zurück zum Inhaltsverzeichnnis
Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Band 3/2   Seite 10
Kommentar Seite 445

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«


Der Franzose und das Ferkel

Im Jahre 1872, der Himmel war noch blauer damals,erzählte mein Onkel, und die Donau grüner als heut, und die jetzt dicke, alte Bäume sind, fett und narbig und knorrig, die bogen sich in jedem Wind, da begegnete man in den Straßen unserer Stadt oft einem kleinen, schwarzkinnbärtigen Herrn, und das war ein ehemaliger Unterfeldwebel des französischen Heeres, Rancourt mit Namen. Der war im Krieg gefangen genommen worden, in der Schlacht bei Sedan, so sprach man, und das Schick­sal hatte ihn in die Donaustadt verschlagen, und er hatte gefunden, daß die Donaustadt eine schöne Stadt sei, und war geblieben auch nach Friedensschluß, und trug noch lange zu seinem bürgerlichen Rock die mohnroten Hosen des Soldaten. Ein gelbes, biegsames Stöckchen ließ er lu­stig kreisen, und stand an der steinernen Brücke und sah den Anglern zu, und sah zu, wie die selten, aber doch hin und wieder einmal, einen Silberfisch aus dem Wasser hol­ten. Und wir Kinder, sagte mein Onkel, wir blickten nicht den Fisch an, ein Rotauge oder eine Brachse, die hatten wir oft gesehen, wir blickten verstohlen auf die roten Ho-sen des Herrn Rancourt, auf sein schmetterlinggelbes Wippstöckchen, und weil das alles, die flammenden Ho-sen und der Ziegenbart und das bewegliche Stäbchen im Wasser noch einmal sich darboten, so starrten wir voll heftiger Neugier auf die bunte Spiegelung, um den Mann selber nicht allzudreist mustern zu müssen. Und der Lei­ter der Bürgerschule der Stadt, in der man natürlich auch die französische Sprache lehrte, war der Meinung, daß die fremden, schweren Worte leichter auf die Zungenspitzen der Schüler zu bringen seien, wenn ein echter, unzweifel­hafter, lebendiger Franzose das versuche dieser Bürger­schulleiter also stellte an den Herrn Unterfeldwebel Ran‑court das Ansinnen, einen Lehrposten für Französisch an der Anstalt zu übernehmen. Der Herr Rancourt willigte gerne ein, kehrte nicht mehr in sein Vaterland zurück, blieb bis an sein Lebensende, und ging eifrig und auf ein wenig gebogenen Beinen durch die Krummgassen der Donaustadt, immer noch aber das senffarbene, das schmetterlingsfarbene Stöckchen wippend.

Das war damals, erzählte mein Onkel, als es noch schöner war zu leben, und als dort noch grüne Wiesen waren und eine Felsenkellerwirtschaft, wo heute das städ­tische Pfandhaus steht, damals, als das braune Bier so dick und honigklebrig war, daß, wer mit dem Ärmel am Verschütteten hängen blieb, einen Stofflappen opfern mußte, um wieder loszukommen. Da lachte mein Onkel, als er das erzählte, und sagte auch, daß der Mond, wenn er an Juniabenden über dem Dom emporstieg, so groß gewesen sei wie ein Wagenrad, zum Fürchten groß, und seiner Schätzung nach mindestens doppelt so groß als heute.

Da lachten wieder wir, und glaubten es nicht, und for­derten ihn auf, heute, am Abend, zur Stunde des Mond­aufgangs, mit uns vor die Stadt zu gehen und mit uns zu warten, bis die gelbe Scheibe aus der dampfenden Abendebene zwischen Hügelrücken und roten Kaminen sich emporarbeiten würde, und dann im Angesicht des glühpunschfarbigen Lichtträgers, ja, Aug in Aug mit ihm, seine Rede zu wiederholen.

Um wieder auf diesen Rancourt zu kommen, sagte aber mein Onkel, so hatte der säbelbeinige Mensch sich so bei uns eingewöhnt, daß es wahrhaft zum Staunen war. Er trank bald mehr Bier als irgendein Ortsansässiger und aß im Wirtshaus Kalbsbraten mit Kartoffelsalat und schwärmte für Leberknödel und Grießnockerln. Er lernte auch deutsch zu sprechen, aber er brauchte sehr lang dazu, und jahrelang radebrechte er es in der entsetzlichsten Weise.

Nun war damals jeden Mittwoch in der Wahlenstraße Spanferkelmarkt. Da kamen die Bauern und Bäuerinnen aus der Umgebung und brachten in Körben die quieken-den Tiere. Die waren meist rosafarben und wunderlieb­lich behaart, manche auch waren schwarz, und besonders schön ist es, wenn ein Ferkel um die Schultern herzförmig schwarz ist, während das Hinterteil bis zur Schwanzmitte gelbweißbeflaumt schimmert und die Schwanzspitze lu­stig und unerwartet wieder teufelsmäßig dunkel sich rin-gelt. Die Käufer packten das Tier bei einem Fuß und ho­ben es hoch, daß es laut aufschrie und den prallen, run­den Leib hin und her warf, und mindestens fünfzehn hob man auf und beschaute sie, bis man sich zum Kauf von einem entschloß, so daß es an den Markttagen ziemlich laut herging in der Wahlenstraße. Es roch auch ganz be­sonders in der Straße und auch noch in den Nebenstraßen an diesen Mittwochvormittagen, gut eigentlich, so nach Stall und Stroh, und recht gesund.

Und damals, fuhr mein Onkel fort, als natürlich noch keine Straßenbahn durch die Stadt mit grellen Glocken läutete, nur Bauernschlitten an Wintertagen durchs Ja­kobstor klingelten, damals traf man oft Buben und Dienstmädchen, auch wohl den Hausvater selber, wie sie vom Bäcker kommend, schmale Bretter auf den Schultern trugen. Die waren von der Backofenhitze angeröstet, hat­ten schwärzliche Rillen davon, und auf die Bretter waren genagelt die gebratenen Ferkel. Sie lagen auf dem Bauch, wie spielend alle Viere von sich, und den schmalen, listi­gen, lustigen Kopf dicht auf das Holz geduckt und schwebten so hochgetragen strahlend dahin. Sieht man das heute noch? murrte mein Onkel. Aber dann lächelte er und erzählte weiter: Der Rancourt nun wollte natürlich auch einmal sein Spanferkel haben und fand sich also in der Wahlenstraße ein, ahmte die anderen Käufer nach, hob Ferkel nach Ferkel am Bein hoch, sah lachend auf die Quietschenden herab und ließ sie wieder in den Korb fal­len, wo die Tiere, weiter schimpfend, sich ins Stroh zu den Kameraden schmiegten, tief und aufgeregt atmend. Schon das siebente oder achte gefiel ihm ausnehmend, er fragte, mehr mit den Händen als mit Worten, nach dem Preis, zahlte und nahm das Tier zärtlich auf die Arme, um es zum Metzger zu tragen. Es lag so rosig auf seinen Är­meln, daß er der Versuchung nicht widerstand, es zu streicheln, aber das bekam ihm schlecht. Das Ferkel zap­pelte wütend, er stolperte, fiel, das Tier war frei und hell rufend raste es davon, Ringelschwanz hoch, schnell wie der Blitz, ohne sich umzusehen. Der Herr Rancourt lief hinterdrein, feurigen Auges, säbelbeinig, und das Ferkel war schon um die nächste Ecke. Der Franzose fluchte, fluchte alle gewalttätigen und abscheulichen Flüche sei­ner Soldatenzeit, bog um den Prellstein, war in der Sei­tengasse, aber das Ferkel war nicht mehr zu sehen. Quiek­te es nicht fern zärtlich und lockend und höhnisch? Aber zu erblicken war es nicht, nur ein Dienstmädchen kam ihm entgegen. Er wollte es fragen, ob es dem Ausreißer nicht begegnet wäre, aber damals, 1872, da war er erst knapp über ein Jahr in der Stadt und konnte nur wenig Deutsch, und er war auch zu aufgeregt, um sich die Frage sauber zurechtzulegen, und so schrie er zappelnd, mit drehenden, malenden, erklärenden Handbewegungen er­gänzend, was ihm an Worten fehlte, so trompetete er auf-geregt der Dienstmagd etwas zu und das war so: »Fräu­lein, aben Sie nicht gesehen kleine Person, vorne oi, oi, hinten dirrididldi?«

Es steckte eine schöne und kräftige und sehr anschau­liche und einprägsame Beschreibung des flüchtigen Rosa­tieres in den Worten, aber die Magd verstand sie trotz-dem nicht gleich, die schwerfällige Person begriff erst später den Sinn, aber da hatte er das Ferkel schon wieder gefunden, das sich in einen Hausflur geflüchtet hatte.

Aber die Stadt, Gott, wie anspruchslos war sie damals, sie freute sich noch lange über die Sprachkünste des Fer­keljägers! Oh, wie er das Ringelschwänzchen, das ewig bewegliche, geschildert hatte, das lustige, das keck und naseweismutig wie ein fleischerner Lerchentriller war, das sang, ja, sang, wers zu hören verstand, überwältigend dummdreist und unverfroren das Lied dirrididldi! Und oi, oi quiekte die Schnauze, der Rosarüssel, tiefer im Ton als die Schwänzchenflöte, die biegsame, helle.

Und, sagte mein Onkel, er hat später noch oft Kalbs-braten mit Kartoffelsalat und Leberknödelsuppe geges­sen, der Herr Rancourt, und auch Spanferkel und lernte auch noch regelrichtig Deutsch und wurde sogar Professor.

Aber als er so weit war und die fremde Sprache, wie man so übertreibend sagt, beherrschte, drückte er sich in ihr so richtig und nüchtern aus, wie wir das alle tun, in langweiligen und trockenen Sätzen ohne Klang und Glanz, glatt und ohne Stockung redend, wie Wasser von der Röhre läuft, und nie wieder, natürlich, ist ihm ein so schönes Gedicht gelungen wie das Ferkelgedicht. Das ge­lingt auch uns allen nur, die wir keine Dichter sind, so-lange wir Kinder sind, denn wie ein Kind, süß lallend, irr­te der erwachsene französische Mann damals taumelnd im Dunkel des mächtigen, zauberischen Sprachurwalds, und nur im geheimnisreichen Dämmern ist dem Gedichte wohl. Mein Onkel hatte sich in die Ecke des Zimmers zu-rückgezogen, in den schwarzen Ledersessel, der dort stand, wer weiß, wie lange schon? Die Dämmerung woll­te schon kommen, draußen, wo die alte Stadt lag mit den vielen Türmen, wo der Strom floß, der grüne, der rau­schende. Und, sagten wir, du glaubst, daß damals der Mond größer und gelber war? Geh heut abend mit uns auf die Donauinsel, heut abend um acht Uhr kommt er, der gelbe Wanderer, sieh ihn dir an! Ja, sagte mein Onkel, der Mond, der vielleicht, aber das Bier?