Anhang Band 2 S.292
Werkgeschichte und Biographie


6. Die kulturelle Szene Münchens im literarischen Leben des Dritten Reichs

Bereits im literarischen Leben der Republik war »B.s Bild in der Öffentlichkeit [... ] von seiner süddeutschen Herkunft bestimmt« (Bd. 1, S. 61o); in den dreißiger Jahren wird nicht nur das )stammhafte Gefüge< der Nationalkultur noch entschiedener literaturpolitisch betont, sondern auch für die Abwehr politischer Vereinnahmung gewinnen andererseits die regionalen Gruppen und Kreise, wie sie sich gerade im konservativen München der zwanziger Jahre als Träger literarisch-geselligen Lebens ausgebildet hatten, weiter an Bedeutung. Beide Tendenzen überlagern sich in B.s Freundeskreis; »Britting hatte viele Freunde«, erinnerte sich Curt Hohoff

Sie erlagen dem Zauber seines Wesens. Es waren Paul Alverdes, Hanns Braun, mit gewissem Abstand Ernst Penzoldt und Eugen Roth. Die Beziehung zu Achmann wurde loser. Dazu kamen die Freunde unter den Fischen, die sich nahezu täglich trafen. Gelegentlich ging Britting zum Simplicissimus-Stammtisch in der Pfälzer Weinstube oder in der Torggelstube am Platzl. Dort lernte ich Foitzick, Seyboth und die Zeichner Olaf Gulbransson und Karl Arnold kennen. Als satirische Zeitschrift hatte der Simplicissimus unter der Diktatur wenig Spielraum. Es entwickelten sich jedoch intrikate Formen der Kritik, des Spottes und der Ablehnung. Sie wurden damals allgemein verstanden und genossen. Der alte Simplicissimus hatte eine gehörige Portion Frechheit. Was sich Militär und Kirche vor dem Jahr 1933 hatten sagen lassen müssen, wurde jetzt, viel harmloser, auf Staat und Partei gemünzt; der Biß war schwächer, aber die Gefahr viel größer.
In Paul Alverdes' Haus in Grünwald lernte Britting viele Mitarbeiter des Inneren Reichs kennen. Dort war man unter sich, trank Kaffee und Wein im Garten oder in der Bibliothek. Zu den Gästen gehörten der alte Rudolf G. Binding und anfangs Rudolf Alexander Schröder. Manchmal erschien Hans Grimm, der Hitler für den Verräter der nationalen Sache hielt. Ernst Wiechert, Ernst Penzoldt, Erich Edwin Dwinger, Karl Benno von Mechow konnten jederzeit kommen. Zu den jungen Mitarbeitern gehörten Franz Tumler und Willy Steinborn. Viele dieser Schriftsteller waren Autoren des Verlags Langen-Müller. Wichtig war, welche der Langen-Müller-Autoren hier nicht verkehrten: Wilhelm Schäfer und Kolbenheyer. Gelegentlich kam Hans Carossa von Passau herüber. Curt Langenbeck, Dramatiker und Intendant des Staatstheaters, wurde eingeladen, hatte aber selten Zeit. Josef Ponten fühlte sich zu wenig verehrt und blieb weg. Georg Britting wirkte hier mit dem Zauber seiner Persönlichkeit. Er vermittelte den Eindruck eines ganz in sich ruhenden Mannes. Er hielt den Posten einer nicht angewendeten und nicht anwendbaren Literatur. Er, der einzelne, fügte sich keiner Richtung, keinem Wunsch, und dadurch strahlte er Energie aus. Sie
kam dem Inneren Reich zugute.
(Hohoff; S. 211f)
Anders als die Autoren einer strikten )inneren Emigration< nahmen etwa Paul Alverdes oder Hans Carossa aller Vorbehalte zum Trotz am Literaturbetrieb lebhaft teil; Carossas Briefe nennen B. gelegentlich als einen jener »befreundeten Menschen«, deren Gesellschaft er den politisch engagierten »Brandenburg u. Barthel« vorziehe (an Hedwig Kerber, 30. 111938; Carossa, Briefe III, S. 62). Doch gehörten, wenngleich in unterschiedlicher Nähe, auch Brandenburg wie Edwin Erich Dwinger, Heinrich Zillich und Friedrich Ludwig Barthel, der 1925 die Argonauten mitbegründet hatte (vgl. Bd. 1, S. 608), später auch Mitglied des Bamberger Dichterkreises wurde (Segebrecht, S. 93-101), zu B.s Bekannten unter den Literaten (ein aus den dreißiger Jahren erhaltenes Fotoalbum [in Privatbesitz] zeigt B. vor allem mit Bekannten aus dem Binding-Kreis). Das politische Spektrum reicht unter diesen Männern, die sich vom Erlebnis des Weltkriegs geprägt wußten, vom Gefühlskonservativismus bis zur offenen Parteinahme für das Dritte Reich. Rudolf G. Binding, obschon kein Mitglied der NS-Partei, hatte sich 193 3 doch in einer weithin beachteten Antwort eines Deutschen an die Welt »gegen Angriffe und Mißdeutungen« gewandt, die - vorgeblich geschürt von den Emigranten - die »eigentliche Wahrheit« der deutschen »Einung« verzerre und die entscheidende Dimension einer neuen »Religion der Wehrhaftigkeit [...] für alle Völker« nicht zu fassen vermöge (Binding Bd. 5, S. 278€. u. S. 282); daß etwa ein Autor wie Lion Feuchtwanger, der zur weitläufigen Verwandtschaft von B.s Freund Alex Wetzlar zählte, als >Schriftsteller< und Emigrant in B.s Kreis wenig Achtung genoß, ist bei Hohoff (S. 201) bezeugt.
»Durch Frau Atzinger [d. i. Kiefhaber] und die Brüder Wetzlar standen wir in unmittelbarer Beziehung zu den Verfolgten jener Zeit, den deutschen Juden«, betont Hohoff (S. 179) als Chronist von B.s Stammtisch »Unter den Fischen«. Wetzlar gehörte freilich nicht zum Stammtisch, wie er auch B. mit einer gewissen Scheu vor dem Nimbus des >Dichters< begegnete (vgl. Raich, S. 126£). Alex Wetzlar stammte aus einer alteingesessenen angesehenen jüdischen Münchner Familie (vgl. Bd. IV); am 23. 11. 1949 schrieb B. an Georg Jung über Wetzlar, den »emigrierte[n] jüdische[n] Freund [...], der heut' in London lebt. Er war schwer verwundeter Offizier des Ersten Weltkriegs, und hatte in München ein großes Silber-, Gold- und Juwelengeschäft, ein reicher Mann. Heut' ist er ein armer Angestellter«.
Seine politische Einstellung verband Wetzlar mit jenen Vertretern eines autoritär konservativen und nationalen politischen Denkens, die auch sonst in B. s Umkreis verkehrten und die mit dieser Haltung den Nationalsozialisten keineswegs stets genehm sein konnten. So fand B. bei einer Reise nach Italien denn auch Zugang zum Kreis von Ludwig Curtius (1874-1954), dem Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom, keineswegs ein Anhänger der Demokratie, sondern ein Bewunderer des italienischen Faschismus, dem indes »die Praktiken des Nationalsozialismus [...] zu weit« gingen (Klaus Voigt, Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien 1933-1945, Bd. i, Stuttgart: Klett-Cotta 1989, S. 82); ihm wurde
im Juli 1937 auf Drängen der Parteizentrale der NSDAP das Ersuchen um seine vorzeitige Pensionierung nahegelegt. In der Nachkriegszeit, am 8. April 1947 erzählt B. Georg Jung: »Bei Curtius, dem Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom, einem Freund Carossas, wohnte ich einmal vierzehn Tage, und las bei ihm vor. [...] Bei meiner Vorlesung war auch Hassel da, damals, 38 glaub' ich, war er deutscher Botschafter in Rom. 1944 ist er aufgehängt worden. Seine Frau, eine Tochter von Tirpitz, sprach damals schon sehr unfreundlich von der Reichsregierung«; am 5. 1. 1948 kam B. nochmals auf diese »vierzehn unvergeßlichen römischen Tage« -jetzt wohl korrekt auf das Jahr 1936 datiert - zurück: Curtius »stand nicht gut bei den Nazis, wurde dann auch abgesetzt, soll aber jetzt wieder an seinem alten Posten sein«.
Zu einem engeren Kontakt mit Autoren, die führende Positionen im Literaturbetrieb des Dritten Reiches einnahmen, kam es hingegen nicht. Das Verhältnis zu Will Vesper blieb distanziert; in Vespers Zeitschrift Die neue Literatur wird B.s nur selten gedacht; B. steuerte zu der Glückwunschmappe zu Vespers fünfzigstem Geburtstag eine Abschrift seines Gedichtes Die kleine Welt in Bayern (DLA) bei, gestattete auch den Nachdruck von acht Gedichten in Vespers Anthologie Die Ernte der Gegenwart. Deutsche Lyrik von heute (1940), deren Vorgängerin ihn schon in den Regensburger Jahren begeistert hatte (vgl. Expressionismus in Regensburg, S. 23; B.s Einverständnis zum Nachdruck, an Vesper, 24. 1. 1939; DLA). Das Deutsche Volkstum, die Zeitschrift Wilhelm Stapels, der eng der Hanseatischen Verlagsanstalt verbunden war, brachte 1935 eine Auswahl aus Brittings Werken (vgl. S. 304), im Jahr 1936 außerdem vier Gedichte aus dem Irdischen Tag im Nachdruck (S. 136-138).
Über den seinerzeit einflußreichen Erwin Guido Kolbenheyer schrieb
B. am 21. Januar 1949 an Georg Jung:
Ich habe keinen rechten Zugang zu Kolbenheyer, aber er war immer von mir angetan, fast könnte man's unglückliche Liebe nennen. Bei einer der dummen Rundfragen: Was würden Sie auf eine einsame Insel
mitnehmen, wenn Sie nur zehn Bücher mitnehmen dürften? schrieb Kolbenheyer in der Kölnischen Zeitung, neben Faust und Don Quichotte und Homer etc. [...] den dicken Mann.
Anders als sein Freund Paul Alverdes fand B. freilich auch keinen engeren Kontakt zum konservativ nationalen Lippoldsberger Kreis von Hans Grimm, an dessen Treffen auch Autoren mit konfessionellen Vorbehalten gegen den Nationalsozialismus teilnahmen, so etwa Rudolf Alexander Schröder, der wohl durch Alverdes auf den Autor des Irdischen Tag aufmerksam wurde (vgl. unten S. 316£). Zur Beurteilung der schreibenden Zeitgenossen ist in Eugen Roths unveröffentlichten Tagebüchern der dreißiger Jahre eine Notiz überliefert:
Natürlich reden wir viel über Dichtung, über die einzelnen Begabungen. Dabei kommen manche Leute, wie Wiechert, aber auch Grimm oder Binding, schlecht weg.
So nahm B. denn auch nicht am »Wiechertkult« (Hohoff, S. 210), vgl. S. 286) teil - trotz persönlicher Bekanntschaft mit diesem konservativen, sich allmählich den Kreisen einer >evangelischen> Gesinnungsopposition gegen den Nationalsozialismus annähernden Autor >stiller<, die >Einfachheit< des Naturlebens verklärender Bücher (vgl. oben S. 269; außerdem die Gedichtwidmung, Anm. zu S. 8o); noch in der Nachkriegszeit spricht B. abschätzig von » Wiechert, der Opium herstellt« (an Jung, 9. 12. 1947). Ob bei B.s Haltung ein Konflikt Wiecherts mit Paul Alverdes wegen politischer Differenzen (vgl. Mallmann, S. 87; sowie unten S. 300) eine Rolle spielte, scheint sich nicht mehr klären zu lassen.

(Der Kreis um Rudolf G. Binding)
B. war hingegen jenem »Kreis jüngerer Freunde« integriert, den der damals in Starnberg lebende, erfolgreiche Autor Rudolf G. Binding »an Samstagen zu sich berief«; zu nennen sind außer ihm Alverdes, Rudolf Bach, Friedrich Ludwig Barthel, Edwin Erich Dwinger, Karl Benno von Mechow, Ernst Penzoldt, Wilhelm Emanuel Süskind, Heinrich Zillich (noch in handschriftlichen Erinnerungen an B. nach dessen Tod [StB München] wird sich Josef Magnus Wehner auf die gemeinsame Verehrung für Binding berufen, vgl. Bd. IV). Binding nannte - wie Ludwig Friedrich Barthel in seiner Rede am Sarge berichtet - diesen Kreis »seinen Freundestisch und diesen Freundestisch in der ihm eigenen prägenden Weise eine Institution« (Dem Andenken Rudolf G. Bindings; Nr. 77. S. 13). Alverdes, dessen überlieferter Briefwechsel mit Binding im Jahr 1923 einsetzt (DLA), hatte B. hier eingeführt; mit der nach London emigrierten Elisabeth Jungmann, ehemals Gerhart Hauptmanns Sekretärin, dann die Lebensgefährtin Bindings, »derentwegen er knapp am KZ vorbeikam« (ebd.), hatte B. noch in der Nachkriegszeit Kontakt. Doch wird sein Name, nachdem er zu einem Band der Deutschen Akademie, einer »Festgabe« Rudolf G. Binding zum Gedächtnis (Nr. 77) das Gedicht Anfang und Ende (vgl. unten S. 189) beigesteuert hatte, in dem 1954 von Barthel herausgegebenen Band Das war Binding fehlen.

Wingult ist die stärkste Erzählung Bindings. Mit Unsterblichkeit und Opfergang kann ich nicht viel anfangen. Binding war ein wunderbarer Mensch, wir erlebten unvergeßliche Nachmittage bei ihm, in Starnberg.
So berichtete B. rückblickend Georg Jung über diesen Kreis, ohne seine Vorbehalte gegen Bindings Werk zu verhehlen. Anscheinend konnte er die bemüht schlichte Naturmythik in der Erzählung Wingult akzeptieren, während ihm die epigonale Novelle Opfergang, eine Reprise von Stifters Brigitta (1844), ebensowenig bedeuten konnte wie der sexualisierte Mythensynkretismus, der in Unsterblichkeit die Kriegsniederlage (Deutschland als aus dem Elementaren wiedergeborener )Ikarus<) überhöht.
In einem Brief, der Fritz Knöller am 4. August 1938 Bindings Tod meldet, hat B. den Älteren charakterisiert: Er »war ein Ritter ohne Furcht und Tadel«. Auf Bindings »ritterliche Erscheinung« weist denn auch der Titel von Ernst Penzoldts Beitrag zur Gedächtnisschrift (Nr. 76, S. 22-25) hin; einem »jungen Freund« wird die Persönlichkeit Bindings in einer Weise vorgestellt, die wohl auch die gängigen Männlichkeitsideale der Nationalsozialisten korrigieren soll:
Du fandest bei ihm Stolz ohne Hoffart, Kraft ohne Brutalität, Empfindsamkeit ohne Sentimentalität. Du lerntest, wie man fremde Leistung ohne Selbstaufgabe achtet, was Gegnerschaft ist ohne Niedertracht und Gehässigkeit, was eines Menschen und Deutschen würdig und seiner nicht würdig ist, wie man das Echte vom Schein, das Lautere vom Gewöhnlichen unterscheidet - mit einem Wort: Du lerntest bei ihm Kultur haben. (S. 23f.)
Paul Alverdes schließlich hebt Bindings konservative, nationale Haltung hervor:
Unvergeßlich aber bleibt es, wie er von den Gegenständen sprach, die ihn im tiefsten angingen: von der Kunst und von dem Vaterland und von dem Staate. Von dem Staate vor allem. Er erwartete sich kein Reich jenseits der Grenzen des Lebendigen und keinerlei Verwirklichungen außerhalb des Jetzt und des Hier. Darum erschien ihm der Staat als die höchste und die oberste aller Verwirklichungen des Menschengeschlechtes und des Menschengeistes, und gerne stellte er sie sich als ein möglichst reiches und möglichst dauerhaftes Blühen alles dessen vor, was in einem Volke überhaupt zu blühen vermöchte. Er sprach langsam und sehr bedacht davon [...]. Wir hörten ihm mit Ehrfurcht zu. (Ebd. S. 20)
Ähnlich berichtet Friedrich Ludwig Barthel in seiner Grabrede, bei der B.
wahrscheinlich nicht anwesend war, von den Gesprächen über die
»Unzerstörbarkeit des Wortes« und schließt im sakralisierenden Tonfall
der bündischen Feiern:
In diesem bittersten Augenblick der Trennung wollen wir Dich, Rudolf G. Binding, der Du uns Deine Freunde hießest, einmal wie zur Erlösung des Herzens Freund und Vater nennen. Denn beides warst Du uns und die Sohnschaft, die wir hier an Deiner Bahre antreten, sei nur die reinste und strengste Verpflichtung, das Wort wie Du zu lieben, zu scheuen und ihm wie Du nachzuringen. Für Paul Alverdes, Georg Britting, Erich Edwin Dwinger, Karl Benno von Mechow, Ernst Penzoldt, Wilhelm E. Süskind und Heinrich Zillich gelobe ich Dir, unsterblicher Mann, diese Mannestreue zu Deinem, dem ewigen, dem unzerstörbaren deutschen Wort.

(»Das Innere Reich«)

Von einer nationalen Haltung war auch B.s wichtigstes Forum während des Dritten Reiches, die Kulturzeitschrift Das Innere Reich, geprägt; sie wurde von Paul Alverdes und Karl Benno von Mechow herausgegeben (zu Programm und Geschichte der Zeitschrift - auch zum wachsenden kulturkonservativen Vorbehalt gegen das Dritte Reich - vgl. Volke, sowie die Briefe von Karl Benno von Mechow an Paul Alverdes; DLA). B. lieferte zum Inneren Reich über achtzig Beiträge; vom Herausgeber Paul Alverdes stammten nur 39, und auch andere der namhaften Stammautoren der Zeitschrift erreichten nicht dieselbe Anzahl von Beiträgen wie B.: Walter Bauer ist mit 52, Franz Tumler mit 58, Georg von der Vring mit 43, Josef Weinheber mit 56 Texten vertreten.
Obschon die Zeitschrift sich in der zensierten Öffentlichkeit des Dritten Reiches recht erfolgreich behauptete, soll, laut der Schilderung von Curt Hohoff, der Kreis um Paul Alverdes bewußt Distanz zum Kulturbetrieb des Dritten Reiches gehalten haben:
Die Zeitschrift hatte nicht nur unter dem Mißtrauen des Propagandaministeriums zu leiden, sondern auch unter ausgesprochenen und unausgesprochenen Wünschen der Verlagsleitung: Der Verlag wollte seine geldbringenden Autoren, so einflußreiche Männer wie Kolbenheyer und Wilhelm Schäfer, ins Innere Reich bringen. Kolbenheyer erwartete 1938, zu seinem sechzigsten Geburtstag, nicht nur einen Essay, sondern ein Sonderheft; und als der Essay nicht so lang und festlich war, wie er ihn erwartet hatte, gab es Druck von der Verlagsleitung auf die Redaktion, und alles atmete auf, als das Datum die Aktualität verloren hatte. Das Wohlwollen eines Kolbenheyer war taktisch wichtig, aber die Meinung der Freunde spiegelte sich in Alverdes' Witz über Kolbenheyer als ondulierten Pandur. Kolbenheyers Selbstgefühl war fast monarchisch; die vielen Preise und Ehrungen ließen ihn schließlich verächtlich hinwegsehen über das Innere Reich, als habe dieses das Sprudeln des großen Geysirs von Solln, wo er lebte, zu begreifen versäumt. (H., S. 212€)
Von strikter Opposition war allerdings erst in solchen nach 1945 entstan
denen Auslegungen des Titels die Rede:
Es handelte sich bei diesem Namen nicht um eine Parallele irgendwelcher Art zum sogenannten Dritten Reich. [...] Selbstverständlich hätte man sich gehütet, noch einen solchen Titel zu wählen, als das Dritte Reich bereits Wirklichkeit geworden war. [...] Er wurde als betonter Gegensatz zur offiziellen Kulturpolitik empfunden und dem Herausgeber bei seinen Zusammenstößen mit ihr immer wieder vorgehalten. [... ] Mit diesem Reich war überhaupt kein politischer Begriff gemeint. (Alverdes, zit. n. Mallmann, S. 48)
Wegen der Sprachgemeinschaft eines weiten Spektrums der ›Konservativen Revolution‹ mit dem Nationalsozialismus konnte diese Intention freilich in der Öffentlichkeit nicht selbstverständlich sein; vielmehr ist gerade der inflationäre Gebrauch solcher Wendungen wie Dem inneren Vaterland (ein Gedichttitel von Barthel; vgl. Segebrecht S. 99), »ein innerstes Deutschland« (ebd.), »das Deutschland des Herzens« (ebd. S. 76) oder auch »Das innere Reich« (Hans Brandenburg, Schiller, Königstein u. a.: Langewiesche 1934, S. 43) kennzeichnend für das nationale Bekenntnis der ›Dichter‹, bewußt auch nach 1933. Gleichwohl gab es in B.s Umkreis zweifellos schon um 1935 ein Bemühen um Eigenständigkeit gegenüber der nationalsozialistischen Kulturdiktatur; Benno Mascher, der ab Juni 1935 zur Redaktion des Inneren Reichs gehört, erklärt - wiederum im Rückblick:
Sehr schnell spürten die Funktionäre in den NS-Schrifttumsstellen, in der Parteizentrale und im Propagandaministerium, wer sich hier sammelte. [...] Es lohnt sich schon, die programmatischen Beiträge vor allem von Paul Alverdes zu überprüfen und dabei zwischen den Zeilen zu lesen; man wird merken, wie ernst der Kampf geführt wurde. (Im Schlagschatten der Diktatur, in: Frankfurter Neue Presse, 2. 8. 1958)
In einem Verteidigungsschreiben anläßlich der Verbotsaffäre, die im Herbst 1936 das Fortbestehen des Inneren Reich gefährdete, akzentuiert Gustav Pezold, der Leiter des Langen-Müller Verlages, die Ziele der Zeitschrift allerdings anders, so daß sich allmählich wiederum das Dilemma von anfänglicher Sympathie mit dem nationalsozialistischen Reich und wachsender Skepsis entfaltet:
Das ›Innere Reich‹ verdankt seine Entstehung der Tatsache, daß nach der nationalsozialistischen Machtergreifung die tonangebende ›deutsche‹ Literaturzeitschrift des jüdischen S. Fischer Verlages >Die Neue Rundschau( weiterwirken durfte. Man kann meine gesamte Verlagsarbeit seit 193o als eine Art Gegenspiel zum alleinherrschenden jüdischen S. Fischer Verlag auffassen, dessen undeutsche, gemeingefährliche Produktion ich in zehnjähriger Buchhändlertätigkeit hinreichend kennengelernt habe. ... Die Tatsache, daß die genannte jüdische Zeitschrift nach dem Umsturz sich rasch umstellte, machte die Gründung des ›Inneren Reiches‹ erst recht nötig. Denn keinesfalls durfte die Führung auf geistigem Gebiet jenen Kräften überlassen werden, die nicht schon vor dem Umsturz und aus innerer Notwendigkeit deutsch waren, sondern die sich vorher als dünnblütige Aestheten erwiesen hatten, nun aber um so eifriger den neuen Geist mitzumachen bestrebt waren. Man hat dem )Inneren Reich( mehrfach vorgeworfen, es sei zu wenig )kämpferisch( und zu wenig populär. Aber kämpferische und populäre Blätter waren in hinreichender Zahl vorhanden, vor allem legte die Partei ... Wert darauf, daß ihren eigenen Organen der Kampf um die weltanschauliche Klärung der nationalsozialistischen Ziele vorbehalten bleibt. Es fehlte hingegen - genau so wie früher, im Buchverlagswesen überhaupt an einer Zeitschrift, die einfach durch Darreichung deutscher Leistung den Gegenbeweis führte gegen das [.. .] Wort vom linksstehenden Geist.
(Zit. n. Mallmann, S. 55)
Nicht zur Rechtfertigung vor den Zeitgenossen bestimmt ist jedenfalls eine auf den 3. 1. 1948 datierte Notiz in den unveröffentlichten Tagebüchern von Paul Alverdes über eine vom Verleger Curt Vinz ermöglichte Musterung des Aktenfaszikels, »der das Verbot des Inneren Reiches betrifft«:
Fand mich enttäuscht, denn alle Pressestimmen fehlten und übrig gelassen von der Flut des Schimpfens, die damals auf uns herniederregnete, waren nur die gewundene[n] Erklärungen, die wir, die Faust der Gestapo am Halse, hervorröcheln mußten, um nur mit einem blauen Auge davonzukommen.
Vernehme abermals von Ernst Wiecherts entscheidendem Einfluß auf [Ernst] Isenstaedt, [der bei der US-Militärregierung für Bayern für die politische Überprüfung von Lizenzanträgen von Verlegern und Buchhändlern zuständig war].
Einst, so habe er ihm berichtet, erschien, während Britting bei ihm zu Besuch weilte, ein Sammler der Partei mit einer Büchse, - einer der sonntäglich [für das »Winterhilfswerk«] Aufgebotenen wohl, der damals, es kann nur vor 1936 gewesen sein, ein gutes Werk für einen guten Zweck zu tun glaubte. Er, Wiechert, habe sich geweigert, auch nur einen Pfennig an die Verruchten zu geben; Georg Britting indessen habe aber gleich fünfzig gespendet und Wiechert vorgehalten, daß er dem armen Kerl doch getrost auch etwas in seine Kasse hätte reichen sollen. Solches berichtete Wiechert zehn Jahre hernach dem Beamten der amerikanischen Gewaltherrschaft, um dem Bruder in Apoll am Zeug zu flicken...
Übrigens erreichte Das Innere Reich, nachdem sich die Startauflage von 20000 Exemplaren bereits nach einem halben Jahr auf eine Druckauflage von unter 6000 Exemplaren reduziert hatte, nur einen Bruchteil der Leserschaft einer erfolgreichen Kulturzeitschrift in der Weimarer Republik, wie etwa Fischers Neue Rundschau. Die Frontstellung gegen diese hatte sich bereits in den ersten Plänen für Das Innere Reich abgezeichnet, die bis ins Jahr 1932, also vor die nationalsozialistische Diktatur, zurückreichen; damals war auch schon der Titel festgelegt worden, der in jenes Umfeld des politischen Schlagworts vom >geheimen Deutschland( gehört: »Paul Alverdes aber und Benno von Mechow setzten 1934 entgegen jener >Geistigkeit>, die sich innerlich längst von der deutschen Volksseele gelöst hatte und ausgewandert war, eine zukunftsfrohe Zeitschrift und nannten sie Das Innere Reich«, konstatierte dann zur Gründung Josef Nadler in der aus nationalsozialistischer Perspektive neubearbeiteten, vierten Auflage
seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften von 194I (Nadler, S. 236), während sich Alverdes 1935 in seinem Brief an einen Ausgewanderten (in: Alverdes, S. 241-256) sehr viel differenzierter äußern
wird.
Zweifellos will die Progammatik des ersten Heftes von Das Innere Reich auch als Antwort auf die Literatur »einer verzweifelten, sogenannten ›Geistigkeit‹, die sich innerlich schon längst, äußerlich nun auch durch die Auswanderung von der Volksseele gelöst hat« (1, 1934/35, S. 8o), gelesen werden, so daß in der Emigration denn auch entsprechend bitter über diese im Dritten Reich neugegründete Kulturzeitschrift geurteilt wurde. So hieß es in Hermann Kestens Essay Die deutsche Literatur, der im Herbst 1934 in der von Klaus Mann in Amsterdam herausgegebenen Zeitschrift Die Sammlung
(1, 1934, S. 453-460) erschien:
Die nationalsozialistischen Dichter Karl Benno von Mechow und der von dem jüdischen Verlag Rütten & Loening geförderte Paul Alverdes nennen in ihrem Vorspruch zu der von ihnen herausgegebenen neuen Literaturzeitschrift Das Innere Reich als Programm ihrer literarischen Bemühungen nur den Namen Adolf Hitlers, des Frontsoldaten. Nebenbei schmähen sie die um ihrer Freiheit willen emigrierten deutschen Dichter, freilich tun sie es in einem sonderbaren Deutsch, das sie ihrem Programmatiker Hitler recht putzig abgeguckt haben. [... ] Literarisches Programm also: Adolf Hitler. Unter diesem Programm, unter dem Namen dieses Autors, der über das deutsche Volk, aber nicht über die deutsche Sprache Gewalt hat, schreiben: Binding, Blunck, Bruno Brehm, Carossa [...] Emil Strauß, Taube [...] Wiechert [...]. Es mögen bedeutende Talente darunter sein [...]. Sie sind verdammt zu lügen, sie sind verurteilt wie Hitler zu schreiben; sie sind verkauft und verraten. (Ebd., S. 456)
Die unauflösbare Verquickung von Taktik und Überzeugung, persönlichen Aversionen und Sympathien einerseits, politischen Positionen andererseits, von genereller Linie und situationsbedingtem Kompromiß begleitete die Zeitschrift von Anfang an. Bereits die Einladungen zur Mitarbeit vom Januar 1934 präsentieren das Programm der Zeitschrift adressatenbezogen: Versichert Mechow gegenüber dem damals den Nationalsozialisten noch nahestehenden Hans Grimm, man wolle deutsche »Innerlichkeit« ganz entschieden als »Ergänzung« des äußeren Reiches pflegen, so beschränkt er das Terrain in seiner Einladung an die katholische Dichterin Gertrud von le Fort auf »das deutsche Gebiet der Innerlichkeit, der Seele - die Dichtung - weiter nichts«, und versichert dem Komponisten Hans Pfitzner, es gehe streng um die »Reinheit der Kunst« (Zitate n.Volke, S. 15ff.).
Die Ziele, zu denen sich - ungeachtet weiterer, je individueller Motive der Herausgeber oder der Mitarbeiter - die Zeitschrift Das Innere Reich öffentlich bekennen wollte, sind in der Herausgeber-Einleitung Inneres Reich programmatisch ausgesprochen. Die Einheit der Kriegsgeneration als Modell für die dank Adolf Hitler geglückte Überwindung der ›deutschen Zwietracht‹, die Betonung der deutschen Kulturtradition gegen den Kulturbruch der ›Moderne‹, die Verbindung mit Landschaft, Natur und Volk, die Ausgrenzung der Literaten aus diesem Tableau der Einmütigkeit - das alles konvergiert mit dem Bild B.s, wie es in den Rezeptionszeugnissen aus den dreißiger Jahren favorisiert wird. In Alverdes' Rede vom inneren Reich der Deutschen. Gehalten am 19. Juli 1934 vor der Münchener Studentenschaft deuten sich jedoch Bruchlinien an, die aus den enttäuschten Hoffnungen dieses Kreises auf eine Wiedergeburt der deutschen Kulturnation
zu erklären wären. Alverdes geht von dem Bedenken eines Mißverständnisses aus, »das aus dem Begriffe eines inneren Reiches erwachsen kann: als sollte es in einen Gegensatz, womöglich in einen ausschließenden, zu seiner äußeren Gestalt gebracht werden«, versucht also, den Brückenschlag von einer drohenden ›inneren Emigration‹ in die Öffentlichkeit:
Was aber nun, um dahin zurückzukehren, unser jahrtausendaltes inneres Reich der Deutschen überhaupt angeht, so verhält es sich mit ihm anders als mit jenem Reich der Griechenheit etwa. Es ist kein Schattenreich, es ist auch kein Bildungsreich, sondern es lebt, solange noch lebendige Herzen auch in Gedichten Walthers von der Vogelweide oder in einer Naumburger Plastik oder in einer Musik Mozarts mehr erkennen als ästhetische Werte, oder reine Bildungsschätze oder gar bloßen Examenstoff: nämlich sich selber, und solange sie von einer solchen Begegnung und Bestätigung noch werden, was sie werden sollen nach dem Gesetz, nach dem auch sie, die Nachfahrer angetreten: immer noch bessere, reichere, tiefere, immer noch deutschere Deutsche, und das heißt denn wirklich einmal ganz von selber: immer noch bessere Menschen. Auf diese lebendige Begegnung aber kommt es an. Erst wenn sie nicht mehr stattfinden könnte - weil es nämlich keine Deutschen mehr gäbe, oder weil sie sich selber vergessen hätten -, erst dann wollen wir unser inneres Reich und damit auch uns selber zum Gestrigen, zum Gewesenen, zum alten Plunder rechnen.
Weiterhin versucht deshalb Alverdes in dieser Rede, deren HölderlinMotto mehrsinnig vom Bestehen des ›Großen und Göttlichen‹ in Zeiten der Not kündet, »die heute vielfach angegriffene, aber oft auch zu Unrecht angegriffene deutsche Bildung« (S. 835) zu verteidigen, auch gegen völkische Beckmesserei:
Allein wenn sich nun Stimmen erheben, die aus diesem Grunde nicht nur das ganze Schrifttum, sondern die ganze Geisteskultur jener Epoche als unnützen Ballast aus unserer Erinnerung verbannt wissen wollen, weil es keinerlei Kunst und eigentlich überhaupt nichts mehr geben dürfe, was nicht volkstümlich sei, so müssen wir uns doch wohl einmal fragen, ob denn Bildung und echte Volkstümlichkeit einander notwendig ausschließen müssen und ferner, ob denn Bildung auch in Ansehung der Nation und der nationalen Gemeinschaft eine Schande sei? Allerdings, sie kann es werden, und wir sind die Zeugen davon gewesen: wenn sie nämlich zur Züchtung und zur ausschließlichen Überschätzung oder gar zur Herrschaft jenes Typus führt, der nur noch in abgezogenen Begriffen nicht nur zu denken, sondern auch zu leben vermag, und der vor lauter Bäumen seiner Lebtage keinen Wald mehr zu sehen kriegt. Diesen Typ aber nennen wir nicht gebildet, sondern verbildet und zerbildet, und ich bin glücklich darüber, einer Generation anzugehören, welche zum erstenmal dagegen rebellierte. In den Bünden der Jugendbewegung rottete sie sich zusammen, und macht sich auf, um endlich wieder den Wald, und nicht die Bäume zu Gesicht zu bekommen. Wir wissen heute, daß dies ein Marsch nicht ins Blaue hinein gewesen ist, so verschwärmt und so romantisch das im einzelnen ausgesehen haben mag, sondern daß es der erste, noch tastende Aufbruch in das neue Zeitalter der Nation gewesen ist. [...] Jene großen Deutschen, deren Namen ich ja nicht nennen muß, sind zwar geistige Menchen gewesen, aber niemals, um das modische Schlagwort zu gebrauchen, niemals sind sie Intellektuelle gewesen. Und noch niemals haben ja die Nichts-alsIntellektuellen wirkliches Leben geschaffen, sondern sie haben es immer nur kurz und klein gedacht, nicht nur ihr eigenes, sondern auch das anderer Leute, und das ist der tiefe Grund für das elementare Mißtrauen gegen diese Art von Intellekt in unserer Zeit; es ist die Sorge um die bedrohte Einheit des Lebens, ohne die der Mensch nun einmal nicht sein kann.
Ob demnach Das Innere Reich als kulturelles Gegenstück des Dritten Reiches verstanden werden sollte oder als Zuflucht einer ›inneren Emigration‹, muß in jedem Einzelfall in der historischen Situation geprüft werden.
Freilich arbeiteten fünfzehn Autoren, zu denen auch B. zählte, sowohl im Inneren Reich wie in der noch immer vorsichtig liberalen Neuen Rundschau mit. Weiter fanden die Autoren des Kolonne-Kreises neue Veröffentlichungsmöglichkeiten im Inneren Reich, obgleich sich Oda Schaefer rückblickend von diesem Forum distanziert:
[...] daß wir völlig konform mit der Kolonne gingen, die unsere Zeitschrift war, sich aus unseren Beiträgen rekrutierte - hier [im Inneren Reich] hingegen liefen wir nur am Rande mit ... Als Lyriker waren wir
darauf aus, gedruckt zu werden - ein verständlicher Wunsch. Und da man nicht emigriert war, mußte man manches hinnehmen.
(Zit. n. Malimann, S. 93)
Der Einfluß regimeferner Autoren reichte im Inneren Reich zwar nicht hin, um die Gesamtlinie entscheidend zu beeinflussen; dennoch kam es gelegentlich zu Angriffen und zu Kollisionen der Zeitschrift mit den nationalsozialistischen Machthabern (vgl. Volke, S. 31-49). Das warnende Stichwort vom »Literatentum« klingt in einem Brief Wilhelm Stapels an den Verleger Pezold auf; Stapel erklärte zum ersten Heft, das neben dem Anfangskapitel des Romans Das Riesenspielzeug von Emil Strauß (vgl. Bd. IV), neben den ersten drei Aufzügen von Kolbenheyers Schauspiel Gregor und Heinrich, einer Erzählung von Max Mell und einem Aufsatz Deutsche Kulturpolitik von Hans Friedrich Blunck, dem Präsidenten der Reichsschrifttumskammer, auch Gedichte von B. (vgl. oben S. 19), Peter Huchel, Hans Leifhelm u.a. enthielt: »Nur mit der Lyrik bin ich nicht einverstanden, das ist lauter Artistik« (zit. n. Volke, S. 22), läßt allerdings B.s Beitrag gelten. Bedenklicher mußte der Schlußabsatz in der Sammelbesprechung des Germanisten Hermann Pongs (vgl. unten. S. 313ff.) stimmen, der Selbstzweifel der Lyriker »in einer von den Lautsprechern der Gemeinschaft durchdröhnten Zeit« konstatiert:
Und die Feststellung drängt sich auf, daß keiner von allen diesen Lyrikern dem Anschein nach wirklich mitgerissen ist von jener Dämonie des Volksgeists, die seit dem Ausbruch des Weltkriegs gewitterhaft über Deutschland steht. [...] Worin liegt der Grund? Ist überhaupt etwa einer Erscheinung wie Britting gegenüber hier eine eindeutige Antwort zu geben?
(Das Innere Reich, 2, 1935/36, S. 1170)
Vollends gefährlich war die Attacke aus den Kreisen der Partei wegen B.s »Langemarck«-Gedicht (vgl. unten S. 365f.). Trotz gelegentlicher Krisen und der Entlassung des Verlegers Pezold im Jahr 1938 (vgl. dazu Lokatis, S. 11o) konnte die Zeitschrift doch fast bis zum Ende des Dritten Reiches fortgefuhrt werden; das letzte erschienene Heft des Inneren Reich datiert vom Juni 1944. Alverdes hatte zwar das Druckmanuskript für ein Herbstheft noch zum Satz gegeben: »Dann wurde der Stehsatz in der Münchener Druckerei Manndruck am 17. Dezember 1944 bei einem Luftangriff vernichtet. So ist heute der vorgesehene Inhalt des Heftes unbekannt. Man weiß, daß unter anderen Ernst Bertram, Johannes Bobrowski [...], Georg Britting, Hans Carossa, Gerd Gaiser, Wilhelm Lehmann, Wolf von Niebelschütz und Franz Tumler hatten beitragen wollen« (Volke, S. 56).

(Der Freundeskreis von Paul Alverdes)
»Wir waren einmal ein eng geschlossener Kreis, Alverdes, Mechow, ich«, bestätigte B. Georg Jung am 1. 10. 1947. Spätestens seit 1930 stand Mechow mit Alverdes im Briefwechsel (vgl. DLA); 1938 freilich mußte er wegen einer zunehmenden psychischen Erkrankung als Herausgeber des Inneren Reichs zurücktreten, mußte sich weiterhin - wie B.s Bericht bezeugt - immer »wieder in einer Nervenheilanstalt« behandeln lassen: »Es ist sehr schade um ihn, er ist ein schwieriger, aber ungewöhnlicher Mensch, schwankend zwischen SS und strengem Katholizismus«. Ernst Wiechert würdigte Mechow als einen »glühende[n] Hasser des Nationalsozialismus und alles Ordinären seiner Vertreter«: »Aber er wurde Parteimitglied und verdarb sich damit sein Leben« (zit. n. Mallmann, S. 57).
Vor allem freilich war in diesem Kreis Alverdes mit B. befreundet.
Miteinander bekannt waren sie wohl bei den Argonauten geworden; in Heinrich F. S. Bachmairs Anthologie Der Spiegel stehen 1929 zum ersten mal Beiträge von ihnen nebeneinander (vgl. Bd. III, 2, S. 450). »Der einzige Mensch, mit dem ich, obwohl er Dichter ist, gern zusammen bin«, soll B. laut Curt Hohoff (S. 66) erklärt haben, »ist Paul Alverdes. « Und
Alverdes, der Jüngere, schrieb 1964 an Ingeborg Britting zum Gedenken an B. (Zit. n. Almanach, S. 11):

Auch ich habe viel an ihm verloren, eigentlich den einzigen freien Geist, dem ich in meinem Leben begegnen durfte. Ich erfreute mich des nahen Umgangs mit manchem anderen Manne, der auch auf seine Art seinesgleichen nicht hatte. Aber doch war immer ein Haken dabei, irgendwo nistete ein Vorurteilchen oder etwas von geheimem Fraktionen- und Clubwahn. Georg Britting war vollkommen frei davon, und das machte die Stunden des vertrauten Gesprächs mit ihm beglückend, wie ich sonst nichts mehr erfahren habe. Dabei war er nicht einmal besonders gesprächig, außer in der Weinlaune, aber Gold ist ja auch stumm. Manchen Sonntag saßen wir lange Stunden glühend und erbittert am Schachbrett und sprachen sogar Schach Jargon. Aber auch der hatte ein herrliches Gewicht, und wenn wir abends die Figuren einpackten, so war es doch, als hätten wir einander vieles anvertraut; es war auch nicht anders.
Die Freundschaft von B. und Alverdes manifestierte sich auch in gegenseitiger literarischer Unterstützung über die Zusammenarbeit im Inneren Reich hinaus. B.s Hamlet-Roman erschien 1932 mit einer Widmung an
Alverdes, der diesen Titel »vor drei Jahren dem Verlag mit zarter Gewalt« ›aufgedrängt‹ hatte (so B. im Begleitbrief des Geschenkexemplares an Alverdes, 24. 10. 18 [32]) und jetzt wiederum eine große Rezension über das Buch verfaßte (vgl. Bd. III, 1, S. 267ff.); auf diese antwortete B. in einem Brief vom 16. Juni 1932:
Lieber Alverdes,
Sie sehen mich beschämt und beglückt zugleich, und Ihre Zustimmung (und welche Zustimmung! und von wem!) tut mir so gut, wie nur unsereiner ermessen kann, wie gut das sein mag. [... ] Daß Ihr Aufsatz ein Kunstwerk für sich ist, schön und klar und geschlossen und liebevoll nachspürend (welch ein Gefühl, sich so er-schaut zu empfinden!), das zu sagen soll mich nicht einmal die Tatsache hindern, daß eine Arbeit von mir es ist, die ihn veranlaßt hat.
Ich bin Ihnen dankbar, lieber Alverdes, ich habe, auch sonst, Grund dazu, und bin stolz, wenn ich mich Ihnen verbunden glauben darf.
B. empfahl Reinhold oder die Verwandelten von Alverdes in der Zeitschrift Die neue Linie (vgl. Bd. III, 484) und ließ in der Literarischen Welt (Nr. 48/ 49, Beilage S. 1) 1933 unter dem Titel Bücher, die deutsche Dichter verschenken folgenden Hinweis erscheinen:
Ich schenke zu Weihnachten den Vorsommer von Karl Benno von Mechow, diesen stillen, von innen her leuchtenden Roman, Hans Carossas Lebensgedenkbuch Führung und Geleit, zweihundert Seiten wunderbar klarer Prosa, und wenn ich auf eine »praktische« Gabe noch eine Zulage lege: die »Kleine Reise« von Paul Alverdes.
Alverdes wiederum widmete B. 1937 seine Erzählung Das Zwiegesicht (Langen-Müller 1937); im Dezemberheft 1937 der Neuen Linie (S. 25) in der Rubrik Geistige Ernte 1937. Die drei stärksten Bucheindrücke unserer Mitarbeiter schrieb er:
An dritter Stelle nenne ich Georg Brittings herrlichen Erzählband Der bekränzte Weiher (Albert Langen - Georg Müller, München). Dieser Meister der kurzen Erzählung ist den Lesern dieser Zeitschrift von
manchem Beitrag her so vertraut, und gewiß auch so wert, daß über den hohen Rang seiner Dichtung kein Wort weiter zu verlieren ist.
Nach dem Binding-Kreis sicherte die Geselligkeit im Hause von Alverdes für B. den Kontakt zum Literaturbetrieb der dreißiger Jahre. Alverdes selbst, der von dem Erlebnis einer bündisch-völkischen Jugendbewegung geprägt war (vgl. Expressionismus in Regensburg, S. 79ff.), suchte jedenfalls seinen Platz als Herausgeber des Inneren Reichs zu behaupten und pflegte - nach Ausweis seiner überlieferten Tagebücher - vielfältige Kontakte, mit den Organisationen der Hitlerjugend ebenso wie mit Hans Carossa oder dem Kreis um Hans Grimm. »Alverdes' Neigungen«, so versucht Curt Hohoff rückblickend klarzustellen (S. 208), »waren auf natürliche Weise deutsch und national; er hatte nichts zu tun mit den Verengungen dieser Ideen durch die Hitleraner. «

(Der Stammtisch »Unter den Fischen«)

»Weil wir noch in den Vorstellungen freundschaftlichen Verkehrs und Umgangs miteinander lebten, hatten wir noch nicht begriffen, daß eigentlich eine andere Zeit gekommen war«; dies hält Curt Hohoff in seinen Erinnerungen fest (S. 5o) und bewertet damit den für B.s Leben und Schaffen über die Jahre des Dritten Reiches hinaus wichtigsten Kreis:

»Man kann vielleicht über die Stammtische jener Zeit den Kopf schütteln. Tatsächlich erzeugten die Künstlerstammtische in Schwabing und die weltanschaulichen aus dem Hochland-Kreis eine gewisse Immunität gegenüber dem Einfluß der Partei. [...] Sie stellten das Gegenteil der Öffentlichkeit und immer wieder propagierten Volksgemeinschaft dar. « (Hohoff, S. 238)
Diese Runde, die sich »fast jeden Tag der Woche« (Hohoff, S. 9) im Pfälzer Weinhaus Zum Schönfeld in der Schönfeldstraße traf, nannte sich nach einem »galeriemäßg nachgedunkelten Bild mit Fischen«, das über dem Stammtisch hing. Zu dem Kreis, der sich bereits in den zwanziger Jahren zusammengefunden hatte, zählten die Maler Hugo Troendle und Max Unold, Rudolf Heinrich Krommes und Achmann, sowie als »einzige Frau in dieser Runde« dessen Gattin, die Schauspielerin Magda Lena. Achmann zog sich nach 1933 aus dem Münchner kulturellen Leben zurück (vgl. Bd. 1, S. 6o6f.). Zu den regelmäßigen Gästen »Unter den Fischen« zählten weiterhin der Arzt Josef Kiefhaber, der Zahnarzt Richard Zarnitz, die Schriftsteller Fritz Knöller und - seit Anfang der vierziger Jahre - Eugen Roth, der Verleger Carl Hanser, schließlich seit 1934 der junge Literat Curt Hohoff, dessen frühe dichterische Versuche - etwa die in der Münchener Zeitung veröffentlichten - sich in Thematik und Stil an B.s Texte anschließen.
Zweifellos war B. in diesem Kreis als die überragende Persönlichkeit - und auch als der größte in München lebende Dichter (Hohoff, S. 15) - anerkannt. Curt Hohoff hatte sich denn auch in der Runde mit einem Aufsatz über B. eingeführt, der von diesem - sogar in der Konkurrenz zu einem Manuskript des alten Freundes Fritz Knöller - gefördert wurde und schließlich im Inneren Reich erschien (vgl. oben S. 270). In einem Brief B.s, der Hohoff am 3. 9. 1934 erreichte, schilderte B. die Komplikationen der Annahme (vgl. Hohoff, S. 107) und erläuterte tags darauf seine eigenen Wünsche dem jungen Kritiker:
Meine Änderungsvorschläge gehen aufs Stilistische, auf Änderung einiger allzu philologischer Fremdwörter, auf Präzisierung des Formalen. Über) Sehr heißer Tag< lassen Sie sich zweimal aus, einmal auf Sei
te 2 unten und einmal auf Seite 8 und 9. Das ließe sich vielleicht zusammenziehen. Bitte, lassen Sie weg: Seite 9unten: ›man denkt an glutvolle farbige Bilder des Impressionismus.‹ Überhaupt, wo es vor kommt, streichen Sie das Wort Impressionismus. Auf Seite 7 unten: ›der dichterische Kern und Mittelpunkt Brittings liegt jedoch in seiner Lyrik‹ - das ist zu direkt gesagt, eher sagen etwa, an der Lyrik, dem tiefsten Sprachton jedes echten Dichters, läßt sich am ehesten nachweisen etc. Den Ausdruck ›besondere Aufmerksamkeit‹ weg, zu kaufmännisch.
(Hohoff, S. 1o7f.)
Zwar waren Literatur und Kunst wichtige Themen bei den Begegnungen »Unter den Fischen«, sollten jedoch nicht die Ziele eines stets auf Gesellig keit und Gemeinsamkeiten des Alltags ausgerichteten Stammtisches sein.
So ließ B. denn auch »in seiner Umgebung manches kümmerliche Talent seinen Teil am großen Leben finden« (ebd. S. 17) - wie Hohoff gelegentlich der Besuche von Kaspar Ludwig Merkl beifügt, der seinem beachtlichen Roman Das Narrenseil (Berlin: S. Fischer 1912) nichts Gleichrangiges folgen ließ. Der Maler Max Unold, mit B. seit den zwanziger Jahren befreundet (vgl. Bd. 1, S. 607) stellte in einem Artikel Von Belanglosigkeiten, vom Nichtssagenden und vom Geschwätz oder Die Schaffnergeschichte (in: DIR 2, 1935/36, S. 1380-1390) ein Genre gesellig harmloser Unterhaltung
vor, wie es offenbar auch in der Stammtischrunde, deren Mitglied er war, gepflegt wurde (vgl. Bd. IV zur ›Geschichte vom Tausendfüßler‹).
Von den Literaten am Stammtisch gelang es lediglich Eugen Roth, sich als erfolgreicher Autor zu etablieren, freilich mit heiteren Versbüchern, denen niemand in diesem Kreis den Rang der >Dichtung< zugestanden hätte. Daß Roth selbst unter der Disproportion von Erfolg und Rang litt und sich in einer oftmals quälenden Konkurrenz zu seinem als Dichter bewunderten Freund B. sah, belegen seine Tagebücher über die Jahre hinweg (vgl. auch Bode, S. 76 über Roths Verhältnis zu B.); so heißt es Anfang der dreißiger Jahre:
Die schwere Entscheidung, ob ich mich ganz auf die Schriftstellerei werfen sollte, beschäftigt auch ihn, doch ist er viel zu klug, mich zu ermuntern, was ich auch nicht von ihm verlange. Meine Gedichte liest er genau, lobt, tadelt, macht Vorschläge zu kleinen Änderungen. Er hatte mich ermundert, Gedichte an Zeitschriften zu schicken; gerade als er hier war, kamen sie zurück. Ich ärgerte mich scheußlich, er auch; aber nach kurzer Zeit quälte er mich mit ununterbrochenen Anspielungen, es liege natürlich an den Gedichten. Im Ernst aber hat er einmal den Ausspruch getan, es wird erst die Nachwelt entscheiden, wer von uns der bessere Lyriker sei.
Der Stammtisch existierte bis zu B.s Tod. Indessen waren die fünfziger Jahre zunehmend von Versuchen, die alte Gemeinschaft zu bewahren und ihr neue Impulse zu geben, bestimmt. Eine »Stammtisch-Krise« schildern mehrere Tagebuchblätter Eugen Roths vom Mai 1952; Roth, selbst ein gelegentlich grämlicher Chronist der Runde, bemerkt einige Monate später, eine Namensliste der Mitglieder einleitend: »Manchmal sind wir gegeneinander verhärtet, sitzen wie die Felsen nebeneinander. Aber oft springt gerade dann lebendiges Wasser aus dem Stein. «