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ZUSAMMENARBEIT MIT DER NYMPHENBURGERVERLAGSHANDLUNG
Brittings Verlag Albert Langen/Georg Müller in München, ehemaliges
Unternehmen des Deutschnationalen Handelsgehilfenverbandes, war im Dritten
Reich in den Besitz der Deutschen Arbeitsfront überführt worden.
Das hatte zur Folge, daß er 1945 von der amerikanischen Militärregierung
geschlossen und unter Sequester gestellt wurde. Für Britting und die
anderen Verlagsautoren bedeutete dies, ungeachtet ihrer politischen Gesinnung,
bis zur Klärung der Besitzverhältnisse des Verlages aus ihren
blockierten Verlagsrechten keine Erträge zu erhalten.
Britting lebte ab 1944 bereits von seinen Ersparnissen; »wirtschaftlich
gings mir während des Krieges besser als je«, schrieb er am
8.2.1946 seinem Londoner Freund Wetzlar. Aber die teuren Preise der Lebensmittel
in, Schwarzhandel während der Nachkriegsjahre, ohne deren Erwerb er
wohl kaum seine Krankheit hätte überwinden können, ließen
sein Bankkonto schrumpfen.
Am 7. 11.1945 erhält Britting von Alverdes eine Information über
die Situation bei Langen-Müller:
[...] gestern war ich draußen im Verlag, wo der Herr
Kietz mit seinem Stabe von Buchhaltern die Funeralien abhält. Nachdem
sich die Dienststelle des Herrn Burger bereits im Hause einrichtet, dürfte
kaum damit zu rechnen sein, daß derVerlag in einer der alten auch
nur angenäherten Form wieder aufersteht. Es sieht so aus, als werde
es dem Zinnen Verlag gelingen, die Rechtsnachfolge anzutreten. Nachdem
Jürgen Doscocil (Titel eines Buches von Ernst Wiechert) dort eine
maßgebliche Rolle spielt, wird wohl nicht allzuviel von dem gegenwärtigen
Stand in den Schutz der Zinnen überführt werden.
Der amerikanische Kontrolloffizier, der in Bayern den Intelligente Service
leitete und über eine Reihe Münchner Autoren ein Publikationsverbot
verhängt hatte, zu denen auch Alverdes gehörte, war Eric W Isenstead,
einst Schüler von Ernst Wiechert, als dieser Studienrat des Berlin-Charlottenburger
Kaiserin-Augusta-Gymnasiums war.Wiechert stand zeitweise in lose freundschaftlichen
Beziehungen zu den Münchner Schriftstellern um das Innere Reich, entfremdete
sich aber diesem Kreis; wohl auch deshalb, weil seine Bücher dort
nicht sehr geschätzt wurden.
In den ersten Nachkriegsmonaten wurde das Haus von Paul Alverdes Anlaufstelle
und Fluchtpunkt vieler Literaten, die im Inneren Reich veröffentlicht
hatten. Karl-Benno von Mechow Wolf von Niebelschütz, Friedrich Bischoff
suchten seinen Rat und bekamen Hilfe. Bischoff wird einige Jahre später
als Südwestfunk-Intendant in Baden-Baden durch Hörfolgen von
Alverdes und Gedichtsendungen Brittings zu deren finanziellem Auskommen
beitragen. [vgl. Bd. 2, S. 297: »Der Freundeskreis um Paul Alverdes«]
Alverdes wich, der Ungewißheit wegen, zu welcher Entscheidung
es mit Langen-Müller Verlag kommen werde, in die französische
Zone aus, wo es kein Publikationsverbot für ihn gab; der Südverlag
Konstanz legte seine
Pfeiferstube neu auf und druckte 1949 sein im Krieg entstandenes
Rom-Buch Die Grotte der Egeria. Britting, der aus amerikanischer
Sicht politisch unbelastet, wenn auch etwas suspekt war, fand ein Jahr
nach Kriegsende einen neuen Verleger. Curt Vinz war nach seiner Repatriierung
aus amerikanischer Gefangenschaft im April 1946 nach München gekommen,
hatte sich um eine Zulassung zur »Veröffentlichung von Büchern
und Zeitiften« bei der amerikanischen Militärregierung für
Bayern beworben und erhielt am 26.7.1946 seine Lizenz für die neugegründete
Nymphenbuger Verlagshandlung. Sein Mitgesellschafter wurde Berthold Spangenberg.
Auf der Suche nach Buchautoren, schreibt Vinz, erinnerte er sich der
eindrucksvollen Lesung Brittings in Paris und machte sich am 2. Mai 1946
auf den Weg in die Holbeinstraße 5, mit einer Empfehlung des damaligen
Kulurbeauftragten der Stadt, Professor Hans-Ludwig Held, versehen. Britting
nahm das Angebot, Autor der Nymphenburger zu werden, ohne weiteres Zögern
an. Da die Auslösung seiner bei Langen-Müller blockierten Bücher
durch den eingesetzten Treuhänder nicht von heute auf morgen erfolgen
konnte, kamen der Verleger und der Autor überein, »erst einmal
die noch nicht in Buchform erschienenen, verlagsrechtlich noch nicht anderweitig
vergebenen Sonette vom Tod herauszubringen«. (Vinz, Vorträge,
S. 207)
Die Begegnung erschien im Frühsommer 1947 in englischer
Broschur zum Ladenpreis von RM 3.80.
halbes Jahr später (25. 11. 1947) schreibt Britting an seinen
neuen Verleger Vinz:
ich könnte zwar, erschrecken sie nicht! zwei neue gedichtbände
herausbringen, aber das will ich garnicht. mir läge daran, daß
der ›irdische tag‹ wieder erscheint. und dann vielleicht 49 ein neuer gedichtband,
und 50 ein prosaband.[...] gerade den ›irdischen tag‹ möchte ich gern
wieder auf dem markt sehen. es ist eine art grundlegender plattform meiner
lyrik.
So kam trotz der Währungsreform 1948 in einer Neuauflage von 5ooo
Exemplaren der Gedichtband Der irdische Tag heraus. 1949 erfolgte
im 22. bis 24. Tausend der Erzählungsband Der Schneckenweg.
Als Lizenzausgabe erschien noch 1948 der Lebenslauf eines dicken Mannes,
der Hamlet hieß.
Curt Vinz verantwortete noch, bevor er 1961 aus dem Verlag ausschied,
die von 1957 bis 1961 erscheinende Gesamtausgabe, für die eine Subskription
ausgeschrieben wurde, deren Text Hohoff verfaßte:
Die Gesamtausgabe eines Autors ist eine Bestätigung. Sie
bringt das Opus in einer Folge von gleichen Bänden und stellt ihn
und die Leser vor die Frage aller Literatur: ob das, was vor zwanzig, dreißig
und vierzig Jahren geschrieben wurde, noch wahr ist, lesbar ist, den Stich
in die Substanz aushält. Wenn das so ist und die Sachen halten, dann
hat man das Kriterium der Zeit gewonnen. Dreißig Jahre sind für
Bücher sehr viel - die meisten kann man nach dreißig Jahren
nicht mehr lesen.
Band 1: Gedichte 1919-1938, 219 Seiten, 1957
Band 2: Gedichte 1940-1951, 230 Seiten, 1957
Band 3: Erzählungen 1929-1936, 240 Seiten, 1958
Band 4: Erzählungen 1937-1940, 243 Seiten, 1959
Band 5: Erzählungen 1941-1960, 228 Seiten, 1960
Band 6: Lebenslauf eines dicken Mannes, der Hamlet hies, Roman, 249
Seiten, 1961
Subskriptionspreis pro Band: DM 17.-, später Einzelbezug
DM 22.-
Brittings nachgelassene Werke folgten in zwei Bänden zur Gesamtausgabe
in Einzelbänden in gleicher Ausstattung: 1965 der Gedichtband Der
unverstörte Kalender und 1967 Anfang und Ende, Erzähltes
und Dramatisches.
Britting war sein eigener Herausgeber und hatte klare Vorstellungen,
was in die Gesamtausgabe hineingehörte oder besser unberücksichtigt
blieb. Er hielt sich nur begrenzt an Zeitabfolgen, holte alte Geschichten
und Gedichte aus der Schublade und stellte sie, zuweilen mehr oder weniger
überarbeitet, neben neue. (Vinz, Vorträge, S. 211)
Britting war sich bewußt, dem Verlag durch seine Gesamtausgabe eine
finanzielle Bürde auferlegt zu haben. Sein Name »schmückte«
die Nymphenburger zwar, aber finanziell mitgetragen wurde sie dank der
Auflagen von Werner Bergengruen und anderer gutgehender Autoren.
Sie sprachen in Ihrem Brief von Dank, schreibt Britting am 27.12.59
an seinen Verleger Spangenberg, nun, ich weiß wohl, daß
ich
der »Nymphe« Dank schulde für ihr mutiges Mäzenatentum
an mir!
Es war die »kleine Expressionismus-Renaissance«, wie er
sie selbst nannte. die Britting dazu bewog, auch überarbeitete Prosa
der zwanziger Jahre in die Gesamtausgabe aufzunehmen. Noch wenige Jahre
früher hatte er sich bei Jung für seine »alten Sachen«
entschuldigt, als er ihm ein Exemplar des Verlachten Hiob schenkte.
Die Gesamtausgabe in Einzelbänden begann in einem guten
Moment zu erscheinen. Wie darin wird überhaupt manches in diesen fünfziger
Jah- ren zur Zusammenfassung. Britting löst sich weiter von den klassisch-tra-
ditionellen Strömungen der vierziger Jahre und erhält durch eine
allge-meine Höherschätzung der Naturlyrik wie durch zunehmende
Herr- schaff des Bildes in der Lyrik für seinen bereits eingeschlagenen
Weg 'i neue Impulse und Sicherheit. (Bode, S. 123)
PUBLIZISTISCHE KONTAKTE DER NACHKRIEGSZEIT
In der ersten Nachkriegszeit war es vor allem eine neugegründete
Wochenzeitung, die Britting ein zwar bescheidenes, aber kontinuierliches
Einkommen brachte. Das Münchner Tagebuch, ein kulturelles Wochenblatt,
erschien ab 14. September 1946 in einer Auflage von 12 000 Exemplaren,
im Umfang von acht Seiten, zum Preis von 5o Pfennigen. Vom 15. Mai 1948
an wurde aus der Wochenausgabe eine Monatsausgabe. Redakteur des Blattes
war Hans Joachim Sperr. Sperr wohnte in unmittelbarer Nachbarschaft Brittings,
Cuvilliesstraße 27; dort befand sich auch die Redaktion. Neben einer
Reihe bekannter Münchner Autoren wie Hans Carossa, Wilhelm Emanuel
Süskind, Wilhelm Hausenstein, Ernst Penzoldt, Rudolf Bach, Hans Brandenburg,
Hanns Braun und Hermann Stahl, Künstlern wie Kubin, Nolde, Max Unold,
Karl Caspar, die dort publizierten, wurden auf Brittings Empfehlung hin
auch junge Lyriker gedruckt, wie Dagmar Nick und Ernst Günther Bleisch.Von
Britting veröffentlichte das Münchner Tagebuch vom 14.
September 1946 bis zur Schlußnummer im November 1949 einunddreißig
Gedichte und drei Erzählungen. 1950 wurde Sperr Feuilletonleiter der
Süddeutschen
Zeitung.
Am 29. März 195o schreibt Britting an Jung:
dort [in der Süddeutschen Zeitung] soll sich in
der feuilletonleitung was ändern. sperr, vom gestorbenen »münchner
tagebuch«, tritt dort ein. sie wissen ja, ich verhalte mich absichtlich
reserviert gegen das blatt, an dem mir manches mißfällt. obwohl
ich jetzt dann zwei treu ergebene freunde drin sitzen habe, hohoff
[Herausgeber der wöchentlichen Literaturbeilage] und sperr. hohoff
will, wenn das »weinlob« da ist, eine verkleinerte buchseite
draus, mit einer unoldzeichnung, im literaturblatt bringen. ich weiß
noch nicht, wer den aufsatz drüber schreiben soll. [Vgl. S. 350].
Ein alter Bekannter Brittings, Ludwig Emanuel Reindl, leitete im Konstanzer
Südverlag von 1947 bis 195o eine Monatsschrift Die Erzählung
und gab neben Britting auch Paul Alverdes, Hans Carossa, Friedrich Georg
Jünger, Marie-Luise Kaschnitz, Karl Krolow, Elisabeth Langgässer
Publikationsmöglichkeiten.
1945 kam Erich Kästner nach München, um das Feuilleton-Ressort
der Neuen Zeitung, des in München erscheinenden Presseorgans
der amerikanischen Besatzungsmacht für die deutsche Bevölkerung,
zu leiten. 1947 bringt das Blatt ungefragt ein Todsonett aus der Begegnung.
Dies ist der Anfang einer Mitarbeit Brittings an dieser Zeitung.
»Alle Welt scheint am Werke«, erinnert sich Kästner
(kleine Chronologie statt eines Vorworts, 1945, in: Ders., Der tägliche
Kram. Chansons und Prosa 1945-1948, Berlin: Cecilie DresslerVerlag,
S. 1o.), »einen Überfrühling der Künste vorzubereiten.
Daß man wie die Zigeuner leben muß, hinter zerbrochenen Fenstern,
ohne Buch und zweites Hemd, unterernährt, angesichts eines Winters
ohne Kohle, niemanden stört das. Keiner merkt's: Das Leben ist gerettet.
Mehr brauchts nicht, um neu zu beginnen.«
Britting sah die Lage düsterer. Am 24.3.1947 schreibt er an Wetzlar
nach London:
[...] die stimmung hier kannst du dir denken, bei 200 gramm
fett im monat! und brotkürzung! verzweiflung ist ein mildes wort.[...]
Auf die Frage Wetzlars, ob Britting von seinem ersparten Geld denn leben
könne, bekommt er zur Antwort (15. 10. 1947):
[...] du mein gott! für das honorar der 5000 »begegnung«
bekam ich 2ooo reichsmark: gleich zehn pfund butter. drum mag ja bei uns
niemand arbeiten. für sein geld bekommt er ja nichts zu kaufen. und
hintenherum was zu kaufen, so viel kann kein mensch legal verdienen.
[...] interessant wird das alles erst, wenn je die währungsreform
kommt. dann wird das geld knapp werden, und das verdienen schwierig. jetzt
verdiene ich mühelos meinen lebensunterhalt. der ist allerdings auch
danach.
Am Ende des Briefes kommt Britting auf die amerikanische Journalistin Dorothy
Thompson zu sprechen, deren Zeitungsbericht über die Berliner Zustände
er Wetzlar beigelegt hatte:
[...] gestern schickte ich dir die dorothy thompson. sie gibt,
finde ich, die zynisch-hoffnungslose stimmung gebildeter berliner grauenerregend
echt wieder. hier, wir sind in bayern, ist alles noch gemütlicher,
selbst die untergangsstimmung.
Auf die erwartete Währungsreform reagiert Britting sachlich.
An Jung (29.6. 1948):
jetzt haben wir sie, die währungsreform, und das sonderbare
gefühl, nur mehr 28,30 mark zu besitzen, wie ich jetzt noch, und andere
leute haben auch nicht viel mehr in der tasche! das gibt schwierige 6-8
wochen für meinesgleichen, die keine festen gehaltempfänger sind.
hoffentlich klappt aber wenigstens das große experiment.
Anschließend kommt Britting auf die Akademiegründung zu sprechen:
das wackere ländchen baiern hat, mit den ›unsterblichen‹
frankreichs konkurrierend, eine akademie gegründet, und ich bin hineingewählt
worden. einen grünen frack bekommen wir aber wohl nicht. strauss,
pfitzner, orff ina Seidel, carossa, caspar (der maler), edwin scharff,
kubin, etc. sind mitglieder [...] hoffentlich wirds nicht zu krähwinkelig,
und zu separatistisch, sonst tret ich wieder aus.
Am 11. 5. 1948 war Britting als eins der Gründungsmitglieder in die
Akademie aufgenommen worden. Deren Gründungssatzung hatte folgenden
Wortlaut:
In Erfüllung der dem bayerischen Staat durch Artikel 14o Abs.
2 der bayerischenVerfassung übertragenen Aufgabe ruft die bayerische
Staatsregierung eine dem ganzen Volke dienende Vereinigung von namhaften
Persönlichkeiten aus dem künstlerischen Leben als oberste Pflegestelle
der Kunst ins Leben, der sie den Namen Bayerische Akademie der Schönen
Künste verleiht.
LYRIK DES ABENDLANDS
Neben die Fertigstellung des Bandes Die Begegnung, dessen Manuskript
Britting am Jahresende 1946 seinem Verleger übergibt, und die Arbeit
an der zweiten Ausgabe (1947) von Lob des Weines tritt die Herausgabe
der Lyrik-Anthologie.
7.8. 1946 an Jung:
[...] ich weiß nicht mehr, ob ich ihnen schon schrieb, daß
ich mich auf ein ziemliches unternehmen eingeIassen habe, einen 8oo-Seitenband
»lyrik des abendlands «herauszugehen. ich habe sozusagen das
letzte wort, was hineinkommen soll, und einem ziemlichen mitarbeiterstab
- wie das klingt! - und einen adjutanten, der die kärrnerarbeit tut.
manchmal graust mir vor dem ganzen. es kam so in diesen zeiten jetzt, wo
man nicht weiß, wies mit uns schriftstellern wird und der verleger
ist mein freund, und der ganze satz ist ziemlich verworken geworden. ich
wollte eigentlich sagen, daß ich sie vielleicht gelegentlich um guten
rat in dieser anthologie bitten werde.
Als Jung Näheres über den Anthologie-Plan zu erfahren wünscht,
antwor
tet ihm Britting am 21. 8.1946:
vor der arbeit an unserer »lyrik des abendlands«,
nicht zweisprachig, graut mir ein bißchen. vielleicht hätte
ich h mich besser nicht darauf eingelassen! es soll aber eine gemeinschaftsarbeit
sein, vossler für die romanen, hennecke, kennen sie ihn? für
die engländer, mitherausgeber sonst noch: alverdes, hohoff [...] und
wie gesagt korrespondenz brauche ich nicht zu leisten. aber ich geh im
leben nichts mehr heraus.
Einige Tage später versichert er Jung die Anthologie schreite rüstig
vorwärts.
In enger Zusammenarbeit mit Hohoff wächst in weniger als einem
Jahr dieser Lyrikband heran. Die Arbeit gibt Britting auch durch die Kommunikation
mit den anderen Mitarbeitern und Übersetzern vielfältige Anregungen,
die seine Lust an der eigenen Produktion verstärken. Daneben wird
viel gelesen: Plutarch und andere antike Autoren, die Weltgeschichtlichen
Betrachtungen von Burckhardt, Wilhelm Raabes Stopfkuchen und
sein
Abu Telfan. Jung gegenüber nennt er Raabe, den er hochschätzt,
einen »genialen Spießbürger«. Und immer wieder nimmt
er sich Goethe vor, in diesen Monaten die frühen Dramen, Pandora,
den Helena-Akt aus Faust II und Euphrosine: früher war mir
so was auf das erste Lesen hin steif-akademisch. Jetzt bin ich hinter den
Zauber solcher Verse gekommen. (9. 12. 1947 an Jung.)
Jung, der selbst mit zwei Übersetzungen in der Anthologie vertreten
sein wird, legt seinen Briefen Hugo-Übersetzungen, Ubertragungen aus
dem Englischen bei, darunter Keats` »Ode an den Herbst«, die
Britting ein herrliches Gedicht nennt. Zu einer Briefstelle von Keats,
die Jung ihm ebenfalls mitgeschickt hatte, meint Britting am 7.8. 46:
schön auch keats' briefstelle. der brief ist selber ein
gedieht, ich glaube, nur einen lyriker kann ein stück landschaft so
aufregen, wie das Stoppelfeld keats aufgeregt hat.
Zu einer Übertragung Manfred Hausmanns, die Jung ihm geschickt hatte,
meint Britting am 23. 1o. 1946:
hausmann-Sappho liegt bei. gut soweit, aber, wie sag ichs?,
ein wenig geschönt, sagt man bei gezuckertem wein - die quellige frische
ist weg! es ist aber auch schwer!
die anthologie soll bis anfang januar im manuskript fertig sein,
meldet er am 30. 11. 1946, und am 15.1.47:
der band ist nun abgeschlossen. 8oo seiten. ein monstrum, aber
ich hoffe, recht interessant geworden. und soll im herbst, hofft der optimistische
verleger, erscheinen:
LYRIK DES ABENDLANDS.
Gemeinsam mit Hans Hennecke, Curt Hohoff und Karl Vossler
ausgewählt von Georg Britting.
1. Auflage 1948 (1.-5.Tsd.) 686 Seiten.
In seinem Nachwort schreibt Hohoff:
[...] Anliegen dieser Sammlung ist weder literaturgeschichtliche
Lückenlosigkeit, noch Ausschöpfen jeweiliger dichterischer Nationalentwicklung,
vielmehr will sie das jeweilige Nebeneinander, Überkreuzen, Überholen
des gemein abendländischen Sinnes spiegeln: Deshalb stehn Dichter
fremder Sprache hier so eng nebeneinander wie das Abendland sie gleichzeitig
aufweist.
Sein Nachwort endet:
Am Schluß dieser Sammlung [stehen] Lyriker, die ein hartes,
wertfreies, unsentimentales Bekenntnis sind. Wie aus dem vielgestaltigen
Quellgrund der Renaissance eine neue Gefaßtheit kam, stehen vor dem
zwanzigsten Jahrhundert in allen Ländern freie, selbständige,
nur bedingt der Überlieferung sich fügende Geister auf Hopkins,
Block, Thompson, Rimbaud, K.Weiß, Heym,Trakl; alle fern der bürgerlichen
Gefühlswelt. Die Größe dieser und einiger noch lebender
Dichter scheint da zu liegen, wo Europa als Land von bloßer Überlieferung
in die Geschichte zurückzusinken scheint und ein neuer geistiger Kontinent
heraufdämmert.
Dieser ersten Ausgabe folgten zu Lebzeiten Brittings noch drei jeweils
durchgesehene und erweiterte Ausgaben. 1963 hatte die Anthologie das 45.Tausend
erreicht. Inzwischen hat sie das 100.Tausend überschritten.
Helmuth de Haas besprach am 26.9.1950 in der Süddeutschen Zeitung
unter der Überschrift »Ein Schatzhaus europäischer
Lyrik« den Band:
»Man muß den Sand aus den Augen kriegen, den die
Gegenwart beständig hineinstreut, um überhaupt etwas sehen zu
können«, schrieb Hofmannsthal und war einer der wenigen, die
sich im zwanzigsten Jahrhundert »ganz vergessenerVölker Müdigkeiten«
und ihrer Poesie entsannen. Den produktivsten Zeitgenossen kann heute der
Gedanke ankommen, es sei mit neuer Hervorbringung wenig getan und viel
mehr an der Zeit, das Überlieferte zu sichern, Niveau und Ordnung
zu schaffen. Das Stichwort dazu ist schon früh gefallen.
In dieser Ebene wuchs eine lobenswürdige Ausgabe gesamteuropäischer
Lyrik, ein aus den alterslosen Poesien des abendländischen Kulturraums
gebautes »House Beautiful« (Walter Pater). Dem Inhaltsreichtum,
der nachschöpferischen Kraft der Übersetzungen wie dem großen
Belang der Auswahl »Lyrik des Abendlands«, von den Griechen
bis heute, die es unternimmt, 2700 Jahre okzidentischer Verskunst zu spiegeln,
vermögen wir nur mit gelindem Zögern, auf die Fülle des
Gebotenen weisend, gerecht zu werden. Denn dieser Band regt zu nichts Geringerem
an als zu stetig nachspürender Beschäftigung und zu einem schier
unbegrenzten Genuß.
Meister der Anthologie sind die Angelsachsen, die in geistigen Dingen
vieles von den Politikern lernen. Die Römer bezogen in ihr Pantheon
Mythen und Götter unterworfener Völker ein. Ihre politischen
Nachfahren von der Nordseeinsel klimatisieren außerenglische Geistesgüter
ihrem Bestande an. Im heutigen Amerika hat gar das wertangelegte Übereignen
und Lesen in der eigenen Sprache zu einer Sprachenverarmung geführt.
Doch die Editoren der bekannten Oxford-Ausgaben haben es unterlassen, eine
Summa europäischer Lyrik in einer lesbaren und zu erlernenden Sprache
herauszubringen. Nach dem Kriege haben vier deutsche Schriftsteller und
Wissenschaftler die Arbeit an einem solchen kleinen Thesaurus begonnen
und zu Ende geführt. Sie setzte überlegene Kenntnisse, einen
aufopfernden Fleiß und jenes unwägbare Gespür für
das Schöne voraus. Das Ergebnis: ein den Bibliophilen entzückender
Dünndruckband, eine den literarischen Gourmand bezaubernde und nimmersättigende
Anthologie.
Über Fug und Unfug von Anthologien nachzudenken, hatten wir in
den jüngsten Jahren mehrfach Gelegenheit. In diesem Bande endlich
geschieht, was die Konsequenz fordert, was zugleich eine häufig spürbare
Lücke füllt: Verlebendigung und Benachbarung der europäischen
Poesie in deutschen Strophen, Metren, Rhythmen. »Lyrik des Abendlands«
enthält Gedichte von Alkaios bis Jose Zorilla, dem vergessenen Spanier
des 19.Jahrhunderts, von Baudelaire bis Yeats, von Catull bis Wolfram,
von Dante bis Paul Valery in dessen Todesjahr 1945 sie ihren Beschluß
findet. Man hat lange zu forschen, bis man einen Namen vermißt. Wer
immer unter der Aegis der Kunst gestritten, wessen Name im »Temple
du Goüt« Sainte Beuves oder im »House Beautiful«
unauslöschlichen Klang hat, ist hier zu finden; und wenn die Lebenden
vor der Schwelle blieben, ist doch mancher ihrer Besten als Übersetzer
und Zueigner vertreten.
Man begegnet einer vollendeten Perlenkette vollendeter Eindeutschungen,
von den frühen der Silesius, Seume, Opitz über den edlen Sinntransport
der Hölderlin, Rilke, George bis zu den Arbeiten einer Equipe von
zeitgenössischen Übersetzern. Es wurde kein Säkulum ausgespart
und auch jener Lyriken gedacht, die im Umkreise und Strahlungsraum der
abendländischen Mitte entstanden sind, in den nachgediehenen Sprachgebieten
Rußlands und Amerikas. Die Blutgruppen sind sehr verschieden, doch
unter deutschen Akzenten wie nahe verwandt im Pulsschlag der Sprache diese
Zeitgenossen aus allen Zeiten und Zonen.
Die Dichter des späten Mittelalters entnahmen ihre Metaphern und
Sinnfiguren den Metamorphosen des Ovid. Sie fanden neben dem Planetarion
ihren bestimmten Platz. Beinahe ein ähnlich erfrischender und das
geistige Mobiliar immer wieder auffüllender Eindruck mag von der »Lyrik
des Abendlands« für uns Spätlinge ausgehen. [...]
Die Männer, die den Band edierten, verbinden den Impetus des Forschers
mit der Liebe zur Poesie: der verstorbene Romanist Karl Vossler, der herausgebende
Lyriker Georg Britting, der Essayist und Übersetzer Hans Hennecke
und Curt Hohoff, der mit seinem Nachwort das Resume zieht, den Globus noch
einmal absteckt, Meridiane und Breitengrade mit deutlichen Strichen aufzeichnet.
Präzise biographische Notizen beschließen den Thesaurus.
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