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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Band 3-2  Seite 373
Kommentar Seite 503

Aus: »Verstreute Prosa«

Über die Schelligkeit
Sarganekdote
Kleines Tagebuch



 

Über die Schelligkeit

Zwei Erinnerungen
 

Es ist viel von Schnelligkeit die Rede, heute, wir leben im Zeitalter der Schnelligkeit, sagt man, und Kraftwagen und Eisenbahnen, glaubt mancher, geben die deutlichste Anschauung davon. Ich kann nicht dieser Meinung sein, denn wenn ein Schnellzug, zum Beispiel, mit wilder, eiserner Wucht, klirrend und stampfend und wackelnd an mir vorbeikracht, ein tobendes Gewitter, donnernd, schallend, aber ohne Blitz, so ist er mir nicht ein Bild der Geschwindigkeit, eher eins der Kraft und des ungetümlichen Ungestüms.
 Nur Mensch und Tier können mir den erregenden Eindruck von Schnelligkeit vermitteln, und am blitzwendigsten ist jedes Geschöpf in Gefahr, in Todesgefahr.
 Das wußte der Soldat, der, an der Grabenwand der rückwärtigen Stellung lehnend, einem Meldegänger, der ihn fragte, wie weit es noch bis zum vorderen Graben sei, zur Antwort gab, nachdem er die Pfeife aus dem Mund genommen und jägerbedächtig über das Gelände hingespäht hatte, das flach wie ein Teller vor ihm lag:
»Zehn Minuten, wenn sie aber herschießen, brauchst du nur fünf!«
 Ich habe das Gesicht dieses Meldegängers nicht gesehen, als »sie« herschossen, aber einmal das Gesicht eines Offiziers beobachtet, der sich in einer ähnlichen Lage befand.
 Wir sollten abends ablösen, in einer neuen Stellung, an einer Großkampffront, und um die Zumarschwege zu erkunden, hatten wir vier Kompagnieführer unseres BatailIons schon am Nachmittag einen Radausflug nach vorn gemacht. Wir waren unbehelligt bis zu einem Dorf dicht hinter dem für uns bestimmten Abschnitt gekommen, hatten von da aus unsere Gräben liegen gesehen, waren nun im Bild und bestiegen unsere Räder wieder, um zu unseren Kompagnien zurückzukehren. Die Straße war schlecht, zerfahren, auch mit Granatlöchern besät. Wir strampelten also zurück, da rauschte es in der Luft, wir brauchten uns nicht umzusehen, das Rauschen kannten wir, das waren Granaten. Die erste schlug dicht hinter uns ein, der Luftdruck schob uns nach vorn, als hätten wir einen Stoß von einer Riesenfaust bekommen, Staub wölkte, wir traten fest darauf. Es kamen aber noch mehr Schüsse, sie lagen gut auf der Straße, »sie« waren gut eingeschossen, und jetzt polterte eine Granate gar vor uns auf dem Weg nieder.
 Wir sausten los, eifrigst, grad auf die Staubfontäne zu, hindurch, hinter uns krachte es schon wieder, ich sah zur Seite, die Lenkstange hatte ich krampfhaft umklammert, da strampelte auch einer, tief aufs Vorderrad gebeugt. Das Gesicht kannte ich doch, kannte es seit Jahren., und erkannte es doch kaum wieder. Das Gesicht war aufs äußerste verzerrt, und eben jetzt war mein Nebenfahrer in eine Wagenspur geraten, das Rad rutschte, er hing schief zur Straße auf dem Rad, stürzte aber unbegreiflicherweise nicht, kam wieder zurecht, länger als diese winzige Spanne Zeit konnte ich nicht hinüberschauen, ich hatte genug mit mir selber zu tun. Aber das Gesicht vergesse ich nicht, das verzerrte, verzogene, verkniffene Gesicht dieses Radlers, der um sein Leben radelte. Das Gesicht drückte nicht Todesangst aus, der Mann hatte keine Zeit, Todesangst zu haben, er hatte allen Willen angespannt, schnell zu sein, vorwärts zu kommen, vorwärts zu fliegen.
 Das Feuer hörte dann auf, wir fuhren wieder langsam und stellten nur fest, daß wir geschwitzt hatten, tüchtig geschwitzt.
 Ich habe nur einmal etwas gesehen, was mir den Eindruck nach größerer Schnelligkeit gab, noch schneller war als dieser radelnde Offizier: das war ein Tier, und das war schon zehn Jahre früher als damals dort in Flandern.
 Wir hatten zu Hause eine Katze, ein schönes, schwarzes Tier mit glänzendem Fell, wir liebten es alle eifersüchtig, Vater und Mutter und wir Geschwister, aber die Katze, glaube ich, liebte uns nicht, wie Katzen schon sind. Sie duldete gnädig unsere Zärtlichkeiten, ließ sich streicheln, aber oft, während sie noch schnurrte, und ich selig war, daß sie sich streicheln ließ, und sich herabließ zu schnurren, richtete sie sich plötzlich auf, auf einmal spürte ich, daß das Tier auch Knochen hatte (wenn es so auf meinem Schoß sonst lag, spürte ich das nicht), streckte den Schweif hoch, sprang mir vom Schoß und ging nachlässig fort, ohne sich auch nur umzusehen, ohne auf die Lockworte zu hören, ging irgendwohin, wohin es die Lust ankam, in eine Ecke, aufs Fensterbrett, unter das Bett, irgendwohin.
 Diese schwarze Katze liebte über alles die Wärme und so liebte sie die Küche, wo auch im Herbst, wenn das Wohnzimmer noch nicht geheizt war, Feuer im Ofen war und oft lag sie an Nachmittagen auf der Herdplatte, die noch Wärme vom Mittagessenfeuer aufgespeichert hatte.
 Einmal nun wurde, was selten vorkam, abends der Küchenherd nochmals angeschürt, meine Mutter tat es selber, und kam dann wieder ins Wohnzimmer, und nach einiger Zeit schickte sie mich hinaus, ich sollte nach dem Feuerschauen.
 Ich betrat die dämmerige Küche, aus dem Ofenloch fiel rote Glut über den Boden und gleichzeitig hörte ich ein sonderbares Geräusch, trappelnd, dumpf, hohl, als schlüge jemand mit einem Stock, an dem man vorn einen Wollknopf befestigt hat, rasch gegen Blech. Ich wußte nicht gleich, woher das Geräusch kam, sah mich, ich war ein zehnjähriger Bub, erschrocken um, der Lärm kam vom Ofen her, wurde immer heftiger.
 Die Herdplatte war leer, bis auf einen eisernen Topf, ich dachte, daß vielleicht das Holz im Ofen so krachte, vielleicht war ein mit Harz durchsetztes Scheit ins Feuer gelegt worden, das krachte ordentlich, wußte ich aus Erfahrung. Aber das hier war denn doch ein anders geartetes Geräusch, das Getrappel schwoll an, nun schlug es wie eine kräftige Faust gegen hohles Blech, wie Blechdonner im Theater klangs, und nun glaubte ich zu hören, daß der Lärm aus der Bratröhre kam, und ohne mir Rechenschaft zu geben, wie es in der Bratröhre so donnern könne, riß ich die Blechtüre auf, und heraus schoß wie ein feuriger schwarzer Teufel aus der Röhre unsere schwarze Katze, in einem mächtigen Satz, flog ohne den Boden zu berühren, wie ein abgefeuertes Geschoß bis zur Küchentür und verschwand ohne Laut.
 Sie hatte Wärme gesucht, die Katze, hatte es sich in der Bratröhre bequem gemacht, meine Mutter hatte die Türe geschlossen und Feuer gezündet und nun bekam das Tier Glut genug und mehr als genug.
 Es ging mir lang nach, mir vorzustellen, wie die Katze, als der Boden unter ihren Füßen anfing sich zu erwärmen, von Fuß auf Fuß trat, immer schneller, immer schneller, daß es wie Pferdegetrappel klang, im engen, schwarzen Raum, im Finstern, von sechs Blechwänden umgeben, in Gefahr, gebraten zu werden, wie manche Gans und manche Ente schon in der Röhre gebraten worden war - wär der seltsamste Braten gewesen unserer Küche!
 Und also hab ich nie etwas Schnelleres gesehen als die flüchtende Katze, die feurig aus dem dunklen Loch herausflog, und ich glaube heut noch, daß ich damals sah, daß ein Schweif von Feuer und Rauch mit ihr flog - vielleicht hatten die versengten Haare schon angefangen zu glühen!
 Sie hatte übrigens keinen Schaden erlitten, keinen wesentlichen Schaden, stellten wir fest, als wir sie unter dem Bett hervorholten, wo sie sich verkrochen hatte, knurrend. Zwar die schwarzen Ballen unter ihren Füßen trugen Brandwunden, sie ließ sich später geduldig Öl darauf streichen und ließ sich verbinden und humpelte auf vier weißverbundenen Beinen herum, und als man ihr die Verbände abnahm, die Wunden aber noch nicht ganz verheilt waren, hielt sie sich am liebsten im Hausgang auf, der mit Steinen
gepflastert war, das war wohl kühlend.

[1930]
zu den Drucknachweisen und Anmerkungen:
 




 

Sarganekdote

Als Katharina nach dreiviertelstündiger Fahrt auf den harten Holzbänken der dritten Klasse nachmittags um drei Uhr bei hellem Sonnenschein den kleinen verstaubten Bahnhof verließ, der trostlos allein neben der Straße stand, kein Haus sonst weit und breit, und sich aufmachte nach Pflengenreuth, eine halbe Stunde Wegs war wohl noch bis dorthin - oh, sie kannte den Weg wohl gut, wohl sehr gut, kannte wohl jeden Baum der hundert Bäume, die den Weg säumten, jeden Baum, im Sommer und im Winter, sie war ihn auch oft genug gegangen, diesen Weg, weiß Gott, oft genug, wohl zu oft, öfter als gut war, in den letzten zwei Jahren, bei jeder Witterung –, stand dort, wo Pflengenreuth lag, das von hier aus noch nicht zu sehen war, es war von einem flachen Höhenzug verdeckt, stand dort am blauen Himmel über Pflengenreuth eine düstere schwarze Rabenwolke, die ein Gewitter anzeigte.
 Katharina mochte wohl hoffen, noch vor Ausbruch des Unwetters das Dorf zu erreichen, und sie war durchaus in der Stimmung, auch ein Gewitter, das sie zu überraschen käme, nicht zu scheuen, war durchaus in der Stimmung, ein solches sogar herbeizusehnen, und so ging sie festen Schrittes dahin, mitten auf der Landstraße, mitten in der prallen Sonne, nicht am Rand der Straße, links oder rechts, wo Baumschatten gewesen wäre, links und rechts, ging gerade, als sei sie ihr Ziel, auf die große schwarze Rabenwolke los. Der Wolkenvogel wuchs rasch, seine Flügel, gelb und weißlich gerändert, schwangen immer breiter am Himmel, und bald wohl war seine tiefschwarze, ungeheuer gewölbte Kehle über ihr, und der Vogel flog weiter fort und über sie hinweg, dahin, wo sie herkam, ins Sonnige, ins Blaue, und wer weiß wohin rauschend und dunkeldrohend zu fliegen ihm der Sinn stand.
 Katharina ging nach Pflengenreuth zu dem Mann, den sie liebte, und sie hatte nie zuvor einen anderen Mann geliebt, sie ging zu dem Lehrer von Pflengenreuth, den sie liebte, der sie aber nicht mehr liebte, und sie ging zu einer letzten Unterredung mit ihm, die herbeizuführen wohl sinnlos war, ganz und gar sinnlos, vor der er sich fürchtete, er hatte es ihr geschrieben, die auch sie fürchtete, das hatte sie ihm geschrieben, die sie aber als notwendig empfand, die aber unbedingt stattfinden mußte, auch wenn sie sich beide davor bangten, und wenn sie sich fragte, was sie ihm wohl sagen wollte, ihm, dem Geliebten, der es noch immer und auf immer war, wenn sie ihn auch nicht mehr so nennen durfte, künftighin, so fiel ihr nichts weiter ein als dies: Ich möchte jetzt sterben!
 Sie ging unter der dunkeln Wolke dahin, die Straße lag im Wolkenschatten jetzt, aber wenn sie nach links hin blickte, war über einem fernen Nadelwald noch Sonne, lag über dem Wald ein unwirkliches, gläsernes Licht, ein Vogelpaar hob sich jetzt aus dem Wald empor, hing unbeweglich in der Luft, kurze Zeit, und machte sich in schönen Schwüngen dann eilig davon. In die Bäume an der Straße war jetzt der Wind eingefallen, er drehte kleine Wirbel auf aus dem Straßenstaub, die fauchend um ihre Füße quirlten, sie ging, es fielen die ersten Tropfen, und aus dem Schwarz der Wolke leuchteten schweflige Lichter entfernter Blitze. Der Regen wurde stärker, ein Knurren lief über den Himmel, Donnerschläge jetzt schallten, nun rauschte der Regen herab, Katharina war ganz und gar durchnäßt bald, aber sie ging, sie ging.
 Sie ging mitten auf der Straße, es war auch keine Möglichkeit, sich zu schützen vor dem Regen, auch wenn sie am Straßenrand unter den Bäumen gegangen wäre, hätte das wenig geholfen, dick troff das Wasser von den Blättern, aber sie suchte auch gar keinen Schutz, sie hätte jeden Schutz verschmäht. Sie ging, sie ging im Schwarzen und Nassen, und die Blitze waren jetzt näher und waren über ihr. Wasser schwamm über ihr Gesicht, vielleicht waren
auch Tränen dabei, das meiste aber war Regenwasser, sie ging, sie ging, und wenn sie dem Geliebten dort in Pflengenreuth, dem geliebten Lehrer von Pflengenreuth doch nur sagen wollte, daß sie zu sterben begehre, so konnte ein Blitz sie daran hindern, es ihm zu sagen, indem er ihr diesen Wunsch rasch und feurig erfüllte, und so schloß sie die Augen, faltete die Hände vor dem Leib und ging, ging wie eine Blinde, mit den suchenden Tritten einer Blinden, und sagte inbrünstig und laut und in dem Ton, wie Wallfahrer beten, und sprach schluchzend das gotteslästerliche Gebet: »Komm, Blitz! Komm, Tod! Komm, Sarg!« Noch durch die herabgelassenen Lider ahnte sie den grellen Schimmer der Blitze, die sie umzuckten, aber sie öffnete die Augen nicht, ging und ging, der Donner dröhnte in ihren Ohren, und sie betete immerfort und immer lauter werdend, um durch den Donner die eigene tröstende Stimme zu hören, lallte und rief und schrie ihre böse Litanei: »Komm, Blitz! Komm, Tod! Komm, Sarg! «
 Da brach ein Krachen nieder, schmetternd, daß sie wankte, schon glaubte, das Schicksal habe ihr den Willen getan, ihr das tötende Feuer geschickt, aber das Schicksal hatte keinen Blitz für sie, mußte sie erkennen, das Schicksal gab ihr nicht, noch nicht, mußte sie verspüren, den Tod, den sie begehrte, daß sie lebte, noch lebte, mußte sie verspüren, und so gab es ihr wohl auch nicht den Sarg, nach dem sie betete und schrie.
 Sie öffnete die Augen, öffnete sie gerade jetzt, als sie in ihrem eintönigen Singsang bei den Worten war: »Komm, Sarg! c und da lag vor ihr am Straßenrand ein weißer Sarg, ein weißer Holzsarg, das Wasser lief an ihm herab, es war ein schöner, gelblichweißer Holzsarg, ein Sarg für einen erwachsenen Menschen, nicht vielleicht ein Kindersarg. Da lag am Straßenrand also der Sarg, den sie herbeigefleht hatte, und jetzt hob sich der Sargdeckel langsam und verschob sich, und ein blasses Gesicht sah aus dem Sarg, und
ein Gesicht erhob sich weiß über den Sarg. Der im Sarg lag, hatte sich erhoben, und er rührte die Lippen, der Tote, denn in Särgen liegen doch nur Tote, aber was der Tote ihr zurief, verstand sie nicht, und vielleicht nahm sie an, der Tote wolle ihr Platz machen, weil sie so inbrünstig nach einem Sarg gerufen hatte. Der im Sarg lag, ging vielleicht gern wieder zurück ins Leben, während sie doch gern an seine Stelle wollte, vielleicht tauschte der Tote ganz gern mit ihr! »Komm, Sarg! « sagte sie noch, als ihr Herz aussetzte, als sie umsank gegen einen Baum und tief fiel, sehr tief fiel, und im bodenlosen Schwarzen unendlich und auf immer versank, die gefalteten Hände noch vor dem Leib, ein schwaches Lächeln noch auf den Lippen, weil der Sarg und mit dem Sarg der Tod nun doch noch zu ihr gekommen waren.
 Der Schreiner von Pflengenreuth, der den von ihm gehobelten Sarg zur Bahn hatte bringen wollen und vor dem Regen Schutz in dem Holzgehäuse gesucht hatte und erschrocken war vor dem gewaltigen Donnerschlag und aus dem Sarg gespäht hatte, bleich, und mit bleichen Lippen ihr zugerufen hatte: »Der Blitz muß aber nah eingeschlagen haben!« - der Schreiner von Pflengenreuth stieg nun vollends aus der bleichen Kiste, stand nun doch auf der Straße im Regen, im nachlassenden Regen, blickte zum Himmel auf, wo die Wolken durcheinanderdrängten und schon wieder Blaues sehen ließen, sah vom Sarg, neben dem der Sargdeckel lag wie ein zweiter Sarg, auf seinen kleinen zweirädrigen Karren hin und vom Karren weg verständnislos zu der hingesunkenen Frau im Straßengraben, und war seinem Schicksal nun doch nicht entkommen, das es gewollt hatte, daß er an diesem Sommernachmittag vom Gewitterregen eisig durchnäßt werde.

Zu den Drucknachweisen und Anmerkungen:
 



Kleines Tagebuch

einer Fahrt durch Bosnien, die Herzegowina, Dalmatien,
Montenegro und Albanien im Mai 1930

5. Mai in München ab, Tauernbahn, Kärnten. Bei Villach: Grün, wie das Grün der Spielzeugbäume, gelbe, bräunliche, zwieblige Kirchtürme, einzelne Hügel und Buckel wie Tische im Tal, ein italienisches-slawisches Tirol. An Kramburg vorbei, schön, grüngelb, ein großer Steinbruch. In Laibach gute, fette, weißgelbe Krainer Wurst. Abends Ankunft in Agram.
 6. Mai Ein Tag Agram. Morgens zum Markt, den größten, den ich je sah. Blumenmarkt, Gemüsemarkt, Spinat, Zwiebeln, an Stroh geflochtne Schnüre gereiht. Grün, grün, grün. Bauernweiber, in weißen, rotbestickten Rökken und Blusen, Opanken an den Füßen, Körbe auf dem Kopf tragend. Eier, Milch, Käse in kleinen, runden, braunen Leibchen, Honig, Samen, Brot, weiß, rund, lang, Brezeln. Auf dem Fleischmarkt Lämmer, Kälber, mit durchschnittenem Hals, mit dem Kopf nach unten hängend, Staub, viel Staub. Fischmarkt, Seefische, Tintenfische, ein Hecht, armlang, armdick, Walter. Wurstmarkt: Würste, braun, geräuchert, Speck, in riesigen Stücken, wie Walfischspeck, geräucherter Schafskäse, Sonne, Staub, Goldfische, Singvögel, Hühner, Enten, Gänse, Truthähne. Alles Geflügelte liegt, mit zusammengebundenen Füßen, auf Bänken und Tischen. Später: Militär zieht vorbei, verschwitzt, von einer Übung kommend, Infanterie, viel Offiziere zu Pferd, Damen reiten mit den Offizieren.
 Das Leben schon sehr balkanisch. Das einfache Volk fast bäurisch, die besseren Stände a la Paris.
 Nachmittags in einer Kunstausstellung. Französische Abstracte: Leger, Braque etc. Später: In einem Tordurchgang, in einer Nische, durch ein eisernes Gitter geschützt, ein Marienbild, davor viele, brennende Kerzen, meterlange darunter, viele Votivtafeln. Beter, Beterinnen, alle kniend, Kerzen opfernd, manche weinend, alle Vorübergehenden das Kreuz schlagend. Eine Frau kämpft mit einer anderen um einen guten Platz für ihre Kerze.
 Kaffeehäuser noch österreichischen Charakters. Große Photographien vom Kroatenführer Raditsch in Jen Schaufenstern.
 Abends wieder zum Marienbild. Singende Mädchen vor den unablässig flackernden Kerzen.
 Mai Früh Abfahrt von Agram, durch grünes Baumland, weidende Kühe und Pferde, über Sisak, Sunja umsteigen, Bosnien beginnt. In Dörfern neben der Bahnlinie die ersten Moscheen. Nachmittag in Banjaluca. Sallam sagen die Leute und tragen einen Fez auf dem Kopf. Bazar, klein, ganz orientalisch, Goldarbeiter. Der Muezzin ruft vom Minarett, Zapfenstreich von der Festungskaserne. Der Mond über der Vrbasbrücke. Orient in Europa, verschleierte Frauen. Gutes Essen in Banjaluca.
[...]
 8. Mai Mit dem Auto von Banjaluca nach Jaice. Fahrt durchs Vrbastal. Jaice, am Berghang liegend, ein altes Kastell thront hoch. Schöner Abend. Die Pliva rauscht unter meinem Fenster. Heraufziehendes Gewitter.
 6. Mai Bei heißer Sonne in 2 Stunden Fußmarsch nach dem muslimischen Dorf Jezero, der Pliva entlang zuerst, dann neben den Pliva-Seen her. Am Rückweg fängts zu regnen an.
 Der Regen bleibt auch am Nachmittag. Es ist Bairam Fest der Muhammedaner. Auf den Straßen werden gebratne Lämmer feilgehalten.
 10. Mai Zwei Stunden Spaziergang auf den Höhen um Jaice. Melancholischer, feuchter Vormittag.
 Mittag Abfahrt nach Sarajewo. Schafhirten draußen, Reiter. Abends Ankunft in Sarajewo, kalt, Regen. Das Hotel balkanisch, schmutzig, aber vornehm-tuend.
 11. Mai Sonntag und Bairam, die Stadt also doppelt ruhig. Vormittag die Moschee besucht. Ein spaniolischer Leichenzug zieht vorbei.
 Sarajewo: wie ein türkisches Innsbruck.
 Nachmittags: Auf den Höhen um die Stadt muslimisches Volkstreiben. Verkrüppelte Bettler. Zigeunerkapellen.
 12. Mai Am Morgen ab von Sarajewo. Entlang der wilden Narenta, durch das »große Defile«, Karst. Bei Sonne in Mostar an. Uralte Türkenbrücke. Alte Steinhäuser an der Narenta, Stein, Stein, grau, schimmlig. Wie tot sehen die Häuser aus, aber es lebt in ihnen, schmutzig, riechend, wie Maden im grauen Speck.
 Vollmond.
 Das Schönste wohl bisher: Möstar.
 13. Mai Sarajewo ist lieblich und europäisch gegen Mostar, Bauern-Orient hier. Sarajewo städtisch-geschleckt dagegen.
 Stein, Stein, grau, kahl, abgefressen, dürr, Steinwürfel.
 14. Mai Gestern Nachmittag: Radobolje-Quelle, eine Oase im Stein. Fruchtbar, Feigen, Wein; Orangen, der breite Bach, hole zierliche Birken, wie pflanzliche Windhunde. Heut vormittag auf dem Hunn. Karstberg. Nachmittags Fahrt nach Ragusa, Fahrt durch ein Inferno. Alles Stein, jeder Baum von Mauern geschützt, elende Steinhütten, unsägliche Armut. Auf einem Bahnhof ein Bettler auf allen vieren, hoch das Hinterteil, wie ein seltsames Tier.
 is. Mai Ragusa, paradiesisch gegen die Herzegowina, südlich paradiesisch. (in unserem fruchtbaren Norden liegt das wahre Paradies.) Hier ist doch überall Stein. Heiß, blau, Staub. Kastell, grau vor Blau von Himmel und Meer.
 16. Mai Schöner Morgen im Garten. Nachmittag Ombla-Quelle. Südliches, italienisches Leben.
 17. Mai Letzter Tag Ragusa. Hafen. Überall Meer. Es waren drei Ruhetage nach den vielen Bahnstunden vors Agram bis hierher.
 18. Mai Ab nach Cattaro, die Stadt ist ein kleines Venedig.
 Hohe Berge. Die Bucht von Cattaro ein wunderbares Naturspiel.
 19. Mai Früh auf die Festung geklettert. Von Kindern zurückgeführt.
 Herr Radimiri versorgt mich mit Silbergeld für Albanien. Er gibt mir österreichische, bulgarische, griechische Silbermünzen, alle außer Kurs gesetzt, aber in Albanien nach ihrem Metallwerte gehandelt.
 20. Mai Die Königin von Jugoslawien kommt nach Cattaro. Große Begeisterung. Nachmittags Fahrt nach Cetinje. Von den Serpentinen des Lovcen aus herrlicher Blick auf die Bocche di Cattaro. An Njegusi vorbei. Schwarze Berge, wild, düster. Gegen Abend in Cetinje, der Hauptstadt von Montenegro.
21. Mai Von Cetinje nach Skutari.
[...]
 22. Mai Gestern nachmittag und abends in Skutari. Sehr merkwürdige Stadt. Orientalisch-italienisch, halb Hafen-, halb Bergstadt, unendlich staubig und unendlich geschäftig. Der Bazar: ein Geruch von Schweiß, Rauch, Schafmist, Heu und Straßenstaub lagert über allem. Die grellen Farben der Zäckchen und die engen weißen Hosen, die weißen Kappen leuchten.
 Gegen Mittag Autofahrt nach Alessio. Schlechte Straße, schlechtes Auto, 2 x Panne. Schlangen über den Weg. Ich sitz im Wagen bis über den Knien in Hühnern, denen die Beine zusammengebunden sind.
 Bewaffnete Reitertrupps begegnen uns, im zierlichen, kurzen Galopp querfeldein.
 Mittelalter, ritterliches, scheint es.
 Von Alessio zum winzigen Hafen Giovanni di Medua. 6 Häuser.
 Von dort mit Dampfer, 4 Stunden, nach Durazzo.
 Französisches Gespräch mit einem Albaner, der, ein besserer Sklavenhändler, albanische Arbeiter für französische Bergwerke anwirbt. Merkwürdiges »Hotel« in Durazzo. Freundlicher Besitzer.
 23. Mai Vormittags in Durazzo. Langweilige Hafenstadt. Mittag im Auto nach Tirana, der albanischen Haupt-
Teil schon sehr europäisch, teilweise noch skipetarisch. Schöne Moschee. Viel italienisches Militär. Zigeuner. Gesandtschaftsviertel.
 Nachmittag nach Durazzo zurück. In der Umgebung herumgestreift. Abends stundenlanges, französisches Gespräch mit dem Gasthofbesitzer.
 24. Mai Abfahrt von Durazzo mit jugoslawischem Dampfer. Die knappen 3 Tage Albanien erregend und Eine Welt, die untergeht, mittelalterlich, stirbt die Hälfte aller männlichen Albaner eines gewaltsamen Todes durch Blutrache.)
 23. Mai Nach 24 Stunden Fahrt, der dalmatinischen Küste entlang nach Spalato. Nachmittags die Stadt besichtigt. Palast des Diocletian. Türkenfeste Klis. Um Mitternacht auf den italienischen Dampfer Morosini.
 26. Mai Wieder 24 Stunden Fahrt. Abends Venedig. Ausbooten am Markusplatz.
 27. Mai Venedig. Kommt mir bekannt und fast heimatlich vor, nicht, weil ich schon zum viertenmal hier bin, nein, gegen den Balkan, gegen Albanien vor allem gehalten, ist hier vertrautes Europa.
 28. Mai Fahrt nach München.

[1930]
Zu den Drucknachweisen und Anmerkungen:



 
 


Verstreute Prosa 1930-1940

Die Abteilung Verstreute Prosa enthält die zwischen 1930 und 1940 in Zeitschriften und Zeitungen gedruckten erzählenden Texte B.s, im ganzen zwölf, sowie einen bisher ungedruckten Text, der auf eine Handschrift zurückgeht, das ›Bosnische Tagebuch‹ von 1930. Sie sind zumeist zwischen 1930 und 1933 zuerst publiziert worden. Mit den zahlreichen Skizzen und Prosastücken der zwanziger Jahre bilden die hier abgedruckten Texte, abgesehen vom ›Bosnischen Tagebuch‹ und der längeren Erzählung Die gepeitschte Sünderin von 1937, jenen Fundus, der B. überhaupt erst das freie Schriftstellerdasein ermöglichte (vgl. Komm. in Bd.I). Folgerichtig erfüllten sie im allgemeinen jene Kriterien, die für einen ›erfolgreichen‹ Zeitungsdruck jener Jahre gelten mußten: relative Kürze, im allgemeinen nicht mehr als drei bis fünf Manuskriptseiten; anekdotischer Kern (DerFlüchtling = Der Geheimrat Zet), wunderbare Begebenheiten (Sarganekdote; Der Rabe von Elbigenalp); ›exotische‹ Geschehnisse bzw. Reiseerlebnisse (Bosnisches Mahl; Fahrt nach Skutari; Albanisches oder die Hühnerfahrt); Beschreibungen erlebnisreicher Schauplätze (Schnee überm Oktoberfest). - Da die am Publikumsgeschmack orientierten Qualitätsansprüche der Feuilletonredakteure im allgemeinen nicht sonderlich hoch waren, mußte B. stets bemüht sein, sprachlich und stilistisch einen gewissen Standard nicht zu überschreiten und möglichst immer anekdotisch ›kondensierte‹ Texte vorzulegen.Die Resonanz auf seine »Brotarbeiten« (an Jung, 22.11.196o) war unter
schiedlich. Aus jenem Textkorpus kristallisierten sich die »kleinen Schlager« sehr schnell heraus: An der Spitze etablierte sich die Anekdote vom Geheimrat Zet, die »an die 80 bis hundertmal gedruckt worden« sei, »unter den verschiedensten Überschriften«, wie B. in einem Brief an Jung meinte (13.11.1950). Diesem Text stand das Bosnische Mahl im Erfolg kaum nach; im Brief an Jung vom 12.April 195o spricht B. von dreißig und mehr Drucken, am 10 .Juli 1953, wiederum an Jung, von siebzig Drucken, und fährt fort: »gute Ware hält sich, sage ich eitel« (gerade der Geheimrat Zet und Das bosnische Mahl gehörten »zur finanziellen Grund Tage« seiner Existenz, wie B. in einem Brief an Jung vom 13. November 1950 bekannte). Häufig gedruckt, über zwei bis fast drei Jahrzehnte, wurden Auch Über die Schnelligkeit von r93o, die Sarganekdote von 1930, später be kannter u.d.T Der Gang durchs Gewitter, der umfänglichere Text Schnee
überm Oktoberfest sowie Der gemalte Blitz, später bekannter u.d.T Der gemalte Sommer. - Einige Texte waren ihrer Zeit enger verhaftet; entsprechend erfolgreich waren sie während der dreißiger und beginnenden vierziger Jahre, bis B. sie dann nicht mehr angeboten hat: die zwei Albanien-Erinnerungen Fahrt nach Skutari und Albanisches oder die Hühnerfahrt, die um so schneller veralten mußten, je mehr das Land seine touristische Exklusivität verlor (was nicht für Bosnisches Mahl galt, weil dieser Text sehr viel stärker aus der Sprache lebt); dann die ›wundersame‹ Erinnerung
an den Raben von Elbigenalp von 1932 sowie der Judas Perlachinger, B.s erste, entschieden historisierende Erzählung, die er Mitte der dreißiger Jahre häufig u.d.T. Die Ringe der Äpte anbot. - Sieht man von der für dieses Textkorpus untypischen Erzählung Die gepeitschte Sünderin ab, die parallel zu den großen Erzählungen der Mitte der dreißiger Jahre entstanden zu sein scheint, von B. dann aber offensichtlich verworfen wurde: so ›schei
terte‹ er nur mit der anekdotischen Geschichte vom wahnsinnigen,Bürgermeister von 1931, u.d.T. Welcher ist's?, die spätestens ab 1933 stofflich nicht mehr in die literarische Landschaft paßte.
Daneben behaupteten sich einige der in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre entstandenen und sogleich in Zeitungen erschienenen Texte (vgl. Bd1), von B. meist mit wechselnden Titeln angeboten, noch in den dreißiger Jahren und verbreiterten das Reservoir der zeitungsspezifischen Texte: das sind die »Buchstabenphantasien« Der nackte Engländer, Beim lautlosen Krähen des Messinghahns und Das stelzbeinige E, die Indianer (später meist als Rote Krieger abgedruckt), die Anekdote vom Major Xanders, der Stabsarzt Erbse und Der Ledergepanzerte, die den Komplex der ErsteWeltkriegs-Anekdoten repräsentieren (vgl. Komm. in Bd. I u.II zu dieser Thematik). - Darüber hinaus wurden gegen Ende der zwanziger bis Anfang der dreißiger Jahre auch eine Reihe der bedeutenderen Erzählungen B.s in den kürzeren ersten oder zweiten Fassungen zunächst in Zeitungsdrucken publik: Hochwasser, Der Sieger, Das Haus zur heiligen Dreifaltigkeit, Das Duell der Pferde und eine Reihe anderer Texte, vornehmlich aus Michael und das Fräulein. Von dem Zeitpunkt an, als die Sammlungen Die kleine Welt am Strom und Das treue Eheweib erschienen waren, mußte B. seine Publikationsstrategie ändern: Nun kristallisierte sich immer stärker eine Hierarchie der Texte heraus; den bedeutenden, umfangreichen Erzählungen, die nicht mehr oder kaum noch als Zeitungsdruck verwendet wurden (und wenn doch, dann meist mit abweichenden Titeln und gekürzt), stehen jene kleinen und kleineren Texte gegenüber, mit denen B. vornehmlich in den dreißiger Jahren, als die Auflagen seiner Bücher noch stagnierten, seine Existenz als freier Schriftsteller sichern konnte.
Ähnlich wie B. später versuchte, seine expressionistischen Anfänge vergessen zu machen - ablesbar an den von ihm autorisierten Bänden der Gesamtausgabe »letzter Hand«, so hat er auch diese »Broterwerbstexte« fast vollständig aus seinem literarischen Vermächtnis ausgeschlossen: nur die Sarganekdote, u.d.T. Der Gang durchs Gewitter, nahm er in die Gesamt ausgabe auf (irreführenderweise im Band Erzählungen 1937-1940); Über die Schnelligkeit, Bosnisches Mahl und die zwei albanischen Erinnerungen sowie Der Geheimrat Zet, Schnee übern Oktoberfest und Der gemalte Blitz wurden erst nach dem Tode B.s von den Herausgebern des Nachlaßbandes Anfang und Ende abgedruckt; der Judas Perlachinger war in der Fassung DerVerräter aus dem Schneckenweg im Band Erzählungen 1941-1960 erschienen;
Der Rabe von Elbigenalp, Welcher ist's? und Die gepeitschte Sünderin waren
überhaupt nicht mehr gedruckt worden. - Zur Textgestalt vgl. Komm.
S.434. In den folgenden Anmerkungen bezeichnet der zuerst genannte
Nachweis die jeweilige Druckvorlage.
 

Drucknachweise und Anmerkungen:

S.373 Über die Schnelligkeit. Zwei Erinnerungen
In: Münchner Illustrierte Presse, Nr.4, 1930 S.114 (29 Januar), ohne den Untertitel. - Auch in: Magdeburgische Zeitung, Nr.184, 3.4.1930 (mit dem präzisierenden Untertitel), sowie bis Anfang der vierziger Jahre in
zahlreichen Zeitschriften und Zeitungen. Allerdings wurde oftmals nur der zweite Teil der Erzählung, u.d.T.: Im feurigen Ofen oder Im, brennenden Feinofen, abgedruckt.
Der Text blieb in den dreißiger Jahren unverändert, dann schrieb B. den Anfang völlig neu, indem er die ersten vier Abschnitte wegließ und den ersten Teil des fünften neu formulierte. Er lautet in der Fassung von 1941 (Im feurigen Ofen, in Völkischer Beobachter, Nr.75, 16.3.1941):
Es traf uns, daß wir, es war im Kriegsjahr 1917, abends abzulösen
hatten, in Flandern, in einer uns neuen Stellung, an einem unruhigen
Abschnitt, und wir vier, von jeder Kompanie ein Offizier, wollten, an einem blauen Mainachmittag, vorher schon wenigstens die Zumarschwege erkunden. Wir waren auf unseren Rädern unbehelligt bis zu einem im wuchernden Grün versteckten zerschossenen Dorf gekommen, das dicht hinter den Gräben lag, die wir zu besetzen hatten, und fühlten uns nun sicher, sie auch in der Dunkelheit zu finden, zumal uns abends, bei der Kirche, Führer erwarten sollten, die mit dem Grabennetz vertraut waren. So begannen wir also unverweilt die Rückfahrt. [/] Die Straße war in keinem guten Zustand [...]

S.377 Sarganekdote
In: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr.205, 4.5.1930. - Auch in: Magdeburgische Zeitung, Nr.362, 6.7.193o, unter dem anfänglich am häufigsten verwendeten Titel Tragische Anekdote.
Unter diesem Titel erschien dann eine bereits leicht überarbeitete Fassung in: Münchner Neueste Nachrichten, Nr.245, 9.9.1930.-Auch in: Stadtanzeiger für Köln und Umgebung, Nr.517, 12.10.1930. [D] - In dieser Fassung wird in einem zusätzlichen Abschnitt die Person des Lehrers, der auf Katharina wartet, eingeführt.
In der in Anfang und Ende abgedruckten Fassung (Rheinischer Merkur, Nr.2o, 16.5.1952, S.9), unter dem schon seit Mitte der dreißiger Jahre verwendeten Titel Der Gang durchs Gewitter (oder: Das Gewitter), hat B. dann das Eigengewicht dieser Gestalt noch verstärkt, indem er am Ende in einem zusätzlichen Abschnitt die Perspektive des Lehrers schilderte (in dieser Fassung heißt die Lehrerin »Barbara« statt »Katharina« und der Ort »Plenning« statt »Pflengenreuth«).
Die später hinzugefügten Abschnitte lauten:
S.378, Z.26: sie ging. D: sie ging. [/] Der Lehrer von Pflengenreuth, der unruhig am offenen Fenster das heraufziehende Unwetter beobachtet hatte, schloß das Fenster, als die ersten stürmischen Tropfen ihm ins Zimmer sprangen, und war unschlüssig, ob er Katharina, die ihm ihr Kommen angezeigt hatte, mit einem Schirm entgegengehen sollte, und ging einmal vorerst nicht, weil sie vielleicht doch klug genug gewesen war, im Bahnhof unter Dach und Fach das Gewitterende abzuwarten.
S.38o, Z.3of: vom Gewitterregen eisig durchnäßt werde. AuE: vom Gewitterregen durchnäßt werde. [/] Der Mann mit dem Schirm, der Lehrer von Plenning, fing zu laufen an, als er die Gruppe auf der Straße sah. Er warf den Schirm von sich, aufgespannt, wie der war, und der Wind trug ihn ein paar Meter in das Feld hinein. Dann kniete er neben der bewußtlosen Frau nieder, und sah, daß sie atmete, und es war ihm auf einmal, daß, wer recht und wer unrecht habe in ihrem ersten Liebeszank, nicht so leicht und so scharf auseinanderzuhalten war, als er sich's eilig gedacht. Er schob den Arm unter Barbaras Nacken und richtete sie halb hoch, und als sie die
Augen öffnete, sah sie ein geliebtes Gesicht, und da schloß sie die Augen gleich wieder. [/] Der Schreiner half mit, so hoben sie die Liegende, daß sie stand. [/] »Es war nur der Schrecken«, sagte der Schreiner. »Das Gewitter ist vorüber«, sagte er und sagte: »Ich hole ihren Schirm«, und ging, es zu tun, und ließ die Frau allein im Arm des Lehrers. Und dann sagte Barbara dem Lehrer etwas, aber es war nicht das, was sie ihm sagen wollte.
B. hat 1952 - gerade war die Anekdote im Rheinischen Merkur gedruckt worden-sein Unbehagen an dieser kleineren, »ungefestigten« Geschichte in einem Brief an Jung (6.6.1952) artikuliert: »Die kleine Erzählung ist 2o Jahre alt, schon oft gedruckt gewesen, in leise wechselnden Fassungen, ich muß sie einmal ganz festigen.«
 

S.381 Kleines Tagebuch einer Fahrt durch Bosnien, die Herzegowina, Dalmatien, Montenegro und Albanien im Mai 1930
Der Druck folgt dem eigenhändigen Manuskript B.s, einem der wenigen erhaltenen. Das Manuskript befindet sich in der Handschriftensammlung der Monacensia-Abteilung der Stadtbibliothek München. Es ist in Halbpergament gebunden (21 x 27 cm) und enthält, von B. in den Tagebuchtext integriert, auch die maschinenschriftlichen Typoskripte (Durchschläge) des Bosnischen Mahls und der Fahrt nach Skutari; im ganzen umfaßt der Band 21 unpaginierte Blätter, davon bilden io handschriftliche das Manuskript des Tagebuchs. - Die Stellen, an denen B. die beiden Erzählskizzen eingesetzt hat und an denen es jeweils heißt: »In einem Aufsatz hab ich versucht es zu schildern«, sind durch Auslassungszeichen markiert.
Zur Texteinrichtung vgl. Komm. S.434. Die inkonsequente B.sche Schreibweise jugoslawischer und albanischer Eigennamen und geographischer Namen wurde beibehalten.
S.382, Z.7: Raditsch: Stjepan Radic, 1871-1928; kroatischer Politiker, der für die Autonomie der Region gegen den Belgrader Zentralismus kämpfte. Mehrfach gefangen genommen, war er von November 1925 bis zum April 1926 südslawischer Kultusminister, danach kämpfte er wieder in der Opposition für die Rechte der kroatischen Bauern; er starb am 20. Juni 1928 an den Folgen eines politischen Attentats. Seine Bestattung in Agram hatte Symbolcharakter für das Autonomiestreben der Kroaten.
S.378, Z.14: Sallam: Salam, grab. .Wohlbefinden; Salam aleikum ist die Begrüßungsformel der Mohammedaner (»Heil mit euch«).
S.378, Z. 16: Muezzin: ein in größeren Moscheen als Gebetsrufer angestellter Beamter.
S.378, Z.28f: Bairam-Fest: türkische Bezeichnung für das Mohammedanische Opferfest; wird begangen durch das Schlachten eines Schafes oder Rindes oder Kamels.
S.383, Z.2f: spaniolischer Leichenzug: Spaniolen sind die Nachkommen jener Juden, die 1492 aus Spanien flohen und sich in der Türkei ansiedelten.
S.384, Z.9: Königin von Jugoslawien: Frau von Alexander II., König von Südslawien seit 1921.

Der Grenzverlauf und die Schreibweise der geographischen Namen geben den Stand von Ende 1929 wieder, wie er sich auch im von B. für seine Reise benutzten ›Baedeker‹ spiegelt. QF Balinger:] Dalmatien und die Adria. Westliches Südslawien, Bosnien, Budapest, Istrien, Albanien, Korfu. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker. Leipzig: Baedeker 1929)