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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs
Band 3-2
Seite 186
Kommentar Seite
480
Aus: »Das treue Eheweib«
Die Tischdecke
Es war im
Mai 1917, Mitte Mai 1917, wie Männer und Frauen, die damals schon
erwachsen waren, sich zu erinnern wissen, war zu dieser Zeit Krieg, war
immer noch, immer noch Krieg im alten Europa, wie er es auch rund drei
Jahre früher gewesen war und anderthalb Jahre später immer noch
sein sollte, immer noch, immer noch. Die damals draußen waren an
der Front, unverbesserliche Schönseher, glaubten natürlich nicht
daran, damals im Mai 1917 nicht daran, daß der Krieg auch achtzehn
Monate später immer noch, immer noch sein würde, aber er dauerte
so lange, wissen wir heut, er dauerte noch so lange.
Wir hatten damals schon
einiges gelernt im Kriegshandwerk, in den fast drei Jahren, die hinter
uns lagen, und sollten noch einiges dazulernen, vier Jahre sind eine lange
Lehrzeit, jeder Schneider, jeder Schuster lernt sein Gewerbe nur drei Jahre,
dann kann ers: in über vier Jahren lernten wir also allerhand, wurden
recht tüchtig, bei Gott, ungewöhnlich tüchtig, und auch
damals, im Mal 1917, waren wir keineswegs mehr Lehrlinge in unserm Fach,
Gesellen schon zum mindesten, wenn auch vielleicht noch nicht Meister.
Wir lagen vor Arras damals,
lagen, das sagt man so, das ist so eine Redensart, ja, des Nachts lagen
wir wohl auch einmal ein paar Stunden, auf dicken, harten Bohlen, aber
mehr als fünf, sechs Stunden waren wir nicht ausgestreckt, und der
Tag hat der Stunden vierundzwanzig, und in den übrigen achtzehn hatten
wir zu tun, Posten zu stehen zum Beispiel, oder zu schanzen, oder Essen
zu holen, oder Tote zurückzutragen. Es war ja eine unruhige Gegend,
damals vor Arras, nicht recht geeignet sich auszuschlafen, wenn man nicht
die Toten zu den Schlafenden rechnet, und die schliefen ja wohl sehr tief
und sehr gut.
Es gab ein Wort damals,
ein Wunderwort, ein Zauberwort, wenn das erklang, dann lächelten einige,
die vorn waren, und einige, die hinten waren, die kriegten ernste Gesichter,
das wird wohl auf beiden Seiten der Front so gewesen sein, hüben und
drüben. Das Wort hieß »Ablösung!«, und wie
es auf französisch und englisch und russisch und italienisch und portugiesisch
und serbisch und rumänisch und ungarisch und türkisch hieß,
das weiß ich nicht. Aber wenn das Wort vorn fiel, in irgendeiner
Sprache, so bedeutete es, wir kommen zurück, in Quartiere, vielleicht
in Betten sogar, und man kann sich die Schuhe putzen und sich das Kinn
glatt schaben. Und wenn das Wort hinten fiel, so bedeutete es: Jetzt gibts
bald wieder Stoppelbärte und schmutzige Stiefel, und das Wort erklang
täglich, täglich wurden ja hunderttausend Männer an beiden
Fronten ausgetauscht, und als nun damals, vor Arras, das Wort »Ablösung!«
erklang, waren wir auch recht froh, begreiflicherweise, denn wir waren
vorn im Graben, und wußten zudem, so viele gingen nicht zurück,
als fünf Tage vorher nach vorn gegangen waren, so war das nun einmal,
vor Arras und auch anderswo.
Das Wort »Ablösung«
kam also, es kam zu uns, auf einen Zettel hingeschrieben, mit Bleistift
hingeschrieben, kam zu mir, zuerst zu mir, in meinen Kompagnieführerunterstand,
und ich ließ es rasch weitersagen. Es kam die Nacht dann, mit Sternen
am Himmel und dem Mond am Himmel, aber das war nicht das einzige Leuchtende
am Himmel, da waren noch Leuchtkugeln, die übertrafen an Glanz weitaus
den Mond und die Sterne und übertrumpften schimmernd auch die zuckenden
Lichter, welche die Front entlang flammten, Mündungsfeuer war das,
und diese kleinen zuckenden Lichter hatten allerhand Lärm im Gefolge,
denn nie hat man gehört, daß Granaten lautlos eingeschlagen
hätten, es wären denn Blindgänger gewesen, die gabs zwar
häufig, aber doch nicht häufig genug, für unseren Geschmack
wenigstens und selbst sie polterten ein wenig.
In einer Mainacht also
gingen wir zurück, nachdem wir unsere Plätze abgetreten hatten
an glattrasierte Leute, deren Stiefel aber schon nicht mehr sauber waren,
der zweistündige Vormarsch hatte ihnen rasch die Lust ausgetrieben,
den Dreckpfützen auszuweichen, und wir hatten noch weniger Lust dazu,
unsere Stiefel waren ja sowieso noch dreckig; so gingen wir zurück
in dieser Mainacht, und weil wir die Front mit ihrem Glanz im Rücken
hatten, so war bald der Mond das glänzendste Gestirn am Himmel hoch
über dem Hinterland, und die Sterne glänzten freundlicher, fanden
wir, als selbst die schönen, schwebenden, an Seiden-Säcken schwebenden
französischen Leuchtkugeln.
Hinten erwartete uns ein
großer Schuppen, mit Holzpritschen, und zuerst würden wir nun
einmal schlafen, und wenn wir erwachten, dann würden wir uns rasieren
oder uns rasieren lassen und uns die Stiefel putzen und würden wissen
vor allem, daß wir fünf lange ruhige Tage vor uns hatten.
Ich schlief auch in dem
großen Schuppen, aber meine Pritsche war durch eine Zeltbahn abgetrennt
von den andern, ich schlief so tief und so fest wie meine unrasierten Männer
alle, aber während sie nicht geweckt wurden, man ließ sie schlafen,
so lang sie wollten, bis tief in den Tag hinein, mich weckte man, es war
noch Nacht, als man mich grausam weckte, ich sah auf die Uhr, ich hatte
noch keine zwei Stunden geschlafen, mich weckte man und gab mir einen Zettel,
auf dem stand zu lesen schon wieder das Wort »Ablösung«,
aber das war jetzt ein böses Wort, ich war ja jetzt hinten. Da war
nun vorn in eben dem Graben, den ich vor einigen Stunden verlassen hatte,
der Führer verwundet worden, und auf dem Zettel stand, ich müsse
gleich wieder nach vorn gehen und aushilfsweise die Kompagnie übernehmen,
für die nächsten fünf Tage.
Wir hatten damals nicht
viele Offiziere im Regiment, wir lagen schon an die drei Wochen vor Arras,
da liefen jetzt schon viele von uns in der Heimat herum, mit einem Arm
in der Binde, wenns noch glimpflich abgegangen war - ja, und da stand also
nun der Bote mit dem Zettel von der Befehlsstelle, die von vorn durch den
Draht von der Verwundung erfahren hatte, und da schlüpfte ich also
wieder in meine dreckigen Stiefel und strich mir übers unrasierte
Kinn, daß es raschelte, und weckte meinen Burschen, und eine Viertelstunde
später waren wir zwei wieder auf dem Weg nach vorn.
Es war immer noch Nacht,
aber der Mond stand nun schon tief, es ging schon gegen Morgen, vorn war
es ruhig, wie meistens um diese Stunden, lautlos stiegen die Leuchtkugeln.
Als es grau dämmerte, war ich wieder im Graben, es war ein niedriger
Graben, so viel konnten wir nicht ausbessern in der Nacht, als uns am Tag
wieder zusammengeschossen wurde. Ich ging in meinen Unterstand, der war
aber gar kein richtiger Unterstand, kein richtiger in die Erde getriebener
Stollen, es war ein kümmerliches Erdloch nur mit einer Balkendecke,
vor dem Eingang hing eine Zeltbahn. Ich setzte mich vor das kleine Tischchen
in der Ecke, im Mantel, ohne abzuschnallen, den schweren Stahlhelm auf
dem Kopf, und schickte nach den Zugführern, um Dienstliches mit ihnen
zu besprechen.
Ich war nicht recht heiter,
versteht sich, Krieg führen, gut, das mußte sein, meinetwegen,
aber auch Ordnung mußte sein, Gerechtigkeit mußte sein, jetzt
hätten mir fünf Tage Ruhe gebührt, die hatte man mir genommen,
abscheulich gestohlen, so war ich nicht recht heiter, ich war sogar wütend,
und aus Wut und Trotz machte ich es mir nicht bequem, nahm den drückenden
Helm nicht ab; blieb so, wie ich war, mürrisch sitzen und wartete
auf die Zugführer.
Eben jetzt fiel schwaches
Granatfeuer auf den Graben, das war nicht schlimm, es mußten kleine
Dinger sein, die nahmen wir schon längst nicht mehr so ernst. Grad
hatte es neben meiner Erdhöhle eingeschlagen mit einem dumpfen, hohlen
Ton. Ich hob die Zeltbahn hoch, im grauen Morgenlicht sah ich aus dem flachen
Loch, das die Granate gegraben hatte, bläulichen Rauch wirbeln, da
roch es auch schon nach Äpfeln, es war also Gas, die schossen also
mit Gasgranaten, wie schon manchesmal. Ich ging in den Graben hinaus, eben
kam ein Feldwebel, hatte die Maske schon aus der Büchse genommen und
trug sie in der Hand, ich holte die meine auch aus dem Blechbehälter,
setzte sie aber noch nicht auf, es war noch nicht nötig. Bald waren
die zwei anderen Zugführer auch da, ich beredete, was zu bereden war,
um das bißchen Gas kümmerten wir uns wenig. Sie sahen lustig
aus, die kleinen, blauwirbelnden Rauchfahnen überall, vor und hinter
dem Graben, aber am Schluß unserer Unterhaltung hatten wir doch alle
vier die Masken vor dem Gesicht und sprachen in dumpfem Ton, wie Verschwörer.
Dann ebbte das Feuer ab,
die Zugführer gingen wieder zu ihren Abschnitten, ich kroch in mein
Erdloch, wo mein Bursche auf dem Hartspiritus gerade Kaffee kochte für
mich, ein bißchen nach Äpfeln roch es noch, aber der Kaffee
roch stärker. Dann deckte er den Tisch, und als Tischdecke nahm er
eine Zeitung, die er mit Reißnägeln befestigte, damit sie nicht
verrutschte- Ich war schon immer ein ordentlicher Mensch, gewöhnte
mir das auch im Schützengraben und in Unterständen nicht ab,
hatte diese Art des Tischdeckens meinem Burschen beigebracht, und so war
an der Somme und in der Champagne, in Flandern und im Artois und auf den
Cötes Lorraines mein Tisch mit Zeitungen gedeckt, denn richtige Tischtücher
erlaubten wir uns nur hinten im Ruhequartier und in Unterständen an
ganz und gar ruhigen Frontabschnitten, und von einem solchen konnte hier
nicht die Rede sein.
Mein Johann brachte mir
also den heißen Kaffee im Feldbecher, ich saß und trank in
kleinen Schlucken, und las in der aufgespannten Zeitung. Es war eine Nummer
einer großen, vielgelesenen, hochangesehenen süddeutschen Zeitung,
ich erkannte sie sofort am Satzbild, wir waren eifrige Zeitungsleser damals,
und wie ich den Blechbecher gerade wieder am Mund hatte und unter dem Stahlhelm
hervor, den ich übellaunig immer noch auf dem Kopf sitzen hatte, die
schwarzen Letternkolonnen überspähte, da traute ich, wie man
so sagt, meinen Augen nicht, ich schüttelte den Kopf und schloß
die Augen und öffnete sie wieder, aber es blieb dabei, da unterm Strich
stand mein Name, stand mein Name Georg Britting unter einem Gedicht - und
ich hatte doch noch nie ein Wort und eine Zeile an das Blatt geschickt
gehabt! Wie hätte ich mich unterstanden, das zu tun! Ich hatte da
allerhand glänzende Namen in dem Blatt gefunden, berühmte Dichter
waren dort viel zu Gast, deren Namen ich mit scheuer Ehrfurcht las, wie
hätte ich es da wagen können mit den Versen, die ich ab und zu
schrieb?
Aus der »Liller
Kriegszeitung«, an die ich mich getraut hatte mit meinen Versuchen,
mit Erfolg getraut, hatte das große und vornehme Blatt ein Kriegsgedicht
von mir übernommen, aus eigenem Antrieb, mit einer schmeichelhaften
Vorbemerkung sogar! Nun, das tat mir gut, die Hand, mit der ich den Feldbecher
absetzte, zitterte sogar ein wenig, und vielleicht nicht bloß, weil
meine Eitelkeit so unerwartet gestreichelt worden war.
Ich nahm den Stahlhelm
ab, und war gar nicht mehr so übellaunig, mit dem Taschenmesser löste
ich vorsichtig die Reißnägel los, nahm das kostbare Blatt an
mich, das von meinem Vorgänger im Unterstand liegengelassen worden
war.
Nun hätte ich meinen
Burschen tadeln sollen, weil er den kostbaren Textteil, der sorgfältig
gelesen werden wollte, als Tischdecke benützt hatte, und nicht den
Anzeigenteil, wie ihm oft befohlen worden war. Ich tat es aber nicht, so
wenig folgerichtig ist der Mensch, wenn es ihm gerade paßt. Mein
Bursche, mein Johann, er zog zwei Jahre mit mir von Graben zu Graben, wir
sahen nicht viel in diesen zwei Jahren, Grabenwände, Unterstände,
aber wir lernten manches Nützliche in diesen zwei Jahren, auch in
tiefer Nacht, zum Beispiel, englische Flieger von deutschen zu unterscheiden,
stets genau zu wissen, wann wieder Vollmond zu sein hatte, gute Kartoffelpuffer
zu braten, aber wie man dem Tod entging, das lernte er nicht, das haben
viele nicht gelernt, das soll kein Vorwurf gegen ihn sein, er war sehr
anstellig sonst.
Das war vor Arras, aber
ewig blieben wir dort nicht, die Front war groß, man brauchte uns
auch anderswo, und da geschah mir wieder so eine sonderbare Sache mit meiner
Zeitungstischdecke. Es war in der Nähe von Comines, ich lag mit der
Kompagnie in der zweiten Linie, ich hatte einen hübschen viereckigen
Betonklotz für mich, es war im Sommer, heiße Sommertage habe
ich in der Erinnerung, im Betonklotz war es kellerkühl. So saß
ich den lieben langen Tag vor dem Klotz auf einer Bank, die Betonmauer
war heiß wie ein Ofenblech, die flandrische Ebene streckte sich baumlos,
strauchlos, rechts von mir flimmerte ein grauer Trümmerhaufen, das
war einmal eine Stadt gewesen: Comines. Als ich 1914 dort war, war es noch
sauber instand, alle Einwohner gingen ihren Geschäften nach, jetzt
war es ein Trümmerhaufen, wie gesagt, und die Engländer schossen
noch immer hinein, aber zu unserer zweiten Stellung her schossen sie Gott
sei Dank gar nicht.
Früher einmal hatten
sie schon auch hergeschossen, denn gerade vorm Eingang zu meinem Klotz
war ein großer Granattrichter, schon alt, schon ein halbes Jahr alt,
das Alter von Granattrichtern zu schätzen hatten wir gelernt, und
der Trichter war ganz mit Wasser gefüllt. Das weiß man ja, wenn
man in Flandern mit dem Absatz in der Erde herumbohrt, schon kommt auch
Wasser, drum bauten wir Betonklötze, weil Unterstände alle ersoffen
wären, und hie und da ersoff selbst ein Betonklotz.
Der Trichter vor meinem
Klotz also war voll Wasser, und mancher Meldegänger ist hineingefallen
in der Nacht, denn ein Warnungslicht aufzustellen verbot sich aus mancherlei
Gründen, die Engländer waren ja keineswegs blind, hatten gute
Augen sogar.
In dem Trichter hatten
Wasserratten einen angenehmen Aufenthalt gefunden und tauchten langschwänzig
darin herum. Es wurden ihrer nachgerade zu viele, und nachts suchten sie
auch unsere Klötze auf, aßen gern Kommißbrot und Speck,
und auch Marmelade verschmähten sie nicht, und manchmal knabberten
sie auch einen Schlafenden an, das war nicht beliebt.
So ging ich an diesem
heißen Augustnachmittag ein bißchen auf die Jagd, saß
bequem auf meiner Bank und schoß mit meiner Armeepistole auf die
Geschwänzten und traf auch den einen oder anderen, aber längst
nicht alle. So war es, blauer Himmel über mir, die heiße Wand
im Rücken, Comines stäubte grau und dunstig in der Ferne, und
der Wasserspiegel des Trichters färbte sich ein bißchen hellrot
vom Rattenblut.
Da schrie mein Johann
aus dem Klotz heraus, daß der Kaffee fertig sei, ich sicherte die
Pistole und trat in den Klotz, wo der Tisch gedeckt war, und der Feldbecher
stand auf dem Tisch, und auf dem Teller lagen ein paar Marmeladebrote.
Nun muß ich dazwischen
hinein sagen, daß wir bis vor einem Vierteljahr einen Oberarzt beim
Bataillon gehabt hatten, den Oberarzt Doktor Speel, einen wunderbaren Burschen,
der zur Laute das Lied von der schönen Lilofee singen konnte. Der
war versetzt worden zum Alpenkorps, und wir hatten noch gestern von ihm
gesprochen, daß wir gar nichts von ihm hörten, nicht einen Kartengruß.
Niemand sang uns mehr früh um drei Uhr, hinten in der Ruhe, in der
Bretterbude, die wir Kasino hießen, niemand sang uns mehr, wenn wir
betrunken waren, und im Kasino waren wir häufig betrunken, niemand
rührte uns da mehr mit dem Lied von der schönen, armen Lilofee.
Andere konnten andere Lieder, auch schöne Lieder, auch gute Lieder,
aber der Mann mit dem Lilofeelied ging uns schon sehr ab, der gute Doktor
Speel.
Da saß ich nun also
in meinem Klotz, die Kerze brannte, der Tisch war mit einer Zeitung bespannt,
wie immer, mit dem Anzeigenteil befehlsgemäß. Es waren viele
Todesanzeigen da zu sehen, man erinnert sich, wie der Anzeigenteil einer
Zeitung damals aussah, ein dickschwarzumrändertes Viereck neben dem
anderen, rechts oben in jedem schwarzen Viereck ein dickes, schwarzes Eisernes
Kreuz, und so ein schwarzumrändertes Viereck mit einem dicken, schwarzen
Eisernen Kreuz rechts oben meldete also, daß der Pionier Karl Frerking
gefallen sei.
An den Namen Karl Frerking
erinnere ich mich noch gut, noch sehr gut, ich sehe noch das galgenhafte,
fette F der Schrift, Frerking, ich kannte ihn nicht, einer der Hunderttausende,
und ich kannte kaum hundert um mich herum, Frerking, wie sollte ich ihn
kennen, den Pionier?
Es sprang dann mein Blick
zum schwarzumränderten Viereck nebenan, zu dem Viereck neben dem Frerkings,
und schattenhaft dämmernd war da ein Name da, ich las ihn nicht, sah
schnell wieder weg, nein, nein, das wollte ich nicht lesen, das nicht,
da sah ich lieber nicht mehr hin, feige wollte ich nicht mehr hinsehen,
um etwas zu erfahren, was ich nun doch schon wußte. Ein paar Minuten
saß ich so, aber es nützte ja doch nichts, das mußte gelesen
sein, und so las ich in dem Viereck neben dem Viereck des Pioniers Frerking
- galgenhafter, fetter Buchstabe F! -, daß der Inhaber des Eisernen
Kreuzes zweiter und erster Klasse, des bayerischen Militärverdienstordens
vierter Klasse und des mecklenburgischen Militärverdienstkreuzes zweiter
Klasse, der Oberarzt Doktor Speel, im serbischen Feldzug den Heldentod
gefunden hatte.
Ja, das war nun wohl eben
so gar nichts Besonderes, er war nur eben auch gefallen, wie viele vor
ihm, wie der Pionier Frerking, keines besonderen Aufhebens wert, und es
war eigentlich widersinnig und fast komisch, daß mir der so gemeldete
Tod erstaunlich nahe ging, denn auch der Zufall, der mir das Blatt mit
der Todesmeldung als Tischdecke hergeweht hatte, war nicht so außergewöhnlich
merkwürdig, es gab seltsamere Zufälle, und fast muß ich
mich entschuldigen, daß ich nun darüber so viele Worte verliere.
Aber, Entschuldigung hin,
Entschuldigung her, es war so, der schwarzumränderte Name rührte
mich tiefer an, als es das gelbe Totengesicht manches Kameraden tat, das
ich, wenn es auf einer braunen Zeltbahn zwischen zwei Stangen an mir vorbeigetragen
wurde, mit stiller Sachlichkeit so oft betrachtet hatte.
Und daß der Doktor
Speel das Lied von der schönen Lilofee so oft gesungen hatte, nun,
das war doch auch nichts so Auszeichnendes, daß ich das Recht gehabt
hätte, dem toten Sänger mehr als üblich und billig war,
nachzutrauern.
Ich will auch nicht sagen,
daß mir der Kaffee nun gar nicht geschmeckt hätte, ich trank
den Becher leer, und auch eins der Marmeladebrote aß ich, und in
ein zweites biß ich noch hinein, unter der Marmelade war Butter,
und die Marmelade saß dünn darauf, und die weiße Butter
schimmerte hindurch, da sah der Belag hellrot aus, wie das Rattenblut draußen
im Trichter, und dieses zweite Brot legte ich weg.
Drucknachweise und Anmerkungen:
S.186 Die Tischdecke
Der erste Teil der Geschichte (S.186, Z.21 - S.192, Z.9) erschien u.d.T.
Ein
Zeitungsblatt erstmals in: Vossische Zeitung, Nr.235, 8.1O.193o. Der
Text weist nur geringfügige Abweichungen auf, allerdings mehrere Auslassungen.
Er beginnt: Wir lagen vor Arras damals, im Mai 1917, lagen, das sagt man
so [...]
Der zweite Teil erschien u.d.T. In der zweiten Linie erstmals
in: Stadtanzeiger für Köln und Umgebung, Nr.292, 13.6.1931 (S.192,
Z.13 bis Schluß, mit dem Beginn: »In der Nähe von Comines
lag ich mit meiner Kompanie«. Dieser Text stimmt bis auf eine Auslassung
(S.192, Z.31-35: Das weiß man [...] Betonklotz.) mit der Buchfassung
überein. Der Stadtanzeiger brachte B.s Geschichte zusammen mit Erzählungen
von Alfred Kantorowicz (Die längste Stunde) und Adolf Obee (Fünf
Uhr dreißig) und mit der allgemeinen Einleitung: »Jede dieser
drei Erzählungen junger Schriftsteller hat durch Fabel und Vorgang
ihren eigenen Reiz; sie wollen aber auch zusammengenommen sein als Spiegel
einer Zeit, deren Inhalt viel zu schnell vergessen ist.«
S.191, Z.10: mein Name: Es kann sich nur um B.s Gedicht Ritt im
Regen aus der Liller Kriegszeitung handeln, nachgedruckt in der Frankfurter
Zeitung, Nr.165, 17.6.1917 (vgl. Bd.I).
Mit dem »Lied von der schönen Lilofee« (S.193, Z.29)
ist das Lied »Es freit ein wilder Wassermann« (»in der
Burg wohl über dem See. Des Königs Tochter muß er hau,
die schöne junge Lilofee.«) gemeint, das seit dem Anfang des
18. Jahrhunderts überliefert ist und durch die Wandervogelbewegung
neu belebt wurde (vgl. auch Manfred Hausmanns Laienspiel Lilofee. Ein Spiel
von Liebe, Berlin 1929). Die Passage über »das galgenhafte,
fette F« (S.194, Z.i7) gehört in den Kontext der Brittingschen
›Buchstabenphantasien‹ wie Das stelzbeinige E von 1926 (vgl. Bd.I).