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Georg Britting 
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs 
Band 3/2   Seite 20
Kommentar Seite 446 /  Interpretation von Nelly Lemaire / hier klicken
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Aus: »Die kleine Welt am Strom« Neu [Okt.20006] erschienen bei Rimbaud! 


Georg Britting liest

In CD 1 enthalten

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Brudermord im Altwasser

Das sind grünschwarze Tümpel, von Weiden überhangen, von Wasserjungfern übersurrt, das heißt: wie Tümpel und kleine Weiher, und auch große Weiher ist es anzusehen, und es ist doch nur Donauwasser, durch Steindämme abgesondert vorn großen, grünen Strom, Altwasser, wie man es nennt. Fische gibt es im Altwasser, viele; Fischkönig ist der Bürstling, ein Raubtier mit zackiger, kratzender Rückenflosse, mit bösen Augen, einem gefräßigen Maul, grünschwarz schillernd wie das Wasser, darin er jagt. Und wie heiß es hier im Sommer ist! Die Weiden schlucken den Wind, der draußen über dem Strom immer geht. Und aus dem Schlamm steigt ein Geruch wie Fäulnis und Kot und Tod. Kein besserer Ort ist zu finden für Knabenspiele als dieses gründämmernde Gebiet. Und hier geschah, was ich jetzt erzähle.
Die drei Hofberger Buben, elfjährig, zwölfjährig, dreizehnjährig, waren damals im August jeden Tag auf den heißen Steindämmen, hockten unter den Weiden, waren Indianer im Dickicht und Wurzelgeflecht, pflückten Brombeeren, die schwarzfeucht, stachlig geschützt glänzten, schlichen durch das Schilf, das in hohen Stangen wuchs, schnitten sich Weidenruten, rauften, schlugen auch wohl einmal den Jüngsten, den Elfjährigen, eine tiefe Schramme, daß sein Gesicht rot beschmiert war wie eine Menschenfressermaske, brachen wie Hirsche und schreiend durch Buschwerk und Graben zur breitfließenden Donau vor, wuschen den blutigen Kopf, und die Haare deckten die Wunde dann, und waren gleich wieder versöhnt. Die Eltern durften natürlich nichts erfahren von solchen Streichen, und sie lachten alle drei und vereinbarten wie immer: »Zu Hause sagen wir aber nichts davon!«
Die Altwässer ziehen sich stundenweit der Donau entlang. Bei einem Streifzug einmal waren die drei tief in die grüne Wildnis vorgedrungen, tiefer als je zuvor, bis zu einem Weiher, größer, als sie je einen gesehen hatten, schwarz der Wasserspiegel, und am Ufer lag ein Fischerboot angekettet. Den Pfahl, an dem die Kette hing, rissen sie aus dem schlammigen Boden, warfen Kette und Pfahl ins Boot, stiegen ein, ein Ruder lag auch dabei, und ruderten in die Mitte des Weihers hinaus. Nun waren sie Seeräuber und träumten und brüteten wilde Pläne. Die Sonne schien auf ihre bloßen Köpfe, das Boot lag unbeweglich, unbeweglich stand das Schilf am jenseitigen Ufer, Staunzen fuhren leise summend durch die dicke Luft, kleine Blutsauger, aber die abgehärteten Knaben spürten die Stiche nicht mehr.
Der Dreizehnjährige begann das Boot leicht zu schaukeln. Gleich wiegten sich die beiden anderen mit, auf und nieder, Wasserringe liefen über den Weiher, Wellen schlugen platschend ans Ufer, die Binsen schwankten und wackelten. Die Knaben schaukelten heftiger, daß der Bootsrand bis zum Wasserspiegel sich neigte und das aufgeregte Wasser ins Boot hineinschwappte. Der kleinste, der Elfjährige, hatte einen Fuß auf den Bootsrand gesetzt und tat jauchzend seine Schaukelarbeit. Da gab der Älteste dem Zwölfjährigen ein Zeichen, den Kleinen zu schrecken, und plötzlich warfen sie sich beide auf die Bootsseite, wo der Kleine stand, und das Boot neigte sich tief, und dann lag der Jüngste im Wasser und schrie, und ging unter und schlug von unten gegen das Boot, und schrie nicht mehr und pochte nicht mehr und kam auch nicht mehr unter dem Boot hervor, unter dem Boot nicht mehr hervor, nie mehr.
Die beiden Brüder saßen stumm und käsegelb auf den Ruderbänken in der prallen Sonne, ein Fisch schnappte und sprang über das Wasser heraus. Die Wasserringe hatten sich verlaufen, die Binsen standen wieder unbeweglich, die Staunzen summten bös und stachen, Die Brüder ruderten das Boot wieder ans Ufer, trieben den Pfahl mit der Kette wieder in den Uferschlamm, stiegen aus, trabten auf dem langen Steindamm dahin, trabten stadtwärts, wagten nicht, sich anzusehen, liefen hintereinander, achteten der Weiden nicht, die ihnen ins Gesicht schlugen, nicht der Brombeersträucherstacheln, die an ihnen rissen, stolperten über Wurzelschlangen, liefen, liefen und liefen.
Die Altwässer blieben zurück, die grüne Donau kam, breit und behäbig, rauschte der Stadt zu, die ersten Häuser sahen sie, sie sahen den Dom, sie sahen das Dach des Vaterhauses.
Sie hielten, schweißüberronnen, zitterten verstört, die Knaben, die Mörder, und dann sagte der Ältere wie immer nach einem Streich: »Zu Hause sagen wir aber nichts davon!« Der andere nickte, von wilder Hoffnung überwuchert, und sie gingen, entschlossen, ewig zu schweigen, auf die Haustüre zu, die sie wie ein schwarzes Loch verschluckte.
 
 

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Drucknachweise und Anmerkungen:
 


 

S.2o Brudermord im Altwasser
Zuerst erschienen in: Münchner Neueste Nachrichten, Nr.317, 21.11.1929. [E] - Auch in: Dresdner Neueste Nachrichten, Nr.297, 22.12.1929.
Dieser Druck, wie auch die nachfolgenden bis zum Erscheinen der Kleinen Welt, weist folgende Abweichungen auf.
S.2o, Z.23f.: eine tiefe Schramme E: den Kopf blutig
S.2o, Z.25: Menschenfressermaske
E: Kannibalenmaske S.21, Z.18: sich neigte E: herabging
S.21, Z.25: schrie, und ging unter E: schrie und schlug um sich und geriet unter das Boot
S.21, Z.26: Boot E: Boot, dumpf gegen das Boot
Von der frühen Kanonisierung der Sammlung Die kleine Welt am Strom als Schullektüre profitierte vor allem diese Erzählung: Sie stand während dreier Jahrzehnte in zahlreichen Deutschlesebüchern und Novellensammlungen für die Schule.
 


 

Anmerkung zur Lesung:
Die gesprochene Fassung weicht von der gedruckten an einigen Stellen geringfügig ab.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

S.23 An der Donau Zuerst erschienen in: Vers und Prosa, 1, 1924, S.275.

S.24 Hochwasser
Zuerst erschienen mit einigen Varianten u.d.T Zwei Männer rechnen ab in: Uhu, 9, 1933, H.5, S.95-97 [Februar]. [E]
Darin heißt es abweichend von:
S.24, Z.21: vor das Lager seiner Frau, schüttelte sie E: vor das Bett seiner Frau, kniff wie ein Jäger ein Auge zu und durchspähte forschend das gerötete Gesicht der Tiefschlafenden, suchte etwas in dem Gesicht, fand aber nichts, knurrte, murrte, rüttelte heftig die Frau
S.24, Z. 27: Die Frau ging E: Die Frau wollte eine Widerrede wagen zuerst, unterließ es aber, als sie sein Gesicht sah, ging
S.25, Z.26: Kein wahres Wort sei an dieser Beschuldigung Fehlt in E.
S.25, Z.31f : und Hahaha! [...] in der Falle. Fehlt in E.
S.26, Z.32-33: keineswegs. Aber [...] Verbrechen E: keineswegs, das ginge zu weit. Aber dabei habe er ihr doch nichts abgebissen, versuchte er zu scherzen
Eine frühe, erheblich straffere erste Fassung erschien in: Simplicissimus, 27, 1922, S.94 [17.Mai]. Sie ist knapper in den Formulierungen bis zur lakonischen Kürze, pointierter, angepaßt einem Schreibstil, wie er in Zeitschriften von der Art des Simplicissimus gängig war (vgl. dazu auch die 1923 und 1924 ebenfalls im Simplicissimus erstveröffentlichten Fassungen von Das Haus zur heiligen Dreifaltigkeit und Die Windhunde [u.d.T Die Windspiele], die ähnliche Stilbesonderheiten aufweisen). Es fehlt noch völlig die für B.s späteren Erzählgestus typische sprachliche Verdichtung und ›gedehnte‹ Struktur der Sätze.
Eine zweite überarbeitete Fassung erschien 1927 in Michael und das Fräulein (S.95-101). Sie zeigt B. auf dem Weg zur Ausweitung und Differenzierung der Erzählform (vgl. S.486 zu Donaufischer und Mädchenhändler).
Als anschauliches Beispiel für die Stilentwicklung B.s sei der Schluß von Hochwasser (S.27, Z.19-S.29, Z.5) in den frühen Fassungen von 1922 und 1927 synoptisch wiedergegeben:

schaukelte im Boot. Heinrich fuhr
fort: Es sei öfter als einmal gewesen.
Na ja, die Versuchung. Er sei auch nur
aus Fleisch. Aber so oft,
fortsetzen S.448