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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs
Band 3-2
Seite 265
Kommentar Seite
489
Aus: »Der bekränzte
Weiher«
Die Schwestern
Dem Herrn
von Mockern, der im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ein Gut in Pommern
bewirtschaftete, schenkte seine Frau, sie war einen Kopf kleiner als er,
und ihr Gewicht mochte nicht viel mehr als die Hälfte von dem betragen,
dessen er sich rühmen durfte, diese zarte Frau also schenkte ihm in
den Jahren ihrer Ehe fünf Kinder, die alle an Stattlichkeit nach dem
Vater gerieten: Knaben waren es, immer nur und immer wieder Knaben, daß
er sich prahlerisch groß tat damit und sich's laut verschwor, bei
manchem Jagdessen und ländlichem Mahl im Kreis der Freunde, daß
er es auf sieben Knaben noch bringen werde, sieben müßten es
sein, die heilige Zahl. Aber dann trat ein Stillstand ein im Kindersegen,
weitere Nachkommenschaft blieb aus, vorläufig wenigstens, und es fehlte
ja auch so nicht an Lärm im Hause, widerhallend in Zimmern und auf
Fluren, fanden die Besucher, die fünf Söhne besorgten es zur
Genüge. Nach manchem Jahr erst wieder bedurfte man der Berufskünste
der weisen Frau aus der benachbarten Kleinstadt, die schon die Geburt der
fünf Söhne betreut hatte, zweimal bedurfte man ihrer noch, aber
nun war es jedesmal ein Mädchen, dem sie ans Licht half, zwei Töchter
erhielt der Herrn von Mockern noch zu seinen fünf Söhnen hinzu,
Eva und Klementine, und sieben, die heilige Zahl, war erreicht, wenn nur
der zuerst enttäuschte Vater sich entschließen konnte, die zwei
zuletzt gekommenen schwarzen Lämmlein an Wert mit den weißen
gleich zu rechnen: was ihm anfangs schwer fiel, später aber nicht
mehr. Schwarze Lämmlein nannte er scherzhafterweise und ein wenig
gekränkt doch die beiden Mädchen, und nicht nur, weil sie die
lichte Reihe der fünf Knaben, die sich auf sieben hatte fortsetzen
sollen, unerwartet und unerwünscht abgebrochen hatten - sie beide
besaßen, während die Knaben alle das helle Haar des Vaters zeigten,
die schwarzen Augen und Haare der Mutter.
Sie wuchsen heran, zwei zartgliedrige
Geschöpfe, immer auf sich angewiesen im kindlichen Tun, denn teilzunehmen
an den lauten, kriegerischen Spielen der Brüder, die ihnen an Jahren
weit voraus waren, verschmähten sie, und sie wären wohl auch
nicht zugelassen worden, die beiden Nachgeborenen, und wenn sie es gewollt
hätten. Und als sie anfingen lange Röcke zu tragen und das schnürende
Mieder, und das Haar zum Knoten gewunden im Netz, als sie junge Damen schon
waren mit ihren siebzehn und achtzehn Jahren, da war es langsam still um
sie geworden und sie die einzigen Kinder im Haus, weil die Brüder
schon alle fortgezogen waren. Offiziere waren sie geworden, alle fünf,
und taten Dienst, zu Pferd und zu Fuß, da und dort, in kleinen Landstädten
meist, und nur für einen kurzen Besuch tauchte hie und da einer der
mächtigen Hellhaarigen auf, breitschultrig, und braungebrannt die
einst rosigen Wangen, mit langem, wehenden Schnurrbart über den Lippen,
und die schon verheiratet waren unter ihnen, die beiden ältesten,
die auch schon wieder Kinder besaßen, hatten gar einen Vollbart um
das junge Gesicht stehen.
So war er doppelt froh
der beiden Mädchen, der graugewordene Vater im söhneleeren Haus,
und freute sich verspätet, daß seine vorwitzig eitle Hoffnung
auf sieben Knaben sich nicht erfüllt hatte. Er, von dem das lästerliche
Wort von den schwarzen Lämmern stammte, hatte eine tiefe Angst davor,
daß auch sie ihn bald verlassen würden, die zwei schönen
Töchter, die ihm bis jetzt noch geblieben waren und seine Einsamkeit
teilten. Seine Frau war ihm früh gestorben, nach einer kurzen, hitzigen
Krankheit, die sie niedergebrannt hatte wie das Feuer das Steppengras,
und eine Haushälterin tat nun ihre Arbeit, mit Genauigkeit, streng
und ohne Tadel, aber wie Frost war es immer um sie, die Unermüdliche,
die sie alle ein wenig fürchteten fast, der Vater und die Töchter
und das Gesinde.
Sie hingen, die beiden
Schwestern, mit wunderlicher, wie es manchem und mancher schien, mit fast
schon übertrieben zu nennender Zärtlichkeit aneinander. Ihre
Zimmer hatten sie im ersten Stock des Hauses, am gleichen Gang nebeneinander
liegend, und sie waren bis aufs letzte gleich eingerichtet mit hellroten
Kirschbaummöbeln. Am gleichen Platz befand sich der weiße, säulenförmige
Kachelofen, stand Stuhl und Schrank hier wie dort, über dem gleichen
kleinen Schreibtisch mit den zierlich geschweiften Beinen hing an der hell
geblumten Wand der gleiche, ein wenig matte Spiegel im goldenen Rahmen,
in der gleichen Ecke jedes der Zimmer war das Bett, hinterm weißen,
lang wallenden Vorhang verborgen, ein Strauß derselben Blumen, gemeinsam
gepflückt, stand im selben bläulichen Glas auf dem Tisch in der
Mitte, den dieselbe gehäkelte Decke schmückte, die sie wechselseitig
füreinander gearbeitet hatten. Zum Fenster herein sahen die gleichen
Bäume, grünbuschig im Sommer und kahlästig im Winter, und
es war fast zu verwundern, daß wenigstens sie selber imstande waren,
ihre Zimmer voneinander zu unterscheiden.
Sie trugen auch, wie das
Zwillinge oft zu tun pflegen, die sie aber doch nicht waren, die Kleider
aus gleichem Stoff und im gleichen Schnitt, und auch das Haar hatten sie
auf die gleiche Weise zurückgekämmt über die Stirn und schön
gescheitelt, und ein großer, schwarzer Knoten saß jeder im
Nacken. Sah man sie von fern, konnte man sie verwechseln, die zierlichen,
gleichgewandeten Gestalten, aber kamen sie näher und blickte man ihnen
ins dunkelhäutige Antlitz, war das nicht mehr möglich. Eva, die
ältere, hatte die volleren Lippen, und ihr Kinn war fester und ihre
Nase derber, und Entschlossenheit, ja Starrköpfigkeit war in ihren
Zügen, während Klementine, die jüngere, das stillere Gesicht
hatte, und sie war auch die nachgiebigere der beiden und ließ sich
von der älteren gern lenken. Sie waren gar nicht so beruhigter Gemütsart,
wie es leicht den Anschein hatte, aber sie wußten sich zu beherrschen
und verbargen ihr Feuer. Auf eine seltsame Weise zeigten sie die gleichen
Neigungen, lasen die gleichen Bücher, und wenn der Vater der einen
zum Geburtstag ein Buch geschenkt hatte, wünschte sich die andere
das gleiche Buch, wenn die Reihe beschenkt zu werden an ihr war, daß
es ihn oft ärgerte. Nie sah man eine allein und ohne die andere, fast
schon lächerlich war es, und Freundinnen hatten sie nicht. Eva besaß
eine schöne, dunkle Stimme, und wenn Klementine sie am Spinett begleitete,
sang sie mit Ausdruck und Glut, und oft brach dann eine Wildheit aus ihr
heraus, die sich sonst nicht hervorwagte.
In einer Laube des großen
Gartens, hinten, im grünen Dämmern, saßen sie oft. Bank
und Tisch waren alt, das Holz vermorscht, aber es hielt noch, grob zusammengenagelt,
und sie saßen lang und schwiegen und horchten auf das Brummen von
Hummel und Biene und das feine Getön dünnflügeliger Mücken,
und draußen in der Sonne blitzte der heiße Weg. Dumpf stand
die Luft in der Laube, und das zerrissene Holz roch bitter, und wenn sie
sich rührten, krachte die Bank und schwankte. Dann stand Eva auf und
sagte: Los! und sie liefen mit wehenden Röcken, daß der Staub
flog, und im Lauf plötzlich hielt Eva inne und stand und riß
die Schwester an sich und hielt sie, die keuchte, und bog sie zurück
und sah ihr in die Augen und gab ihr einen Kuß und ließ die
Schwester wieder los dann und schämte sich und rannte davon und Klementine
hinterdrein.
Daß sie sich je
trennen würden, glaubten sie nicht. Einmal hatte einer der Brüder,
den der Auftrag, Pferde für seine Truppe zu kaufen, in die Nähe
geführt hatte, auf einige Tage sich freigemacht für einen Besuch
im Vaterhaus, und er hatte einen guten Freund sich mitgebracht, einen angenehmen
jungen Menschen von heiterer Sinnesart. Der hatte jeder der beiden Schwestern
schön getan, auf die scherzhaft übertreibende Weise, wie man
in der mutigeren Stadt, aus der er kam, das liebte. Als beflissener Ritter
benahm er sich, der ein zu Boden gefallenes Schultertuch rasch aufhob und
es der Trägerin überreichte mit Verbeugung und feurigem Blick,
der herbeisprang, schnell wie der Hirsch, den Damen in den Mantel zu helfen,
überaus artig in allem und jedem, und ganz in den Grenzen des Erlaubten,
nur höflicher, gewinnender in Wort und Tat, als die Schwestern es
von den rauheren Brüdern gewohnt waren. Und als der junge Herr bei
einem abendlichen Spaziergang im Garten, der ihn zuerst an Evas Seite eine
Weile allein ließ und später zu Klementine gesellte, als der
junge Herr da im Mondschein unter den rauschenden Bäumen, gefühlvolle
Worte zu einer jeden gesagt hatte, da fand er am andern Morgen zwei Briefe
auf seinem Tisch, von Eva einen und einen von Klementine, und die Handschriften
waren einander sehr ähnlich, und in jedem der Briefe mußte der
zu höchst Betroffene das ungefähr gleiche lesen. Jedes der Mädchen
schrieb ihm, daß er keine Hoffnungen sich machen dürfe und er
hatte sich doch gar keine gemacht - daß es nicht willens sei, sich
fester zu binden - und nichts und gar nichts hatte er von einem Band oder
Strick gesagt - und dergleichen mehr stand in jedem der Briefe geschrieben,
und der Unselige wußte nicht, wie ihm war, und ob er nicht doch in
seinen Schönredereien zu weit gegangen war gestern abend im gelben
Mond. Er war froh, daß die Abreise schon für morgen angesetzt
war, und wagte bei der gemeinsamen Mahlzeit kaum den Blick vom Teller zu
heben und ein Wort zu sprechen, und Eva und Klementine vermerkten das für
sich im Stillen und mit Befriedigung, und jede nahm es für die gewollte
Wirkung ihres Briefes.
Es war ihnen beiden gar
nicht in den Sinn gekommen, welcher Eigendünkel darin lag, daß
sie, nur weil ein junger Mann ihnen ein paar billige Freundlichkeiten gesagt
hatte, gleich annahmen, er meine es ernst mit seinen Scherzen, und gar
so ernst! Aber die Furcht davor, daß jemand ihr gemeinsames Leben
bedrohen könnte, hatte alle anderen Gefühle in ihnen zum Schweigen
gebracht. Wochen waren vergangen, da erst erzählten sich die beiden,
als das Gespräch ganz zufällig auf den Bruder und seinen Freund
gekommen war, von dem Korb, den jede, auf eigene Faust handelnd, dem vermeintlichen
Freier gegeben hatte. Es war im Herbst, und die roten Fruchtbüschel
des Vogelbeerbaums hingen tief herab und streiften kühl ihre Gesichter,
als sie, am Zaun stehend, ihre Beichte geendet hatten, und sie wurden brennend
rot wie die Baumfrucht, und rissen volle Hände davon ab, und bewarfen
sich damit, und lachten wie die Tollen, und die kalten Kugeln rieselten
ihnen übers Gesicht und Hals.
Sie waren von schwankender
Gesundheit, die beiden Mädchen, das hatte sich schon früh gezeigt.
Es war nicht herauszufinden, was ihnen fehlte, es war wohl auch nichts
Bestimmtes, es waren Anfälle einer Art von zarter Müdigkeit,
einer lieblichen Schwäche, und auch der Arzt konnte nichts Genaueres
feststellen, und hatte den bekümmerten Vater getröstet und gesagt,
das habe nichts zu bedeuten, und hatte von Blutarmut und Bleichsucht geredet,
und ein paar stärkende Mittel verschrieben, und mit den Jahren würde
sich das bessern, hatte er gesagt, aber das tat es nicht, eher das Gegenteil
war der Fall. Sie lagen oft tagelang im Bett, sie müßten sich
schonen, sagten sie, und sahen den Vater mit leisem, wissendem Lächeln
an, und sie schonten sich, und der hatte es längst aufgegeben, auf
seine Weise helfen zu wollen, mit Ratschlägen, die auf »Abhärtung«
und »Sich zusammennehmen« und »Sich nicht so gehen lassen«
und dergleichen hinausliefen, was, wie er bald einsah, für seine Söhne
das Richtige gewesen sein mochte, die Wölfe, wie er jetzt von ihnen
sprach, und nicht für seine schwarzen Lämmlein, die Töchter.
Die Zustände stellten
sich fast immer gleichzeitig bei ihnen ein, oder es war auch, daß,
wenn die eine sich am Mittag gelegt hatte, die andere am gleichen Abend
auch schon fröstelte, und das Tuch fester um die Schultern zog, und
Fliederblütentee trank, und am andern Morgen mußte auch sie
das Bett hüten. Sie lagen dann in den weißen Kissen, sorgsam
zugedeckt, und die Fenster mußten fest geschlossen sein. Die Luft
täte ihnen weh, sagten sie, sie schneide wie ein Schwert, sagten sie,
sie spürten auch den leisesten Lufthauch schmerzlich, beteuerten sie,
und wer ihr Zimmer betrat, die Magd, das Essen zu bringen, oder der Vater,
zu einem Besuch, dem riefen sie, wenn er nur ein wenig unter der geöffneten
Tür verweilte, im ängstlichen Ton zu: »Die Tür zu,
bitte!« und verkrochen sich tiefer in die Decken.
In diesen Krankheitstagen,
wenn sie so einsiedlerisch in ihren Zimmern hausten, und sich sehr vermißten,
führten sie einen lebhaften Briefwechsel miteinander, und die Magd
war der Briefbote. Sie gaben sich von ihrem Zustand Kunde, sparten nicht
mit liebevollen und versteckt doch spöttischen Ermahnungen, die vom
Arzt verordneten braunen und grünen Tropfen in den vorgeschriebenen
Zeitabständen zu schlucken, und wenn sie noch so abscheulich schmeckten,
setzten sie hinzu, je gallenbitterer, desto hilfreicher! Sie erkundigten
sich, immer mit einem halben Scherz, wie denn die verflossene Nacht gewesen
sei, schrieben wohl auch ein Gedicht ab, das ihnen, als sie es lasen, besonders
schön oder tröstend oder Furcht erregend erschienen war, und
schickten es der Schwester, daß die sich auch tröste oder sich
fürchte. Und dann kam wohl auch auf einem Zettel die Frage geflattert,
fast wie mit leisem Hohn, wann denn die Schwester wieder vom Krankenlager
sich zu erheben gedenke? Und am verabredeten Morgen schlüpften sie
dann beide aus dem Bett, liefen im langen Nachthemd zum Fenster, stießen
es auf, atmeten die frische Luft, und fühlten, daß sie nicht
mehr schneidend war und bös, sondern lau und bekömmlich, und
eine Stunde später saßen sie sich am Frühstückstisch
gegenüber, ein wenig blaß noch, und lachten sich an, die beiden
schönen Törinnen, und alles war wie zuvor.
Im Garten war ein alter
Ziehbrunnen. Seine steinerne Einfassung, die, wie sie so dalag, wie ein
Riesenmühlrad war, wie vom Himmel herabgefallen, war vom Regen ausgewaschen
und gekerbt, und da, wo der eisenbeschlagene Holzeimer aufgesetzt wurde,
war eine flache Mulde ausgeschabt worden im Laufe der Jahre. Der Brunnen
war von einem Brennesselbusch üppig grün umwuchert, und ein Holunderbaum
stand in seiner Nähe und gab ihm ein wenig Schatten, dem doch selber
kühlen. An einer rostigen eisernen Kette ging der Eimer rasch zur
Tiefe und stieg, langsam gezogen, tropfentriefend wieder hoch, und die
Kette knarrte widerwillig dazu, die faule Dienerin.
Auf dem Brunnenrand saßen
die Schwestern gern an heißen Tagen, wenn der Holunderschatten wie
ein schwarzer Teller nebenan im Gras lag, und der Stein, backofenfeurig,
gab von seinem warmen Überfluß ab an sie. Den weißen Giebel
des Gutshauses sahen sie durchs Grün her leuchten, und die gezackten
Blätter der Nesselstaude stachen, Böses wollend, vergeblich gegen
das Leder ihrer Schuhe, unschädliche Schlangenbisse. Vom Hof her sang
ein anderer Brunnen sein Kettenlied, Tauben flatterten auf, eine Vogelwolke,
die hoch stieg und kreiste und sank, die Rotfüßigen hatten sich
wieder niedergelassen, von hier aus war nicht zu sehen wo, am First der
Scheune vielleicht oder vor der Stalltür, wo sie gern landeten.
Oft auch neigten die Mädchen
ihre Gesichter über das Brunnenrund, da kniend, wo die brennende Nessel
nicht hinloderte, und sahen in die Tiefe hinab. Sie sahen die rundgemauerten
Wände hinabgehen, feucht beschlagen, mit Flecken dunkelgrünen
Mooses da und dort besetzt, und in einem Riß im Stein in halber Höhe
des Schachtes erblickten sie eine Kletterpflanze, die dort Wurzel gefaßt
hatte, ein Gewächs mit vielen runden kleinen Blättern, die wie
Münzen waren, flach übereinander gehäuft. Ein verborgener
Schatz schien dort aus dem Riß zu quellen, in stürzender Fülle,
gelb und hellgrün, und dunkel von unten herauf blitzte der schwärzliche
Spiegel des Wassers.
Und manchmal sahen sie
auch den Fisch. Da stand er, aus der Tiefe gestiegen, unbeweglich, der
geschuppte Wächter, der Herr des Brunnens. Er stand dicht unter der
Oberfläche und rührte sich nicht. Sie sahen seinen dicken Kopf,
den gewölbten Nacken und glaubten seine Augen zu erkennen, und seine
rötliche Schwanzflosse leuchtete. Scheu blickten sie hinab auf den
Einsiedler in seinem kühlen Reich, ewig stumm, der lautlose, wie die
stumme Flut, die er beherrschte. Dann redeten sie ihn an, mit sanften,
zögernden Worten, und fragten ihn, wie es da unten denn sei, auf immer
allein, im tiefen Schacht? Sie beklagten sein Schicksal und riefen ihm
leise Liebesnamen zu und bedauerten ihn, daß er nicht mit seinesgleichen
in den grünen, schnell strömenden Flüssen jagen dürfe
oder sein Leben habe im blattbesetzten Teich unter Wasserrosen und im Binsengesträuch.
So sagten sie vielerlei zu ihm, tröstend und schmeichelnd. Er hörte
es und rührte sich nicht und gab keine Antwort. Dann plötzlich
ließ er sich sinken, ganz langsam, seine Umrisse wurden undeutlich,
silbern blinkte es noch herauf, Blasen stiegen, und unbeweglich lag das
Wasser wieder.
Erhoben sie sich wieder
dann von den Knien, die Schwestern, sahen sie verwirrt um sich in dem grellen
Licht, das ihre Augen blendete. Sie sahen den Holunderbaum, der seine Äste
streckte, üppigen Laubes voll, den Brennesselbusch, schwellend im
Glanz, den blauen Himmel, hoch und wolkenlos. Der Fisch halte das Wasser
rein, hatte der Vater gesagt, er säubere es von Gewürm und schmarotzendem
Zeug, der uralte Geschuppte. Aber das tröstete sie nicht hinweg über
sein Schicksal.
Viel später zeigte
es sich dann deutlich, daß der Grund, warum der Mann damals, der
Freund des Bruders, der Schönredner, zu seiner peinlichen Überraschung
zwei Absagebriefe auf eine gar nicht erfolgte Werbung hin erhalten hatte,
nicht nur darin lag, daß die schönen schwarzen Schwestern glaubten,
nicht voneinander lassen zu können. Denn als sich rasch hintereinander
ihnen wohlgefällige Freier einstellten, da waren sie nicht mehr so
voreilig, schon Nein! zu sagen, ehe sie überhaupt noch gefragt worden
waren, demütig warteten sie diesmal, und lagen des Nachts mit offenen
Augen im Bett, voll Furcht, daß man sie nicht fragen würde,
und als es dann endlich doch geschah, da zitterten sie und sagten Ja! mit
strahlendem Gesicht.
Ihre künftigen Männer
waren Landwirte beide, und ihre Besitzungen lagen in einer Entfernung voneinander,
die ein Reisewagen in sechs Stunden bewältigen konnte. Das war nicht
sehr weit, sagten sich die Schwestern hoffnungsvoll, das würde ein
lustiges Kutschieren geben, hin und her, meinten sie, und fragten ihre
Verlobten, ob sie denn einen tüchtigen Schmied hätten, der werde
immerzu Hufeisen machen müssen, und sagten zu den lachenden Männern,
sie möchten nur im Pferdestall nicht mit dem Haber sparen, die Gäule
würden zu tun bekommen, genug und übergenug. Denn nicht nur einander
besuchen würden sie wollen, auch das Elternhaus würden sie wiedersehen
wollen, oft und oft, und dahin konnte Eva von ihrem künftigen Heim
aus in vier Stunden gelangen, und Klementine hatte es sogar noch ein wenig
näher.
Dann war der Tag der Doppelhochzeit
gekommen, und an Gästen fehlte es nicht. Die fünf Brüder
der Bräute hatten die Reise nicht gescheut, und die Verheirateten
unter ihnen hatten auch ihre Frauen mitgebracht, nur der älteste Bruder
erschien allein, obwohl er verheiratet war, aber seine Frau war guter Hoffnung
und hatte die lange Fahrt nicht wagen dürfen und ließ nur grüßen.
Und die zukünftigen Schwiegereltern der Bräute waren herbeigeeilt,
und Basen und Tanten von weit her, und es ging stürmisch zu in dem
sonst so ruhigen Haus des Herrn von Mockern.
Die Trauung in der Dorfkirche
war vorbei, und man setzte sich zum Mahl und aß und trank, und die
Reden wurden gehalten, die gehalten werden mußten, und es umarmte
und küßte sich und ließ sich umarmen und küssen,
wer es für nötig hielt. Und im Trubel der Feier, als es schon
laut wogte an der Tafel, mit Geschrei und Gläserklirren, verstanden
es die Eheleute, unbemerkt den Saal zu verlassen. An der Rückseite
des Hauses waren inzwischen schon die zwei Wagen vorgefahren, die, jeder
nach einer anderen Richtung, die Schwestern an den Ort bringen sollten,
den sie von jetzt an »zu Hause« zu nennen haben würden,
und die Abfahrt sollte ganz still und unauffällig vor sich gehen,
daß sie die allgemeine Lust nicht störe. Und die Sorge, die
sie am meisten gequält hatte die letzten Wochen, den Vater allein
zurücklassen zu müssen unter der Hut der strengen Haushälterin,
war auch von ihnen genommen worden, weil der älteste Bruder eben heut
dem Vater versprochen hatte, nun bald zu tun, was zu tun er ja immer schon
gewillt gewesen war, und der genaue Zeitpunkt dafür war nun festgesetzt
worden: den Soldatendienst nämlich aufzugeben und das elterliche Gut
zu übernehmen.
Noch einmal rasch in den
Garten gehen zu dürfen, baten die Frauen ihre Männer, gleich
kämen sie wieder zurück. In die Laube eilten sie und setzten
sich auf die morsche Bank, die schwankte wie stets. Sie gingen zum Brunnen
und schauten in die Tiefe, und der münzenblättrige Strauch quoll
wie immer hellgrün aus dem Riß, aber der Fisch war nicht zu
sehen. Schwarz und stumm blinkte das Wasser herauf und spiegelte ihre Gesichter,
bleich und undeutlich. Wir wollen hier auseinandergehen! sagte Eva und
ließ nicht ab, in den Brunnen zu schauen, und tappte nach der Schwester
Hand und faßte sie, die kalt war und zitterte. Vergiß mich
nicht, sagte sie, und bald auf Wiedersehen! Tränen stürzten aus
ihren Augen und fielen in den Brunnen, und sie waren so leicht, daß
sie sein Wasser nicht bewegten. Geh jetzt! sagte sie und küßte
der Schwester Hand, und gab die Hand dann frei, und sah immer noch in die
Tiefe, und: fahrt gleich ab! sagte sie, und sage meinem Mann, ich käme
gleich auch!
Klementine ging, der Kies
knirschte unter ihren Tritten, sie sah sich nicht um, aber Eva sah ihr
nach, die bald hinter den Bäumen verschwunden war.
Eva beugte sich wieder
über den Brunnen und weinte nicht mehr. Fisch, sagte sie, dummer Fisch,
steig herauf und laß dich sehen. Er tat es nicht. Da ging sie auch.
An der Rückseite
des Hauses stand nur mehr ein Wagen. Sie stieg ein, ihr Mann half ihr dabei
und setzte sich dann neben sie, und der Wagen fuhr ab. Als er die offne
Landstraße erreicht hatte, sah Eva von fern noch den Wagen, der die
Schwester davontrug und der eben nach links abbog. Sie hielten sich nach
rechts.
Den Vater sollten die
Töchter nicht mehr wiedersehen. Seit der Doppelhochzeit waren fünf
Jahre vergangen, und in all der vielen Zeit war es ihnen nicht geglückt,
einmal die alte Heimat aufzusuchen. Es war mit dem Reisen nicht so glatt
gegangen, wie sie sich das vorgestellt gehabt hatten, es war eine schwierige
Sache damit, hatte es sich gezeigt, und immer wieder, und oft in letzter
Stunde noch hatte sich ein Hindernis dazwischen geschoben. Sie waren krank
gewesen, die Luft hatte ihnen weh getan, oder auf dem Gut traten gerade
dann, wenn die Koffer zur Abreise schon gepackt waren, Umstände ein,
welche die Hausfrau unentbehrlich machten. Geschrieben hatten sie dem Vater
oft, zärtliche Briefe, und in jedem versichert, wie sehr sie sich
danach sehnten, ihn endlich wiederzusehen, und in jedem Brief versprochen,
nun bald zu kommen, aber gekommen waren sie nicht. Er war nun auch der
Jüngste nicht mehr, der Herr von Mockem, konnte nur auf den Stock
gestützt sich noch fortbewegen, wenn er gute Tage hatte, und an schlechten
mußte er im Rollstuhl gefahren werden, und so war es ihm verwehrt,
selbst die Töchter aufzusuchen, wie er das gerne gewollt hätte.
Und dann kam die Nachricht,
daß er gestorben war, und nicht einmal dem Toten konnten sie Abschied
nehmend ins Gesicht schauen. Eva nicht, weil sie an dem Tag, an dem ihr
Vater starb, ihrem Mann als zweites Kind einen Sohn schenkte. Und Klementine
hatte die Fahrt zu dem Dahingegangenen nicht antreten können, weil
ihre kleine Tochter, es war ihr drittes Kind, gerade schwer fieberte und
sie am Bett der Lebenden notwendiger war als am Sarg des Toten. So waren
nur die beiden Schwiegersöhne zur Beerdigung gekommen.
Immer öfter war es
nun, daß den beiden Schwestern die Luft weh tat und sie sich zu Bett
legen mußten. Die beiden Männer hatten zuerst gescherzt über
die empfindlichen Pflanzen, die sie seien, die in jedem Lüftchen frören,
und hatten sie geneckt und verspottet wegen ihrer Verzärtelung, die
Landwirtsfrauen nicht gut anstünde. Aber sie ließen die Männer
reden und sagten, davon verstünden sie nichts, und die Ärzte,
sagten sie, verstünden noch weniger, und sie weigerten sich bald,
sie auch nur zu empfangen.
Immer seltener verließen
sie das Haus und verbrachten lange Wochen, auch wenn sie nicht bettlägrig
waren, in ihren Zimmern. Es war eine Wunderlichkeit, mit der man sich bald
abfand, um so mehr, als sie von ihrem Schreibtisch aus dem Hauswesen mit
Umsicht vorstanden, die Zügel nicht im geringsten schleifen ließen
und sich Achtung und Gehorsam zu verschaffen wußten bei Knecht und
Magd.
Die Jahre gingen dahin,
ihre Kinder wuchsen heran, ihre Kinder wurden große Leute, überragten
sie schon um Kopfeslänge, die kleinen Mütter, und sie faßten
es nicht, wie schnell das alles gekommen war, und die Buben trugen schon
Bärte, und den Mädchen rundete sich schon die Brust, und ihre
eigenen Haare wurden grau, und ihre Männer waren ihnen gestorben,
obwohl sie stark und kernig gewesen waren und Kälte und Wind und Sonne
nie gescheut hatten, aber sie lebten noch, die beiden Stubenpflanzen und
herrschten über Haus und Hof und Kinder von ihrem Zimmer aus, mit
Güte und mit Strenge, je nachdem.
Mehr als fünfundzwanzig
Jahre waren vergangen, seit sich die Schwestern zuletzt gesehen hatten,
im väterlichen Garten, am Brunnen, in dessen Tiefe der Fisch noch
immer hauste und manchmal aufstieg bis dicht unter die Oberfläche
des Wassers, daß man ihn glänzen sah, sie wußten es, daß
er noch lebte, sie hatten sich bei dem ältesten Bruder immer wieder
nach ihm erkundigt. In sechs Stunden konnte sie der Reisewagen zueinander
tragen, und sie hatten die Pferde, und sie hatten den Wagen, aber gefahren
waren sie nie. Wie wenig waren sie ihnen damals erschienen, die sechs Reisestunden,
die sie trennten, ein Hindernis, hatten sie geglaubt, leicht zu nehmen,
und doch waren sie nie dazu gekommen, es zu überwinden. Während
der mehr als fünfundzwanzig Jahre war kaum eine Woche gewesen, in
der sie sich nicht geschrieben hätten, Eva und Klementine, zärtliche
und liebevoll besorgte Briefe, mit leisem Spott gemischt, Briefe wie jene,
die sie sich geschrieben hatten damals, im Vaterhaus, von Zimmer zu Zimmer,
wenn ihnen die Luft weh tat und sie krank im Bett lagen, aber damals waren
die Zimmer Wand an Wand gewesen, und die Magd hatte den Botendienst getan,
den jetzt Postwagen und Briefträger leisten mußten. Und immer
noch hatten sie, so schrieben sie es sich wenigstens in ihren Briefen,
die Hoffnung auf ein Wiedersehen nicht aufgegeben, denn konnte sich ihr
Zustand nicht noch einmal bessern, so fragten sie sich, und ob sie wohl
selber daran glaubten, die Spöttischen, wer weiß es?
Aber es sah gar nicht
so aus, von einer Besserung konnte keine Rede sein, es waren nun schon
Jahre her, seit sie zuletzt im Freien gewesen waren, und auch an den schönsten
Sommertagen hatten sie es nicht mehr gewagt, wenn auch für eine Stunde
nur, das Haus zu verlassen. In den Dörfern und Gütern ringsumher,
in Herrschaftshäusern und Dienstbotenstuben wußte man von den
beiden seltsamen Frauen, und mancher Witz wurde über sie gemacht,
und auch manch mitfühlendes Wort über sie gesprochen, aber sie
erfuhren wenig oder gar nichts davon, und wenn ihnen etwas davon zugetragen
wurde, so kümmerte es sie nicht.
Und eines Tages kam von
Klementine, die schon seit Wochen von der zunehmenden Verschlechterung
ihres Zustandes berichtet hatte, der Brief, in dem sie schrieb, nun sei
es so weit, sie fühle, es gehe mit ihr zu Ende, und sie bitte die
Schwester flehentlich und feierlich, sich sogleich aufzuraffen und zu ihr
zu fahren, denn es verlange sie heftig, vor ihrem Tode noch das geliebte
Gesicht der Schwester zu sehen und die Hände darumzulegen und es zu
küssen und mit ihr zu weinen und ein Wort noch mit ihr zu sprechen,
daß ihr der Abschied von der Erde leichter falle. Als Eva den Brief
gelesen hatte, ging sie zum Fenster und legte die Hände an die Scheiben,
und legte ihr altes Gesicht an die Scheiben, und dann schabte und kratzte
sie mit den Nägeln am Glas, daß es tönte und klirrte, und
klopfte mit gebogenem Zeigefinger dagegen, wie ein Vogel wohl mit dem Schnabel
es tut, der im Glashaus gefangen sitzt. Und dann traf sie ihre Reisevorbereitungen
sogleich.
Die alte, geräumige,
gut gefederte Kutsche mußte auf dem Hof vorfahren, und die besten
und ruhigsten Pferde, die sie im Stall hatte, wurden davorgespannt, und
es wurde alles Notwendige hineingepackt, und mehr als das Notwendige, viele
Decken und Kissen, und im Wagen von Bank zu Bank eine Liegestatt hergerichtet,
eine Art von Bett, damit sie ausgestreckt liegend die Reise sollte machen
können. Sie stand in ihrem Zimmer hinterm Fenster und sah zu, ob ihre
Anordnungen auch genau befolgt wurden. Die vertraute Magd, in der Pflege
der Herrin wohl erfahren, sollte mitfahren. Dann zog sie einen dick gefütterten
Mantel an, wand sich ein wollenes Tuch um den Hals, und ein anderes Tuch
band sie sich vor den Mund, sich vor der schneidenden Luft zu schützen,
und von der Dienerin gestützt, verließ sie die Wohnung. Langsam,
Fuß vor Fuß vorsichtig setzend, sich an den Arm der Magd klammernd,
stieg sie die Stufen der Treppe hinab. Sie trat vor die Haustüre,
in den grellen Sonnenschein, und taumelte ein wenig, und setzte sich in
den Wagen und die Dienerin setzte sich neben sie. Die Wagenfenster waren
hochgezogen, der Wagen fuhr ab, und staunend sah ihm das Gesinde nach,
wie er zum Hoftor hinausbog.
Eva, die alte Frau im
Wagen, lag auf dem für sie bereiteten Ruhebett, und durchs Fenster
konnte sie in die sommerlich prangende Landschaft hinaussehen. Bäume
glitten vorbei, Dörfer, ein Kirchturm, dessen Uhrzeiger wie Gold funkelten,
ein Fluß blitzte her, und einmal ging es durch einen Wald, und sie
fröstelte vor dem Anblick der schwarzhängenden Äste und
der moosfeuchten Steinblöcke, die sich türmten, und obwohl Fenster
und Türen geschlossen waren, drang die grün dämmernde Kühle
herein, und die Magd mußte noch eine Decke über die schon fest
Verhüllte breiten. Um neun Uhr morgens waren sie aufgebrochen, um
drei Uhr nachmittags also konnten sie am Ziele sein. Einmal legte der Kutscher
eine kurze Rast ein, die Pferde zu versorgen. Das war vor einem Bauernwirtshaus,
und gerade vorm Wagenfenster stand mit blauer Blüte eine stachlig
behaarte, silbergraue Distel, hochaufgerichtet, unbeweglich und lichtüberronnen.
Sie fuhren dann weiter, die Distel blieb zurück, und dann sah Eva,
die alte Frau im Wagen, draußen die Sonne nicht mehr auf den Feldern
liegen. Es erklang ein leises
Donnern, dann fiel der Regen, heftig und trommelnd, eine Viertelstunde
lang, und es roch nach nassem Leder im Wagen. Es war ein leichtes Sommergewitter,
das rasch vorüberzog, und bald glänzte alles draußen wieder
neu erfrischt. Der Wagen hatte nicht angehalten während des Gewitters,
Eva, auf der Reise zur Schwester, hatte sich nur wieder das Tuch vor den
Mund gebunden, gegen die regenfeuchte Luft, und sie sah erschöpft
aus, fand die Magd.
Kurz nach drei Uhr nachmittags
fuhr Eva, die eine lange, beschwerliche Reise durch Staub und Regen und
Blitz nicht gescheut hatte, nur um nach mehr als fünfundzwanzig Jahren
ihre alte kranke Schwester noch einmal zu sehen, auf einem sandbestreuten
Hof vor, und der Wagen hielt vor dem nicht hohen, langgestreckten, vielfenstrigen
Haus, in dessen erstem Stock Klementine sterbend darniederlag, und die
Reisende war selber zu Tod ermattet, fühlte sie, und hatte das Äußerste
geleistet, das ihr möglich war. Ich kann den Wagen nicht verlassen,
sagte sie zur Magd, es wäre mein Ende, und den Kutscher, der abgestiegen
war, winkte sie ans Fenster heran, und durchs geschlossene Fenster befahl
sie ihm, ins Haus zu gehen und ihre Ankunft zu melden und der Schwester
zu sagen, sie solle sich herunterführen lassen zu ihr, zum letzten
Abschied, und sie mußte laut reden, damit der Kutscher trotz der
trennenden Scheibe sie verstand.
Der ging und kam wieder und
meldete, die gnädige Frau
liege im Bett, und aufzustehen
sei ihr unmöglich, sie sei viel zu schwach, und sie bitte von ganzem
Herzen die Schwester, zu ihr ins Haus und ans Bett zu kommen. Eva schüttelte
den Kopf. Und der Bote ging hin und her mit seinen Nachrichten, lange und
immer wieder, und als letztes ließ Eva der Schwester sagen, sie möge
doch mit Aufbietung aller Kraft ans Fenster sich schleppen, das wenigstens
solle sie versuchen zu tun, und sie solle herabschauen auf den Hof, daß
sie ihre Gesichter noch einmal sähen, wenn es ihnen schon verwehrt
war, sich noch einmal zu sprechen.
Der Sand des Hofes brannte
strohgelb in der Nachmittagsglut. Einen großen, langhaarigen, schwarzen
Hund sah die Reisende auf der Steintreppe liegen, die mit ein paar Stufen
zur Haustür führte. Er lag auf der Seite, sah sie, den Kopf eine
Stufe höher als den Körper, und sein Bauch hob und senkte sich,
und eine lange, blutrote Zunge hing ihm aus dem Maul und zuckte stoßweise,
so wie sein Atem ging.
Und dann erblickte Eva
hinter einem Fenster des Hauses im ersten Stock eine weiße Gestalt,
und sah, undeutlich zuerst, ein Gesicht, und es war das Gesicht ihrer Schwester
Klementine, erkannte sie dann. Sie hatte sich im Wagen aufgesetzt und spähte
durch die Scheibe zu der Gestalt hinauf, die nun den Besuch erkannt hatte,
denn sie hob jetzt winkend die Hand und senkte sie dann wieder. So blieben
sie eine Weile und betrachteten ihre alt und müde gewordenen Gesichter,
die einst so schön gewesen waren, so blieben sie und sahen sich an,
jede hinter der schützenden Glasscheibe, Eva und Klementine, die Schwestern,
die sich so geliebt hatten. Und die Luft war feindlich zwischen ihnen,
und sie konnten nicht zueinander, sie beide wußten es selber am besten,
kannte jede der anderen Herz, mochte es sonst keiner begreifen der groben
Leute um sie her, zwischen denen sie hatten gelebt alle Tage. Und ob sie
nun um einander weinten, wußte die eine von der andern nicht, so
deutlich konnten sie sich nicht sehen, es fühlte nur jede, wie es
ihr warm und naß übers Gesicht lief, und darum sahen sie einander
noch schlechter.
Der Hund auf der Treppe
war aufgestanden und streckte sich und gähnte, und nahm seine Feuerzunge
ins Maul zurück, und ging langsam ins Haus. Eva sah es, als ihr Auge
einmal trüb abschweifte von der Gestalt im ersten Stock, und als sie
den Blick wieder hob zum Fenster hinauf, stand niemand mehr dahinter, sie
mochte noch so scharf spähen.
Fiebrig zur Eile antreibend
befahl Eva dem Kutscher, die Pferde zu tauschen gegen ausgeruhte aus dem
Stall der Schwester und dann sogleich die Rückfahrt anzutreten. Sie
müsse raschestens wieder nach Haus, sagte sie zur Magd, und in ihr
gewohntes Zimmer und in ihr Bett, ihr sei sterbenselend, und nirgendwo
anders als dort würde sie vielleicht wieder ein wenig zu Kräften
kommen.
Sie lag schweigend im
Wagen während der Rückfahrt, schwer atmend, und war totenbleich,
und als einmal die Magd versuchen wollte zum Sprechen anzusetzen, gab sie
bloß mit den Augen zu verstehen, daß sie das nicht solle. Wieder
vor dem Wirtshaus auf halber Strecke rastete der Kutscher, und die Distel
stand wieder neben dem Fenster, auf der anderen Seite des Wagens diesmal,
aufrecht, dürftig und hochmütig. Das Licht war schon dünner
geworden, es war schon gegen sieben Uhr des Abends, und als der Wagen wieder
abfuhr, blieb die Stachlige gleichmütig zurück, ein Silberspeer,
auch so blitzend.
Nach Einbruch der Dunkelheit
trafen die Reisenden wieder daheim ein. In Decken gänzlich eingewickelt
ließ sich Eva auf ihr Zimmer tragen und von der Magd zu Bett bringen,
das sie dann monatelang nicht mehr verließ. Nach drei Tagen schon
kam die Nachricht, daß Klementine gestorben sei. Die Kranke nahm
die Mitteilung so gelassen auf, daß es ihre Umgebung erschreckte,
ließ sich an die Hemden und Jacken, die sie im Bett trug, breite
schwarze Spitzenbesätze nähen, und sagte nur: nun käme sie
auch bald daran. Sie überlebte die Schwester aber noch um fast ein
Jahr.
Einige Wochen bevor sie
starb, hatte sie noch einen Brief von ihrem ältesten Bruder erhalten,
der, nachdem er einiges von sich und den Seinen berichtet hatte, schrieb,
nun sei auch der Fisch nicht mehr im Brunnen, nach dessen Befinden sie
sich so oft erkundigt habe. Eines Morgens habe ein Knecht, als er eben
den Schöpfeimer hinunter lassen wollte, das Tier, mit dem aufgetriebenen,
gelben Bauch nach oben, im Wasser liegen sehen. Mit einem Netz habe man
es heraufgeholt. Er sei von stattlichem Gewicht gewesen, mit großem
Maul und einem fleischemen Schnurrbart, der Greis, der solange allein da
unten im Finstern gehaust hatte. Er sei sich nicht klar, schrieb der Bruder
weiter, ob der Geschuppte, der Jahrzehnte lang, sich nährend, das
Wasser rein gehalten, es nicht zuletzt vielleicht mit seinem verwesenden
Fleisch verdorben habe. Er habe einen Brunnenbauer bestellt, der werde
da wohl Bescheid wissen, und der solle auch bestimmen, ob man einen anderen
Fisch einsetzen, oder mit der alten Sitte brechen solle. Und was sie dazu
meine? fragte der Bruder noch, aber er bekam keine Antwort mehr.
Drucknachweise und Anmerkungen:
S.265 Die Schwestern
Zuerst erschienen in: Das Innere Reich, 3, 1936/37, S.806-820 [Oktober
1936]. [E] Der Text ist identisch mit der Buchfassung, außer:
S.283, Z.28f: um fast ein Jahr E: um zwei Jahre
Für den Druck in E Il (S.78-100) nahm B. folgende Änderungen
vor:
S.274, Z.28: ein wenig näher. E II: ein wenig näher. Nur
manchmal, wenn Klementine glücklich lachend an die Brust des Bräutigams
sich schmiegte und Eva saß Hand in Hand mit ihrem Erwählten,
sprangen beide wie erschreckt auf und sahen sich an mit scheuen Augen und
fielen einander in die Arme und weinten und schluchzten, und fanden nur
langsam ihre Fassung wieder.
S.279, Z.8: hielt. E II: hielt. Daß jede der Schwestern es zu
vermeiden wußte, vom Ehemann der andern geküßt zu werden,
fiel niemandem auf, vielleicht ihnen selber nicht.
S.276, Z.18: abbog E II: abbog, und sah als letztes noch den breiten
Rücken des Mannes neben ihr und die lustig wehende Feder auf seinem
Jägerhut