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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs
Band 3-2
Seite 390
Kommentar
Seite 507
Aus: »Verstreute Prosa«
Fahrt nach
Skutari
Albanisches
oder die Hühnerfahrt
Welcher
ist's?
Um sieben
Uhr früh stand ich auf dem Marktplatz in Cetinje.
Ein junger Kerl machte
sich da wichtig, ertrug schwarze, weite, schmierige, türkische Hosen,
eine alte, verschossene, geflickte, grüngraue Militärjoppe, war
barhäuptig, und jeder Bauer, der ein Lamm zu Markte brachte, sie trugen
die Tiere wie lebendige Pelze zärtlich um den Hals gelegt, jeder Bauer
mußte sich das Tier vom Nacken lösen und dem Kerl hinhalten,
der dem aufblökenden Kraushaar an den Bauch griff; mit prüfenden,
knetenden Fingern. Er schien ein sehr fettes Tier zu suchen, er tat wenigstens
so, jeder Bauer hielt ihm auch geduldig das Lamm vor. Ich sah dem wichtigtuerischen
Treiben des Kerls wohl zehn Minuten lang zu, ich hatte nichts Besseres
zu tun, ich wartete auf den bestellten Kraftwagen, aber der Kerl kaufte
keins der Lämmer, wenn er auch eine kennerische, käuferische
Miene machte.
Da tippte mir jemand auf
die Schulter, ein mittelgroßer, auffallend breitschultriger Mann
wars, der Wagenbesitzer und Wagenlenker, in schnalzendem Englisch sagte
er, jetzt ginge es los, und wir fuhren los. Rückschauend lachte ich
dem gauklerischen Burschen ins Gesicht, der mir verdutzt nachstarrte, während
seine Finger am Bauch eines Lamms geschäftig waren.
Cetinje blieb zurück,
der Weg stieg, Steinberge ringsum, viele schwarzblaue Bergkreise, einer
über den andern sich schiebend, gezackt, verschluchtet, türmig.
Weit hinten, hoch oben, ein schwarzer blitzender Strich, wild herfunkelnd,
den Blick an sich reißend, wie eine glitzernde Nadel, nein, breiter,
wie ein Säbel, der auf Bergen liegt - der Skutarisee, fern!
Die Straße geht
abwärts, schwarzes, stilles Wasser zur linken, ein See, es ist aber
der Karte zu entnehmen, nur ein unmäßig breiter, versumpfter
Fluß, Wassergevögel schwirrt auf, gegen neun Uhr sind wir in
dem Dorf Rijeka, frische, saubere Kühle weht, grüner Baumschatten,
hohe Pappeln, Gesträuch, die schwarzen Berge sind hinter vorgelagerten
grünen Hügeln verschwunden, das Dorf liegt langgestreckt am Fluß,
auf dem Enten und Gänse schwimmen. Auf Holzbänken hält man
Fische feil, den Fischen, breitnackigen, fetten Tieren mit hängenden,
fleischernen Schnurrbärten, sind durch die weichen, weißen Mäuler
Weidenruten gezogen, die Ruten sind zu zierlichen Ringen geschlungen, dran
trägt man die gekauften Tiere nach Haus. Die Fische sind lebendig,
rühren sich aber nicht, schlagen nicht mit dem Schwanz, liegen geduldig,
nur vergeblich und quälend öffnen und schließen sie, auf
und zu, auf und zu, Feuriges einatmend, das Maul.
Hier in Rijeka trank der
mittelgroße, breitschultrige, englisch schnalzende Montenegriner
einen Zwetschgenschnaps, rauchte eine selbstgedrehte Zigarette. Dann weiter,
bergauf, bergab, auf guten Wegen, auf schlechten Wegen. Einmal läuft
die Straße hoch oben, von tief unten glänzen blaue Buchten silbern
herauf, das ist wieder der Skutarisee. Die Straße fällt nun
in schönen Kehren abwärts, der Engländer wirft den Wagen
schwungvoll um die Kurven, es ist als flögen wir, abwärts kreisend
wie ein großer Raubvogel. Immer näher blinkt der See, und da
scheint im See ein befestigter Ort zu liegen, auf Pfosten und Dämmen
und Pfählen, schwer verschanzt, eine Burg fast. Ein Damm stößt
in den See hinein und der Damm verbreitert sich zu einem Platz, das also
ist Virpazar. Wir jagen über die Dammbrücke, halten am Markt.
Mein Führer nimmt
sein Geld, nimmt das verabredete, erwartet nicht mehr, wie einem das sonst
hier leicht geschieht, legt die Hand grüßend an den Hut, sagt
schnalzend: »Good bye«, geht. Den Wagen seh ich nach einer
Stunde noch stehen, den Führer seh ich nicht mehr, er wird Geschäfte
haben in Virpazar.
In Virpazar ist Markt,
ausgeweidete Lämmer, rot, von Fliegen schwarz bedeckt, hängen
von den Stangen, am Boden sitzen Bauernweiber, bieten Schafkäse an,
Schafwolle, Gurken und Zwiebeln, und auch Fische, denen die Weidenruten
schmerzhaft durchs Maul gezogen sind. Ich bleibe zwei Stunden in Virpazar,
in zwei Stunden erst fährt mein Dampfer ab, und als ich auf dem Weg
zum Dampfer bin, schnappen die geduldigen, genarrten Fische immer noch
nach Wasser, immer noch, mit grauem Staub beschmiert.
Die Hitze ist schon groß
geworden, eine knallige Sonne hängt über Virpazar, ich bummle
durch Virpazar, es ist wie ein großer steinerner Würfel, liegt
auf Dämmen im Skutarisee, jetzt, im Mai. Später im Sommer, weicht
der See zurück, dann liegt Virpazar am See, wie sich das gehört.
Ich gehe ein Stück in der prallen Hitze auf dem Damm dahin, im grünen,
schlammigen Uferwasser, unsichtbar quacken Frösche, hunderte, tausende,
und wenn ich einen Stein ins Wasser werfe, schweigen sie kurz, knarren
und schnarren dann umso leidenschaftlicher. Der Himmel ist blau, wolkenlos,
fast weiß, der See dehnt sich mächtig, rings steigen hohe Berge
an, kahle Berge, grau, ohne jeden Graswuchs. Virpazar, das steinerne, kalkgraue,
schlangenhautgraue Virpazar, zwanzig Häuser vielleicht oder dreißig,
hockt faustklein und frech und springlebendig am Damm.
Ich trinke schwarzen Kaffee,
esse meine mitgebrachten Eier. In Cetinje sagte man mir, in Virpazar gäbe
es keine Verpflegung, das ist aber nicht wahr, am Nebentisch der kleinen
Schenke ißt ein Bauer Lämmernes, ich schaue ihm neidisch zu,
das gebratene Fleisch riecht kräftig herüber, aber ich muß
meine Eier essen. Eine Zigarette tröstet mich dann.
Gegen Mittag besteige
ich das kleine Dampfboot, das mich in sechsstündiger Fahrt nach Skutari
bringen soll. Das Boot fährt nicht geradewegs nach Skutari, es legt
ein paarmal an, an kleinen Fischerdörfern. Der Skutarisee, weithin
grünglänzend, von hohen Gebirgszügen umwandert, liegt regungslos
unter einem regungslosen Himmel, von den Bergen kommt kein Wind, Tauchervögel
spielen. Unser kleines Boot stampft, die paar Mitreisenden schlafen auf
den Bänken, essen Zwiebel und Brot. Weite Strecken hin sind die Ufer
versumpft, grüne Binsen flirren, dann wieder steigt der Fels mit schwarzem
Knie ins Wasser. Dörfer liegen tief in Buchten versteckt, wehren mit
vorgelagerten Riffen die Zufahrt, so daß nicht einmal unser kleines
Boot zu ihnen kann. Es kommen Ruderkähne um die Klippen geschossen,
fliegen nahe an uns heran, bekommen den Postsack zugeworfen, die Ruderer
mit rauhen Stimmen rufen uns etwas zu und werden von den Buchten wieder
verschluckt.
Wir sind schon vier Stunden
unterwegs, da hält ein kleines, wendiges Motorboot entschlossen auf
uns zu, es ist weißgestrichen, schnaubend braust es an uns heran,
es macht einen angriffslustigen Eindruck, am Heck weht eine rotschwarzrote
Flagge, es ist ein albanisches Zollboot, wir sind jetzt, auf diesem Teil
des Skutarisees, auf albanischem Hoheitsgebiet. Zwei Männer kommen
auf unsern Dampfer geklettert, bewaffnet, weißgekleidet, braungebrannte,
lustige Gesichter, lassen sich die Pässe vorweisen. Die Pässe
sind in Ordnung, die Albaner zeigen lachend ihre Zähne, besteigen
wieder ihr kleines Kriegsschiff und zischen schaumwerfend davon.
Zur rechten Hand schieben
sich jetzt niedere, langgezogene Berge heran, befestigt, das ist wohl der
Tarabosch, die berühmte Burg über Skutari, und da, das Stangengewirr
der vielen Masten der vielen kleinen Fischerboote ist der Hafen von Skutari.
Ich gehe an Land, wieder Zollmenschen, sehr neugierige Zollmenschen, dann
setze ich mich in einen Pferdewagen, eine alte Kalesche auf hohen Rädern,
herabgekommene Vornehmheit, zerfetzter, roter Plüsch im
Innern, der Wagen ist geschlossen,
die schmutzigen Fenster sind verquollen und nicht zu öffnen, staubige,
stickige, modrige Luft ist im Wagen, der Wagen schwankt, der Kutscher scheint
auf die Pferde einzuhauen, ich höre ihn brüllen, wir fahren scharf,
die Straße ist schlecht, der Wagen schaukelt, taumelt vorwärts,
neigt sich seitwärts, ich möchte doch was sehen von Skutari,
ich presse mein Gesicht gegen die halbblinden Scheiben, sehe einen Reiter
vorbeitraben, sehe eine lange, weiße Mauer, sehe ein Minarett, schwarze
Zypressen, wieder Mauern, lange weiße Mauern, verschleierte Frauen
auf Eseln, viele Reiter, Staub wirbelt auf, Geschrei dringt in meinen verschlossenen
Kasten, der Wagen rüttelt, ich stoße mit der Nase gegen das
Glas, aus den schmutzigen Sitzpolstern dringt pfeffriges Mehl, die Straßen
werden enger, eine Biegung, noch eine, der Wagen hält, ich steige
aus, betäubt, hinten zerrt etwas an mir, ich drehe mich um, es ist
ein Bettler mit verschorftem Gesicht, aber zuerst will der Kutscher sein
Geld, schlägt dem Bettler die Peitsche schallend um die Beine, hält
mit der peitschenschwingenden Linken den Bettler von sich ab wie der Bändiger
den Tiger im Raubtierkäfig, während er mir seine Rechte offen
und fordernd entgegenstreckt.
Drucknachweise und Anmerkungen
Albanisches oder die Hühnerfahrt
Auf dem
langen niedrigen Verkaufstisch lagen die Hühner, und man hatte ihnen
die Füße zusammengebunden. So atmeten die fedrigen Bündel,
die gläsernen flachen Augen unbeweglich offen, hie und da schlug ein
Vogel matt und vergeblich mit dem Flügel. So lagen die Hühner,
aber der Hahn ist ein mutiges Tier, der Sporenträger, und die zwei
jungen Hähne, denen der Bauer die vier roten Füße zusammengeknotet
hatte, die peitschten unruhig plötzlich mit schimmernden Fittichen
den Tisch; wie ein Wirbelwind war es, es war großartig, und es gelang
ihnen auch, vom Tisch loszukommen. Sie kreischten aufgeregt, zornig, und
schräg aufwärts flogen sie, die Aneinandergebundenen, sie schlugen
sich die Flügelspitzen gegen die hochmütigen Gesichter, aber
die Luft trug sie, trug sie eine kurze Weile, schaukelnd ging es dahin,
schwankend, getrieben von rasenden Flügelschlägen. Einmal schleppte
der eine Hahn den andern, der an seinen Füßen hing, den Kopf
mit dem wackelnden, geschwollenen Kamm nach unten, die Federn stäubten,
aber lange ging das nicht, sie taumelten, überschlugen sich, drei
Meter hoch waren sie schon, so hoch schon, daß des Bauers Hand, die
nach ihnen griff, sie nicht fassen konnte. Sie flatterten und fielen, im
Fall sich immer wieder fangend, flügelrudernd, aber steigen konnten
sie nicht mehr, sie stürzten dann doch in den Straßenstaub Skutaris.
Sie blieben zuckend liegen, krähten und röchelten, als der lachende
Bauer sie aufhob, hin und her schwenkte hoch in der Luft und die Betäubten
dann wieder auf die Verkaufsbank warf zwischen die geduldigen Hühner.
Das war heute nachmittag
gewesen, und abends hatte ich nach langem Feilschen einen Kraftwagen nach
Alessio gemietet, der morgen vormittag bei der großen Moschee auf
mich warten sollte, und nun saß ich noch bei dem türkischen
Wirt neben der großen Moschee, trank Kaffee aus winzigen Tassen und
sah den mächtigen Mond an, der gelb über dem Minarett im blauschwarzen
Nachthimmel schwamm, hatte die Augen hoch empor zum Mond gewandt, das Ohr
zu einer kleinen Schenke nebenan, aus der rauhe, zerrissene Töne drangen
von liedersingenden Menschen, schrille Saitenklänge dazwischen, und
war dann früh schlafen gegangen.
Der Wagen stand an seinem
Platz am anderen Morgen, zwei Männer saßen schon darin, der
Wagenbesitzer und Wagenlenker öffnete mir den Schlag, ich sollte einsteigen,
aber wie konnte ich das? Der Wagen war mit Hühnern angefüllt,
braunen und grauen Hühnern, denen die Füße zusammengebunden
waren, lebenden Hühnern natürlich, es war ein kleiner Berg von
zuckenden Hühnerleibern, wie sollte ich da einsteigen? Da sah der
Wagenlenker, daß ich zauderte, er blickte mich erstaunt und kopfschüttelnd
und ein wenig verächtlich an, dann schaufelte er mit beiden Händen
die flügelschlagenden Vögel aus dem Wagen, ich stieg ein, und
er warf dann die Tiere wieder in den Wagen, und so saß ich im Wagen,
bis über die Knie von dem Federvolk umgeben, und so fuhr er los.
Die Straßen in Skutari
sind nicht sehr gut, der Wagen rüttelte und schüttelte, ich stemmte
den Rücken fest gegen die Wand und stemmte mich mit den Füßen
fest, ich saß sozusagen nicht, ich hing im Wagen eingestemmt wie
ein Felskletterer im Kamin, und wenn mir nun ein Fuß rutschte, dachte
ich, dann zerträte ich wohl einen Hühnerkopf oder zerquetschte
einem Tier den Brustkorb, und ich hörte es schon krachen. Der Hühnerhaufe
war in unaufhörlicher Bewegung, Flügel flatterten, die Hühner
gackerten, sie zankten sich, sie schlugen mit den Schnäbeln aufeinander
los; wenn der Wagen eine Kurve nahm, stieg mir der Hühnerberg bis
fast zur Brust.
Wir fuhren durch den Basar;
es war ein Gewirr von Menschen, bunten Trachten, Hämmern, Schlagen,
Sägen, Kreischen, Schreien. Rötlich blitzte es und dunkel schimmernd
aus den Verschlägen der Goldarbeiter. Vor den Buden der Fischhändler
glänzten breite silberne Fische; braune Gesichter mit rotem Fes, unter
schwarzem Fes, Reiter, Handkarren, Gelächter, goldbesetzte Kleider
wehten von den Stangen, Sättel, Lederwaren, grelles rotes und grünes
Zuckerzeug, ein scharfer Geruch von Hammelfett und Pferdemist und Fischen
und Öl und Kaffee. Ein Windstoß roch nach Wasser und Schlamm
vom Skutarisee, Staub, grelle Sonne - vorbei, die Landstraße kam,
und der Wagen fuhr nun ruhiger.
Der Mann, der neben mir
saß, in albanischer Kleidung, ein Händler anscheinend, der Besitzer
der Hühner anscheinend, drehte sich eine Zigarette und bot sie mir
an und gab mir auch Feuer; die Hühner beachtete er gar nicht, obwohl
auch er bis zu den Hüften mitten unter ihnen saß.
Der Wagen fuhr mit ziemlicher
Geschwindigkeit, weite grüne Wiesen, einsame Bäume, Rinderherden
unter blauem Himmel. Ein Knall dann, ein Reifen war geplatzt; aussteigen
hieß es. Ich blieb bösartig sitzen, wie sollte ich aussteigen,
ohne ein Tier zu töten? Der Hühnerbesitzer kümmerte sich
nicht um sie, der Wagenlenker wunderte sich über mich, schaufelte
die krähenden Tiere auf die Straße, jetzt konnte ich aus dem
Wagen klettern, einen Ersatzreifen hatte er natürlich nicht, der Wagenlenker,
er holte Werkzeug hervor und fing schnaufend zu arbeiten an.
Ich stand auf der Straße,
die Sonne brannte heiß herunter, Skutari war schon längst nicht
mehr zu sehen, der Wagenlenker arbeitete schwer, ich ging ein Stück
in die Wiesen hinein, es war ein bißchen sumpfig, und setzte mich
unter einen Strauch nieder und blieb sitzen, bis der Wagenlenker schrie
und winkte. Der Hühnerbesitzer saß schon im Wagen, ich setzte
mich, der Wagenlenker und die flatternden, gackernden Hühnerbündel
über meine Knie, und es ging weiter.
Ich sah auf die Straße,
die weiß dem Wagen entgegenlief, so schien's, und jetzt glitt aus
der sumpfigen Wiese her eine Schlange dunkel über die Straße,
gut meterlang, fast armdick, in schnellen Windungen, aber der Wagen war
schneller, er erreichte sie, als sie gerade in der Straßenmitte war.
Niemand hatte die Schlange beachtet, der Wagen überfuhr sie, ich bildete
mir ein, es zu spüren, wie die Räder über sie hinweggingen,
ich schloß sogar die Augen im Augenblick der Hinrichtung, und der
Wagen schnurrte weiter.
Ja, und dann war auf einmal
eine frühe, wilde Zeit da, eine schöne, stolze Zeit, es war nicht
zu glauben, es versetzte den Atem: ein dunkelgoldener alter Gobelin schien
lebendig geworden, aus einer versunkenen Welt herauf in unser Licht herein.
Querfeldein nahte ein Reitertrupp, nicht regelmäßig aufgeschlossen,
nicht zu zweien nebeneinander und hintereinander, aufgelöst wie ein
Vogelschwarm, im kurzen Galopp. Zierliche kleine Pferde mit langen wehenden
Schweifen, prächtig aufgezäumt, und die Reiter in prunkender
Tracht; goldbesetzte, schwarze kurze Jacken über weißen Hemden,
weiße Hosen, rote Stiefel. Sie ritten wie zu einer Hochzeit, nicht
auf gebahnten Wegen, über die Wiesen daher, an der Spitze auf einem
Rappen ein junger Mann, fast ein Knabe noch. Unser Wagen fuhr langsamer,
der Reitertrupp überquerte die Straße, Patronengürtel hatten
die Reiter um die Hüften, über den Rücken hing das Gewehr,
verschlossene Gesichter, sie sahen uns nicht an. In kurzen, kunstvollen
Galoppsprüngen setzten sie über die Straße, ein großes
Blitzen, erschrocken wilde Pferdeaugen, weißer Schaum auf braunen
Pferdeschenkeln, Sporen, Glanz und Sattelrauschen, und wieder über
das Feld dahin, wer weiß wohin!
Kurz darauf hielten wir
in Alessio.
Drucknachweise und Anmerkungen
Welcher ist's?
Im Sommer,
wenn wir Kinder an den Nachmittagen vor die kleine Stadt hinauszogen, in
die nahen Wälder, Schwarzbeeren zu pflücken, und heißgebrannt
und müd und mit blauen Mündern, blau vom Beerensaft, heimkehrten
des Abends, kamen wir an der Irrenanstalt vorbei, die von hohen Mauern
umgeben war, und die Fenster waren vergittert des mächtigen, gelben
Hauses, ein Kloster war es früher einmal. Wenn wir Glück hatten,
ein bangemachendes Glück, herbeigefürchtet und herbeigesehnt,
standen Männer an den Fenstern, die Hände fest um die Eisenstangen
gekrallt, in weißen Krankenkitteln, und schrien gellend, langgezogen,
schrien in den blauen Sommer hinein, daß wir schauerten, und diese
wilden Schreie gehörten für uns zum Sommer wie der Kuckucksruf
in den Wäldern, erregender als dieser.
Ich habe nie wieder ihre
Schreie gehört seit meiner Kinderzeit, und wenn von Irrsinnigen gesprochen
wird in meiner Gegenwart, oder wenn ich von ihnen in der Zeitung lese,
dann steht immer das vergitterte, gelbe Haus vor mir, und immer ist es
Sommer, obwohl es doch auch im Winter die armen Kranken gibt.
Manche sind schlau unter
diesen Irren, weiß man, schreien auch nicht alle wie die Irren meiner
Kinderzeit, schreien nicht öfter als du und ich, wir schreien auch
bisweilen, und bisweilen sind sie so listig wie Füchse, sind listiger
als ich und du, die wir gesund zu sein glauben.
Es war da ein Verrückter,
las ich, in einer dörflichen Gemeinde, ein harmloser Mann, den man
lange hatte frei herumlaufen lassen, wie wir frei herumlaufen, du und ich,
wie wir wenigstens glauben es zu tun. Nun hatte man wohl Anlaß zu
fürchten, daß er gefährlich werden könnte, der Verrückte,
und so hatte man beschlossen, ihn in die Irrenanstalt der nächsten
Stadt zu bringen, auf Kosten der
Gemeinde, und der Bürgermeister,
der sowieso Geschäfte hatte in der Stadt, nahm den Irren mit, dem
man nicht gesagt hatte, wohin des Weges es ging.
Man steckte den Kranken
in seine besten Kleider, und so ging er mit dem Bürgermeister zur
Bahn, waren zwei ansehnliche Männer beide, und wer der Verrückte
war von den Zweien, keiner der Mitreisenden hätte es zu erkennen vermocht,
auch du nicht und ich, und so fuhren beide zur nahen Stadt.
Die Wiesen glitten vorbei,
die Bäume dahin, es war im Sommer, es war heiß, der Bürgermeister
schlief ein auf der Bank, wackelnden Hauptes, und niemand sah, daß
der Kranke einen raschen Griff tat in die Brusttasche des Schlafenden,
der Schlaue.
Man kam an in der Stadt,
der häuserreichen, und ging geraden Wegs zur Irrenanstalt, deren Fenster
werden wohl vergittert gewesen sein wie die Irrenhausfenster meiner Jugend,
und der Bürgermeister wies sich aus mit seinen Papieren, und hier
sei der Kranke, und den möge man hier behalten, wie es auf Antrag
der Gemeinde vom hohen Amt verfügt worden sei.
Daß der Kranke behauptete,
er sei gar nicht krank, er sei völlig gesund, das beachtete man nicht,
das behaupten die meisten der Einzuliefernden. Daß der Mann, den
man da behalten sollte, schrie und tobte und scharfe Worte gebrauchte,
das machte keinerlei Eindruck, zwei Wärter nahmen ihn liebreich am
Arm, und daß der Schäumende immer wieder brüllte, nicht
er sei der Irre, er sei der Bürgermeister, der andere sei der Irre:
Nun, da waren ja die Ausweispapiere, und den schreienden Mann ohne Papiere
behielt man da, und den still blickenden Mann mit den Papieren ließ
man ziehen.
Die Kinder, die an diesem
Sommernachmittag vom Wald heimkehrten, den Mund blau beschmiert vom Saft
der Beeren, sahen mit Grauen und Entzücken vielleicht einen Tobenden
an den Gitterstangen rütteln, hörten seine schrillen Schreie,
und als sie durchs Stadttor dann gingen, begegnete ihnen vielleicht ein
Mann, fröhlich lächelnd und ihnen zuwinkend mit freundlicher
Hand.
Die Kinder, natürlich,
nahmen den Stangenrüttelnden, der noch nachts durch ihren Schlaf tobte,
für einen Wahnsinnigen und den freundlichen Mann unter dem Torbogen
für einen gemächlichen Wanderer.
Wie sollten sie klüger
sein, die Kinder, als du und ich und als alle Welt und alle Weisen der
Welt, die auch Weise und Narren nicht auseinanderzuhalten vermögen,
niemals und nirgends?