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Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Walter Schmitz
Band 1  Seite 235
Kommentar Seite 645 --|-- Kommentar aus Band 5
vgl. »Marion« S.188 und Bd.5 S.195 »Mohn«

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«



Die verwegene Marion

Die Wasenmeisterei liegt auf einem Hügel vor der Stadt, dem Galgenberg. Die Straße, die beim Tor den schweren Panzer des Pflasters abwirft, erklimmt in kurzen Sprüngen die Kuppe, wo ein schwarzer Zaun aus Eisenlanzen das Gehöft feindselig verstachelt. Verwachsene Bäume und von ekelhafter Blattkrankheit zernagte, niedere Büsche umkreisen wie lauernde Hunde das Haus. Marion ging fast täglich diesen Weg. Nie waren die kleinen Fenster geöffnet, und als sich einmal die dunkle Türe knarrend drehte, schnell schloß sie sich wieder mit dem Geräusch eines zuspringenden Taschenmessers hinter der Frau, die ein Kind (oder war es irgendein Tier?) an die Brust drückte. Der Versuch mißlang, dem Abendspaziergang eine Richtung zu geben, daß er sie nicht vorbeiführe an dem verpesteten Garten. Ein dunkler Wille, dem sie sich mit geringem Sträuben unterwarf, trieb sie verschlungene Wege, die alle wieder einbogen in die große Straße. Dann legte sie die Stirn an die kalten Eisenstangen, klammerte sich mit den kleinen Händen fest und roch lange den süßen und faden Geruch, vor dem sie sich ekelte.
   Ihr Bräutigam Otmar, der Afrikaner, war, wie stundenlang an jedem Tag, mit seinem weizengelben Schnurrbart beschäftigt. Die Medaille und das Verdienstkreuz, die er sich bei der Niederwerfung des Hereroaufstandes erfochten hatte, sie klirrten über seiner linken Brustwarze, auch wenn er sie, wie jetzt, nicht trug. Er neigte das Ohr und horchte auf das feine Klingeln. Dann, im Wirbel der Fingerspitzen die Schnurrbartenden schleudernd, stellte er an seine Braut die Frage, die er, weil ihn das Ungewöhnliche wieder einmal sehr bedrückte, jetzt und sofort stellen mußte: Muß es bei Marion bleiben? Er hätte lieber Maria gehabt. Aber sie nickte nur ein verträumtes: Ja. Die gebräunte rechte Hand mit der Narbe tändelte noch immer an dem längsten der Barthaare und im Zerren schien es noch länger zu werden und immer länger, die linke jedoch lag regungslos auf dem weißen Tischtuch wie ein Tier. Er spreizte die Finger und sie erschrak, als er sie zur Faust schloß. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, eine Mücke oder blauglänzende Fliege säße gefangen im Innern. Spielend entknüpfte sie seine Fingergelenke und war fast betrübt, als kein Insekt surrend aufflog. Sie fiel ihm um den Hals und küßte ihn stürmisch. Wenn im Straßengraben unter versprengten Roggenhalmen eine hochstielige, blutrote Blume aufwächst, mit schwarzen Negerhaaren an dem Bindfadenstiel, so meint jeder, die lampionrote Kitschblume mit den papiernen, schlappen Blättern sei etwas ganz Besonderes. Und wenn des Afrikaners Braut in Selbstbetrachtung und im unruhvollen Insichselbstversenktsein die flache, trockene Wiese ihres Daseins überschaute, so schwankte das schwanenhalsige, blutrote Gewächs des Namens Marion verwegen darüber.
   Der Herbstabend stand breitbeinig am Horizont, ballspielend mit den runden, weißen Federwolken. An einem Baum gelehnt, träumte Marion in die Landschaft. Die versank um sie und nur die Wasenmeisterei blieb, ein riesiges Schiff mit schwarzen Wänden. Ein Schrei, dünn wie ein siebenmal geschärftes Messer, sprang empor und gegen den Himmel. Der Schrei des guten Tieres, vom Metzger blind gemeuchelt, raste um die Erde. Alles, was in Ketten lag, spürte Verzweiflung und die Sichel des Monds blutete auf im Rot des Rubins. Marion, süß gepeinigt von dem Schrei, warf die Arme in die Luft und hetzte hinunter in die Stadt, die sich schon im Dunkel verkroch. Aus den feuchten Gassen glaubte sie Kröten und Molche im Funkelzug ihr entgegenwallen zu sehen. Sie scheute sonst vor der Berührung der schleimkalten Tiere wie das Pferd vor einem weißen Blatt Papier, aber heut bückte sie sich, um einen steingroßen, grasgrünen Frosch aufzuheben und an die Wange zu drücken. Es war aber kein Froschprinz und bloß ein froschgroßer Stein.
   Daß die Rechnungsrätin im ersten Stock den kranken Spitz weggeben wollte, erzählte Marion, und daß die weißhaarige Dame sie gebeten habe, das Tier zur Wasenmeisterei zu bringen. Sie wand die Finger ineinander, daß sie schmerzten. Otmar zögerte. Warum willst du es nicht? fragte sie. Sie drückte ihren Kopf gegen sein Kinn und unter seinen Händen spürte er ihre Brust und da sagte er keuchend: Ja. Und während das Mädchen einiges, und beileibe nicht alles, dem Bräutigam erlaubte, der wie ein Schatzgräber den Batist durchwühlte, flog ihr leichter Sinn wie eine Flaumfeder auf und fort und wiegte sich wie ein Engelskopf vor den Fenstern des Galgenhauses. Aber die Fenster waren trüb und fliegenkotbespritzt und die Flaumfederseele schaukelte wieder zurück und Marion sagte entrüstet: Otmar! Er ließ es sein und auch sie glaubte an ihre Jungfräulichkeit, die unbezweifelbar vorhanden war. Der Kerl, der Wasenmeister, hatte ein lilienweißes Gesicht, das wie ein Löschblatt war, leicht aufgefasert. Den Hund hob er hoch am Genick und da hing er wie ein leerer Sack, zusammengetröpfelt im Zipfel der Rest der Körner. Marion schloß die Augen. Auf feuerfarbenem Grund sah sie einen schwarzen Stern aufblühen, der silbern verbrannte. Der Wasenmeister riß die Tür wieder auf.
   Er lehnte sich mit hängenden Armen über seinen Zaun, ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen und sah dem eilig und schwankend davongehenden Mädchen nach. Nun war ihm selber wie einer Katze zumute, nur schnurren konnte er nicht. Sein Buckel wurde regenbogenkrumm und das Fräulein lief wie eine weiße Maus vor ihm und wie er zuschnappte, hatte er in einen rostmürben Zaunnagel gebissen. Den Nagel ließ er los und dort sah noch das Fräulein
   Zwischen blitzenden Spiegeln saß des Afrikaners Braut und bürstete ihr Haar. Auf den Fußspitzen trippelte sie zur Kommode, hob Otmars Bild und küßte es. Zärtlich betrachtete sie seine Orden und sah in der Steppe den durstmatten Geliebten. Der ging eben durch die hallenden Straßen der kleinen Stadt und als er unter einer Laterne einen kohlschwarzen Kater buckeln sah, blieb er stehen. Schwarzer Teufel, redete er ihn an, aber der Kater schlug einen Kreis mit dem Schwanz, drehte sich und tigerte davon. Schwarzer Teufel, rief ihm Otmar nach und schritt dann versonnen und versponnen nach Haus und spürte ein Zucken im Herzen und wußte nicht was das bedeuten sollte, aber es war Marions Kuß.
   Die Katze sträubte sich unter ihrem Griff. Marion sah sich um. Niemand hatte den Diebstahl bemerkt. Sie streichelte das schwarze Fell und einen tiefen, summenden Ton geigte das arglose Herz. Das milchweiße Gesicht des Wasenmeisters ging wie der Mond im Dämmer des Türrahmens auf. Und wie der Mond, der etwas Lustiges sieht, anfängt, die Lippen breit zu ziehen und zu grinsen und gelb und schallend zu lachen, so wurde das Gesicht des Kerls rund und prall und pausbäckig. Er nahm den Kater und schmiß ihn durchs Fenster, daß er mit steifgehobenem Schwanz durch den Garten und davonsauste. Dann tat er, was das Fräulein aus der Stadt offenbar von ihm erwartete, und es war nicht anders als sonst auch bei Dienstmägden, nur daß er hier noch Geld bekam, aber das wäre nicht nötig gewesen.
   Die Tür schnappte nach ihr. Die Büsche bogen die Arme zu schamlosen Gebärden. Die Straße lief, flog und schwang sich sausend in die Stadt. Wirbelnd wurde Marion mitgerissen.
   Der hundeblutrote Klatschmohn in Marions Seelengärtlein schaukelte verwegen und lustig und listig und operettenhaft über den trockenen, sandgelben Roggenhalmen, die sich knarrend und knurrend rieben.
   Dem Afrikaner hat sie natürlich nie etwas erzählt. Sie zog und zerrte mit ihm an seinem Schnurrbart und bald feinhörig wie er hörte sie das Klingeln der Orden, auch wenn er sie nicht trug.
   An das Erlebnis mit dem Kerl, blutrot und wollüstig und ausschweifend und gleich einer Rauschnacht in Spanien nach einem Stierkampf, dachte sie noch manchmal zurück. Die heiße Gewürzsuppe noch einmal aufzukochen, fiel ihr nicht ein. Sie hatte ja jetzt ihren Otmar und wenn sie beide abends aus dem Fenster schauten und ein kohlschwarzer Kater buckelnd über die Straße lief, sagte der Afrikaner: Schwarzer Teufel, und legte sich mit seiner Gott sei Dank weißen Marion ins weiße Bett.
   Und die weiße Marion aß das kräftige und nahrhafte Roggenbrot mit Appetit, zermalmte es knallend zwischen ihren gesunden Zähnen und würzte es mit dem betäubenden Mohn der Erinnerung.
   Schließlich hatte sie keinen weiten Horizont und einer anspruchsvolleren Frau hätte dies eine Abenteuer nicht genügt, den Abendhimmel der Ehe magischrot zu überglühen.

[1924]
In: Vers und Prosa 1, 1924
Unter dem Titel Mohn oder Das verwegene Fräulein wiederum stilistisch verändert in: Jugend, 34, 1929