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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs
Band 3-2
Seite 137
Kommentar Seite
474
Aus: »Das treue Eheweib«
Der Major
Es war eine
hügelige Landschaft, im späten Frühling, Ende Mai. In jeder
Wiesenmulde lag ein Dorf, jedes Dorf hatte eine Kirche, jede Kirche einen
hohen, spitzen, weißen Turm, und ging man die auf und ab steigenden
Wege, immer sah man gleichzeitig vier, fünf der weißen Glockenträger.
Es waren fette, grüne Wiesen, und leuchtend gelber Löwenzahn
wuchs reichlich. Auch Saatfelder waren da, einen Viertelmeter hoch, einen
halben Meter hoch waren die grünen Halme, und das Grün war ein
anderes als das der Wiesen. Wälder waren da, Tannen-, Fichten-, auch
Föhrenwälder, oft schwankten am Waldrand Birken, und das Weiß
ihrer schmalen Stämme stand lieblich und zart gegen das dunkle, harte,
fast schwarze Grün der Nadelhölzer. Die Wege waren sandig, weißgelb,
mehlig, mit tiefen Radfurchen. Darüber war ein blauer Himmel, wolkenlos,
eine gelbe, heiße Sonne, aber es ging ein kalter Wind in diesen Tagen,
so daß die Sonne zwar die Haut bräunte, aber man fror gleichzeitig.
Nur im Schutz eines Hügels, am Waldrand, wo noch kahle Brombeersträucher
standen, war es sommerlich heiß. Auf Wiesenwegen sah man Bauernmädchen
schnell dahingleiten. Sie saßen auf Fahrrädern, aber die langen
Röcke verbargen die Beine bis zu den Knöcheln, man sah die Frauen
nicht treten, lautlos sah man sie dahinschweben, geheimnisvoll, denn auch
die Wiesenpfade, auf denen sie fuhren, sah man nicht, fast wie große
Insekten waren diese Radlerinnen.
Obstbaumblüte war,
die schwarzen, krummen Äste waren dick und knollig besetzt mit weißen
Blüten, mit Rosablüten, die kleinen Häuser bargen sich unter
der Pracht, groß stand nur die Kirche.
Eine große, gelbe
Sandgrube tat sich auf. Ein alter Mann saß auf einer verfallenen
Bank, und in der Grube sonnten sich Schweine. Es waren mächtige Tiere,
fett, einige hatten sich Löcher gewühlt, drin lagen sie, dicht
nebeneinander, übereinander, mit riesigen Schenkeln. Andere rannten
einen kurzen Galopp, schnell, wie auf der Flucht, hielten plötzlich,
drehten den Kopf mit dem kurzen Rüssel, schauten aus kleinen Augen
scharf und rätselhaft her, und setzten sich plötzlich und starrten
zu Boden, verzaubert. Es war eine Welt für sich, die gelbe Sandgrube,
der blaue Himmel darüber, die Säue, und der alte Mann am Eingang
der Grube, der sie bewachte. Und die Schweine waren lebendiges, atmendes
Fleisch, es war unheimlich, es waren keine Einzeltiere, Fleisch, fettes
Fleisch rannte hier herum, lag hier herum, erschreckend war es, das in
der tiefen Stille allein lebendige Rosafleisch.
Der alte Mann, der Wächter,
der Schweinehirt mit seinem Stoppelbart erzählte und schüttelte
sich vor Lachen, heut früh sei ein Hase, ein nicht mehr junger Hase,
ein ganz tüchtiger, großer Hase, die Dorfstraße dahergekommen,
frech mitten auf der Dorfstraße, und sei auf einen Trupp Hühner
gestoßen, mit einem Hahn an der Spitze des Trupps, und der Hase habe
ein Männchen gemacht und sich das Federvieh betrachtet, lange. Bis
der Hahn krähte, mutig, und auf den Hasen losging. Der habe gewendet
und sei sausend davon, vor dem Gockel, dem Schwanzfederkrummen, dem stolzen,
dem Sporenträger, dem Ritter und Krähmaul. Das erzählte
der Schweinehirt und kratzte seinen Stoppelbart, daß es hart klang,
und schüttelte sich vor Lachen, und ein großer, tüchtiger
Hase sei es gewesen, aber der Gockel ihm über.
So war es hier in dieser
Landschaft, das waren die Abenteuer dieser Gegend, das waren die Freuden
dieses Hirten in der gelben Sandgrube, bei den fettwackelnden Säuen,
unter dem blauen Himmel.
Der Weg ging weiter hinan,
an der Grube vorbei, wieder ein weißer Kirchturm stieg auf, der Weg
schlängelte sich noch höher, da lag ein großes Dorf, ein
Marktflecken, fast ein Städtchen, neben der Kirche stand ein altes
Kloster, ein großer Platz breitete sich, von fünf Wirtshäusern
umstanden. Und zu einem, und es war das kleinste der fünf, führten
ausgetretene Steinstufen, ein kühler Flur dämmerte, und durch
eine niedre Tür gings in die Wirtsstube.
Wie sah die schönste
Wirtsstube aus, in der je ein Glas roten Weines getrunken wurde? Der erste
Eindruck war: weiß und leer. In Weiß war alles gehalten. Der
Fußboden war aus weißen Brettern, die Tische und die Bänke
waren weiß, hellgelblichweiß, von dem Farbton, der nur entsteht,
wenn Holz seit Jahren mit Sand gescheuert wird. Es gab keine Stühle
in der Stube, nur Bänke: Bänke, die in der Wand fest eingelassen
waren, an der Wand entlang liefen, und auch bewegliche Bänke an der
Tischseite, die sich zur Stubenmitte kehrte. Das ist selten geworden, und
davon rührte es wohl auch her, daß die Stube gleich beim ersten
Anblick sich von andern unterschied. Die Stube war niedrig, die Decke weiß
gekalkt. Bis zur halben Höhe waren die Wände holzgetäfelt,
die Täfelung war wieder weiß gestrichen, weiß gestrichen
wie die Türrahmen, wie die Fensterrahmen. Die Farbe saß dick
auf dem Holz, es war gewiß schon dutzende Male nachgestrichen worden,
er sah so vertrauenerweckend sicher und haltbar aus, der Anstrich, man
mußte nicht fürchten, daß, wenn die Farbe abblätterte,
darunter das Holz grämlich hervorsähe. Denn wenn sie sich geschuppt
hätte, die Farbe, drunter käme fröhlich glänzend eine
andre, frühere weiße Schicht zum Vorschein. Es stand ein weißer
Kachelofen in der Stube, und dann waren der Tische und Bänke nicht
gar so arg viele, Tische standen nur längs der Wände, so daß
in der Stubenmitte viel freier Platz war. Das unterschied die Stube wieder
sehr von sonstigen Wirtsstuben, in denen gewinnsüchtig jeder freie
Fleck zum Aufstellen von Tischen benützt ist.
An den Wänden hingen
alte Stiche. Einer stellte den großen Kaiser Napoleon dar, mit vorgewölbtem
Bauch in der weißen Weste, einer den General Kleber. Der Wirtin Urgroßvater
war Soldat in napoleonischen Diensten gewesen, von ihm stammten diese Bilder.
Das Haus hatte früher zum Kloster gegenüber gehört, von
dem es der alte Soldat erworben hatte. Die Familiengeschichte der Wirtin
war auch sonst merkwürdig genug. Es war französisches Blut in
der Familie, in die ein Bretone, ein Kriegskamerad des Ahnen, eingeheiratet
hatte. Und zum Beispiel hing da ein Stich von Meran an der Wand, aus der
Zeit um 185o, da hatte eine Tochter oder Enkelin des Soldaten einen Südtiroler,
einen halben Italiener geheiratet. Und die Wirtin selbst, jetzt eine Frau
von fünfundvierzig Jahren ungefähr, vielleicht auch etwas älter,
mit rötlichen Haaren über einem verrunzelten Gesicht, hatte einen
früheren österreichischen Major aus der Gegend von Trient zum
Mann.
Man saß so behaglich
in der Stube. Man bekam sofort Lust sich zu setzen und sitzen zu bleiben.
Die Fenster steckten tief in den dicken Mauern, so daß die Fensterbretter
einen halben Meter breit waren; da können die Katzen gut drauf schlafen.
Neben einem Fenster hing ein halbes Dutzend Hinterglasbilder, starkfarbig,
bauernfarbig, viel Rot, viel Blut, Marias Herz, von Schwertern durchbohrt,
der heilige Florian, der heilige Sebastian.
Der hellrote Tiroler Wein
war dünn, aber rein, der österreichische Major und Wirt wußte
wohl noch gute Lieferer aus seiner früheren Zeit.
Was machte die Wirtin
für einen verrunzelten Eindruck! Der Mund war klein und eingeschrumpft,
die Augen fast ohne Wimpern, was dem Blick etwas Unruhiges gab. Sie hielt
sich schief in der Hüfte, die Wirtin, vielleicht von einem Unfall
her, vielleicht wars ein Fehler schon von Geburt an.
Ein großer, hagerer
Mann kam zur Tür herein. Er war sorgfältig gekleidet, halb städtisch,
halb bäurisch, trug lange, schwarze, sauber gebürstete Hosen,
unten, um die Knöchel herum, nach Bauernart geschweift und breit,
eine kurze, graugrüne Jägerjoppe über einem blütenweißen
Hemd. Er war vornehm gewachsen, der Mann, die kurze Joppe ließ die
Beine sehr lang erscheinen, noch länger, als sie waren, und den kurzen
Oberkörper noch kürzer. Sehr klein war der Kopf. In dem kleinen
Gesicht saß eine mächtige, krumme Nase; die Augen, grau und
wässerig, waren ein wenig vorquellend, unter der Nase war ein großer,
wehender, graublonder Schnurrbart, den der Mann mit dem Handrücken
- das war eine stets wiederkehrende Bewegung - strich und glättete.
Dann sah man einen kleinen, blutroten Mund, so rot, daß man dachte,
gleich müsse ein Blutstropfen durch die allzudünne Haut dringen.
Der hagere Mann ging auf den Ecktisch zu, setzte sich. Es war der Major,
der Wirt.
Er fing ein Gespräch
an, mit Leuten, die am Nebentisch saßen, Städtern. Wenn er sprach,
sah man, daß er nur noch wenige Zähne hatte. Im untern Kiefer
staken nur noch zwei schiefstehende, gelbe, oben aber deren drei. Diesen
Mangel zu verdecken, trug er vielleicht den Bart. Aber er mußte ihn
wohl immer getragen haben, er gehörte zu ihm, es war nicht zu denken,
daß er je ein bartloser Knabe mit glatten Wangen gewesen sei. Es
war etwas Fahriges in seinem Wesen, er hatte merkwürdig schnelle und
schroffe Armbewegungen.
Die Gäste drüben sagten:
»Eine schöne Stube!« !
Der Major grinste: »Für
Bauern ganz nett.«
Die Gäste sagten: »Die
Kirche soll schon tausend Jahre stehen. «
Der Major strich seinen
Schnurrbart. »Kann sein. Ich kümmere mich nicht darum. Ich bin
nicht aus dieser Gegend. Ich kümmere mich hier um niemand.«
Er warf seine aufgeregten Augen hin und her. Es war klar, er wollte den
Städtern zeigen, daß er kein gewöhnlicher Bauernwirt sei.
Er war ja Major, österreichischer Major, Standschützenmajor.
Standschützen, das war eine Tiroler Truppe, die sich aus Gebirglern
zusammensetzte, die ihre Offiziere selber wählen durfte, so daß
mancher Bauer, mancher Wirt und Handwerker und kleiner Beamter Leutnant
und Hauptmann und auch wohl gar Major werden konnte.
Im Gespräch ließ
der Wirt einfließen, daß er die Realschule besucht habe, und
als ein Bauer durch die Stube ging, »Herr Major« zu ihm sagte,
die Gäste so von seinem Rang erfuhren, nun wohl auch einen gemesseneren,
höflicheren Ton ihm gegenüber anschlugen, da benahm sich der
Wirt vollends wie ein Offizier und Edelmann. Er ließ das Gespräch
nicht mehr ausgehen, und als die Gäste aufbrachen, begleitete er sie
zur Türe, verneigte sich knapp in den Hüften, sagte »gnädige
Frau«, strich seinen Bart und ging wiegend auf seinen Platz zurück.
Er saß allein in
der Stube. Sein kleiner Vogelkopf stand traurig, schräg. Er war ein
Verbannter. Er war ein Herr, ein Ritter, und war als Wirt hier unter Bauern
zu sitzen verdammt.
Die Wirtin kam und sah
ängstlich zu ihm auf. Sie bewunderte ihn, das sah man aus jedem ihrer
Blicke. Mit seinem soldatischen Rang, seinen herrischen Umgangsformen,
mit dem Glanz seines Wesens hatte er sie erobert.
Er war faul, er tat nichts.
Er kümmerte sich nicht um das Geschäft. Er sah verächtlich
auf alles in seiner Umgebung herab. Er war zu gut für die Frau, für
das Dorf, für das Leben, das er hier führte.
Es war Mittag. Die Hausmagd
kam, deckte einen Tisch mit einem farbigen Tischtuch. Es kam das Gesinde
zum Essen. Zuerst ein rothaariger Knecht, mit zu hohen Schultern, gebräunt,
bärenstark sah er aus. Dann kam die Stallmagd, mit bloßen, braunen
Füßen, in einem enganliegenden, schwarzen Leibchen, nicht mehr
jung, zehn Jahre älter als der Knecht, mit einem harten, männlichen
Gesicht, schwarzen Haaren, die sie dicht an den Kopf gebürstet
hatte. Mit ihr kam ein etwa
sechsjähriges Mädchen, ihre Tochter wohl, die sah dem Knecht
ähnlich, hatte sein rötliches Haar, der Knecht war der Vater
augenscheinlich. Die Hausmagd brachte eine blecherne Suppenschüssel,
setzte sich auch an den Tisch, und die vier begannen nun schweigend zu
essen. Nach der Suppe gab es fettes Schweinefleisch und grünen Salat.
Es fiel kein unnützes Wort während der Mahlzeit.
Der Wirt saß in
seiner Ecke und sah verächtlich auf die Essenden hin. Als erster war
der Knecht fertig, wischte den Löffel am Tischtuch ab, und Gabel und
Messer, und legte sie in die Tischschublade dann und ging hinaus mit langsamem,
schwerem Schritt seiner kotigen Schaftstiefel. Er trug eine blaue Schürze.
Die beiden Mägde machten es wie er mit dem Eßgerät. Das
Mädchen leckte den Teller leer, dann gingen die drei auch. Gebetet
hatten sie nicht, nicht vor und nicht nach dem Essen, wie es sonst wohl
üblich ist. Vielleicht hatten sie es im stillen getan.
Nun kam die Wirtin, legte
vor dem Major eine weiße Decke auf, brachte das Essen, das vorhin
das Gesinde gehabt hatte. Das Ehepaar aß und sprach nicht. Der Major
aß wie ein feiner Mann, mit zierlichen Bewegungen, gemessen, und
voll von Stolz und Demut folgte die Wirtin dem Weg seines Löffels
vom Teller zum Mund.
Es war heiß im Hof hinterm
Haus, der zur Hälfte gepflastert war. Die Stalltüre stand offen.
Der Major kam gelangweilt aus dem Haus. Er mußte seine überlange
Gestalt beugen, als er in den Stall trat. Der Stall war leer, in dem für
gewöhnlich Kuh und Pferd nebeneinander standen. Der Major setzte sich
auf die große Futterkiste, ließ die Beine baumeln, griff einen
langen Strohhalm, nahm ihn in den Mund, ließ die beiden Hälften
links und rechts herunter hängen wie einen zweiten gelben Schnurrbart,
nur länger, nur dünner. Er roch den Stallgeruch, und das war
kein edler Geruch, der Geruch eben, wie er ist, wenn Kuh und Pferd im selben
Raum gehalten werden. Bauernwirtschaft! knurrte der Edelmann.
Die Langeweile war schwer
zu bekämpfen. Das Mittagessen lag drei Stunden zurück, bis zum
Abendessen mußten noch drei Stunden vergehen. Der Major gähnte,
daß man seine gelben Zähne sah, seine schiefstehenden. Er träumte,
der Major, mit wachen Augen. Es war dunkel im Stall, das Licht fiel durch
eine kleine, schmutzige Scheibe über der Tür, der Boden war mit
roten Ziegeln gepflastert, es war nicht reinlich im Stall. Der Major war
zu vornehm, sich viel um den Stall zu kümmern, er war zu müd,
er war zu gleichgültig, er war todmüde, ohne Grund, aber immer
todmüde, es war schrecklich langweilig.
Ein Schatten fiel durch
die Tür, dann wurde die Tür aufgestoßen, es kam die Magd,
mit bloßen Füßen, das schwarze Leibchen eng um den Oberkörper,
der wie der Oberkörper eines Mannes war, mit einer ganz flachen Brust.
Sie begann mit der Stallarbeit. Wenn sie sich arbeitend nach vorn beugte,
glitten ihre Röcke hinten hoch bis über die Kniekehlen. Sie hatte
braune sehnige Beine, sie kümmerte sich nicht um den Major, tat ihre
Pflicht. Der Major blieb auf der Kiste sitzen. Es war warm im Stall, drückend
heiß, schwül, der Mistgeruch war so stark, daß es sich
schwer atmete.
Die Magd bat den Major,
sie aus der Kiste etwas nehmen zu lassen. Der Major, immer noch den Strohhalm
zwischen den Lippen, lächelte auf einmal, aber er stand nicht auf.
Die Magd blieb, nun auch lächelnd, vor ihm stehen. Er sah nah vor
sich ihr lederiges Gesicht mit den schwarzen, funkelnden Augen und den
Tränensäcken unter den Augen. Ihr Mund war dünnlippig, wenn
sie lächelte, wie jetzt, sah man, daß sie, im Gegensatz zum
Major, noch alle ihre Zähne besaß. Sie war wohl schon über
vierzig Jahre alt, die Magd, ihr Körper hatte schon etwas von dem
einer alten Frau, nur die funkelnden, beweglichen schwarzen Augen waren
jung. Sie blieb lächelnd vor dem Major stehen, unbeteiligt, wie unbeteiligt
auch an dem, was nun kam, nur ihre schnellen Augen waren beteiligt.
Der Major also stand nicht
auf von der Kiste, sagte: »Ich mag nicht«, und legte seinen
Arm um die Hüften der Magd. Sie streifte seinen Arm nicht weg und
sagte: »Ich brauch was aus der Kiste.« Der Major schob sein
rechtes Knie vor, drückte es gegen ihren Oberschenkel und sagte: »Wart
noch ein wenig.« Die Magd wartete.
Jetzt stieg der Major
von der Kiste herab, er zog die Magd an sich heran, drängte die wenig
Widerstrebende in die Ecke des Stalls, wo Heu gelagert war, ließ
sich ins Heu fallen, die Magd ließ sich willig mitfallen.
In der Wirtsstube dann
die Wirtin wiederholte unaufhörlich die Frage, die sie mit schiefem
Mund und nach oben gerichtetem Kopf sang: »Warum mußte ich
das sehen?« Ihr kleines, verrunzeltes Gesicht hatte noch mehr Falten
und Fältchen als sonst. Sie ging in der Stube auf und ab, mit gekrümmtem
Körper und sang mit leise zitterndem Mund: »Warum mußte
ich das sehen?« Der Wirt und Major stand am Fenster, sah zum Fenster
hinaus, und bei jeder Frage der Wirtin zuckte sein lächerlich kurzer
Oberkörper ruckartig. Er hatte die Hände in den Hosentaschen,
und als jetzt auf der Straße jemand vorbeiging, ihn grüßte,
nahm er sie aus den Taschen, machte seine tiefe, schwungvolle, in den Hüften
schaukelnde Offiziersverbeugung, wischte sich den Schnurrbart, daß
sein hellblutroter Mund einen Augenblick sichtbar wurde. Seine dicken Augen
hatten etwas Erschrockenes. Aber dann nahm er wieder Haltung an und wagte
es sogar, sich umzudrehen, wenn er es auch nicht wagte, seiner Frau in
die Augen zu sehen, er ihr nur auf die Füße sah, an denen sie
Lackschuhe, ein wenig abgetretene Lackschuhe, trug.
Die verwelkte Wirtin wiederholte
ihre Frage noch ein paarmal, dann sah man, sie hatte einen Entschluß
gefaßt, was ihrem Gesicht Festigkeit gab, ihr schlaffer Mund zitterte
nicht mehr, die wimperlosen Augen verloren ihre Unruhe, sie setzte sich
auf eine Bank und sagte zum Wirt: »Ich lasse mich scheiden.«
Der Major riß wütend
an seinem Schnurrbart, er machte eine zappelnde Bewegung mit seinen langen
Beinen, als marschiere er auf der Stelle, aber dann blieb er stehen, als
die Wirtin zum zweiten Male mit noch festerem Erz in der Stimme und ganz
ruhig sagte: »Scheiden laß ich mich natürlich! «
Die Magd trat in diesem
Augenblick in die Stube, gesenkten Blickes. Sie hatte einen schweren Gang
vor sich, sie mußte zum Knecht, dem die Wirtin Bericht gegeben hatte.
Das stand ihr bevor, und nun mußte sie zuerst noch zwischen diesen
beiden hindurchgehen. Der Major machte es ihr leicht und machte es sich
leicht und sah nicht hin auf sie. Er schloß die Augen und horchte.
Er horchte immer noch auf das Wort seiner Frau, das »Scheidung«
gelautet hatte, und über dieses Wort dachte er nach.
Die Magd war stehengeblieben
in der Stube, und die Wirtin knurrte. Sie zog etwas die Oberlippe hoch
und knurrte. Die Magd sah ihr offen ins Gesicht, sah ihr frech ins Gesicht.
Da standen sie, die beiden ältlichen Frauen, verbraucht, nicht hübsch,
wohl nie hübsch gewesen, und zwischen ihnen der Mann geschlossenen
Auges. Sein Schnurrbart hing herab, der Strohhalm hängt nicht mehr
herab, dachte die Magd. Und schön ist er nicht, dachte die Magd, und
es fiel ihr ein, daß sie jetzt zu dem Knecht gehen müsse, und
da zitterte sie. Ihre schwarzen, funkelnden Augen sahen zur Tür. »Kannst
mich nicht anschaun?« knurrte die Wirtin. »Schämst dich?
Geh jetzt zum Hans!« frohlockte sie, »geh nur zum Hans jetzt!«
Sie schüttelte den Kopf, daß ihr verwaschenes, rotes Haar in
die niedre Stirn fiel. Sie hatte ein gerötetes Gesicht jetzt, ihr
Gesicht war jetzt wie ein geröteter, verschrumpfelter Apfel. Die Magd
machte einen Schritt zur Tür. Die Wirtin zischte: »Geh!«
und die Magd ging.
Sie ging durch die Tür
auf den Flur. Der war mit großen gelblichen Steinplatten belegt.
In der Ecke hing von der Decke eine alte, eiserne Waage, und sie dachte
an die Waage der Gerechtigkeit, von der der Pfarrer oft Sonntags gepredigt
hatte. Sie warf einen Blick durch eine gegenüber offenstehende Tür,
in einen Kramladen, der auch von der Wirtin geführt wurde, wo Stricke
von der Decke hingen und landwirtschaftliches Gerät und Strümpfe
und Hosen, wo Gefäße standen voll Zucker und Schnaps in großen,
gewölbten Flaschen und Pantoffel und Schuhe und blaue Arbeitsschürzen.
Sie ging über die
Treppe und den Gang entlang, und da hüpfte ihr die sechsjährige
Tochter entgegen, mit dem roten Haar des Knechts, barfuß, gekleidet
wie eine Erwachsene, mit langem Rock und dem engen Mieder, wie eben Bauernkinder
aussehen, kleine und ernsthafte Ebenbilder der Großen. Sie wollte
auf die Tür zum Knechtzimmer zugehen, da faßte das Kind sie
am Rock. »Geh, geh!« sagte die Magd.
Aber das Kind ging nicht,
es sah sie von unten herauf an. Der Scheitel im roten Haar des Mädchens
war nicht gerade gezogen, das war ihre Schuld, der Magd Schuld. »Geh
spieln in den Hof!« befahl sie dem Kind. Das lief jetzt weg.
Das Haar war hinten zu einem
kleinen Zöpfchen geflochten, stand ab vom mageren Kinderhals.
Und die Magd ging in die
Stube des Knechts. Der Hans lag auf einer alten Bank, die mit schwarzem
Leder überzogen war. Als sie eintrat, sah er sie mit einem schnellen
Blick an, sah dann wieder weg. Er hatte die Stiefel ausgezogen, an den
Füßen trug er rote, wollene, dicke Socken, die Fersen waren
bis zur Hälfte der Fußsohle verrutscht. Er lag und sah sie nicht
an und atmete ruhig und gelassen. Plötzlich sagte er: »Die Alte
hat euch erwischt?« Die Magd nickte.
Es war gegen sieben Uhr
des Abends. Draußen war ein hellblauer Himmel, der mit einem großen
Stück in das Zimmer hereinsah. Auf dem Tisch lag ein Stück Brot,
auf einem blauen Teller ein Stück Geräuchertes, ziemlich fett,
das gelbe Fett mit hellrosa Streifen mageren Fleisches durchzogen. An einem
Krug lehnte ein Spiegel, ein Stück Spiegelglases, schlecht geschliffen,
ohne Rahmen, und in dem Spiegel war Fleisch und Brot noch einmal zu sehen,
und die Magd sah nur die Spiegelung an. »Heiraten«, sagte plötzlich
der Knecht, »heiraten tu ich dich jetzt nicht mehr.« Er sah
sie neugierig an.
Da hinaus also will er,
sagte sich die Magd. Wütend schrie sie: »Das sieht dir gleich!«
Der Knecht richtete sich
halb auf, griff nach dem Spiegel, sah hinein, strich sich das Haar zurecht,
sah sich lange und sorgfältig an, schnitt Fratzen, besah Stirne und
Mund und Augen und sagte: »Seh ich denn so dumm aus, daß ich
dich jetzt noch heiraten würde?« Schallend lachend ließ
er sich auf die Bank zurückfallen und behielt den Spiegel in der Hand
und sah immer noch hinein:
»Das sieht dir gleich!«
sagte die Magd zitternd und stampfte mit dem Fuß auf. Das Zimmer
des Knechts lag gerade über der Wirtsstube, wo unten der Wirt und
die Wirtin waren. Die Wirtin hörte den Knall des aufstampfenden Fußes
und sagte: »Jetzt redet der Hans mit dem Weibsbild.« Der Major
streichelte seinen Schnurrbart und sah nach oben zur Decke. »Also
Scheidung«, sagte die Wirtin, und: »Du kannst heut noch gehen,
kannst ja gleich gehn, kannst leicht gehn, hast ja nicht viel mitzunehmen.
Alles gehört ja mir.« Sie ging in der Stube auf und ab und blieb
wieder stehn und horchte beseligt nach oben, wo es wieder wild pochte.
Die Magd hatte gesagt:
»Das paßt dir jetzt, dich darauf auszureden«. »Und
dir täten zwei Liebhaber passen«, lachte der Knecht. Er lachte
über das ganze sommersprossige Gesicht, und seine roten Haare glänzten
lustig.
Die Magd setzte sich,
schnitt sich ein Stück Brot ab, schnitt sich ein Stück Fleisch
ab und begann zu essen. Mit funkelnden Augen sah sie den Knecht an und
sagte: »Das wird dir nicht hinausgehen. Da wird dir nichts draus.«
Das Gesicht des Knechts
lief mit einemmal blutrot an.
Luder«, schrie er. Das
laute Wort hörte man drunten in der Wirtsstube. Man verstand es zwar
nicht, aber man hörte es, man hörte, daß es ein böses
und grobes Wort war. Der Major wiegte sich in den Hüften. »Horch!«
sagte er zu seiner Frau.
Die hielt sich die Ohren
zu, steckte die Finger in die Ohren und stand so, daß es aussah,
als wären ihr am Kopf hinter den Ohren zwei Eulenflügel gewachsen
und sagte nur immer: »Scheidung! geh! Scheidung! geh! geh nur! geh
gleich! «
Der Major raffte sich
zusammen, riß sich zusammen, richtete sich auf, seine Augen traten
noch stärker aus dem Gesicht heraus, die Brust wölbte er vor,
gockelig, sein Körper sagte: Ich nehme die Herausforderung an. Seine
blutroten Lippen zog er hin und her, schob die Unterlippe vor, biß
sich auf die Lippen, spielte mit den Lippen und dann antwortete er: »Gut,
ich kann auch gehn! Gut! Lassen wir uns scheiden! Sehr gut!«
Er betrachtete seine Frau
lauernd. Jetzt mußte sie erschrecken. Jetzt, da sie sah, es wurde
ernst, sie würde ihn verlieren, ihn, den Major! Wie hatte sie ihn
geliebt, wie hatte sie ihn angebetet, er riß an seinem Schnurrbart,
sah sie herausfordernd an, ging vor ihr durch die Stube, sich wiegend in
den Hüften, vornehm, auf seinen zu langen Storchbeinen, auf und ab,
stolz wie vor seinem Bataillon, aller Augen auf ihn, ein Herr, ein
Offizier.
Aber die Wirtin war in
die Küche gegangen. Das merkte er, als er wieder umdrehte am anderen
Stubenende, er hörte Teller klappern von nebenan in der Küche
und von oben drang Geräusch, drang Stampfen von Stiefeln, dumpfer
Schall, hohler Lärm, Geraufe, Prügel oder sonst was. Es kümmerte
ihn nicht.
Entschlossenheit! Gehen!
Scheidung! sagte sich der Major. Dieses Bauernnest! Er war zu gut dafür!
Endlich es verlassen, Grund haben, es zu verlassen, fröhlich drüber
sein! Heiter, lustig!
Er packte in einen kleinen
Handkoffer das Notwendigste, einen größeren mit dem Rest seiner
Wäsche, seiner Kleidung, seiner alten Uniform, konnte er sich nachschikken
lassen. Sonst gehörte ihm nichts, kein Möbelstück, alles
gehörte der Wirtin. Er nahm den Koffer, und mit einem schnellen Entschluß
nahm er seinen Offizierssäbel, der in einem Leinenüberzug steckte,
auch mit, so ging er.
Er ging auf der Straße,
drüben stand die alte Kirche. »Bauernkirche«, brummte
er. Er nahm die Richtung zum Bahnhof, das waren zwei Stunden Wegs. In der
Rocktasche trug er achtzig Mark, mehr besaß er nicht, damit konnte
er vorläufig leben. Er schlenkerte das kleine Lederköfferchen
in der Hand, in der andern trug er den Säbel, benutzte ihn als Spazierstock,
stützte sich nicht darauf, aber trug ihn wie einen Stab, berührte
sanft den Boden mit der Spitze im Takt seines Ganges.
Vor den Türen standen
Leute. »Bauernkerle«, brummte der Major. Er hatte unrecht,
es war fast ein Städtchen, es waren fast Bürger, Städter,
halbe Bauern nur. Sie grüßten ihn. Der Herr Major fährt
heut noch fort, sagten sie sich. Nun taten sich die vielen Hügel auf,
einer hinter dem andern. Wälder glänzten, der Himmel war abendblau,
abendgrün fast, ein kleiner zierlicher Mond stand drüben über
einem Kirchturm, Kirchtürme überall. Der Major schritt fest aus.
Er ging so eine Stunde, die Straße war staubig, seine Stiefel waren
schon grau, auch die Hose war unten grau. Hier bog die Straße nach
rechts ab. Hier ging es zum Bahnhof, hier stand eine Bank, hier setzte
sich der Major.
Den Kampf mit dem Leben
aufnehmen, diesen Satz wiederholte er sich kampfesmutig immer wieder, dieser
Satz gefiel ihm, er flößte ihm Mut und Zuversicht ein. Es wurde
dämmerig. Er nahm seinen Säbel aus der Leinwandhülle, zog
die Klinge aus der Scheide: den Kampf mit dem Leben aufnehmen! Er machte
ein paar Fechtergebärden, nahm Ausfallstellung an, stach, hieb auf
einen unsichtbaren Gegner. Mut! sagte er sich.
»Was fällt
dieser Frau ein?« brüllte er, »mich so laufen zu lassen,
mich?« Er blähte sich, stülpte seine blutroten Lippen vor,
die paar gelben schiefen Zähne bleckte er bösartig. »Sie
wirds bereuen! Was ist sie ohne mich?«
»Ja, liebt sie mich
denn nicht mehr?« fragte er sich. »Unmöglich!« antwortete
er sich laut. »Ganz unmöglich!« schrie er. Er steckte
den Säbel neben der Bank in den Boden. »Diese Frau liebt mich!«
Er dachte nach. »Sie
bereut es wohl jetzt schon. Ist wohl jetzt schon unglücklich.«
Er freute sich darüber: »Recht geschieht ihr! «
»Ich aber«,
sagte er, »ich nehme jetzt den Kampf mit dem Leben auf.« Das
Leben nahm die Form eines großen, sagenhaften Untiers an, elefantenmäßig,
ungeheuerlich, mit grinsenden Augen, schleimig triefend das schlappende
Maul. Er aber nahm den Kampf mit dem Tier auf, besiegte es.
Was konnte er leisten?
Was hatte er gelernt? Wo wollte er unterkommen? Ach, was! Kämpfen
und siegen! Er triumphierte.
Aber die weinende Frau
zu Hause? Denn natürlich, jetzt hockte sie zu Hause und weinte unaufhörlich,
sehnte ihn zurück, konnte ohne ihn nicht sein, fand nicht mehr Gefallen
am Leben ohne ihn.
»Zurück!«
sagte er. »Nicht zurück!« sagte sein Stolz.
Es war jetzt fast dunkel
geworden, die Wälder lagen schwarz um ihn, aber der halbe Mond war
klar geschnitten am Himmel.
Und von der Wiese dort
erhob sich das geifermäuliges Untier, das Leben, mit dem er kämpfen
mußte, das er besiegen mußte, richtete sich auf den krummen
Beinen mächtig auf, wandte ihm den Kopf zu, grinste und wartete auf
den Angriff des Majors. Er griff nach dem Griff des Säbels, ließ
die Waffe aber im Boden stecken.
Unten in einer Wiesenmulde
lag ein kleiner Weiher, der schwarz herschimmerte, es war ein Froschteich,
und jetzt begannen die Frösche mit ihrem klagenden, unablässig
auf und abwimmernden Getön. Das setzte, nachdem es jäh begonnen
hatte, nun keinen Augenblick mehr aus. Der Major sah hin und sah natürlich
nichts und sah doch, wie unter der Oberfläche hundert der grünen,
geblähten Tiere saßen, das Maul am Wasserrand, und bliesen.
Er nahm seinen Säbel und ging zum Weiher hinunter. Schwarzgrün
war die Wasserfläche, und der Gesang der Frösche schwoll jetzt
in der Nähe ungeheuer an. Der Major schlug wütend mit dem Säbel
in den Weiher, daß ihm kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, der Lärm
der Frösche verstummte kurz, aber brüllend, doppelt laut, setzte
er gleich wieder ein.
Der Major wußte,
wenn er den Abendzug in die Stadt erreichen wollte, durfte er nicht mehr
länger zögern. Es war kühl hier am Weiher, der Mond war
schon höher gestiegen, sein Ebenbild schwamm im Wasser, und sein Glanz
machte die Frösche wohl noch toller, denn sie steigerten, soweit das
möglich war, noch ihre dumpfen Rufe.
Der Major zog die Uhr,
rechnete, nein, es ging nicht mehr, für den Abendzug wars zu spät
geworden, aber es mußte ja doch der Abendzug nicht sein, er hatte
ja Zeit, und morgen früh ging ja auch ein Zug ab, in der ersten Frühe,
wußte er, da nahm er eben den und blieb vorläufig noch ein wenig
hier, in der Gesellschaft der Frösche. Blieb die Nacht über hier,
beschloß er, und eine Nacht im Freien, im Mai, er dachte an den Krieg,
die war leicht auszuhalten, hier, wo nicht geschossen wurde. Aber klang
das gleichmäßige Tönen der Frösche nicht wie das Rumpeln
eines fernen Trommelfeuers? Der Major schlüpfte in den Mantel. Am
Weiher stand eine Weide, zu deren Füßen setzte er sich ins Gras,
legte den blanken Säbel quer über die Knie und saß so wie
Wache haltend.
Der Mond spiegelte sich
in der Klinge, und wenn er sie drehte, spritzte es wie Lichterfunken von
ihr. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm der Weide, und
ein leichter Wind bewegte die Blätter, daß es geheimnisvoll
raschelte. Er spähte um sich, Dunst stieg in der Mulde und schleierte
sanft. Die Frösche quakten und dröhnten ohne Unterlaß,
plapperten in ihrem nassen Gefängnis, und er saß hier als Wächter
und Gebieter. Als einer besonders laut schrie, verwies er es ihm, ahmte
ihn höhnisch nach, und wie Rede und Antwort ging es hin und her zwischen
dem Mann unter der Weide und den unsichtbaren Tieren.
Ich will schlafen hier,
dachte der Major, im Sitzen schlafen, das kann man, und er schloß
die Augen, aber mit dem Augenschließen war es noch nicht getan, der
Schlaf kam nicht. Er rückte unruhig am Boden, spürte unterm Knie
die harte Weidenwurzel, die ihn drückte, und auch der Weidenstamm
als Kopfstütze war nicht lind. Kühle hob sich vom Gras auf, Feuchtigkeit
hauchte her vom Weiherspiegel, er fröstelte, es schüttelte ihn.
Er sah wieder auf die Uhr, im Mondlicht war die Zeit abzulesen, eine halbe
Stunde erst saß er und bewachte die Frösche.
Wars nicht klüger,
fragte er sich, zum Dorf zurückzugehen, eine Stunde Weg wars ja nur,
und eine Nacht noch, eine letzte Nacht noch, in seinem alten Bett zu schlafen,
und morgen, beim Tagesgrauen, aufzustehen, zum Morgenzug?
Die Klinge war feucht
geworden, er wischte sie am Ärmel ab, steckte sie in die Scheide,
schrie die Frösche an mit » Ruhig! « und »Wollt
ihr wohl!« und drehte seine Adlernase witternd in die Richtung zum
Dorf zurück, höb den Koffer auf und ging auch schon zurück.
Auf der weißen Landstraße
ging mit ihm sein langer schwarzer Schatten. Das Geschrei der Frösche
war nun schon nicht mehr zu hören, aber der Mond war noch am Himmel,
der blau und klar war, mit vielen Sternen besetzt.
Im Schlafzimmer saß die
Wirtin, und war unlustig sich zu entkleiden, nur die Schuhe hatte sie abgestreift,
saß in Strümpfen am Bettrand, wie ein kleines Schulmädchen
saß sie, die unjunge Frau, mit weinerlichem Gesicht, und der Mond
sah zu ihr durchs Fenster. Das gelbe Himmelslicht, das den jetzt wandernden
Major beschien, beschien auch sie, und es war, als horchte sie auf seine
Schritte, die sie doch nicht hören konnte, und dachte an ihn, nur
an ihn.
Nun war er also gegangen.
Sie hatte ihn fortgeschickt, und ein Mann wie er hatte sich das nicht zweimal
sagen lassen und war gegangen, und niemals kam er wieder.
Mit ihren fast wimperlosen
Augen blickte die Wirtin auf die Dächer nieder, die vor ihr im Mond
lagen, überwölbt von Baumkronen.
Sie hatte dem Major nur
gesagt »Geh!«, weil sie es gekitzelt hatte zu erproben, ob
er wohl ginge. Er lebte von ihr, und sie hatte fürchten müssen,
er habe sie nur geheiratet, weil sie ihm einen Unterschlupf gab, einen
seiner nicht würdigen Unterschlupf zwar, aber doch eine Höhle,
ein Nest, in dem sich sein ließ.
Aber nun war er stolz
aus dem Nest aufgeflogen, mit mächtigen Adlerschwingen, tief unter
sich die kleine Welt, zu unbekanntem Ziel. Wo strich er hin, der Unbekümmerte?
Sie weinte. Sie stützte
die mageren Ellenbogen auf die Fensterbrüstung und seufzte.
Was hatte sie sich da
groß getan mit dem schlechten Dach, das sie ihm bot? So etwas fand
er wohl überall wieder, man riß sic wohl um ihn. Undeutlich
sah sie Frauenarme sich nach dem Major strecken.
Wenn er also bisher bei
ihr geblieben war, dann nicht des bißchen Essens wegen. Sie atmete
tief. Ihretwegen war er so lang geblieben: weil er sie liebte!
Sie weinte stoßhaft
auf.
In seiner Kammer der Knecht
lag und schlief tief. Die Decke hatte er zurückgeschlagen in der warmen
Nacht. Sein rotes Gesicht unterm roten Haar hatte einen zufriedenen Ausdruck,
und jetzt träumte er, und lächelte, und sagte etwas im Traum,
und das Fenster antwortete klimpernd, von einem Lufthauch bewegt. Dann
war wieder Stille, und das Atmen des Knechts nur, und der Ton der bewegten
Blätter der Bäume.
Und die Magd lag in ihrem
Bett und schlief nicht. In einem andern Bett in der Ecke lag das Mädchen,
nicht zu sehen, tief in die Polster vergraben. Mit dunklen, funkelnden
Augen sah die Magd zur Decke auf. Das mit dem Major, bereute sie es? Das
wohl nicht, aber es war dumm gewesen, es zu tun, vor allem, daß die
Wirtin dazugekommen war, und nun der Knecht davon wußte. Die Magd
setzte sich im Bett auf. Der Mond beschien sie. Was würde nun werden?
Die Nacht gab keine Antwort. Sie legte sich nieder, schob das Gesicht höher
auf das Kissen, auf einen Platz, der kühl war. »Kommt Zeit,
kommt Rat«, sprach sie sich Trost zu. Und vielleicht konnte sie nun
auch einschlafen.
Die Wirtin dachte: nun
ist er wohl schon an der Bahn, nun steigt er wohl schon in den Zug, nun
pfeift der Zug, nun fährt der Zug ab, mein Mann, mein Mann, mein Mann
fährt mit und kommt nicht wieder!
Jetzt spürte sie
die ganze Größe ihres Verlustes. Allein nun in Zukunft, ihr
ganzes Leben allein! Das durfte nicht sein, das war unmöglich, ihm
nach!
Sie ging die Treppe hinab,
eine Katze drückte sich an der Wand entlang, buckelte verlegen, sprang
mit einem lautlosen Satz auf ein Flurfenster. Sie ging über den Flur,
an der alten eisernen Waage vorbei. Ihm nach! dachte sie.
Sie dachte es und stieß
die Tür auf, und groß vor dem blauschimmernden Hintergrund des
Himmels stand der Major und sagte: »Nur noch einmal für diese
Nacht.«
Die Wirtin sagte nichts,
ging ihm voraus ins gemeinsame Schlafzimmer. Sie entkleideten sich, sahen
sich nicht an, redeten kein Wort zueinander und legten sich schlafen.
Als der Major am andern
Morgen erwachte, war das Bett neben ihm schon leer. Er blieb lange auf
der Bettkante sitzen, zog sich dann an, ging in die Wirtsstube hinunter,
wo ihm die Hausmagd den Kaffee brachte wie sonst und immer. Er trank ihn,
spreizte vornehm den kleinen Finger ab vom Tassenhenkel.
Nach dem Frühstück,
dachte er, mit dem Mittagszug!
Aber er fuhr auch mit
dem Mittagszug nicht, blieb, blieb bis zum Abend, und noch eine Nacht,
blieb für immer.
Äußerlich war
nun alles wieder, wie es immer gewesen war. Die Magd wollte die Wirtin
entlassen, zuerst, und den Knecht, sie wollte sie nicht mehr vor Augen
haben, aber dann besann sie sich, und sie behielt die beiden im Dienst.
Die Wirtin saß in
der Stubenecke, fahlrötlich glänzte ihr Haar, und ihre Augen,
die damals zum erstenmal geblitzt hatten, als sie zum Major das Wort »Scheidung«
gesprochen hatte, ein stilles Funkeln behielten sie nun ständig. Wie
eine Spinne saß sie in der Tiefe des Netzes und beobachtete die drei
Fliegen, die rötlich pralle, das war der Knecht, und die schwarzschillernde,
das war die Magd, und die sumpfgrün prahlende, das war der Major.
Der Knecht und die Magd
heirateten nicht, sie lebten zusammen wie bisher. Und der rothaarige Knecht,
der doch auch im Netz saß, spielte mit der Magd sein besonderes Spiel,
sein boshaftes Spiel, und die Magd war hilflos, und die Wirtin weidete
sich an ihrer Qual, denn die war die wohlverdiente Strafe.
Auf den Major warf der
Knecht scheue Blicke, wütende, eifersüchtige manchmal, dann wieder
dankbare, daß er es
ihm erspart hatte, sich an die
Magd fest binden zu müssen.
Die Magd nun und der Major,
die drehten sich verlegen umeinander und schämten sich, und die Magd
war zornig auf den Major, und oft, wenn er ihr einen Auftrag gab, sah sie
ihn stechend an und gehorchte nicht, und wenn der Major aufbegehren wollte
und dann grad der Knecht ins Zimmer trat, dann waren sie alle drei stumm
und stumm gingen sie in drei Richtungen auseinander, und in der Ecke saß
die Wirtin und freute sich.
Saß die kleine Wirtin
mit blitzendem Blick und war nun auf einmal die Königin im Haus und
herrschte über alle. Anfangs zwar, hie und da, hatte der Major noch
den Versuch gemacht, den Stolzen zu spielen, den vornehmen, überlegenen
Mann ihr zu zeigen, aber mitten in der schönsten Verbeugung, die er
seinen Gästen machte, erschrak er, wurde klein, ging unsicher ab.
Und die Wirtin sah ihm
nach. Er ist wiedergekommen! jubelte sie. Draußen im Flur stand der
Major gesenkten Blicks: Ich bin wiedergekommen! klagte er.
Sein Schnurrbart hing
tief herab. Der Stolze durfte sich nicht mehr zu gut fühlen für
seine Umgebung, er durfte sich nicht mehr erheben über sie alle, die
um ihn waren, nicht mehr prahlerisch auf sie herabsehen, denn alle wußten
nun, und er wußte es nun, daß es nur ein Spiel war, was er
gespielt hatte die ganze Zeit, und es spielt sich nicht mehr gut unter
solchen Umständen.
Da begann sein Verfall.
Er saß stundenlang allein in einer dunklen Ecke und dämmerte
vor sich hin. Er hatte früher großen Wert gelegt auf saubere
und schöne Kleidung, jetzt fing er an sich zu vernachlässigen.
Sein Hemd war blütenweiß gewesen sonst immer, es zeigte braune
Flecken jetzt vom Kaffee und rote vom Wein, so unachtsam war er geworden.
Täglich hatte er sich früher rasiert, nun standen ihm die Stoppeln
struppig am Kinn, tagelang, und es war zu sehen, daß weiße
darunter waren. Er trank viel, mehr als je,
am frühen Nachmittag schon
hatte er den Wein vor sich auf dem Tisch.
Die Wirtin konnte sich
ihres wiedergewonnenen Mannes nicht freuen. Er vermied sie, schlich aus
der Stube, wenn sie kam, trieb sich viel im Stall herum, saß auf
der Futterkiste mit baumelnden Beinen und rief hie und da der Kuh ein Wort
zu, die den Kopf nicht zu ihm wendete.
Sein Gesicht wurde gelb,
als sei er krank, und er war auch krank, und die Krankheit saß tief,
tief innen, spürte er. Wie ein schönes Spielzeug war er, an dessen
Feder etwas in Unordnung geraten ist, eine beschädigte Tanzpuppe,
die ein paar Bewegungen noch macht, aber dann plötzlich mitten im
schönsten Schwung knackend und wie gelähmt stillhält.
Das Haar wucherte ihm
wirr und ungeordnet auf dem Schädel, hing in Strähnen ihm in
die Stirn.
Wie ein Adler war er der
bewundernden Frau einmal vorgekommen, nun waren ihm die Flügel gestutzt
und er hüpfte lahm und ungelenk und kläglich herum.
Es war trübes Wetter
in diesen Wochen. Ein gleichmäßig grauer Himmel spannte sich
über das Land und Regen, Regen fiel ohne Unterlaß. Es plätscherte
und tropfte von allen Dächern, trommelte gegen die Scheiben, es regnete
des Abends, man ging zu Bett beim Geräusch des rinnenden Wassers und
hörte es noch in Schlaf und Traum und beim Erwachen dröhnte die
Regenorgel schallend noch. Der Regen fiel oft lange Stunden dünn und
gleichmütig und verstärkte sich plötzlich dann, rauschend
brauste es herab, wolkenbruchartig, Wasserfluten stürzten, aber dann
ließ seine Gewalt wieder nach, dünner floß er, als sei
er ermattet, und manchmal schiens, als versiege er ganz. Aber eben dann
begann er mit neuer Kraft zu strömen. Die Kastanie im Hof stand mit
schlappen Blättern, aber ihr Grün war leuchtend und üppig
geworden, ihre Rinde glänzte feucht, und ihr bekam der lange Regen.
Der Major lehnte unter
der Tür zum Hof und sah in den Regen hinaus, und um seine Beine schmeichelte
buckelnd die Katze. Er hob das Tier auf, das seinen dicken Katzenkopf zärtlich
an seinen Hals drückte, streichelte es, wohlig beganns zu schnurren.
Er hielt es fest im Arm, tat ein paar Schritte in den Hof hinaus und stand
im Regen. Die Kastanie rauschte wie in langem Selbstgespräch, aber
der Major verstand nichts und hörte kopfschüttelnd zu. Er hob
das Gesicht zum Baum empor, und der Regen rann ihm übers Gesicht und
in den Hals. Die Katze suchte Schutz vor der Nässe, wühlte sich
mit dem Kopf unter seine Schulter, preßte sich fest an ihn, sie liebte
das Feuchte nicht, wie alle ihresgleichen. Aber das half ihr wenig, der
Regen traf sie, sie miaute leise, wurde ungeduldig dann, zappelte und buckelte,
schlug zornig mit dem Schwanz und drängte zur Türe. Der Regen
wusch ihr das Fell, und der Kopf des Tieres war viel kleiner geworden,
weil ihm die nassen Haare so eng anlagen. Es versuchte sich loszureißen,
warf sich hin und her, gebrauchte die Krallen, fauchte bös und biß
den Major wütend in die Hand. Er sah das Blut, mit Regen vermischtes
helles Blut, und das Blut hatte sich auch auf den Katzenkopf hingeschmiert.
Da gab er das Tier frei, mit einem Satz war es am Boden stand mit gekrümmtem
Rücken einen Augenblick und schoß dann durch die offene Tür
ins trockne Haus.
Der Major blieb stehen
im Regen, der sich wieder verstärkt hatte. Er fühlte, wie die
Nässe ihm durch den Anzug drang, wie ein eiliger, dünner, kalter
Wasserfaden den Weg zwischen seine Schulterblätter genommen hatte,
ihm über den Rücken lief, als rühre ihn eine eisige Hand
an. Das trockene Haus lockte auch ihn, wie es die Katze gelockt hatte.
Er tat einen Schritt auf die Tür zu, aber schüttelte verzweifelt
den Kopf und blieb. Er war bald gänzlich durchnäßt dann,
kein trockener Faden war mehr an ihm, er fror, und einmal durchzuckte ihn
wie ein Feuerstoß plötzliche Hitze. Wenn er den Arm schlenkerte,
fuhrs tropfensprühend von ihm, wenn er von einem Fuß auf den
anderen trat, rührte sich das Wasser in den Stiefeln, aber es mußte
ihm hier unter den Güssen des Regens doch wohler sein als im trockenen
Haus, denn er verharrte, obwohl ihn der Frost schüttelte, und horchte
auf das Plätschern und Wispern der Kastanie.
Drei Tage später und drei
Wochen nach dem Tag, an dem er bei dem Froschteich umgekehrt war, ging
der Major mit dem Fronleichnamszug, den er sich die Jahre vorher nur vom
Fenster seiner Stube aus angesehen hatte. Er ging in Uniform hinter dem
Traghimmel, die Offiziersmütze in der Hand, auf der Brust die Orden,
den Säbel an der Seite, in der rechten Hand eine brennende Kerze.
Die Glocken läuteten, alles sank in die Knie, bekreuzigte sich. Der
Wirt, der Major tats auch, er kniete in edler Haltung, wie bei einer Feldmesse,
er war das Glanzstück der Prozession. Der Himmel war blau, der Schnurrbart
des Soldaten wehte, der Major war häßlich, aber vornehm.
Die Magd sah ihn an und
fand das, und die Wirtin sah ihn an und fand das, und der Knecht sah ihn
an und fand das, die ganze Gemeinde fand das.
Das Dorf war festlich
geschmückt. An allen Haustüren standen junge Birken, schwarzweißgefleckt
die Rinde, die grünen Blätter sausten im leichten Wind. Auf den
Straßen war Gras gestreut, von den Fenstern hingen rote Tücher,
goldgestickt. Aus allen Wirtshäusern roch es nach Bratwürsten.
Der Major ging heim nach
Schluß des Umgangs. Der Säbel schaukelte an seiner Seite, die
Orden auf seiner Brust schaukelten, die halbniedergebrannte Kerze trug
er gesenkt, mit dem schwarzverkohlten Docht nach unten. So ging er ins
Haus, durch den Hausgang auf den heißen Hof und über den Hof
in den leeren Stall. Er setzte sich auf die Futterkiste, befahl »Stillgesessen!«,
nahm die Absätze fest zusammen, sah gerade aus, rührte sich nicht,
wie er es sich befohlen hatte.
Er rührte sich nicht,
bis eine schwarze Fliege surrend gegen ihn geflogen kam und sich auf der
Kiste niederließ, dicht neben ihm. Er bog die Hand, das schwarze
Tier zu fangen, aber das summte ein Stück weiter, zum Kistenrand.
Der Major rückte nach, nun auf allen Vieren, die Ordenskreuze hingen
schräg nach vorn, und mit raschem Zugriff hatte er die Fliege, in
seiner hohlen Hand saß sie gefangen, brummte zornig, stürmte,
er fühlte es kitzelnd, gegen seine Handfläche, versuchte in die
Täler zu entkommen, die seine nebeneinanderliegenden Finger bildeten,
stieß heftig in dem schwarzen Turm nach oben.
Der Major saß wieder
auf der Kiste, neben ihm lag die Kerze, er hielt die Faust vors Ohr und
horchte auf das Rütteln und Rasseln seines Gefangenen, das immer stärker
anschwoll.
Und plötzlich verstummte,
als er zudrückte.
Er blieb auf der Kiste
sitzen den Rest seines Lebens, und dieser Rest war ja nur mehr sehr kurz,
und er stand in seinem Leben nur noch einmal auf, um in die Stallecke zu
gehen und sich dort davonzumachen. Vorher holte er noch Streichhölzer
aus der Hosentasche und entzündete die Fronleichnamskerze noch einmal.
Er ließ vom weißen Wachs auf die Kiste tröpfeln, drückte
das Kerzenende fest in das allmählich verhärtende Flüssige,
so brauchte er keinen Halter, die Kerze stand aufrecht, und die kleine
Flamme brannte ruhig und schön und leuchtete ihm.
Sie brannte ruhig und
schön noch, als sie ihn hängen fanden, das Kinn auf die Brust
gedrückt, eigensinniges Kinn.
Die Wirtin schrie, als
sie ihn so sah, die Magd ging nach rückwärts hinaus, ohne einen
Blick von dem Toten zu wenden, der Knecht schnitt ihn vom Strick, und die
Kerze auszulöschen vergaß man.
Niemand sah, wie dann der Brand
entstand, aber es ist wohl kein Zweifel daran erlaubt, daß die sterbende
Kerze es war, die vorm Verlöschen das Feuer weitergab. Das mag gequalmt
und gewirbelt haben im engen Stall, die Schwaden stiegen und fielen und
drängten und schoben sich, und durch das kleine Stallfenster muß
der schwarze Rauch gefahren sein, dick und fett und branstig riechend und
in wütenden Stößen. Und es muß schön gewesen
sein, wie durch die Rauchwolken die gelben Flammen unruhig zuckten, wie
das aufgeschüttete Heu in der Ecke prasselnd und funkenwerfend sich
aufbäumte, wie das Holz der Balken und der Futterkrippen glühend
sich wand.
Aber niemand sah etwas,
niemand roch etwas, niemand hörte etwas, weil alles im Haus um den
toten Major versammelt war.
Als endlich der Ruf »Feuer!«
scholl und man vom Toten weg aufgestört in den Hof lief, saßen
die Flammen schon züngelnd am First, und aus den Dachfenstern schlug
das Feuer mit zornigen Armen. Der Stall brannte nieder, und die Feuerwehr
konnte nur noch erreichen, daß der Brand nicht auf die Nachbargebäude
übergriff.
Es war ihr aber nicht
möglich, und sie versuchte es auch gar nicht, zu verhindern, daß
die Hitze, die von dem Feuer ausstrahlte, die Blätter des Kastanienbaums
versengte, auf der Seite wenigstens, die dem Stall zugekehrt war. So war
es ein furchtbarer Anblick, den der Baum bot, dessen Krone zur einen Hälfte
üppig und grün und in Büscheln wuchernd prahlte, strotzend
und in Saft, während zur andern Hälfte die Blätter schwarz
verkohlt und von der Glut schrecklich und schmerzlich gekrümmt an
den verrußten Zweigen sich noch mühsam hielten.
Drucknachweise und Anlagen:
S.137 Der Major
Zuerst erschienen mit zum Teil erheblichen Abweichungen u.d.T Der
Majorswirt in: die neue linie, 1, 1929, H.1, S.22-25 [September] und
H.2, S.38-39 [Oktober] (mit Illustrationen von Erik Richter). [E] -Den
zuvor in der Vossischen Zeitung erschienenen autobiographischen Text Über
eine bayerische Wirtsstube (Vossische Zeitung, Nr.114, 16.5.1928) [D1]
integrierte B. in etwas veränderter Form in die Novelle. - Eine teilweise
gekürzte, teilweise erweiterte Fassung erschien in: Die Einkehr
(= Unterhaltungsbeilage der Münchner Neuesten Nachrichten), Nr.28,
10.7.1932, S.109. [D2]
Nach S.145, Z.14; S.156, Z.15; S.161, Z.36 folgt in der Druckvorlage
jeweils ein Absatz mit Leerzeilen.
S.137, Z.31: Eine große, gelbe Sandgrube tat sich auf. E: Hinter
diesem Dorf jetzt war eine große, gelbe Sandgrube.
S.138, Z. 6f: Es war eine Welt für sich, die gelbe Sandgrube,
E: Nur diese gelbe Sandgrube war jetzt auf der Welt, und
S.138, Z.35: da lag ein großes Dorf E: da lag das Jenseitsdorf.
Es war ein großes Dorf
S.140, Z.1f.: Der Wirtin Urgroßvater war E: Wie die Wirtin oft
erzählte, war ihr Urgroßvater
S. 140, Z.3: Das Haus hatte E: Das Haus, in dem diese Wirtsstube zu
finden ist, hatte
S.140, Z. 4f.: gehört, von dem es der alte Soldat erworben hatte.
E: gehört, aber zur Zeit der Säkularisation hatte es der alte
Soldat vom Staat erworben.
S. 140, Z.33-35- Er war sorgfältig [...] Hosen E: Er war halb
städtisch, halb bäurisch gekleidet, trug lange, schwarze Hosen
S.141, Z.2f: blütenweißen Hemd. E: Hemd, einem weißen
Hemd mit festem Kragen daran.
S.142, Z. 6f.: daß er die Realschule E: daß er vier Jahre
die Realschule
S. 142, Z.21: Blicke. E: Blicke, sie bewunderte seine Verbeugungen.
,
S.142, Z.27: führte [/] E: führte. Dabei saß er wie
die Made im Speck, in Fett eingewickelt, sorgenlos, ging auf die Jagd und
war bestimmt ein schlechter Jäger.
S.143, Z.28f.: leer (...] standen. E: leer, sonst standen nebeneinander
eine Kuh, ein Zugochse und ein Pferd.
S.1466, Z.11: natürlich!« E: natürlich!« [/]
Die Wirtin war ja keine Bauernfrau. Sie hatte in ihrer Jugend ein paar
Jahre eine höhere Schule besucht und las heut noch viel, Romane, mit
Vorliebe Geschichtswerke, und trug sich halb städtisch gekleidet,
und die Demütigung, die sie vorhin im Stall hatte sehen müssen,
die ertrug sie nicht. Und sie wußte wohl, sie würde leicht geschieden
werden, und so wiederholte sie fast jubelnd und sah ihn blitzend an (ja,
sie vermochte jetzt blitzend zu schauen, und einen solchen blitzenden Blick
hatte der Major noch nie an seiner Frau gesehen und ihn ihr nicht zugetraut),
wiederholte blitzenden Auges und leicht jauchzend: »Scheiden laß
ich mich!«
S.1466, Z.20: dachte er nach. E: dachte er nach. Dieses Wort bedeutete
etwas, dieses Wort bedeutete sogar viel, und dämmernd ahnte er, was
es wohl bedeute. So machte es der Major bei dieser Begegnung mit der Magd.
S.147, Z.25: der Magd Schuld. E: der Magd Schuld. Die Magd besah das
rote Haar. Die Wirtin hat auch rotes Haar, dachte sie, das der Wirtin war
heller, blondrot, verwaschen. Es gab viele Rothaarige im Dorf. Die Wirtin
und ihre Tochter waren auch dabei. Und der Hans! sagte sie sich.
S.148, Z.33: Die Magd hatte gesagt: E: Weil oben wieder die Magd auf
den Fußboden stampfte.
S.149, Z.17: richtete sich auf E: richtete sich auf, verlor die elegante
Biegung seiner Kavalierhüften
S.150, Z.17: achtzig E: 150
S. 151, Z.8f.: sagte er sich. [/] »Was fällt dieser Frau
ein?« E: sagte er sich. [/] Er war kleinmütig. »Was fällt
dieser Frau ein?«
S.151, Z.23-25: schleimig triefend (...] besiegte es. E: schleimig
triefend von den schlappen Maullappen.
S.152, Z.27 - S.153, Z.2: Der Major zog die Uhr [...] schlüpfte
in den Mantel. Fehlt in E.
S.153, Z.5-36: wie Wache haltend [...] Koffer auf und E: wie Wache
haltend. Er summte den Gesang der Frösche mit, brummte im gleichen
Ton. (/] Den Abendzug konnte er wohl nicht mehr erreichen. Aber morgen
früh ging ja auch einer. Und eine Nacht im Freien, im Mai, er dachte
an den Krieg, die war leicht auszuhalten, hier, wo nicht geschossen wurde.
Aber klang das gleichmäßige Tönen der Frösche nicht
wie das Rumpeln eines fernen Trommelfeuers? Der Major zog den Mantel an,
setzte sich auf das Köfferchen, weil das Gras anfing feucht zu werden,
und beschloß, hier den Morgen zu `erwarten. [/] Aber, wieso sollte
er das? Eine Nacht würde er wohl noch in seinem Zimmer, im Wirtshaus
zubringen dürfen? Es war ja nur eine Stunde Wegs zurück. Bei
dem Geschrei der Frösche war ja doch an Schlaf nicht zu denken. Er
hob sein Gesicht, streckte seine Adlernase in die Richtung zum Dorf zurück,
und
S.154, Z.5-12: Im Schlafzimmer [...] nur ihn an. E: Im Schlafzimmer
saß die Wirtin unausgezogen auf der Bettkante. Der Mond, der den
Major beschien, beschien auch sie und sie sah in das Mondlicht hinaus und
dachte an den Major.
S.154, Z.18: Baumkronen. [/] Sie E: Baumkronen. [/] Er war ein Kavalier,
der Major, und war gegangen. Das hätte sie ihm nicht sagen dürfen,
was sie ihm aber doch gesagt hatte. Das mit der Magd war schlecht, sehr
schlimm, aber sie
S. 154, Z.25-32: mit mächtigen Adlerschwingen [...] das sie ihm
bot? E: mit seiner Adlernase. Wo strich er dahin? Er war stolz. f/1 Sie
stützte die mageren Ellbogen auf der Fensterbrüstung und seufzte.
[/] Es lag ihm also nicht so viel an dem warmen Nest. Er war stolz und
ging.
S.156, Z.27: das war der Major. E: das war der Major. Und das Netz,
in dem sie saßen, das war die Tat, die zwischen dem Major und der
Magd geschehen war, und das Netz war nachgiebig und grau und weich, aber
es hielt.
S. 157, Z. 12-15: Anfangs zwar[ ...] die er seinen Gästen machte
E: Zwar der Major spielte vor ihr immer noch den Stolzen. Er gockelte umher
wie je, aber mitten in der schönsten Verbeugung, in der kühnsten
Haltung
S.157, Z.18: jubelte sie. E: jubelte sie. Des warmen Nestes wegen?
Mißtraute sie.
S.157, Z.19: klagte er. E: klagte er. [/] Wenn er zum Fenster hinaussah,
in den Regen hinaus, und sagen wollte: Miserables Bauernnest, verstummte
er. War er nicht wiedergekommen? Wenn nach dem Essen der Geruch von Fleisch
und Kraut in der Stube hing, und er die Nase rümpfte, schon war die
Frage da: Warum bin ich wiedergekommen?
S.157, Z.22-26: über sie alle [...] unter solchen Umständen.
E: über seine kleine Welt, und wie im Sinnbild vollzog er bald danach
offensichtlich die vollständige Versöhnung.
S.157, Z.27-S.160, Z.7: Fehlt in E.
S. 160, Z.34: in den leeren Stall. E: in den Stall, wo Ochs und Pferd
standen und sich nach ihm umsahen.
S.161, Z.4: schwarze Fliege E: schwarze Fliege, die auf dem Bauch des
Pferdes gesessen war, von einem Schwanzhieb verscheucht
S.161, Z.2o- S.162, Z.31: Fehlt in E.
D1 ist integriert in B S. 139, Z.6 - S. 40, Z.26 mit folgenden Abweichungen:
S.140, Z.16-20: Stube [...] Neben einem Fenster D1: Stube. Das Verhältnis
der Höhe der Bänke zur Tischplattenhöhe war wundervoll.
Man bekam sofort Lust, sich zu setzen und lange sitzen zu bleiben, und
Arbeitslust bekam man. Wenn man mir ein Blatt Papier auf den blütengelbweißen
Tisch hingelegt hätte, ich hätte sicher mühelos ein schönes
Gedicht gemacht. Das bildete ich mir wenigstens ein. Auch die Verhältnisse
des Raumes sonst waren schön und einschmeichelnd. Ich war nur eine
halbe Stunde dort, ich werde nächstens, obwohl der Ort abgelegen ist
und schwer zu erreichen, wieder hingehen. Ich kann nicht sagen, woher der
Wohllaut des Raumes kam, aber ich empfand ihn sofort süß und
beruhigend beim Eintritt. [/] Es gäbe noch mehr zu rühmen an
der Stube. Die Fenster sitzen tief in den dicken Mauern, so daß die
Fensterbretter einen halben Meter breit sind, da können Katzen gut
darauf schlafen. Ein schwarzer Dackel war da, fett, schwer schnaufend,
ich schätzte sein Alter auf zehn Jahre, aber die Wirtin, die Frau
Majorin - er war nicht da, der Herr Major, war auf der Jagd-, sagte, er
sei erst vier Jahre alt, aber er habe wenig Bewegung und gutes Fressen,
und das bekomme ihm so wohl, oder so schlecht. [/] Über meinem Platz
am Tischende beim Fenster
S.140, Z.26: Der Schluß in D1 lautet abweichend: [...] aus seiner
früheren Zeit. Die Wirtin wußte viel von der Chronik des Hauses,
erzählte manches, brachte ein altes Stammbuch, trotzdem hatte die
Stube nichts Museumshaftes, dazu war sie ja zu lebendig, war ja im täglichen
Gebrauch, das spürt man doch. [/] Es war in der Osterzeit, und ich
saß kaum, da brachte mir die Wirtin, mit der ich noch gar nicht gesprochen
hatte und von deren militärischer Würde ich noch nichts wußte,
auf einem irdenen Teller gefärbte Eier, als Geschenk, wie sie ausdrücklich
und ohne Ziererei sagte. Die geschenkten Eier-wo geschieht einem das noch?-schmeckten
gut, der Wein funkelte in einem altertümlichen, dicken Glas. Eine
Magd ging durchs Zimmer, in dunkler Kleidung, Mieder, Wespentaille, es
war wunderschön.
S. 161, Z.2o-36: Der Schluß von D2 lautet: Auf dieser Kiste blieb
er den Rest seines Lebens sitzen, und dieser Rest war ja sehr kurz, und
er stand in seinem Leben nur noch einmal auf, um in die Stallecke zu gehen
und sich dort davon zu machen, denn soviel Offizier war er doch, so viel
Mut hatte er doch, um nicht mehr leben zu mögen, nachdem er so elend
besiegt worden war. Sie fanden ihn hängen, in Uniform, den Säbel
umgeschnallt, das Kinn auf die Brust gedrückt, eigensinniges Kinn,
der Schnurrbart wehte. [/] Die Wirtin schrie, als sie ihn so sah, die Magd
ging nach rückwärts hinaus, ohne einen Blick von dem Toten zu
wenden, der Knecht schnitt ihn vom Strick. [/] Das Pferd wieherte, die
Kuh schlug mit dem Schwanz nach den Fliegen und auf der Futterkiste die
Mütze blitzte herrisch.
Ein Handexemplar B.s [D3], das dieser (wahrscheinlich Mitte bis Ende
der dreißiger Jahre) für Lesungen benutzte (Privatbesitz), weist
folgenden handschriftlichen Zusatz auf -
S.138, Z.32: Himmel. D3: Himmel, - so lebt sich das Leben, und es ist
nicht das schlechteste.
Für den Text der Gesamtausgabe (E1, S. 179-207) hat B. folgende
Kürzungen und Korrekturen vorgenommen:
S.141, Z.23-25: Es war etwas Fahriges [...] Armbewegungen. Fehlt in
E 1. S.141, Z.30: strich seinen Schnurrbart. E 1: sagte:
S.141, Z.31: darum. E 1: darum. Ich bin kein Bayer. S. 141, Z.32f:
Er warf [...] hin und her. Fehlt in E1.
S. 151, Z.2: kampfesmutig Fehlt in E 1.
S.16o, Z.8-11: Drei Tage später [...] angesehen hatte. E 1: Und
Herbst und Winter kamen, und wieder Mai und Juni. Der Major beachtete es
kaum, immer gelber wurde sein Gesicht, immer mehr vernachlässigte
er sich, so sehr, daß die Wirtin ihn mahnen mußte. Das machte
wenig Eindruck auf ihn, er trank nur desto mehr vom roten Wein. Heuer ging
er dann zum erstenmal mit der Fronleichnamsprozession. Er hatte sich so
schön dafür gemacht wie lange nicht.
S. 162, Z. 13-15: Fehlt in E 1.
Den autobiographischen Hintergrund beschrieb B. in einem Brief an Wetzlar
vom 21.August 1951:
Wenn du mein treues Eheweib hast [...], so steht darin eine Erzählung
Der Major, und die Kulisse ist Altomünster, und das Urbild dieses
Majors sah ich leibhaftig in Altomünster. Die beschriebene Wirtsstube
gibts dort auch, aber es [ist] nicht das Bräustüberl [...].
Den Anstoß, nach Altomünster zu fahren, hatte B. offensichtlich
von Schilderungen Ludwig Thomas erhalten, der von dem Ort schwärmte
»als dem unberührtesten Fleck Altbayerns«, so daß
B., wie es in jenem Brief an Wetzlar weiter heißt, »einmal
hin mußte«: »Jahrelang, ehe ich dann hinkam, schwebte
der Ort magisch vor mir!«