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Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Walter Schmitz
Band 1  Seite 293
Kommentar Seite 649

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«



Die Geschichte von der goldenen Frau im Lechtal

Es war im Juli, ein heißer Tag im Lechtal. Wo das Dorf anfängt, räkelt sich der Rosenkranzhügel in der Sonne. Rosenkranzhügel, so heißt er von der kleinen Kapelle, die wie eine Warze auf ihm sitzt. Es ist kühl in der Kapele und dunkel. Aber die Frau liebt die Hitze. Sie ist zwanzig Meter höher gestiegen, da bilden die Latschen eine runde Schüssel, drin liegt sie, auf dem roten Mantel, unbekleidet. Hat die Augen geschlossen, die Hände hinterm Kopf, und träumt. Das Lechtal flimmert, o, wie heiß! Die grauen Berge, der Schnee darauf sieht aus wie Watte! Nun brummt eine Hummel um ihre faustgroße Brust. Der Mann hat die Frau gesucht und gefunden, er steht und betrachtet sie. Braune Königin, denkt er, ja, das denkt er, braune Königin. Und kniet schon neben ihr, schlägt nach der Hummel. Die Frau öffnet die Augen, lächelt, schließt sie wieder und dreht nachgiebig das Gesicht unter seinen Küssen.
  Aus Silber war der Lech und eisigkalt. Hui, schrie Karl, warf die Arme nach vorn und schwamm ein Stück, bis die Kälte tief in ihn drang. Er zog sich an; die Kiesel klirrten, auf der Veranda war der Tisch schon gedeckt. Auch Martha kam eben die Treppe herauf. Ihr Gesicht glänzte ihm entgegen. Als Nachtisch gab es Erdbeeren. Sie nahm eine große, rote zwischen die Lippen und bot sie ihm. »Du bist kitschig«, sagte er, und nahm sie. So waren sie Mund an Mund, und so zerdrückte er die Beere. Der Saft rann ihm und ihr übers Kinn wie Blut.
  Stundenlang saß er oft auf dem steinernen Damm, der sich in gleicher Richtung mit dem Flußlauf hinzog, auf dem Damm, der jetzt untätig und zwecklos dalag, weil der Lech Niederwasser hatte. Die weißen, klobigen Steine erhitzten sich wie Bratäpfel, und in den Ritzen wuchs grünes Kraut von merkwürdigen Formen. Weiß, blau, grün waren die Farben. Stein, Himmel, Fluß und Wiesen waren so bemalt, und nur an den hitzigsten Tagen glühten sie feurig in einziges Rötliches zusammen. Einmal, spät am Nachmittag, klappernd flog ein unbekannter rotbrauner Käfer in Ovalen um ihn, saß auf den heißen Steinen auch ein Mädchen. Sie saß und hatte die Hände sanft auf die Schenkel gelegt. Ein dunkelbraunes, sonnverbranntes Gesicht hatte sie, mit einer niederen Stirn, auf die das Haar in einer schwarzlackierten Arabeske fiel. Der Mund war in einer mutwilligen Krümmung geschwungen, die Lippenlinien liefen wie aus Holz gedrechselt, kantig und so übertrieben, daß man ihn anstarren mußte. Sie saß, zehn Schritte von ihm entfernt, sah geradeaus, nicht ein einziges Mal her zu ihm, ganz gerade sah sie vor sich hin, und der Mund zuckte nicht, aber die krummen Lippenlinien liefen so überschwellend, daß er doch in ständiger Bewegung schien.
  Sie war, so stellte sich später heraus, aus Innsbruck, ein Kindermädchen, sozusagen, allerdings eine Art von besserem Kindermädchen, und die gutgelaunte Dienstherrschaft ließ ihr nachmittags meistens zwei, drei freie Stunden, und immer saß sie die am Lech, am weißen Damm, geradeaussehend.
  Und er nun, wie? er war stets vor ihr auf seinem Platz, starrte sie an, legte die Hände auf die heißen Steine, starrte sie an, den blauen Himmel, den grünschäumenden Lech und zupfte von dem Kraut die herzförmigen Blätter, rupfte sie alle weg, daß der nackte Stengel verdammt und unanständig grünkahl stand.
  Wo die holzdachgeschützte Brücke über den Lech ging, saß er mit Frau Martha. Eine Kuh graste, die Glocke am breiten Lederband schallte. Und wie die Glocke friedlich und freundlich brummelte und läutete, und oft nur ganz zart anschlug, kaum zu hören, und das Gras knirschte unter dem rupfenden Kuhmaul, begann der Kampf. Er hatte ihm schon schmale Wangen eingebracht und Finger, die manchmal zitterten, und ihr einen unruhigen Blick. Das Gefecht verlief wie jedesmal unentschieden, aber es wurde von ihnen durchgekämpft, so, als ließe sich die Entscheidung erzwingen, sie keuchten und keuchend sahen sie auf den Lech hinunter, der mit Steinen spielte.
  Wußten sie überhaupt noch, worum der Kampf ging? Sie nicht, sie gewiß nicht! Er wollte das Allerunmenschlichste und Sinnloseste, sie sollte sein wie Ton, wie weiche, feuchte Erde, und er wollte etwas formen, das unklar vor ihm stand und ihm klar sein würde, wenn es nur erst geformt war. Aber sie war nicht wie Ton, der nachgibt, sie war Stein, er konnte Brocken und Trümmer von ihr abschlagen, aber sie saß geformt schon neben ihm, und er war ratlos.
  Über die Berge hingen Nebelkappen, der Regen lief, das Vieh stand unter den hängenden Zweigen der Fichten und brüllte unwillig. Aber die Brücke hatte ein hölzernes Dach, da drauf konnte der Regen trommeln, und Karl konnte auf den Lech hinabsehen, der sich gelb und braun färbte, auf dem Baumstämme drehend hinabtrieben und Buschwerk daherkam, das Wurzeln wie Arme streckte. Immer schneller schoß das Wasser dahin, stieg, und der weiße Damm, den man von hier aus nicht sah, er mußte jetzt fast überflutet sein und verschlammt, und das Innsbrucker Mädchen konnte nicht mehr dort sitzen und geradeaus sehen, mit der lackierten Haarlocke, arabeskenhaft und scharf in der niedern Stirn. Da kam Frau Martha, im Lodenmantel, und sagte nichts und schob ihren Arm in den seinen, und der Lech strudelte eifrig.
  Aber auch der Regen hörte wieder auf, und die Sonne kam wieder, und der Himmel wurde wieder so blau wie je, und auch der Lech lief und lief, und eines Morgens glänzte er wieder grün und schäumte weiß. Der Damm war mit Astwerk überstreut, das sammelten Kinder als Brennholz, die Sonne brannte, und an einem späten Nachmittag saß das Mädchen wieder da und badete im Licht. Er blieb schräg vor ihr stehen und sagte: »Warm!« Sie veränderte sich nicht, und auch kein Rot stieg ihr in die Wangen, keineswegs färbte sich ihr Hals auch nur ein wenig röter, als sie sagte: »Ja« und »Gottseidank! «Er wagte es nicht, vor ihr stehen zu bleiben und ging rasch den Wiesenweg entlang und in sein Zimmer. Dort saß er am Fenster und wartete auf den Abend, der mit Mond und Sternen heraufzog, mit vielen klaren, kleinen Sternen und einem türkensäbligen Mond. Die Tür ging auf, und Frau Martha trat herein. »Warum«, fragte sie, »warum hast du dich den ganzen Nachmittag vor mir verborgen gehalten?«Sie hatte traurige Augen, das sah er, aber um den Mund Zornlinien. Sonst sagte sie nichts. Es war die Stunde gekommen, wo er die Waffen streckte. Da war vor ihm die Frau, und er kannte jeden Zug ihres Gesichts und jeden Atemstoß, den sie machte. Er hatte mit ihr gerungen, Brust an Brust, Herz an Herz, und wenn sie nachgab, hatte er doch nur verloren. Er war ein dummer und besinnungsloser Mensch und wollte ihr die Brust öffnen und das Herz so setzen und die Lungen so und so die Leber und wollte ihr den Kopf aufschlagen wie eine Nuß und die Gehirnlinien so ziehen und so und immer anders als sie liefen. Aber da saß der liebe Gott und hatte das so gemacht, und dagegen kam er nicht auf.
  Überm Lech, am andern Ufer, war ein kleines Wäldchen, ein Lärchenwäldchen. Es waren nur ein paar hundert Stämme, aber die waren so hochgeschossen, wie braune Pinsel, und mit den Wipfeln wischten sie den blauen Himmel. Unten war viel Moos und im Moos viel Erdbeeren. Die saßen geduckt unter den Blättern, nur ihr Rot verriet sie. Es waren dunkelrote, feuchte, klebrigfeuchte, zuckersüße, überreife, auch halbreife, die eine rosa Wange hatten und eine gelbweiße. Er sammelte auf ein großes, grünes Blatt ein paar Hände voll, bückte sich tausendmal und legte die rote Last auf des Mädchens Platz und wartete, bis sie wie gewöhnlich kam. Sie saß und sah die Beeren und aß sie langsam, eine nach der andern, und das leere Blatt nahm sie spielend in die Hand.
  Frau Martha ging eilig die Dorfstraße entlang, ließ die letzten Häuser hinter sich, und vor ihr tauchte schon ein fremder Kirchturm auf. Da stieg sie schräg in den Wald hinauf und setzte sich, dann fiel sie um, lag lang ausgestreckt, als horche sie in den Boden hinein. Der Boden schwieg, sie drehte sich auf den Rücken, Wasser glänzte in ihren Augen, aber demütig konnte sie nur sein, wenn sie allein war, zwischen Fichten und Tannen, nur von Erdbeeren belauscht und von Fliegen umsungen. Welchen Vorsatz gab's, den sie jetzt nicht gefaßt, welches Wort, das sie jetzt nicht gesprochen hätte? Aber die Fliegen kümmerten sich nicht um ihre Worte, die Fichte ließ einen Zapfen fallen, der polterte: Vergeblich! Langsam trockneten ihre Tränen, und sie dachte mit Rührung und Stärke an ihn. Später, auf dem Heimweg begegnete Frau Martha der Innsbruckerin. Die beiden Frauen sahen einander kaum, und die schwarzlackierte Arabeske, als die sich die Locke der Innsbruckerin zeichnete, hätte Frau Martha, wenn sie die Stirn des Mädchens betrachtet hätte, abscheulich gefunden.
  Als sie hintereinander, Karl und Martha, in die Schlucht einbogen, durch die der Hechtbach fließt und schießt, Karl ihren Knöchel im grauen Strumpf ansah und sie sich umwandte und verlegen lächelte und weiterging, spürte er eine Art von Gleichgültigkeit gegen sie wie nie zuvor. Da war sie, wie sie immer gewesen war und wie er sie immer geliebt hatte. Oder vielmehr, das Wesen, das er geliebt hatte und noch liebte, hatte sich tief in sie zurückgezogen. Immer tiefer verschloß es sich in ihr, und was er mit Händen an ihr erreichte, war zu wenig. Seine Einbildungskraft ließ ihn die Frau sehen, die er wie ein Phantom glühend liebte. Diese phantastische Frau hatte dicht unter der Oberfläche, unter der gespannten Haut der Frau Martha gesessen. Und die Haut mußte platzen und die phantastische Frau prangend zu ihm treten. Aber die Haut platzte nicht, sie bräunte sich, wurde fester, nie würde sie springen und die Gefangene freigeben. Was da vor ihm herging, war eine seltsam lebendige Puppe mit einer Zunge, die reden konnte, ein ihm tief fremder Mensch, der dreißig Jahre lang, ehe er ihn kannte, gelebt hatte, geliebt hatte. Er liebte ein Phantom, und das mußte sich bestrafen. Und es bestrafte sich tausendmal, weil er wie ein Goldgräber graben mußte, graben, graben, scharren, scharren, das Gold blinkte, aber sank stets nur tiefer. Nun warf er die Schaufel weg. Nicht, daß er glaubte, das Gold sei nicht da! Er verzweifelte daran, so tief zu stoßen, dahin, wo es steckte.
  Das Innsbrucker Mädchen saß auf dem Damm in der Sonne. Es war unbeweglich und wie aus Gold. Auch das Gesicht war aus Gold und auch die Augen aus Gold und auch die Arme. Schwarz fiel die Haararabeske auf die goldene Stirn. Es war ein Götterbild, ein Götzenbild, was da saß und nicht atmete. Der Lech schäumte grün und lebte und bebte, die Bergwälder wehten wie Fahnen, Grillen sangen unaufhörlich, und über die Wogenkämme der Blumen lief ein kleiner, heißer Wind. Aber das Goldmädchen atmete nicht, es blinkte und blitzte nur, und auf den krummen Lippen war das Lächeln ewig und von ferneher und nach Fernen hin.
  Er setzte sich unbeweglich hin wie sie. Er schloß die Augen. Die statuenhafte Ruhe vereinigte ihn mit ihr. Der weiße Damm war eine breite Mauer, sie waren Standbilder beide, von einem unbekannten Volk einst errichtet. Er öffnete die Augen wieder, sie saß immer noch, immer noch, immer noch.
  Es kam eine Mondnacht, ein blaues Glänzen und Strömen, ein bläuliches Fließen und Rieseln und Tropfen. Die Berge waren weit zurück marschiert, das Tal hatte sich gebreitet und gemuldet, und der Himmel war ein blausaftiges Gewölbe und der Mond von einer strahlenden Klarheit, eine gefrorene Lichtscheibe. Wo die Berghänge im Schatten lagen, dunkelte es wie Samt, dann schnitt eine messerscharfe Linie das Licht vom Dunklen, und Gruppen von Fichten standen wie Tiere auf der Flucht, in Rudeln, äugend, auch äsend. Die Schindeldächer der Häuser waren wie beschuppte Fischleiber, jede Schuppe war bläulich glänzend einzeln zu sehen, und das lange Dach des Wirtshauses schwamm schwanzschlagend wie ein großer Fisch durch die Silbermilch davon. Hoch stieg das Holzkreuz, mit den hölzernen Geräten der Marter und Christi benagelt, benagelt mit Hammer und Winkel und Säge, mit dem hölzernen Essigschwamm und Speer und Schwert und Dornenkrone, hoch stieg das Holzkreuz über der Brücke empor und warf einen Schatten, einen tiefschwarzen, schnurgeraden, einen massiven Schatten, daß man die Beine hob, darüber zu steigen, zu steigen über das Ebenholzebenbild des mondbeleuchteten Kreuzes.
  Er war aus dem Wirtshaus gekommen, vom roten Wein, und ging nun betäubt durch das blaue Zauberdorf. Die Jugend schlief nicht, wie hätte sie schlafen können, wo Wiese und Wald blau kochte und der goldgelbe Mond über den Himmel hin schwebte, lautlos und singend? Weiß glänzte die Straße unter seinen Füßen, und viermal und fünfmal strich er wie ein schwanker Vogel häuserentlang von Dorfende zu Dorfende. Und flügelmild und glanzbetäubt fand er über die knarrende Treppe den Weg in sein Zimmer. Aber dort lag der Mond plötzlich und überfallswild mitten auf den Brettern, und durch das Fenster drang das unbändige Licht. Und Gesang stieg von der Straße auf, drei Stimmen, drei Mädchenstimmen, die ein Volkslied sangen, das frech und getragen war. Er sah hinunter, aber die Sängerinnen waren in schwarze Mäntel gehüllt, und er wußte nicht, ob es ihre Stimme war, der Innsbruckerin Stimme, die lockte. Frech war das Lied, das sie sangen, volksliedfrechliederlich, verwildert, dornig wie ein Zweig schwarzer Brombeeren. Er beugte sich tief aus dem Fenster, wo im Mondlicht jetzt die drei Mädchen schwankten wie Brombeerstrauchfahnen. Nun stimmten sie noch einen Gesang an, es klang vom Scheiden und war süß, aber ehe sie zu Ende gesungen hatten, stürmte um die Ecke ein Trupp Burschen. Die schwarzen Mäntel kreischten, flohen, und dann Stille. Nur der Dachfisch flog surrend und schaumperlenwerfend.
  Die gelbe Postkutsche trug auf dem Verdeck einen Turm von Koffern und Taschen, einen wackelnden Turm, den der dicke Fuhrmann mit Fluchen stützte. Der Mond war weg, der blaue Glanz war verschwunden, die Sonne war da, es war früh um sieben Uhr, und das Schindelwirtshausdach war kein silberner Zauberfisch, nur eine bürgerliche Decke über Menschenschlafstätten. Die Postkutsche fuhr zur Bahn. Sie hatte sieben Stunden Talfahrt vor sich, eine Stunde schon hinter sich. Die zwei braunen Gäule schepperten an den Ketten, drehten die Köpfe. Endlich saß alles, der Fuhrmann knallte mit der Peitsche, mit Taschentüchern winkte man, man fuhr. In diesem Augenblick schlüpfte Karl aus seinem Bett, war froh und trat zum Fenster. Der gelbe Karren schaukelte ums Eck, rollte jetzt dicht unter seinem Fenster, er konnte die Koffertäfelchen lesen. Er sah tiefer, sah die Köpfe der Abreisenden, er sah die Arabeskenlocke, sah den krummen Mund, das Mädchen streckte die Hand gegen ihn, er tat das gleiche. Beide ließen die Hände gegeneinander gestreckt, während die Entfernung zwischen ihnen wuchs. Der Wagen war nicht mehr zu sehen, aber er stand immer noch. Er war nicht traurig, er war nicht froh, er wusch sich, kleidete sich an wie immer, aber bevor er ging, trat er noch einmal zum Fenster, streckte die Hand aus, keine streckte sich ihm entgegen, nur der grüne Berghang mit Flaumgras bewachsen sah gutmütig zu ihm her.
  Jeden Nachmittag zur gewohnten Stunde saß er am gewohnten Platz. Es kam eine lange Reihe von schönen Sommertagen. Er saß und fühlte sich in der Hitze wohl wie eine Eidechse. Einmal, er hatte mit geschlossenen Augen sich wie ein Schmetterling geträumt, der über den Flußwellchen hinschwebt, in der Richtung mit dem Strom, rot und braun gepunktet, Samt der Leib, oben Blau des Himmels, unter sich das Grün des Lechs, weg und fort die Welt, einmal, er öffnete die Augen und war nicht mehr der Schmetterling, einmal, er sah nach rechts hin, wo das Mädchen immer gesessen hatte, und sah, daß sie, gerade und fröhlich geradeaus blickend am alten Platz sich befand. Sie saß dort, die Hände sanft auf die Schenkel gelegt, die schwarzlackierte Haararabeske in der niedern Stirn und mutwillig und krumm und verwirrend gebogen und geschwungen die Linien der Lippen. Sie sah geradeaus und sah ihn nicht, und eine Hummel, die sie brummend umflog, kreiste einmal, zweimal, dreimal, er zählte, sechsmal, siebenmal um ihren Kopf, dann taumelte sie, daß sie fast die Steine des Damms berührt hätte, zu Boden, hob sich, kam in einer Wackellinie gegen ihn gesteuert, dicht, fast vor seinen Augen, er sah den dicken Leib, das Brummen wurde überlaut und dröhnend, aber im letzten Augenblick wandte sie sich und flog weit hinaus auf die klirrenden Wiesenflächen. Die Frau drüben stand auf und ging den schmalen Weg ins Dorf zurück, aufrecht und schlank, und die vielen Blumen, die blauen und gelben und roten sahen ihr nach. Am andern Tag, der strahlend und brennend war wie der gestrige, es war das Tal eine riesige grauseidene Distel, die knisternd flammte, am andern Tag saßen die beiden wieder an ihren Plätzen. Es war Frau Martha natürlich, und sie rührte sich nicht und sah geradeaus und fühlte, daß sie mehr nicht tun durfte, und fühlte, daß sie mehr nicht von ihm haben konnte, als dieses Zusammensein in der krachenden Hitze des Nachmittags. Er sah hin und sah das Mädchen mit Stirn und Mund, wie er nur ihr, der Abgereisten und nun Wiedergekommenen, und nur ihr zu eigen war. Er neigte sich weit hinüber, und auf Händen und Füßen, wie ein Leopard vielleicht oder auch nur wie eine verwilderte Hauskatze, auf Katzenpfoten und in Katzengelenken sich wiegend, schlich er gegen sie. Zehn Schritte waren hin zu ihr, er machte zwei, sie saß noch und ihr bebender Mund krümmte sich, und die Unterlippe trug die Oberlippe, aber nach nochmals zwei Schritten sah er, daß es Frau Martha war. Erschreckt wich er wieder zurück, und nun saß das Mädchen wieder da, schenkelgeschlossen und statuenhaft wie je. So rührte er sich nicht mehr, und das Bild blieb, und auf der grauseidenen Distel, als die das Tal wuchs und brannte, saßen sie inmitten wie zwei fremde Käfer und zitterten.
  Sie verkehrten im Dorf zusammen wie sonst und wie sonst mit den Freunden. Der Kampf zwischen ihnen hatte aufgehört. Sie fanden eine schwebende Art, mit der sie zueinander redeten. Sie betrachteten sich mit heiteren Gesichtern, und kein Wort fiel zwischen ihnen, das an ihre tägliche Begegnung am Damm gerührt hätte. Frau Martha wußte nichts, oder vielmehr sie wußte nur, daß von der Stunde her, die sie getrennt und vereinigt auf den heißen Julisteinen saßen, ein Glanz und eine Milde kam, die ihnen den Tag und den Abend verschönte. Das genügte ihr, und das genügte ihm.
  Nun war die goldene Frau, nach der er, ein unermüdlicher Schatzsucher, gegraben und gewühlt hatte, weit aus dem Hintergrunde ihres Tempels nach vorn getreten, aus Frau Marthas Augen sah sie ihn jetzt manchmal bezaubernd an. Und sie, Frau Martha, und das Mädchen mit der niederen Stirn, als die er sie sah, und die geheimnisvolle Frau, nach der er suchte, waren in einem Wunder in eines geschmolzen. Er begriff, daß er auch in dem Innsbrucker Mädchen nur nach der Urgestalt gesucht hatte, nach der Urgestalt, die in Scham und Dunkel zurückwich, wenn man sich ihr näherte und die sich näherte, wenn man selber in Demut verharrte.
  Ein großer Rausch hatte ihn erfaßt. Alles war ihm tönend geworden. Er legte sein Ohr an den rauhen Stamm der Fichte, und er klang süß wie eine Flötenstimme. Er legte den Mund daran, und wie Pan blies er ein großes Lied, daß die Wipfel in der Melodie schwankten.
  Dann kam der Tag der großen Sonne. Die Steine des Dammes waren heut heiß von einer Hitze, die nicht weh tat. Er setzte sich, funkelndes Licht fiel in großen, schweren Tropfen in den Lech, daß sich kleine Wellenkreise bildeten. Der ferne Wald rauchte. Es war ein dünner Rauch, Schleier; artig, schwärzlich, aber darunter schimmerte es wie Gold, als ob über ein Goldbrokatgewand ein schwarzer Schleier gelegt worden wäre. Die Steine, auf denen er saß, waren noch weiß und heiß, aber sie begannen schon gelb zu werden, Gold zu werden. Er hob einen kleinen Stein, aber der war so schwer, daß er Gold sein mußte, kein Stein, kein gewöhnlicher Stein, Granit oder Kalk, wog so schwer. Langsam drehte er den Kopf und sah, daß sie schon dasaß. Sie lächelten sich an, ohne sich zu rühren. Nun wurden auch seine Füße schwer. Er schlug spielend mit den Absätzen gegen die Dammwand und es klang metallisch, wie Gold gegen Gold schlägt. O, du wundersames Glockenspiel, dachte er, und mit den goldenen Schuhhämmern schlug er weiter, stark und schwach und stark und schwach, aber immer goldmetallisch klang es. Er sah hinüber, ob sie sein Glockenspiel hörte, aber sie saß unbeweglich und lächelte nur. Und zum Takt seiner schlagenden Füße schlug er nun Hand auf Hand, und der Ton klang goldmetallisch wie jener. Er sah seine Finger an, die waren wie aus Gold gedrechselt, fein, mit schönen Gelenken, und nun sang er auch noch, und er sah seine Worte goldschwer auf den Damm klingeln, wie Goldmünzen, und bald lag ein kleiner Berg solcher singenden Münzen neben ihm. Er hörte zu singen auf und sah auf den Fluß, auf den Lech, der träger zu fließen begann. Grad vor ihm, an immer der gleichen Stelle, erneuerte sich ein Wellenberg und ein Wellental. Er sah scharf hin, und war es nicht, als sei Berg und Tal jetzt festgefroren? Waren nicht alle Wellen gefroren, war nicht der Lech erstarrt in Gold [?] Er warf einen Stein ins Wasser, das nicht mehr Wasser war, aber der Stein versank nicht, klirrend schlug er auf Hartem auf, es klang, und er kollerte und glitt wie ein Stein auf Eis und blieb Gold auf Gold liegen. Er drehte sich zu der Frau. Sie hatte sich ganz zu ihm herübergewandt. Die tausend Halme der Wiesen waren Goldfäden, alles war Gold, nur der Himmel noch blau. Da begann die Frau zu wachsen. Ihre Hüften schoben sich nach oben, die Beine wurden lang wie rundschaftige Bäume, die Kleider fielen von ihr, sie war nackt, und die Arme breitete sie langsam aus, die goldene Frau, die goldene Innsbruckerin, und die Hand streckte sie aus, die goldene, große Hand, er sah jede Kuppe jeden Fingernagels, und dann senkte sie die Hand, und dann hob sie die Hand, und dann trug sie auf der flachen Hand das Tal und die Berge und die Wiesen und den Lech und den Himmel. Alle waren zu Gold erstarrt. Alles wurde klein, sehr klein, die Berge hatten Käfergröße, und die Käfer waren noch winziger, aber er sah sie noch ganz deutlich. Und nun schob sie Tal und Damm, den Damm auf dem er kniete, dicht an ihre großen Augen heran. Die waren unbeweglich, ausdruckslos, sie sahen ihn an und sahen ihn nicht und waren aus Gold. Sein Blut gerann, er spürte, wie es sich verdickte und langsamer floß und dann zu Gold fror in der atemlosen Hitze. Und jedes Leben hatte aufgehört, jedes tierische Leben, die Welt war aus Gold getrieben, jede Einzelheit, jeder Halm, jede Blume aus Gold, unbeweglich, und lebte nur das stumme und dumpfe Leben des Steines. Und seine Gefühle waren nun auch aus Gold, ja, aus Gold, denn sie waren noch da und in einer eigentümlichen Weise noch lebendig. Aber der Schmerz tat nicht mehr weh, und die Freude tat nicht wohl, sondern tat weh und wohl in einem.
  Und so verharrte er auf der Hand der goldenen Statue, die große, unbewegliche Augen auf ihn gerichtet hielt, und erlebte die Ewigkeit des Steines und des fließenden Wassers, und es gab keine Menschen mehr und nicht mehr ihn, Karl, und nicht mehr Frau Martha, und nicht mehr die Innsbruckerin. Um die Gruppe aus Gold, das Bildwerk aus Gold und Metall blinkte die gelbe Sonne, abgestorben und lebendig. Aber sie ließ die Hand sinken,  er fiel tief, er fiel auf den Damm auf, kam auf die Knie zu liegen, auf den Knien rutschte er zu ihr, sie breitete ihm die Arme entgegen, er legte den Kopf an ihre Brust, und als er in der Verwirrung seines Gefühls Frau Marthas Lippen küßte, stand er lachend auf und sagte: »Laß uns ins Dorf gehn!«
  Der Himmel schien willens zu sein, nie mehr etwas von seiner Bläue herzugeben, die Tage liefen goldzitternd einander nach, die Bienen waren betrunken, wie taumelten sie! Er war auf die Veranda des Hauses gegangen, es war fünf Uhr des Nachmittags, und sah das Tal entlang und sah auf die Berghänge und die Talwiesen und den Schlängelweg hindurch. Und jetzt, da, in dieser Stunde, geschah ihm wieder Verzauberung. Es kam den Weg daher die Innsbruckerin, die Lippen geschwungen, er sah es genau, und sie lächelte und nickte ihm zu, und er wollte ihr auch zunicken, aber es ging nicht, sein Hals und sein Kinn tat nicht mit. Sie schritt näher heran, war weit weg, am Talende, aber doch nah, nicht größer als wie natürlich, obwohl sie doch, dort am Talende stehend, klein wie eine Nuß aussehen mußte, aber er sah sie, als stände sie armweit vor ihm. Sie nickte heftiger, ihre Lippen zuckten, sie sprach wohl auf ihn ein, er hörte nur nichts. Hinter ihr kam Frau Martha. Sie trat dicht hinter das Mädchen, sie war größer als das Mädchen und jetzt standen ihre beiden Gesichter übereinander, sahen ihn unverwandt an, Augenpaar über Augenpaar. Und beide schienen nun mit ihm zu reden, und ihre Augen wurden verlangend, öffneten sich, saugten, es strudelte vor ihnen die heiße Luft, es wirbelte bis zu ihm heran, es war wie ein Trichter. Dann drangen die zwei Gestalten ineinander ein, wurden eins, es war ein Kopf nur mehr, nur noch zwei Augen, und die sahen ihn an und waren willig und ergeben und demütig und lockten. Und die Doppelgestalt, das eine, einzige Wesen, dort am Talende, streckte die Hand zu ihm auf der Veranda, bittend, er wollte seine Hand entgegenstrecken, aber die lag auf dem Verandabalken und hob sich nicht und hob sich nicht. Und er merkte, daß er sie nicht heben wollte, und er hörte sein Herz klopfen und spürte schon Zuneigung zu dem Doppelwesen, aber da standen die Berge und glänzten, da war der Himmel, blaukrachend, und die Wälder, die Wälder, die Bäume und die Waldtiere, und es riß seine Arme auseinander, und seine Hände reichten bis weit links und rechts zu den Bergflanken und spürten das Fleisch der Bergflanken, das weiche Moos. Das Doppelwesen lächelte noch immer, ein wenig traurig jetzt, und er lächelte zurück und preßte die Lippen fest aufeinander, daß ihm nicht ein Lachen daraus würde, denn kränken wollte er das Doppelwesen nicht. Das fing zu wanken an, das Doppelwesen, nur der Kopf war noch unbeweglich. Dann war der Körper weg, nur der riesige goldne Kopf schwebte über dem Talende, wurde größer, noch größer, und dann wurde er einäugig, der Kopf und die Sonne war das Auge, und die Wälder waren die Brauen, und der Schlängelweg war eine geschwungene Lippenlinie, und die Lippen bebten ihm zu, und jetzt konnte er die Hand vom Verandabalken heben und nach dem Talende ausstrecken. Die Luft zitterte heißer, er rannte über die braune Treppe ins Freie, den Weg entlang, geradeaus und vorwärts stürzte er, die Brust heiß vor Glück, das Herz an den heißen Brustkasten wie die betrunkenen Bienen pochend, die ringsum brummten. Er lief, er mußte laufen, Laufen war Glück! Dann stürzte er schreiend ins Gras.
  Im Herbst dann fuhren Karl und Martha in die Stadt zurück, und als der Winter kam, sahen sie sich schon sehr selten, und eines Tages, im Frühling, war es ganz zu Ende.
  An den Damm schlägt immer noch der Lech. Und das unruhige Herz schlägt immer noch in Karls Brust, aber nach Innsbruck fuhr er nie, etwas zu suchen. Er wußte, es war dort nichts zu finden, dort nicht und nirgends, nichts und nirgends für ihn.