgend eine Frau, und neben dem großen Haus eine große Kirche mit einem hohen Turm, und eine schallende Glocke im Turm und in der Kirche Gebetstühle für die Zeit, da die Glocke zum Gebet ruft, und ein gutes Dunkel dann in der Kirche und ein rotes Licht, ewig dämmernd am Altar, und um Garten, Hof und Haus und Kirche und Turm eine lange, weiße Mauer, eine feste, beständige Steinmauer, rund herum, voll Sicherheit und Stärke rund herum, weiß gekalkt auf beiden Seiten, und jeden Gang, den man geht, geht man innerhalb dieser schützenden Mauer, und auch der letzte Weg, den man nicht selber geht, den man getragen wird auf den Schultern von vier gelbkuttigen Brüdern in einer schmalen Holzzelle, schmaler noch als die im weißen Haus, führt nicht über die Mauer hinaus, denn auch ein Friedhof ist natürlich neben der Kirche und natürlich innerhalb der weißen Mauer.
Wie sollten da die sechs fetten Mönche nicht lustig schwätzen mit heiteren Seelen, gutmütig wie Männer sind, Männer unter sich, die wie Knaben sind, wenn sie unter sich sind? Im Haus dort kochte jetzt ein Mann das Mittagessen, und in den Zellen saßen noch andere dicke Männer. Mönche waren wohl alle dick in diesem Kloster und hatten dicke Bücher vor sich, lasen in dicken Büchern, langsam, und schauten nach jedem Satz über die Mauer hinweg, nachdenklich, aber ohne Sehnsucht, und manche schrieben an solchen dicken Büchern und schauten auch nach jedem Satz, den sie schrieben, über die Mauer hinweg und wußten, draußen sind viele Leute, Männer, auch Kinder und viele Frauen mit langen Haaren, und das dreht sich draußen und tobt und schreit, und die Frauen jammern, aber hier hinter der weißen Mauer sind nur gelbkuttige Männer, meistens dick, und erwarten hier ruhig, denn alles hat seine Zeit, einen letzten Tag, dem die draußen blind entgegenstolpern, einen Säbel in der Hand, oder eine Geldrolle, oder die Hand verkrampft in langes Frauenhaar.
Weiß waren die Steinplatten und lichtgrün funkelte der Hof und wie war dagegen die Kirche innen braun und dunkel, und dunkler noch wars in einem kleinen Turm, in einem kleinen Holzturm, der an der Innenwand der Kirche stand, und in dem kleinen Holzturm waren zwei Männer, zwei gelbkuttige Männer, einer saß und der andere kniete vor ihm, der Sitzende saß so tief, daß die Gesichter der beiden in gleicher Höhe waren, und zwischen den Gesichtern war ein Holzgitter, der kleine Holzturm war ein Beichtstuhl, und der Sitzende nahm die Beichte ab und der Kniende beichtete. Der Sitzende war ein dicker Mönch, in dem engen Stuhl tief sitzend in seiner gelben Kutte sah er aus wie eine große geplusterte Gluckhenne, in dem dicken Gesicht die Hakennase aber war wie ein Adlerschnabel, gar nicht wie der Schnabel einer Henne. Der dicke Mönch war nicht mehr jung, aber der Kniende, der sehr mager war, ein braunes Gesicht hatte, der war jung, war sehr jung, war ein Jüngling, wie er jetzt den Kopf warf und sich anklagte. Er klagte sich an, daß er böse und unfreundliche Gedanken habe gegen einen Mitbruder, und wisse er auch wohl, daß es ihm nicht anstünde so zu denken, er sähe ihn an wie einen dicken Heiden, den weißhaarigen Bruder, der draußen im bequemen Stuhl jetzt sitze in der Säulenhalle und wohl wieder einmal gerade esse und der den ganzen Tag nichts täte als essen und trinken und wieder essen und gut essen und schlafen und gut trinken und der ein Heide sei, ein unmäßiger Heide, ein unfrommer, und der dicke Einarmige sei nicht viel besser, und das Kloster betrachteten die beiden wohl als einen Ort des ruhigen Wohllebens, der dicke Vater und sein dicker Sohn, und seien aus dem Leben geflohen, weil sie den Kampf scheuten und suchten Bequemlichkeit im Kloster und fanden Bequemlichkeit im Kloster, wo doch hier im Kloster erst der härtere, der Strengere, der höhere Kampf auszukämpfen sei. Es lächelte der dicke Beichtvater, und er sah durch das Holzgitter dem Jungen ins glühende Gesicht, der ihn fragte, ob ein König denn sein Land im Stich lassen und vom Thron herabsteigen dürfe, weil ihm die Last zu schwer erscheine, ob er denn dürfe diese Last abwerfen anders als um eine noch schwerere auf sich zu nehmen? Aber nun lebe er hier im Kloster wie ein Müßiggänger und bete nie und erfülle seine Mönchspflichten nicht, und ob denn nicht die Brüder alle mitschuldig würden, keuchte der junge Glühende, die das duldeten, bloß weil da einer einmal König gewesen sei und ein anderer Kronprinz? Ob das Kloster sich einen Vorteil davon verspräche, daß es die beiden aufgenommen habe, irdischen Vorteil? Er sei ein sündiger Mensch, stammelte der Jüngling, und der schlechteste im Kloster, und jemand zu verdammen, das läge ihm fern, aber Schlimmes ohne Empörung zu sehen, sei das nicht auch ungut und zeuge von Lauheit und geringem Eifer? Der dicke Mönch mit der Adlernase im Beichtstuhl sah schwarze Striche schattig, gittrig über das Gesicht des Jünglings laufen und hörte die Stimme des Jungen wie auf einmal weit weg, weil der sich mühte, gedämpfter zu sprechen, und mit Selbstvorwürfen begann, wieso gerade er dazu käme, so streng mit Brüdern ins Gericht zu gehen? Jedermann wisse ja, wer der große Sieger gewesen sei der großen Sönheimer Schlacht, der das Land frei gemacht habe und das freie Land ein Jahrzehnt lang glücklich beherrscht. Die Mutter, die Königin, verwalte nun das Reich, und jeder sei zufrieden im Reich, und den uralten Polonius habe er ihr beigegeben, weise sei der wie Salomo und gerecht wie keiner, und der Thronerbe, des Sönheimsiegers Neffe, wachse auch schon heran und dem Throne zu, und als ihn, den Sönheimsieger, damals der Schlag lähmte – was allerdings käme von zu vielem Essen, das sei ein arger Fehler, und auch jetzt im Kloster habe er das Fasten nicht gelernt –, da habe der Gelähmte vielleicht gefühlt, daß er genug getan habe, wer sähe in eines Menschen Herz hinein? Und wenn auch die Lähmung wieder sich gegeben habe, konnte sie nicht wiederkommen, jeden Tag, und dauernd in ihm bleiben – das viele Essen gäbe er ja doch nicht mehr auf, und vielleicht sei er ins Kloster gegangen, nicht weil er sich reif zu einem klostermäßigen Leben fühlte, aber weil er hoffte, innerhalb der weißen Mauer reif dafür zu werden, dann müßte man das loben und nicht tadeln, wie er das voreilig tue, nichtswürdig wie er sei! Der Einarmige nun gar, sein Sohn, vielleicht fühlte er nicht die Kraft zur Herrschaft, fühlte sich nicht würdig genug, den Thron zu besteigen, sähe neidlos zu und demütig und ohne Herrschbegier und ohne Eitelkeit, wie sein Vetter auf Glanz und Macht vorbereitet würde, was sei ihm da vorzuwerfen? Und der Vater, ertrage er sein vieles und ungeheures Fett nicht standhaft, klage er je darüber, daß er das Gehen verlernt habe und das Stehen und nur mehr sitzen könne in seinem Schmerzensstuhl und es ihm sogar versagt sei, sich nachts auf das Lager zu strecken wie er, der Beichtende, es selber jede Nacht tue, während der Weißhaarige in seinem Stuhl schliefe und wohl auch manche Nachtstunde nicht schliefe, weil der Schlaf den Sitzenden eher meide als den Liegenden?
Gierig sah das braune Jünglingsgesicht in das fette des Beichtvaters, und er war wohl jung genug, daß er so gierig fragte, und edel genug, daß er eine Antwort wollte, und indem ging die Kirchentüre schallend auf und eine Woge Licht schwemmte herein, und mit dem Licht kamen die vier Mönche und knieten nebeneinander nieder auf einer harten Bank, und ihre vier fetten Gesichter leuchteten im nun wieder dunklen Raum, denn die Kirchentüre war schallend wieder zugefallen, und die vier begannen halblaut zu beten, das füllte wie Summen den Raum, steigend und fallend, anschwellend und abschwellend, als sei eine große Hummel in einer Glasglocke gefangen und suche brummend Erlösung, und als der junge, magere, gierige Mönch, der beichtende Mönch, wieder mit Fragen und Klagen zu stürmen begann gegen den Adlernasigen, neigte ihm der mild sein Gesicht entgegen, aber sein Ohr war bei dem brummenden, Erlösung suchenden Mönchsgesang.
Es ging nun schon gegen Mittag, kleine, weiße verstreute Wölkchen hingen am Himmel, der Wald rührte sich nicht mehr, der im prallen Licht nun lag auf seinem Hügel jenseits der weißen Mauer, und das Weiß dieser Mauer lief nun wie ein hellfeuriges Band um das Kloster, und wenn Vögel, die auf der Mauer saßen, Spatzen etwa und so kleines Zeug, knistrig, schwirrend, aufflogen, so wars, als sprühten Funken von ihr ab. So war die Hitze an diesem Tag und seit Tagen schon, um diese Stunde, aber etwas Klares in der Luft, etwas Gläsernes um die Kanten der Dinge, etwas Metallisches, Hartes um Gras und Strauch war als Herbstliches schon da, und wenn auch die mauerumschlossene Mulde brodelte grauschäumend, das flinke Wiesel, das die Mauer entlang wehte wie ein vom Wind getriebener Flaum, hatte Brust und Bauch schon weiß gefärbt, das braungelbe Tier, in Erwartung eines Winters, der kommen mußte, wie er jedes Jahr kam mit weißem Schnee statt der weißen Hitze, die jetzt noch blendete. In der schattigen Säulenhalle der dicke, weißhaarige Mönch mit dem roten Gesicht saß immer noch in seinem Stuhl, in dem er seit zwei Jahren schon saß, ohne ihn mehr zu verlassen, bei Tag nicht und nicht bei Nacht, und die Füße des Stuhls trugen kleine, eiserne Räder, daß man ihn fahren konnte wie einen Wagen. Auf dem Tisch vor dem Stuhl stand das Mittagessen jetzt, auf dem weißen Tischtuch, er aß nichts Schlechtes, der weißhaarige Mönch, ein braunes Rebhuhn hatte er auf seinem Teller und zerteilte es gerade, und das kleine Gerippe auf dem Teller daneben war auch einmal mit Fleisch bepackt gewesen, und ein Laib weißen Brotes lag auf dem Tisch, und in dem Krug war nicht Wasser, in dem Krug schimmerte dunkel und kühl braunes Bier. Er kaute langsam und gemessen, und Schweißtropfen standen in einem glänzenden Bogen auf seiner Stirn. Eine Schüssel grünen Salates war schon halb leer gegessen, und während er aß, kam ihm wie manchmal der Gedanke, das sei vielleicht das letzte Mahl, das er einnehme, und wie meistens störte das seinen Appetit nicht, nicht blieb ihm das Essen deshalb im Munde stecken, wie bei manchem schwächeren Gemüt das vielleicht so gewesen wäre, bei ihm trat das Gegenteil ein, es mehrte seine Lust.
Er sah sich um in seinem Schattenbezirk, von allen Seiten drängte die weiße Hitze heran, tropfte vom Himmel herab, lief in zittrigen Wellen über das Gras daher, von der weißen Mauer prallte sie heran, wie abgefeuert aus Geschützen, lautlos donnernd, die summenden Bienen trugen sie heran, und der kochende Wald droben funkelte drein, aber seinen schwarzen Schattenkreis erstürmte sie nicht, die Hitze, dafür sorgte das gute steinerne Dach, von den steinernen Säulen getragen.
Er war langsam fertig geworden mit seiner Mahlzeit. Drinnen an langen Tischen saßen jetzt wohl die Brüder, schmausend, er saß allein hier, allein in seinem Stuhl, er faßte die Lehne an, war ein guter, gepolsterter Stuhl, er würde sitzen bleiben hier den ganzen Nachmittag und hier auch noch das Abendessen einnehmen, dann kamen wohl ein paar Gelbkuttige und schoben ihn ins Haus, in seine Zelle, die größer war als die der übrigen, die die größte aller Zellen war in dem Kloster, aber wäre sie auch noch größer gewesen und wäre ein großer Saal sogar, er hatte ja doch nur seinen Stuhl, von dem er nie mehr aufstehen würde, der war groß genug und weit genug und geräumig genug für ihn, der Stuhl, bequem wie ein Bett, und schlaflos ließ es sichs in ihm besser sein als im Bett. Er schlief nicht gut, die längere Zeit schon, waren kurz gewesen, Gott sei Dank, die Sommernächte, aber wurden jetzt schon wieder länger, und die langen schwarzen Nächte allein im Stuhl und schlaflos, die wollten ertragen sein, wenn man auch eine Kerze anzünden konnte, dann wurde das Dunkel etwas gelichtet, aus schwarz wurde braun, aber kürzer wurde die Nacht nicht, wurde sie nicht.
Aber noch saß er hier im hellen, hellen, hellen Mittag, flirrte es weiß um ihn, er trank, der Krug war tief, noch einen Zug, dachte er, und noch einen, und es schluckte sich gut, und er hob den Krug noch höher, zu hoch, es kam zuviel des Bieres auf einmal, er setzte ab, hustend, keuchend, spürte, wie ihm das Blut in den Kopf in die Schläfen, in die Nase, in die Augen stieg, daß es purpurn war um ihn, so purpurn wars auch damals gewesen, bevor der Schlag auf ihn niederfuhr, kam er wieder, kam er wieder jetzt aus dem roten Blutfeuer niedergefahren, schmetternd? Aber es ging vorbei diesmal, ging wieder vorbei, wie es noch manchmal vorbeigehen würde, sein Atem kam wieder ruhig, er hustete nicht mehr, der weißhaarige, rotgesichtige, fette Mönch in seinem Stuhl.
Man hatte nicht immer so gesessen in einem Stuhl, man hatte allerhand getan, früher, dieses und jenes, die Zeit war vorbei, und hatte nie recht gewußt, damals, warum man dieses tat und jenes nicht, und um diese Zeit, die Zeit der Tat, war es vielleicht auch notwendig gewesen. Später dachte man über manches und vieles anders, und würde manches nicht mehr tun, was man früher einmal getan hatte. Irgend etwas war, was einen trieb und schob, da war nichts zu bereuen, und vielleicht würde man einmal erfahren, was einen gestoßen und geschoben hatte, wahrscheinlich wars ja nicht, daß man je Aufklärung erhielt, hier und bis jetzt wenigstens hatte man sie nicht erhalten, und ob man sie je anderswo erhielt, blieb zweifelhaft, blieb sehr zweifelhaft, war aber immerhin möglich. So war etwas wie Neugier entstanden nach Mitteilungen, die man vielleicht noch bekam, aber so arg eilte es nicht mit der Aufklärung, war schon noch zu bezähmen, die Neugier, so heftig tobte sie nicht in einem, tat sie nicht.
Er sah zum blauen Himmel auf, noch war der blaue Himmel da über ihm und noch konnte er die Arme bewegen, und er tats, und den Kopf rühren, und er tats, und den Fuß heben, und er tats, und der blaue Himmel würde ungerührt über ihm sein, wenn er wie ein Sack im Stuhl einst hängen würde, gelähmt, die Zunge schwer wie Blei im Mund und regungslos, wie damals, und auch das würde dann auszuhalten sein, würde ertragen werden müssen, die Augen konnte man ja noch rühren und den ungerührten blauen Himmel anschauen und nachts die Kerzen flackern sehen in der braunen, großen Zelle, der größten, die im Kloster war.
War schließlich kein großer Unterschied, ob man herumlief und schreien konnte oder saß und gelähmt war und stumm. Warum lief man herum, warum schrie man, warum sah man noch stumm den blauen Himmel aufmerksam an? Und einmal, wenn man schon längst nicht mehr laufen konnte und schon längst nicht mehr schreien, und nicht einmal mehr stumm im Sessel sitzen konnte, zu schauen, zu schauen, dann war man etwas, was man tot sein nannte.
Ein Zittern lief über den blauen Himmel, da zitterte auch der weißhaarige, rotgesichtige, gelbkuttige Mönch, aber er war ohne Furcht, es war nur sein Leib, der zitterte.
Auch sein Abendessen hatte er nun schon eingenommen, der weißhaarige Mönch in seinem Stuhl, unter dem steinernen Säulendache, er hatte den Nachmittag langsam verglühen sehen und hatte gesehen, wie der schärfere, kühlere Abend kam und der Himmel über dem Wald grün wurde und die weiße Mauer fahl, und jetzt, zur Dämmerung, kamen zwei Mönche, ein einarmiger, dicker und ein junger, magerer mit glühenden Augen, die schoben den dicken Mann auf seinem Räderstuhl durchs eiserne Tor und durch einen Gang in eine große Zelle, wo auf einem Tisch schon eine Kerze brannte, und eine Glocke lag auf dem Tisch, Bedienung herbei zu läuten. Mit einem frommen Gruß gingen die beiden Mönche wieder, und der magere mit den Glühaugen hatte sich nochmals umgesehen, und der dicke, weißhaarige Mönch saß nun allein und sah in das Kerzenlicht hinein und verlöschte dann mit zwei Fingern die Flamme, das brannte ihn ein wenig, er spürte es nicht ungern und sah nun zum Fenster hinaus, wo man ein paar Sterne sah, und deswegen hatte er das Licht wahrscheinlich ausgedrückt, um die Sterne besser zu sehen.
für die Prosabände 7 bis 16.
Als Druckvorlage diente diesen Bänden die Ausgabe »Georg Britting-Gesamtausgabe in Einzelbänden« der Nymphenburger Verlagshandlung, München.
Zu den Bänden 13, 14 und 16:
Diese Bände enthalten die Beiträge des Bandes „Anfang und Ende“ der zuvor genannten Ausgabe, der nach dem Tod von Britting im Jahr 1964 erschien und folgende Nachbemerkung enthält: Mit diesem Band ist die Gesamtausgabe der Werke Brittings abgeschlossen.
Sechs Bände sind vom Dichter in den Jahren 1957 bis 1961 noch selbst redigiert worden, sozusagen als Ausgabe letzter Hand. 1965 erschienen und dem Titel »Der unverstörte Kalender« [Band 6 unserer Ausgabe] zunächst die Gedichte aus dem Nachlaß. Nunmehr wird der erzählerische und dramatische Nachlaß Brittings in Buchform zusammengefaßt. Wie schon der letzte Gedichtband, enthält er Werke aus allen Schaffensperioden: zunächst Erzählungen, sodann Bilder, Skizzen und Feuilletons, [unser Band 13] die Britting bisher in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hatte, das Fragment eines größeren erzählerischen Werkes aus der Spätzeit, »Eglseder« [unser Band 16] und schließlich drei dramatische Arbeiten aus den zwanziger Jahren [Unser geplanter Band 14]. Das dichterische Werk Georg Brittings liegt damit, abgesehen von einigen wenigen peripheren Arbeiten, in acht Bänden vollständig vor.
Die nun vorliegenden Bände 14 und 15, „Dramen“ sowie der Roman „Lebenslauf eines dicken Mannes, der Hamlet hieß“, folgen ebenfalls der Druckvorlage der Nymphenburger Ausgabe.
Ausführlichere Informationen unter: www.britting.de
Band 15
Hrsg. von Ingeborg Schuldt-Britting
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Informationen über den Dichter und sein Werk in www.britting.de.
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© 2012 Georg-Britting-Stiftung
83101 Höhenmoos
Wendelsteinstraße 3
Satz u. Layout: Hans-Joachim Schuldt
Made in Germany
Gedruckte Taschenbuchausgabe:
ISBN 978-3-9812360-0-2
ISBN 978-3-9812360-9-5
1 Der irdische Tag
2 Rabe, Roß und Hahn
3 Die Begegnung
4 Lob des Weines
5 Unter hohen Bäumen
6 Der unverstörte Kalender
7 Die Windhunde
8 Das treue Eheweib
9 Das gerettete Bild
10 Das Liebespaar und die Greisin
11 Der Schneckenweg
12 Die bestohlenen Äbte
13 Anfang und Ende
14 Dramatisches
15 Der Hamlet Roman
16 Eglseder - Ein Fragment
17 Regensburger Bilderbögen
18 Italienische Impressionen
19 Theaterkritiken
20 Briefe an Georg Jung
21 Briefe an Alex Wetzlar
22 Nachlese Gedichte
23 Nachlese Prosa
Kommentare und Anmerkungen zu den einzelnen Bänden und zu Werkgeschichte und Biographien, sowie ca. 800 Buchseiten »Rezensionen, Interpretationen und Sekundärliteratur«, erhalten Sie online unter www.britting.de.