...
zurück zum Inhaltsverzeichnnis
© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Als Pdf-Datei öffnen
Band 3-2  Seite 57
Kommentar Seite 460

Aus: »Das treue Eheweib«   Besprechung von Wilhelm Hausenstein zum Band


Das treue Eheweib

Der Esel stieg langsam, obwohl er sehr eifrig stieg, mit eifrigen Beinen und eifrigem Kopfnicken. Er kannte jede Biegung des Wegs, nahm die Wendungen von selber, er setzte jedes Bein mit einem sonderbaren und schönen Nachdruck. Sein Fell glänzte wie graues Silber, seine Ohren spielten. Maria, die hinter ihm stieg, sah den Berg und manchmal auch das himmlische Blau zwischen den Eselsohren schwanken. Sie hörte den Takt des Aufschlags der zierlichen kleinen Hufe und hörte den eigenen Schritt nicht, weil ihre Füße in weichen Lederschuhen staken. Manchmal blieb sie stehen und dann blieb auch der Esel stehen, warf den lächerlich großen Kopf hin und her, im Kampf gegen die fetten, schwarzen Fliegen, die nicht abließen, ihn zu umsummen.
 Der wolkenlos blaue Himmel hatte noch einen Schimmer von kalter Klarheit und Feuchte, einen Rest von Morgenfrische, obwohl der Vormittag schon weit vorgeschritten war. Wenn Maria spähend voranblickte, schimmerten vor ihr die grauen Windungen des Wegs, der sich an den Hängen des kahlen Karstberges hinaufarbeitete, in immer neuen und überraschenden Drehungen, seltsamen Krümmungen und Schleifen, daß es aussah, als sei er vor sich selber auf überstürzter Flucht vom Tal zur Höhe. Wandte sie den Kopf, blitzte es grün herauf von den Wiesen vor der kleinen Stadt, breiteten sich die flachen Dächer, überragt von den weißen Minaretts, und sie konnte den Platz erkennen zu Füßen des alten Türkenturms, wo sie heut früh, am Mittwochmarkt, Zwiebeln und geräucherten Schafskäse und selbstgemachten Zwetschgenschnaps verkauft hatte.
 Maria klatschte in die Hände, der Esel fing wieder zu steigen an, mit spielenden Ohren, den Weg zum Paß empor, und Maria hinter ihm drein, und müd war sie nicht, und wenn sie gerastet hatte und noch ein paarmal rasten würde, so geschah das nicht, weil sie sich verschnaufen mußte, stark und ruhig ging ihr Atem, auch nicht um den Esel zu schonen, dem diese Schonung wohl auch nicht zugestanden worden wäre, wenn er sie gebraucht hätte – wer bedenkt so etwas bei einem Esel? –, wenn Maria von Zeit zu Zeit stehenblieb, so geschah das, um nachzudenken. Dieses Nachdenken war sehr schwierig, nahm ihre ganze Kraft in Anspruch, bedingte so vollständige Sammlung, daß sie, wenn sie dachte, nicht auch noch gleichzeitig gehen konnte.
 Wenn sie wieder zu steigen begann, dann sagte sie irgendeinen Satz, der das Ergebnis ihres Denkens gewesen war, vor sich hin, und so sagte sie jetzt vor sich hin: Er hat so schwarzes, glänzendes Haar, und daß die Locke nur so hält, aber schön ist die schwarze Locke!
 Sie hatte jetzt die Paßhöhe erreicht. Das war eine große flache Steinmulde, wohin sie blickte, war nur Blau und Grau, das wenige Grün der Wiesen unten war nicht mehr zu sehen, die Stadt war schon lange hinter einer Wegbiegung zurückgesunken, nur graue Berge glänzten, lauter runde, graue Kuppen, eine hinter der anderen, und darüber der blaue Himmel. Die gelbe Sonne war da, aber die konnte man nicht sehen, der ins flammende Auge zu sehen, hätte das eigene geblendet, es tat schon weh genug, den unendlichen schwärzlichen Stein flimmern zu sehen, da sah sie lieber auf den braunen Korb, den der Esel trug, und die verschossene braune Decke auf seinem Rücken. Sie blieb auf der Paßhöhe stehen, und der Esel blieb stehen, und sie dachte wieder nach, sie holte sich wieder ein Bild herauf aus dem Dunkel, ja, das Bild stieg selber herauf, sie brauchte es nicht zu holen, es wäre vielleicht möglich gewesen, das Bild abzuwehren, aber sie wehrte es nicht ab, und so sah sie einen schwarzen, kurzen, gekräuselten Bart, der um zwei gelbliche Lippen war, und dachte: Eigentlich ist der Mund gar nicht schön, und sagte das nun vor sich hin, als sie den Esel wieder antrieb und hinter ihm herging den Weg, den der Esel schon kannte.
 Der Weg ging nun eine Zeitlang geradeaus und eben dahin, in das graue, steinerne Meer hinaus. Daß es auf Erden Pflanzen gab, starke, hohe Bäume, wehende Sträucher, daß es Äcker gab mit Weizen und Hafer, daß es grünes Gras gab, oder auch nur das demütige Moos, von Blumen ganz zu schweigen, das war hier nicht zu glauben, wo der Stein herrschte, streng und hart herrschte. Nicht die armselige Distel wuchs hier, nur die Sonnenblöcke glänzten, und manchmal huschte eine Eidechse, und die kleinen, dünnflügeligen Mücken begleiteten die Frau, auf Blut gierig, das von ihr zu holen war, denn der Stein gab kein Blut, wußten die Mücken wohl. So waren sie jetzt eine flattrige Wolke um den Kopf der Frau, eine tanzende, schwanke Wolke, und die Frau schlug manchmal mit der Hand durch die Wolke, dann teilte sie sich, zwei Fahnen von Mücken waren es dann, aber die Fahnen schlugen wirbelnd wieder zusammen und waren wieder eine Mückenwolke und manchmal eine Mückenkugel um den Kopf der Frau. Jetzt hatte es der Esel besser, ihn ließen diese kleinen Mücken in Ruhe, denen die Eselshaut wohl zu dick war, und die fetten schwarzen Fliegen, die den Esel umbrummt hatten, waren klüglich in halber Höhe des Berges zurückgeblieben. Die Frau, Maria, hatte eine glatte, dünne, braune Haut, die aber nur an den Händen zu sehen war und im Gesicht, mehr von ihr ließ das weiße Gewand nicht frei, das bis zum Hals hoch geschlossen war, und die enganliegenden Ärmel liefen bis zum Handgelenk. Maria war mittelgroß, hatte einen starken, ruhigen Gang, sie war nicht zu dick und nicht zu mager, sie hatte ein schönes, ruhiges Gesicht und sehr große schwarze Augen.
 So zog sie mit dem Esel dahin, durch den ewigen, grauen Stein, im prallen Licht, das Gesicht im Schatten eines Kopftuches zwar, aber das half nicht viel; denn die Sonne schüttete ihre große Hitze über den Stein, und so von unten her sprang die Glut der Frau röstend ins braune Antlitz.
 Der Weg lief nicht immer hier hoch oben so eben dahin, rechts schob sich jetzt ein Steinwall, langsam anwachsend, heran, der Weg machte eine Biegung, neue Steinkuppen zeigten sich, und in einiger Entfernung leckte einen Hang hinab eine grüne Zunge, eine grüne Zunge mitten im höllischen Stein, mit scharfen Rändern, das Grün verlief nicht allmählich im Grau, scharf abgegrenzt war es, wunderbar genug war es. Auf dieses grüne Stück nun hielt der Weg zu, und der Esel schritt rascher aus, und auch Maria beschleunigte ihren Schritt. Man sah Bäume, Feldstücke, kleine Gärten, weiße Mauern glänzten aus dem Grün, schimmernd die Nadel eines Minaretts. Es war, als wär alles, was lebendig war in der Steinwüste, eilig auf die grüne Insel zugelaufen, es drängte sich fast zu viel zusammen auf dem einen Fleck, Sträucher und Hecken und Häuser und Menschen und Schafe, und auch der blaue Himmel über dem Dorf im Grünen war nicht so blendend blau wie hier über dem Stein.
Der Mückenschwarm über dem Kopf der Frau war verflattert, vielleicht war auch er von dem Strudel ergriffen worden, der alles Lebendige zu der grünen Zunge riß. Die ersten Felder breiteten sich, von niedrigen Steinmauern sorgfältig eingefaßt, das erste niedrige Haus war da, das Dorf war da, und Maria mußte durch das Dorf hindurch, ihr Haus lag am andern Ende. Sie ging an der Dorfmoschee vorbei, die ganz aus Holz war, silbergrau gebrannt von der Sonne, das Minarett schief und gebrechlich. Hühner liefen über den Weg, Weiber begrüßten sie mit Zuruf, die von der Arbeit aufsahen. Das Dorf blieb zurück, links am Hang lag das arme Steinhaus, und unter der Haustür stand Peter, ihr Mann. Er sah ihr entgegen, unbeweglich an der Tür lehnend, und als sie im Hof war, verschwand er im Haus, ohne sie gegrüßt zu haben, ohne ihr einen Gruß entgegengerufen zu haben, und Maria hatte wohl auch keinen Gruß erwartet, gleichmütig nahm sie dem Esel die Decke ab und den Korb. Der Esel trabte um das Haus herum in seinen niedrigen, türlosen Stall.
 Maria trug die Decke und den Korb in den Flur und ging dann in die Stube. Da saß Peter schweigend am Tisch, schweigend nahm er die paar Münzen, die sie auf den Tisch legte, den Erlös ihres Handels am Markt unten in der Stadt. Schweigend nahm er die paar Münzen, und schweigend ging er aus der Stube.
 Ja, das war Peter, ihr Ehemann, mit dem kurzgeschornen Haar, mit der niederen Stirn unterm kurzgeschornen Haar, da ging er weg, sie sah ihn durchs Fenster mit dem Beil weggehen, zum Brückenbau in Jezero, einem Dorf in einem entfernten Tal. Wie jeden Nachmittag ging er weg, das Beil in der Hand schwingend, aber die Gedanken unter seiner niedern Stirn unterm kurzgeschornen Schwarzhaar waren nicht bei den Pfosten und Balken der Brücke, seine Gedanken waren anderswo, das wußte Maria, so dumm war er nicht, Peter, wenn er auch nicht der Klügste war. Er sah wohl in Gedanken ein Gesicht vor sich, und Maria wußte, das war das Gesicht, das auch sie in Gedanken immer vor sich sah, ein braunes Gesicht mit einer hohen Stirn, und in diese hohe Stirn fiel eine schwarze Locke. Aber Peters Haar war kurzgeschoren.
 Peters Haar war kurzgeschoren, und er war ein Christ, und hätte er sich auch das Haar lang wachsen lassen, da wär doch nie eine Locke geworden.
 Das Dorf war klein, in dem Peters Haus lag, aber wär es auch groß gewesen, den Weibern des Dorfes wär sie doch nicht verborgen geblieben, die Sache zwischen Maria und Achmed, und wenn es einmal die Weiber wußten, dann wußten es auch bald die Männer, warum sollten die Weiber hier in dem bosnischen Dorf schweigen, wo sie es nie und nirgends und in aller Welt nicht tun? Und als es das ganze Dorf wußte, schon lange wußte, da erfuhr auch sehr spät Peter von der Sache zwischen seinem Weibe und dem Moslem, und wenn er auch nicht sehr klug war, so gescheit war er doch, um zu verstehen, was das für eine Sache war. Was gab es da auch viel Möglichkeiten? Das konnte er sich zusammenreimen, Peter, der kurzgeschorne Christ.
 Die Weiber im Dorf und auch die Männer im Dorf mißbilligten natürlich die Sache zwischen Achmed und Maria, besonders die Weiber mißbilligten sie, wenn sie auch Verständnis dafür hatten, Verständnis dafür, daß Maria der lockige Opankenschuster Achmed besser gefiel als der kurzgeschorne Peter. Oh, das verstanden sie gut, das verstanden sie sogar sehr gut, möglich, daß sie es sogar besser verstanden und begreiflicher fanden als Maria, die sich sehr gesträubt hatte, die sich sehr gewehrt hatte dagegen, daß ihr eine schwarze Locke das Herz verrückte, so sehr das Herz verrückte, und die ihren Peter, ihren guten Peter nicht leiden sehen mochte, und es war klar, daß er litt, wenn er auch nichts gesagt hatte, nie etwas gesagt hatte, ihr nicht einmal einen bösen Blick gegeben hatte, keinen schiefen, bösen, harten Blick, der gute Peter, er vermied es nur, sie überhaupt anzusehen.
 Maria sah immer noch zu dem kleinen Fenster hinaus, sah nicht die Häuser und Dächer des Dorfes, sah nicht Baum und Strauch und Fußweg und Feld, sah mit einem leeren Blick zum kleinen Fenster hinaus, spürte nur innen, tief innen, eine zehrende Erwartung, ein Reißen und Drängen, eine peinigende Ungeduld. Sie lief, ja, sie lief, sie ging nicht, sie lief durch Stube und Hausflur zur Haustür, scheuerte den Rücken am Türpfosten, sah zum blauen Himmel auf, zum zitternden, blauen Himmel, dem wolkenlosen, heißen Maihimmel, sah einen Falken, in großen, schönen Schwüngen kreisend, dann wieder unbeweglich, flügelgespannt, verharrend das Tier, sah es stürzen, Maria seufzte, das Weib, lächelte, hatte Tränen auf einmal in den Augen, lächelte dann, unter Tränen, wippte fröhlich auf den Fußspitzen, seufzte wieder, Maria, das Weib, wischte sich die Tränen, schüttelte den Kopf, atmete tief, einmal, zweimal, spannte die Brust, stampfte mit dem Fuß und ging dann, ungern, sich losreißend, mit der Hand vor den Augen zum Dorf hinspähend noch einmal, ging wieder ins Haus, Maria, das Weib des kurzgeschornen Peter.

Ein Opankenschuster hat nicht viel zu tun, sie sind sparsam, die bosnischen Bauern, laufen im Dorf vom März bis Oktober mit bloßen Füßen, er könnte verhungern, der Opankenschuster, wenn er nicht auch anderes triebe als die Schusterei, seine kleine Bauernwirtschaft betriebe, seine sehr kleine. Ohne Dienstboten, versteht sich, sich sogar selber kochte, aber was kocht sich schon ein lediger Opankenschuster? Ist rasch gekocht, das bißchen, und immer dasselbe.
 Gegen den späten Nachmittag bereitete sich Achmed Kaffee im langstieligen Messingkännchen, rauchte eine selbstgedrehte Zigarette, saß mit gekreuzten Beinen auf einer Matte, streichelte sich den kurzen, schwarzen, gekräuselten Bart, zerrte an der schwarzen Stirnlocke, rückte den Fez hin und her. Das Fenster stand offen in der kleinen Werkstatt, still war es in der kleinen Werkstatt, er hatte wohl wieder nichts zu nähen und zu flicken, da die Bauern alle barfuß liefen, jetzt im Mai, gleichviel, er stand auf, gleichviel, er verließ Werkstatt und Haus.
 Es verläßt mancher Werkstatt und Haus, ohne zu bedenken, ob er je wieder zurückkehren wird. Aber wer wäre auch so bedachtsam, so schwarzgallig, der Opankenschuster Achmed jedenfalls nicht! Er stand zögernd vorm Haus und setzte sich dann in Bewegung, und wer ihn gehen sah, konnte nicht etwa meinen, er ginge zu Peters Haus, was man bei ihm leicht argwöhnte, er ging in die entgegengesetzte Richtung, schlenderte langsam dahin, zum Dorfhinaus. Aber es gibt ja Feldwege, die dorthin laufen und sich dann andersrum drehen, und auf einen zweiten Pfad stoßen, und steigen und fallen und sich winden, wie verrückt laufen ja alle Feldwege durcheinander. Es gibt kleine Hänge, die einen decken, und Wege, von Steinmauern eingefaßt, die den Wanderer verbergen, es gibt Baumgruppen, deren Schatten einen aufnimmt, Mulden, in denen man untertaucht, und wenn man eine halbe Stunde so geht, wie ein Fuchs so schleicht, der doch immer zum Hühnerstall findet - gleichviel, wie er geht, traut keinem Fuchs! - wen wunderte es, daß des Opankenschusters Achmed Weg wie zufällig, ganz wie von selber, auf Peters Haus stieß? Und das war ja auch Marias Haus, und unversehens stand er in der Wohnküche und verzog die gelblichen Lippen, unter dem kurzen, schwarzen, gekräuselten Bart lächelnd, und lächelte Maria zu, und setzte sich und drehte sich eine Zigarette und rauchte, stieß den Rauch in kurzen Stößen von sich, Achmed, der Türke, der Opankenschuster.
 Maria, das Weib Peters, wie vergaß sie des kurzgeschornen Christen, wie trat sie Pflicht und Treue mit Füßen, wie folgte sie dem wütenden Drängen ihres Herzens, wie hielt sie das Lächeln nicht zurück, das um ihren Mund sein wollte, wie wehrte sie dem Glanz nicht, der über ihr Gesicht lief, wie preßte sie die Arme nicht an den Leib, die sich nach dem Achmed streckten, wie wandte sie das Gesicht nicht ab, das nach Achmeds Gesicht strebte! Wie benahm sie sich wie eine schamlose Geliebte, wie girrte sie mit kurzen, heißen Worten, die ernste Maria, wie plapperte sie zierlich und aufgeregt, das schweigsame Weib, wie hatten die Dorfweiber unrecht, die Achmed einen Verführer hießen, wie hatten die Männer unrecht, die Achmed einen Teufelskerl nannten, der es verstehe! Wie konnte man sagen, Maria sei in die Schlingen des Türken gefallen, wie er so dasaß und fast nichts sprach und nur ein wenig lächelte mit den gelblichen Lippen und sich umarmen ließ und abküssen und pressen und herzen und sich ruhig hielt unter der Flut von Liebkosungen, unter den zärtlichen Worten der gurrenden Taube Maria, des ungetreuen Weibes Peters, des kurzgeschornen Christen!

Es war noch der volle Tag draußen, aber es war nicht mehr die Lichtfülle der Mitttagsstunde und das Überschäumen des Nachmittags, es ging gegen den Abend, das Licht war klarer geworden, schärfer standen die Bäume gegen den immer noch blauen Himmel, und unter diesem blauen Himmel dahergegangen kam ein Mann, über einen steinigen Weg daher, bestaubt und barhäuptig, und er hatte einen stillen, langsamen Gang, aber er ging ohne je innezuhalten, und wer nie innehält, der kommt voran, auch wenn er langsam geht, wenn er nur sein Ziel weiß, und der Mann wußte sein Ziel und hielt sein Gesicht unter dem kurzgeschornen Haar dem Ziel entgegen und stieg einen Hügel hinan und stieg einen Hügel hinab, gleichmäßigen Fußes, ob es hinanging, ob es hinabging. Er trug Lederschuhe an den Füßen, Opanken des Opankenschusters Achmed, und er ging zum Dorf, wo Achmed wohnte, es war sogar so, daß er zu Achmed strebte, dem Schuster, aber doch wohl nicht um sich die Schuhe flicken zu lassen, deshalb wäre er nicht so früh von seiner Arbeitsstätte aufgebrochen, früher als sonst, und er war ja auch auf dem Weg zu seinem eigenen Haus im Dorf, der kurzgeschorne Christ, und nicht zu dem des Schusters, und er wünschte wohl nicht, daß er Achmed in seinem, des Christen, Haus anträfe, wie konnte er das wünschen? Er fürchtete es, und hoffte es doch auch, hoffte und fürchtete es in einem, so ist schon der Mensch.

Sie waren gesättigt, die beiden in der Stube, und saßen wieder auf der Bank, und Maria spielte mit der schwarzen Locke und der Opankenschuster spähte zum Fenster, immer wieder, und den Mann, der eben jetzt von der letzten Höhe vor dem Dorf zum Dorf herabstieg, den Mann konnte er nicht sehen, aber er war doch unruhig, der Opankenschuster, und schob die Zigarette von dem einen Mundwinkel in den andern, und schob mit dem Arm leicht Maria von sich und drängte zum Aufbruch. Was sie ihm sagte, daß der Peter wie immer nicht vor dem späten Abend kommen würde von seiner Halbtagsarbeit an der hölzernen Brücke in Jezero, war richtig und war beruhigend. Und wenn auch, wenn er auch käme, warum sollte nicht der Schuster bei ihr sein in der Stube am hellen Tag und ihr ein paar Opanken für den Sonntag anmessen? Die brauchte sie schon lange, und sie hielt ihm den Fuß hin und lachte und sagte: Nimm mir das Maß!
 Ja, das war wohl ein Grund, daß ein Schuster am Nachmittag im Haus einer Frau sein konnte, da hatte sie wohl recht, die listige Maria, und der Opankenschuster sah das auch ein, aber sein unruhiges Herz war andrer Meinung, das drängte zu gehen, und das Herz sollte recht behalten: Glaube jeder, was ihm sein Herz sagt! Denn als jetzt der kurzgeschorne Mann unter der Stubentüre stand, bestaubt vom Weg und mit Holzmehl am Gewand, das Arbeitsbeil in der Hand, da fragte er erst gar nicht lang danach, was den Schuster hergetrieben haben mochte, er sah den Schwarzlockigen bei seinem Weib sitzen, und da atmete er tief und befriedigt auf, man hätte meinen können, er freue sich, und er freute sich auch.
 Es war das Reden und Fragen nicht Peters Sache, er hatte nie viel geredet, hatte in seinen guten Zeiten mit Maria nicht viel geredet, und er hatte lange gute Zeiten mit Maria hinter sich, und seit er von der Sache zwischen Maria und dem Opankenschuster wußte, hatte er mit Maria noch weniger geredet, hatte nichts mehr mit ihr geredet, kein Wort, mit Reden war da nichts getan. Er stand unter der Tür, mit dem Beil in der Hand, mit dem er gearbeitet hatte den ganzen Nachmittag, und mancher Schlag, der auf einen Balken
gezielt gewesen war, hatte etwas Lebendigem gegolten, und nun war das Lebendige vor ihm.
 Hier vor ihm war das lebendige Weib Maria, die eine Sache hatte mit dem Opankenschuster Achmed, hier saß sie, atmend, und sah ihn an, ein wenig Trotz in den Augen und ein wenig Trauer und Mitleid und ein wenig unbestimmte Hoffnung, und gar keine Furcht, gar keine Furcht, obwohl sie das Beil sah in Peters Händen und seine Kraft kannte, und aus blühendem Fleisch und rinnendem Blut war, Maria, die Sünderin, und sich ihrer Sünden bewußt war, und wußte, daß sie Strafe verdiente, und die Strafe lag und lauerte vielleicht in dem Beil. Maria, die Sünderin, war ein richtiges Weib, und weil sie ein Weib war, schaute sie vertrauend auf zum Mann, und glaubte zutiefst, daß die Lösung dieser Sache wie jeder schwierigen Sache nur von Männern zu erwarten war, in diesem Fall von diesen zwei Männern, und welche Lösung ihr Weiberherz erhoffte, wie sollte sie das wissen?
 Achmed aber hatte Furcht, wenn er sie auch verbarg, und sollte doch weniger Furcht zu haben brauchen als Maria. Nicht er hatte Peter Treue geschworen, das hatte Maria getan, und hatte sie gebrochen, also war sie die Schuldigere von den zweien. Aber Peter würde wohl nicht so fein unterscheiden, fühlte Achmed, und so hatte er Furcht und berührte mit dem Bein den Hocker hinter sich, spürte die Kante des Hockers in seiner Kniekehle, spürte das wie tröstlich, denn man konnte sich bücken und den Hocker heben und sich den Hocker über den Kopf halten, wenn über diesem Kopf ein Beil schweben sollte. Denn immerhin, Achmed war ein Mann, wie Peter ein Mann war, und Schuld hin, Schuld her, er billigte den Angriff, wenn er ihn auch fürchtete.
 Es wäre nun vielleicht an der Zeit gewesen, dem Peter die Geschichte von dem Maßnehmen für den Sonntagsschuh zu erzählen. Der Peter war nicht sehr klug, aber ihm das zu erzählen, wagte Achmed nicht, und Maria, die doch noch vorhin so siegessicher diesen Ausweg genannt hatte, sie machte auch keine Miene, diese Geschichte zu erzählen, sondern schwieg, preßte sogar die Lippen fest aufeinander, und wenn man das Gesicht Peters sah, so begriff man, daß man ihm jetzt diese Geschichte nicht mehr erzählen konnte.
 Man hätte ihm jetzt vieles erzählen können, er hätte doch nicht mehr darauf gehorcht, er sprach jetzt in einer Weise, wie er den ganzen Nachmittag gesprochen hatte, mit dem Beil, mit dem Holz, er sagte nichts, er knurrte kurz und dann ging er mit langsamen Schritten auf Achmed los. Die Stube war klein, so mußte er Achmed bald erreicht haben, besonders wenn man bedenkt, daß er ja gar nicht so dicht an Achmed heranzugehen hatte, weil sein Arm und das Beil an seinem Arm ihm erlaubten, immer einen Schritt vor Achmed zu bleiben. Achmed bückte sich nach hinten, wo er immer noch tröstend die Hockerkante spürte, und als Peters Beil in der Luft war, hoch in der Luft war, war auch Achmeds Hocker in der Luft, und das Beil traf das Holz, wie es schon den ganzen Nachmittag Holz getroffen hatte, glitt ab, mit der breiten Fläche rutschte es am Hockerbein entlang, und das war der erste Schlag.
 Peter erhob das Beil zum zweiten, aber Achmed kam ihm zuvor, traf Peter mit dem Hocker vor die Brust, hatte nicht gewartet, bis der zweite Schlag sauste, war selber einen Schritt nach vorn gesprungen, und Peter taumelte von dem Stoß, war aber damit noch lange nicht aus einem Angreifer der Verteidiger geworden, denn das Beil war stärker als das Holz, das wußte er und wußte Achmed, war hart und scharf und blitzend, und das Holz war weich und stumpf und schwach. Und der nächste Schlag schon bewies diese Überlegenheit, denn das scharfe Eisen zerschmetterte eines der vier Hockerbeine und drang dann in die Schulter Achmeds, aber die war wohl härter als Holz und hielt, und wenn sie einen Sprung, einen Riß, einen Biß, eine Wunde erhalten hatte, so sah man das nicht, das spürte höchstens Achmed, an dem es nun war zu taumeln, aber taumelnd noch vergaß er nicht, den dreibeinigen Hocker zu schwingen.
 Der Esel war ins Freie getrottet aus dem offenen Stall, in dem er sich vor der heißen Mittagssonne verborgen gehalten hatte, aber jetzt, da es schon gegen Abend war, tat ihm die Sonne gut, die ihm das Fell beschien. Langsam, ganz zärtlich, genießerisch und wie spielend zupfte er an dem spärlichen Gras des Hofes, riß mit vorgestülpten Lippen hartes, grünes, stachliges Zeug ab, das zwischen den Steinen der niedrigen Hofmauer wucherte, fraß, spie manches wieder aus, und wenn er auch aus dem Haus splitternde Hiebe hörte, so scherte er sich nicht darum, was ging das ihn an! Er hätte sich auch nicht darum geschert wahrscheinlich, wenn er gesehen hätte, was er nicht sah, daß da zwei Männer, ungleich bewaffnet, miteinander kämpften.
 Maria in der Stube aber hörte nicht nur die Schläge krachen, sie sah auch die kämpfenden Männer, den angreifenden, eisenbewehrten Peter und den sich verteidigenden, stuhlschwingenden Achmed, aber ihre Gleichgültigkeit, ob sie echt war, ob sie gespielt war, war wie die des fressenden Tieres draußen, und vielleicht, wenn ein Stück Brot auf dem Tisch gelegen wäre, hätte sie das genommen und gekaut, langsam, mit weißen Zähnen, so tat sie wenigstens, so teilnahmslos.
 Auf die Dauer zwar mußte wohl Peter der Sieger bleiben, Peter mit dem Beil, aber jetzt und augenblicklich war er im Nachteil, war zurückgewichen gegen die immer noch offenstehende Tür, und Achmed mit dem Stuhl war trotz seiner Schulterwunde im Vorwärtsdringen, und vor ihm lockte der Ausgang, vor ihm war die Tür, die offene, weit offene Tür, die zog ihn mächtig an, wenn er die erreichte und hindurchschlüpfte und hinausschlüpfte und floh, dann war er gerettet vor dem Beil. So versuchte er, Peter nicht mehr zum Schlag kommen zu lassen, hieb ihm den schweren Hocker ein paarmal fest über den Unterarm, daß Peter stöhnte, ob vor Schmerz, ob vor Wut, er stöhnte, und Achmed war der Tür jetzt sehr nah und Peter hatte er jetzt etwas seitwärts zur Tür gedrängt und vor ihm winkte die Freiheit.
 Da geschahs, daß Maria sich den Kämpfenden nahte, im Rücken Peters jetzt war, sie wollte Peter in den Arm fallen wohl, dem geliebten Achmed zu helfen wohl, dem Heißbedrängten, daß er entrinnen konnte wohl, sie schlüpfte ganz nah zur Tür, stand unter der Öffnung fast. Wollte sie selber fliehen, fürchtete sie, der Zorn Peters könnte sich auch gegen sie richten, wenn erst Achmed erledigt war? Sie hatte keinerlei Furcht gezeigt bisher, und sie hatte auch jetzt keine Furcht, sollte es sich zeigen: sie warf die Tür ins Schloß, schallend, der lichte Schein, der Achmed getröstet hatte bisher, konnte nicht mehr herein, und sie schob den Riegel jetzt vor, klirrend.
 Nun wurde es dunkel für die Augen Achmeds, nun wurde es auch in seiner Seele dunkel, schwarz schattend schlug die Verzweiflung über ihn zusammen. Aber er kämpfte weiter den Kampf, wenn er auch aussichtslos geworden war, er kämpfte ihn gut, den Endkampf, er schwang den Hocker und traf Peter vor den Kopf, daß der starke Mann wankte. Aber seinen Rücken zu decken, daran dachte er nicht, der Opankenschuster, und daß Maria, die Geliebte, ein Küchenmesser nehmen könnte, daran hatte er nicht gedacht, und nicht daran, daß sie es ihm in den unverteidigten Rücken stoßen würde. Er spürte den Stich, er fühlte den Schmerz, er wandte sich um, das Messer stak noch in seinem Rücken. Maria, die Geliebte, stand noch mit erhobener Hand, und sah ihn an, sah ihm offen in die Augen, eine fremde Frau sah ihn an. Der Stich war nicht tödlich gewesen, nein, er war nicht sehr tief gegangen, so viel Kraft hatte sie nicht, Maria, die Frau, mit einem Stich einen Mann zu töten. Aber Peter war stärker als sie, sah sie stolz jetzt, sein Beil sauste nieder auf Achmed, hinter dem er stand, zwischen dessen Schultern er das hilfreiche Messer sitzen sah, und spaltete des Schwarzhaarigen Hinterkopf. Achmed taumelte, nun wurde es ganz schwarz für ihn, innen und außen, die Schwärze breitete sich aus, er fiel, der Opankenschuster, auf die Knie zuerst, dann der ganzen Länge nach, mitten in das Finstere hinein.

Die Nacht war gekommen, Dämmerung, grünes Licht und Abendröte, die Sonne war hinter den Karstbergen untergegangen und der Mond war dafür über die Karstberge heraufgestiegen, gelb und glänzend. Auf der Bank vor dem Haus saßen zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, saßen schon stundenlang und sprachen nichts, Peter und Maria.
 Ob Peter sich wunderte, daß Maria Beistand geleistet hatte seiner Rachetat? Er fragte sie nicht, er hatte sie nicht gefragt, er würde sie nicht fragen, es hatte ihm wohl gut getan, daß sie ihm half, den Eindringling zu vertreiben, wenn es auch wahr war, daß sie selber dem Eindringling die Tür geöffnet hatte, aber das hatte sie wieder gutgemacht dadurch, daß sie rechtzeitig die Tür schloß, als der in der Falle saß.
 Ob Maria sich wunderte über sich selber? Was sollte das Fragen unter dem gelben Licht des Monds? Maria stellte sich keine Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Sie hatte sich von etwas befreit, was ein Zwang für sie gewesen war, und so spürte sie wohl eine stille Genugtuung, sie atmete manchmal wie erlöst und saß fromm neben ihrem Mann, den sie nun wieder allein hatte, der sie nun wieder allein hatte. Jetzt war eine Sache wieder in Ordnung, die sehr in Unordnung gewesen war, und Ordnung zu haben tat gut, so oder so.
 Sie saßen im gelben Mondlicht und gingen gar nicht mehr in ihr Haus, als gehöre es jetzt einem andern und sie wußten wem. Und der Mond beschien in der Stube einen Mann, dem gehörte jetzt das Haus, er schlief, wie die meisten Menschen jetzt schliefen tief in der Nacht, er schlief auf dem harten Boden der Stube, aber wenn es sein Haus war, warum sollte er nicht auf dem Stubenboden schlafen, wenn er nur gut und fest schlief, und das tat er!
 Der Mond stand hoch über dem Dorf und den Bergen und sah in viele Stuben und sah viele schlafende Menschen und sah auch in Stuben, die leer waren, und sah in einer leeren Stube Opanken von einer Stange baumeln, große und kleine, und sah Schusterwerkzeug liegen, das rastete!
 Der Mond steht hoch und scheint über Gerechte und Ungerechte, nicht nur die Sonne tut das, der man das nachsagt, auch der Mond tuts, so schien in dieser Nacht der Mond in eine Stube, da lag im Bett ein Mann und schlief und wußte nicht, daß morgen ein großer Tag für ihn sein würde, an dem es galt, einem Mörderpaar Handschellen anzulegen.
 Der Mond steht hoch, drum sieht er so weit, und so sah er die nackten steinernen Karstflächen kalt in seinem Licht liegen, wie erstarrt, ohne Leben, wer sollte jetzt es wagen, durch die Öde zu gehen, die schaurig funkelnde?
 Der Mond steht hoch, drum sah er auch im Tal die kleine Stadt mit beglänzten Dächern, hoch stachen die Minaretts in die Luft, hoch für menschliche Augen, vom Mond aus betrachtet nicht so besonders hoch. Der Mond beschien die vielen Kirchen, mohammedanische und römisch-katholische und griechisch-katholische und Wirtshäuser und Ställe und Wälle und Türme und auch das Gefängnis, und sah Sträflinge schlafen in den Zellen und sah leere Zellen und manch eine Zelle würde morgen einen Bewohner bekommen, täglich werden im Gefängnis Sträflinge eingeliefert und täglich werden Sträflinge entlassen.
 Aber das würde morgen sein, am Tag, und noch war Nacht, und wenn zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, im Freien auf einer Bank vorm Haus sitzen und den Morgen erwarten, wie fern ist er da noch, wie lange dauert das noch, das dauert sehr lange!
 
 



 

Drucknachweise und Anmerkungen:
 

S.S7 Das treue Eheweib
Zuerst erschienen in: Deutsche Zeitschrift 46, 1932/33, H.t2, S.766-776
[September 1933].
Erste Fassung in: Münchner Illustrierte Presse, Nr.34, 1934 S.109I-1094 [23.August] [E], mit folgenden Abweichungen:
S.57, Z.2-3: Er kannte jede Biegung E: er stieg pflichtgetreu, erkannte jede Biegung
S.57, Z.2o: hinaufarbeitete E: hinaufschraubte
S.59, Z.4: Meer hinaus. E: Meer hinaus, das sich scharf vom blauen Himmelsmeer abhob.
S.6o, Z.3o: Weiber begrüßten E: Weiber, die von der Arbeit aufsahen, begrüßten
S.62, Z.2f: Sache zwischen seinem Weibe und dem Moslem E: Sache zwischen Achmed und seinem Weibe
S. 64, Z. 18: der Türke Fehlt in E.
S.65, Z.2f: der gurrenden Taube Maria E: der gurrenden, kullernden Taube Maria
S.67, Z.10: Beil. E: Beil. Wenn sie trotzdem keine Furcht hatte, kam das wohl daher, daß sie ein Weib war,
S.68, Z..5f: gehorcht, er sprach jetzt in einer Weise, wie er E: gehorcht, er ging jetzt zu einer anderen Überredung über, die den
S.69, Z.33f: daß Peter stöhnte E: daß Peter etwas lahmte und stöhnte
S. 70, Z. 16-20: dunkel, schwarz schattend [...] Kopf E: dunkel, nun kam der Verzweiflungskampf, und war der auch verloren, er kämpfte ihn gut, er traf Peter mit dem Hocker vor den Kopf
S.70, Z.28- S.71, Z.5: Hand [...] hinein E: Mörderhand, Peters Beil fiel noch klatschend gegen seinen Kopf, nun wurde es ganz schwarz, innen und außen, er fiel, der Opankenschuster, auf das Knie zuerst, dann der ganzen Länge nach
S.71, Z. 11f.: daß Maria [...] Rachetat E: daß Maria ihm beistand bei seiner Rachetat
S.72, Z. 11f.: ein Mann und schlief und wußte nicht E: ein dicker Mann mit einem großen Schnurrbart, und schlief, und das war der Wachtmeister Jellicec, der friedlich schlief und nicht wußte
Der Text der Gesamtausgabe, E 1, S.147-164, enthält folgende Abweichungen:
S.65, Z.3f: des ungetreuen Weibes [...] Christen! Fehlt in E 1. S.71, Z.17f: als der in der Falle saß. Fehlt in E 1.
S.57, Z.20: Karst: langgestreckter Gebirgszug von Nordostitalien bis Bosnien.
S.59, Z. 12-2o: Vgl. den Text Mückenschlacht in Bd.I.
S.62, Z.11: Opanken: Ursprünglich nur in Albanien, Bosnien, Kroatien etc. benutzte Bezeichnung für absatzlose Schuhe aus meist wollenen Socken; über sie ist ein Stück Tierhaut mit dichter Riemenverschnürung gelegt. Ab 193o/31 wurden Opanken als Flechtschuhe für Strand und Promenade fabrikmäßig auch in Deutschland hergestellt (vgl. Magdeburgische Zeitung, 13.7.1932).
Die Erzählung entstand unter dem Eindruck der ›Bosnienreise‹ B.s vom Mai 1930 (vgl. Komm. S.505f. u. 509).
 



Das treue Eheweib (1933)

Erstausgabe: Das treue Eheweib. Erzählungen. München: Albert Langen/ Georg Müller 1934 (copyright 1933/erschienen im Oktober 1933). [1.-3.Tsd.] 21'7 S. Leinen. Mit gedruckter Widmung: »Für Paul Alverdes«. Auflagenentwicklung: 4.-5.Tsd. 1934; 6-10.Tsd. 1942; 11.-15.Tsd. 1943; 16.- 2o.Tsd. 1944.

Die Idee zu einem neuen Novellenband nach Michael und das Fräulein lag schon weiter zurück . Darauf deutet ein Brief B.s an seinen Freund Paul Alverdes hin. Am 24.Oktober 1933 sandte B. Alverdes ein Exemplar des gerade erschienenen Treuen Eheweibs und schrieb dazu: » [...] hier haben Sie das Buch, das Sie vor 3 Jahren dem Verlag mit zarter Gewalt aufdrängten. Die Widmung nehmen Sie als kleinen Dank dafür.« (Alverdes wiederum widmete B. seine Erzählung Das Zwiegesicht, München: Langen/Müller 1937.) Der Hintergrund war vermutlich: Der Novellenband Michael und das Fräulein hatte sich nach Erscheinen nicht sonderlich gut verkauft; da aber der kleine Frankfurter Iris-Verlag sich nicht behaupten konnte und den Rest der Leinenausgabe von Michael und das Fräulein wohl um 1929 der Buchhandlung Severing & Güldner in München zum Vertrieb überließ (vgl. GV, Bd. 19, S.10; zu Severing & Güldner: Hohoff, S. 15), waren die Rechte wieder frei. Bevor allerdings Alverdes den Weg zu Langen-Müller ebnete, scheint zumindest noch ein anderer Verlag starkes Interesse an einem Novellenband gehabt zu haben. Eugen Roth referiert in seinem nachgelasssenen Tagebuch der vierziger Jahre folgenden Bericht B.s:
In der Frankfurter Zeitung war das Duell der Pferde erschienen. Neumann (von Rütten und Loening) [d.i.: Adolf Neumann, Prokurist des Verlages, seit 1922 Mitinhaber] empfing seinen Lektor zum Vortrag. Wir müssen sofort an« - »Georg Britting schreiben!« wie aus einem Munde. Inzwischen aber über Alverdes - Pezold zu Langen-Müller: Treues Eheweib.
(›Gespräche am Fluß‹, Nachlaß Eugen Roth, Privatbesitz)
Die Realisierung zog sich dann aber einige Jahre hin, wofür konzeptionelle Gründe ausschlaggebend gewesen sein dürften. Noch Anfang 1933 ließ Langen-Müller eine Meldung verbreiten, in der das Erscheinen eines Novellenbandes von Britting mit dem Titel Josef am See für »demnächst« angekündigt wurde (nach: Fränkischer Kurier, 1.3.1933, bei Gelegenheit des Abdrucks der Novelle Das Liebespaar und die Greisin). Auch diese Novelle, als Titelnovelle vorgesehen und 1929 in der Neuen Rundschau erschienen, schied B. dann wieder aus der Sammlung aus, überarbeitete sie später und veröffentlichte die Neufassung Ulrich unter der Weide 1941 in Der Schneckenweg.

Am 18. März 1933 schrieb B. an Heiseler:
Ich lege Ihnen ein vergriffenes Novellenbändchen von mir bei. Ich bin heut in vielem doch schon anders. 2 Sachen daraus stehen, umgearbeitet, in der Kleinen Welt, 2 oder 3 andere daraus sollen, umgebaut, in dem Erzählungsband stehen, der im Herbst bei Müller kommt. (DLA)
Ende April 1933 fragte B. Knöller um Rat bei der Auswahl von Erzählungen für sein neues »Novellen Manuskript«:

Wie finden Sie die Totenfeier? Mir gefällt sie jetzt wieder. Soll ich den Kronprinzen [...] hineinnehmen? Ich mißtrau ihm. (Expressionistisch?) Wie ist Ringe der Äbte? Wie das Bild, für das ich den i.Preis der Kölnischen Zeitung bekam [...] mir aber nicht recht paßt.
(An Knöller, ohne Datum)
B.s Unentschlossenheit zeigt, daß die Neuorientierung seines Stils noch in vollem Gange war, vom Spätexpressionismus hin zum ›klassischen‹ Duktus in den ausgehenden dreißiger Jahren; er tat sich schwer, einen in sich geschlossenen Novellenband zusammenzustellen. Schließlich entfielen sowohl Die Ringe der Äbte (die er aus Ungenügen an dieser Fassung später noch zweimal überarbeitete und die u.d.T. Der Verräter im Schneckenweg erschien) als auch Das Bild, das zum Themenspektrum des Novellenbandes nicht paßte (erschien ebenfalls im Schneckenweg, u.d.T. Der Flüchtling); auch Die Totenfeier stellte B. noch zurück - sie erschien 1938 in der Sammlung Das gerettete Bild.
Das treue Eheweib enthält schließlich zwölf Novellen. Drei der Erzählungen Das Duell der Pferde, Die Windhunde und Die Geschichte der Monika standen bereits 1927, in frühen Fassungen, in Michael und das Fräulein; Der Sieger war die Neufassung einer bereits 1925 u.d.T. Kronprinzentragödie veröffentlichten Erzählung; Das betrogene Fräulein war 1928 mit einem Erzählerpreis der Berliner Illustrirten Zeitung ausgezeichnet worden (vgl. Komm. in Bd.1); auch Der Major entstammte noch den zwanziger Jahren (aus den Jahren 1928/29), ebenso wie Flandrischer Fasching, dessen Idee bis aufs Jahr 1916 zurückgeht. Die anderen Erzählungen, Das Waldhorn, Das Gespann des Vetters, Die Frankreichfahrt und Die Tischdecke, waren 1930 bis 1932 zuerst erschienen.
Thematisch gliedert sich der Band in zwei Teile. Die ersten acht Erzählungen spielen sämtlich im dörflichen, teils auch im bäuerlichen Milieu lokalisiert in Bayern, Österreich, Südtirol und, die Titelerzählung, in Bosnien/Albanien; nur eine dieser Erzählungen ist historisierend (Die Wndhunde), eine weitere läßt entfernt Zeitgeschichte einfließen (Die Geschichte der Monika), eine dritte thematisiert den militärischen Ehrenkodex und seinen Verfall vor dem Hintergrund einer privaten Konfliktsituation (Der Major). Die letzten vier Erzählungen des Bandes beziehen sich auf den Ersten Weltkrieg: Das betrogene Fräulein, Flandrischer Fasching und Die Tischdecke gestalten Erlebnisse B.s, in der Frankreichfahrt ist, aus der Nachkriegsperspektive, das Verhältnis der Hinterbliebenen zu den Opfern zum Gegenstand der Erzählung gemacht.
Der Verlag legte einen zeitgemäßen Werbetext vor:
Vom Dichter des Dicken Mannes zwölf sehr bewegte Erzählungen von leidenschaftlich glutvoller, formal gebändigter, im besten Sinne männlicher Gestaltungskraft. Eine oft unheimliche, manchmal grausige Handlung führt an die Abgründe alles Menschlichen. Man fühlt den Frontsoldaten, dem alles Psychologisieren, jede spitzfindige Seelenzergliederung verhaßt ist, der dafür aber von der Handlung aus in die seelischen Vorgänge hineinleuchtet und dabei gefährliche Urkräfte und Triebe ahnen läßt.
(Anzeige in: Buch und Volk, Buchberatungszeitschrift der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums, 1933 [Anzeigenteil S.19])
Das Spektrum der Rezensionen war ebenso breit gefächert wie nach Erscheinen des Hamlet-Romans 1932; nur war der Tenor diesmal einheitlich positiv mit nur ganz wenigen Abstrichen. Neue Erzählungen eines »großen und merkwürdigen Erzählertalents« (W E.Süskind in: Die Literatur, 36, 1933/34, S.291f.) wurden annonciert, von einem ›begnadeten‹, von einem ›geborenen‹, von einem der ›besten‹ Erzähler der Zeit war bereits die Rede, von einem »Buch für literarische Feinschmecker« und sogar von einem »deutschen Ereignis« (Heinrich Zillich, in: Klingsor, 10,1933, H.12, 5.503 [Dezember]; Ek [Edlef Köppen?] Der Tag [Berlin], 19.12.t933; Ludwig Baer, in: Fränkischer Kurier, 2.12.1934; Will Vesper, in: Der Buchberater, Leipzig: Avenarius 1934, S.7; Wilhelm Kunze, in: Hannoverscher Kurier, 21.1.1934); auch von »Vervollkommnung« wurde gesprochen (Rolf Meckler, Dichter der Nation. Georg Britting, in: Berliner Börsen-Zeitung, 1.4.1934). War der Hamlet-Roman für manchen Rezensenten noch eine Provokation gewesen-vornehmlich weil er die gewohnten Gattungsgrenzen sprengte -, so spürte man hier den originären Novellisten, der aus der Tradition heraus einerseits den Formgesetzen der Gattung genügte, andererseits einen ganz eigenen Ton anschlug, eine eigenwillige literarische Sprache entwickelte.
Dieser Stil bereitete den Rezensenten andererseits auch Schwierigkeiten: Die Charakterisierungen und Hervorhebungen einzelner Besonderheiten der B.schen Literatursprache divergieren beträchtlich. Natürlich tauchten wieder die gängigen Stereotype in der Beurteilung B.s auf daß der Stil »barock« sei und daß »eine klar herausgestellte landschaftliche Melodie« auffalle (W Kunze, in: Hannoverscher Kurier, 21.1.1934); daß B. die Gabe besitze, »völlige Anschaulichkeit« und »sinnliche Faßlichkeit« zu vermitteln (W. Hausenstein u. d. Kürzel -m-n in: Frankfurter Zeitung, 19.11.1933); daß B.s Kunst voll »gebändigter Fülle« sei (H. Zillich, in:
Klingsor, wie oben); daß es in den Erzählungen um »die Auseinandersetzung der Menschen mit dem unerbittlichen Schicksal« ginge (Baer, Meckler [wie oben] u.a.). Hanns Braun erwähnte als einziger Rezensent, daß die Erzählungen überarbeitet worden seien; er verteidigte B.s Neigung zum ›Grausigen‹:
Auch die vorliegenden Erzählungen sind beinah samt und sonders Untergänge, und zwar von der nachweisbaren, allerwirklichsten Sorte. Aber mir scheint, man sieht das Phänomen nur halb, wenn man es Lust am Grausigen, und falsch, wenn man es Härte nennt. [...] Steht es nicht vielmehr hinter jedem Wort, dieses Welt-Verwundern, dies furchtbare und freilich auch wieder lustvolle Staunen, das eine einzige große Frage an das Jenseits aller katastrophal bunten Wirklichkeit ist?
 (Münchener Zeitung, 14.12.1933)
In der Literarischen Welt meinte Rudolf Bach:
Es ist Brittings Geheimnis, wie er diesen Tonfall scheinbarer Improvisation zum Stil erhöht, worin alles, auch das Psychologische, Gedankliche sich in Bild, Bewegung und Anschauung verwandelt. Mit fast dramatischer Konsequenz setzen sich die Wellenschläge des seelischen Geschehens in Rede, Geste und Tat um.
 (Die Literarische Welt, 9, Nr.47, 24.11.1933, S.3)
Eingehender mit B.s Stil befaßte sich der Rezensent des Berliner Tag:
Es steckt in dieser gedrungenen und völlig natürlichen Prosa eine anmutige Leichtigkeit des anschaulichen Wortes, aber keine Phantasterei, es vollzieht sich alles auf dem festen Boden der Wirklichkeit und Gegenwart. [...] Die Kunst der Beherrschung der gehämmerten Form kleinen Formates ist heute selten, trotz der massenhaften Produktion. Georg Britting beherrscht diese Kunst von der Lyrik her, ohne daß er je die Grenzen überschritte und lyrische Prosa schriebe.
(EK, in: Der Tag, 19.12.1933)
In eine ähnliche Richtung, allerdings nur eingeschränkt positiv wertend, zielte die Beobachtung Hausensteins, B.s Geschichten seien eigentlich »Romane in einer Nuß« (wie oben).
Eckart von Naso verglich B.s »Wortkunst«, speziell in der Novelle Das treue Eheweib, mit der Filmtechnik: Sie sei »an der weiterrollenden Plastik des Films geschult« und erreiche »einen höchsten Grad der Bewegtheit« (Landschaft und Lebensgefühl [Sammelbesprechung], in: Velhagen & Klasings Monatshefte, 48, 1934, S.564f., hier S.564 [Januar]). Das Duell der Pferde fand Naso »schlechthin großartig«: »Die Grausamkeit der Vision wird durch das Wort gebändigt - wie denn das Wort auch in den anderen Erzählungen triumphiert, die zwischen Tragik und hintergründigem Humor ausgewogen sind.« (S.565) Freilich schloß sich keiner der bedeutenderen Rezensenten Nasos apodiktischem Fazit an: »Vollendete deutsche Novellenkunst [...] von der ersten bis zur letzten Seite« (ebd.). Gerade die Erzählung Das Duell der Pferde polarisierte: Die einen waren begeistert, andere wie Emil Barth zeigten an genau diesem Beispiel Mängel und Schwächen der B.schen Prosa auf (vgl. Barths Kritik, zit. S.463£); auch Hausenstein fand diese Erzählung »mit dem Namen des Malers und Holzschneiders Baldung [...] nicht ohne künstliche, ja gewaltsame Verschränkuligen in eines gespannt«.
Hausenstein zählte vielmehr Erzählungen wie Die Windhunde »zu den vorzüglichsten Stücken zeitgenössischen deutschen Erzählertums« -doch seine eigentliche Vorliebe galt dem Dichter des Kriegserlebnisses. Die besten Erzählungen B.s seien dem Kriegserlebnis verpflichtet, »diesem nahezu ausschließlichen Erlebnis, das die geheimnisvollen Tiefen des Raums der Erinnerung wie einen Hades bewohnt und von da aus über den ganzen Seelenzustand einer Generation entscheidet - vor allem auch immer wieder die produktiven Kräfte des Gemüts dieser Generation in Bewegung setzt. « Hausenstein begriff B. als einen vom Ersten Weltkrieg existentiell geprägten neuen Dichtertypus, der sein Verhältnis zur Wirklichkeit wie zur Dichtung einzig aus der Kriegserfahrung bestimmen und definieren kann:
Ein Dichter, der aus dem Krieg aufgestanden ist (fast wie ein Gefallener aus dem Grab), wird fortan getrieben sein, immer Geschichten auf Leben und Tod zu versuchen - Geschichten zwischen Liebe, Blut und Sterben-und genau dem entsprechen alle Erzählungen der Sammlung Das treue Eheweib.
(Frankfurter Zeitung, 19.11.1933)
Dieser beachtlich frühe Beitrag zu einer ›phänomenologischen‹ Deutung der Dichtungen und des Schreibantriebs B.s blieb isoliert, wurde allerdings, ins Ideologische verkehrt, von einigen Nationalsozialisten aufgegriffen, die den ›Frontkämpfer‹ B. gerne für sich reklamiert hätten. Doch hier war man eher geteilter Meinung über die Qualität der Dichtungen B.s. Während Zillich in einer zweiten, völlig neu geschriebenen Rezension B. erneut über alle Maßen lobte, nun aber Attribute wie »ehern« und »männlich« in den Vordergrund stellte und der Sprache »Zucht« bescheinigte (Reclams Universum, So, H.34, 24. 5. 1934, S.1265; ähnlich positiv auch Kurt Ziesel in: Völkischer Beobachter, 23.11.1933) und es im Bayerischen Kurier (Nr. 55, 24.2.1934; aus Anlaß einer Lesung B.s aus dem Treuen Eheweib im Rahmen der Themenveranstaltung »Der Dichter und sein Volk «) hieß, B.s Erzählungen seien »Formgewordene Sprache der Gemeinschaft des Volkes«, monierte der Rezensent der Deutschen Allgemeinen Zeitung, daß B. nicht dargestellt habe, wie nach dem »Ordnungschaffen« das Schicksal zu meistern sei (Deutsche Allgemeine Zeitung, 3.1.1934). Knöller wiederum, der treue Adlatus seit 1927, konnte sich einem wölkisch-nationalen Sprachgebrauch nicht ganz entziehen und schloß seine Rezension pathetisch: »Wahrhaftig, Brittings Geschichten sind mit Blut geschrieben, keinem leichten, nein mit einem schweren, schicksalserhärteten! Der Berg ist Sinnbild dieses Dichters« (Magdeburgische Zeitung, 27.10.1933; u.a. auch in: Rheinisch-Westfälische Zeitung, 13.11.1933, hier unter der bezeichnenden Überschrift Vom Heldischen).
Ein leises Unbehagen verspürte W E.Süskind in seiner im ganzen überaus positiven Bewertung der B.schen Erzählungen angesichts der in ihnen stattfindenden »wahren Schlangenkämpfe und Laokoonszuckungen menschlichen Haders und Unheils«; doch die in den Augen fast aller Rezensenten bestechende formale Gestaltung und sprachliche Verdichtung machte solche Vorbehalte wieder gegenstandslos. Manchen allerdings war wiederum die Form zu »stilisiert«, wie es Süskind ausdrückte: Britting hat eine höchst reizvolle Technik des langsamen Steigerns; er wählt vor des Lesers Augen Wörter und verwirft sie, er schreibt sozusagen mündlich, er heizt seine Prosa durch Umstellungen im Satz und diese Dinge können Manier werden [...]
(Die Literatur, 36, 1933/34, S.291)
Die wohl bemerkenswerteste Rezension zu Das treue Eheweib verfaßte Martin Raschke, der vormalige Herausgeber (zusammen mit A. Artur Kuhnert) der Dresdner Zeitschrift Die Kolonne (1929-1932), mit der die neue Naturdichtung ihren Aufschwung nahm. Seine ausführliche Besprechung stellte Raschke vor allem auf die Modernität B.s ab, ohne diesen Begriff auszusprechen. B. sei nicht mehr ein »Erzähler alter Schule«, der der klassischen Novellentheorie gehorche, sondern schaffe komplexe Erzählstrukturen. Das Eigentümliche seiner Erzählkunst charakterisierte Raschke in indirekter Auseinandersetzung mit Positionen ›nationalsozialistischer‹ Literaturkritik:
Die heidnischen Kräfte, von denen man heute so gerne spricht, sind hier auf eine viel unphilologischere Weise am Werke wie zum Beispiel bei Billinger. Sie wirken nicht bei Hinterweltsbauern auf eine überkommene Kalenderweise, sondern am Grunde unserer heutigen Welt und in differenzierten Gestalten, ja die Darstellung ihres Wirkens schließt bei Britting nicht psychologische Motivierung aus.
Gewiß, Brittings Novellen werden dem Normalbürgerbewußtsein oft pathologisch erscheinen, aber sie sind ohne Ausnahme ein Stück Leben für den Künstler, der die bauenden neben den zerstörenden Kräften jeden Augenblick in allen Erscheinungen wirksam sieht. Darum müssen auch oft gehörte Einwände, daß hier und in ähnlichen Gestaltungen das Leben nur als Zerfall erscheine, zurückgewiesen werden, denn Zerfall und Leben sind nicht zu trennen; nichts erscheint, das nicht vergeht im Erscheinen. Und man sollte sich vor der Oberflächlichkeit hüten, Zerfall und seine Darstellung mit Destruktion gleichzusetzen.
(Vossische Zeitung, 11.2.1934)
Den Stil B.s kennzeichnete Raschke als »nervös«; seine Sprache ›tanze‹, und die »Unzufriedenheit des Schreibenden mit dem Geschriebenen scheint bisweilen in diesen suchenden Stil eingegangen zu sein, ein Stück des Schreibprozesses also, aber dies alles auf eine ganz unliterarische Weise und damit mehr eine barocke Spielfreude als einen Hang zum literarischen Experiment bezeugend.« In der Handlungsführung erweise sich B. »oft als ein Ironiker, der mit den kalten Teufeln seiner Welt ein ihn sicher belustigendes Bündnis geschlossen hat«. Raschke attestierte dem Süddeutschen Lust an der Verstellung - etwa in der Erzählung Der Sieger: »Und reitet Britting nicht auch in dem Sohne wie ein Kobold auf dem Dachfirste, nachdem er den Alten mit böser List aufs Altenteil des Gutes vertrieben hat?« Als »schönste Geschichte« im Treuen Eheweib galt Raschke Das Waldhorn, die »das Erbe Stifters« zeige, ohne daß B. in irgendeiner Form abhängig von der literarischen Tradition sei.
Genau wie Raschke, der den Erzählungsband B.s im ganzen »zu den wesentlichsten Erscheinungen der letzten Zeit« rechnete, hielt auch der Rezensent der Dame, Otto Zoff, Das Waldhorn für »ein Meisterwerk«. Er stellte B. entschieden in die große deutsche Novellentradition und meinte in seiner Kurzbesprechung:
Es gab eine Zeit, da lasen die Deutschen Novellen noch gern. Es war nicht ihre schlechteste Zeit. Da wußten sie, was sie von ihren Heyse, Stifter und Keller zu halten hatten - Georg Britting ist ein ganz echter Nachfahre. Auch er liebt die stillen Winkel mehr als die Asphaltstraßen, und auch er fängt sich die skurrilen, abseitigen Menschen heraus, die es sich nicht leicht machen mit ihrem Schicksal; und auch er trägt Himmel und Luft der Heimat mit sich herum, wo er geht und steht.
(Bücher für den Sommer, in: Die Dame, 61, 1934, H.1, S.28)