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Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Walter Schmitz
Band 1  Seite 201 Kommentar Seite 640
Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«


Der Insektenstich

Er war fünfunddreißig Jahre alt und anscheinend vollkommen gesund, als er von der sonderbaren Neigung ergriffen wurde in der Betrachtung von Selbstmordarten, in dem peinlichen, fast liebevollen Ausmalen ihrer Einzelheiten, ihrer Handgriffe und Feinheiten einen lebhaften und erregenden Genuß zu finden. Vielleicht war es eine übermäßige und unnatürliche Furcht vor dem Tode, die ihn bedrängte, sich so innig mit ihm zu beschäftigen und ihm derart alles Grauen zu nehmen. Und indem er sich auf der rasenden Flucht vor dieser Angst überschlug, gelang es ihm dem Gedanken jedes Gift zu entziehen, und Süßes zu schmecken, wo vordem Bitteres gebrannt hatte.
   Er befestigte einen Nagel in der Wand, legte sich die Schlinge des weizengelben Strickes um den Hals und erlebte glühend beseligten Absturz in rote Schlucht. Er knöpfte das Hemd auf, setzte zitternd die blauglänzende Messerspitze an die Brustwarze und fühlte sein Fleisch auseinanderfallen, wie die geäderten Sichelteile einer Apfelsine. Der Lauf der Pistole blitzte und der Schuß warf ihn zu den kreisenden Sternen. Er stand auf dem Geländer der Brücke und segelte mit ausgebreiteten Armen ins Strömende. Er schleuderte sich vor die krachenden Räder der Lokomotiven, trank grüne und blaue Gifte, öffnete sich die Pulsadern und atmete den schweren Duft des Leuchtgases. Er erlebte spielerisch alle Tode und wenn er zögerte, sich in der Tat für einen zu entscheiden, war der Grund die schmerzliche Unmöglichkeit, die Genüsse aller in einem zusammenzufassen. Da geschah es, daß ihm der Arzt ohne Umschweife den baldigen Tod voraussagte. Ein schleichendes Übel, lange vernachlässigt, hatte sein Blut zersetzt und auf Heilung war nicht mehr zu hoffen. Die Furcht vor dem Sterben, an die Wand gedrückt, gestoßen und getreten, zu Brei zermalmt und zu Nebel verflüchtigt, formte sich wieder und erstand schrecklicher als jemals. Ein Stehaufmännchen, das unter dem zurückweichenden Finger kurvig sich wieder aufstellt. Er begann einen zornigen und zähen Kampf um sein Leben. Wie er früher die Süßigkeit des Sterbens hundertmal vorgekostet hatte, schien ihm jetzt ein Leben in Gesundheit das unerhörteste Glück, nach dem er sich wütend sehnte. (Hier wäre vielleicht zu sagen, daß der stürmische Drang zu leben, der sich jetzt in ihm entzündete, aus der Begierde erstand, das süße Laster des vielseitigen Sterbens nicht aufgeben zu müssen.) Kurz und gut, das Unglaubliche traf ein, er genas wieder. Nach Monaten, die er mit anstrengenden und gefährlichen Kuren zubrachte, mit Atemübungen und Bädern, mit Abreibungen und Bestrahlungen, konnte ihm der Arzt sagen, daß das Schlimmste überstanden sei. An dem Tag, da ihm diese erfreuliche Mitteilung die Augen heller machte, stach ihn ein Insekt in die Hand. Er starb nach vierundzwanzig Stunden an Blutvergiftung.

[1919]