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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs
Band 3-2
Seite 402
Kommentar
Seite 510
Aus: »Verstreute Prosa«
..
Diese
Erzählung liegt, von Britting gesprochen, als CD
1 vor.
Der Flüchtling [Der Geheimrat Zet]
Der Leiter
eines großen kaufmännischen Unternehmens, der Geheimrat Zet,
ein behäbiger Fünfziger, mit rotem, rundem Gesicht, stattlich
und breitschultrig, ein Mann, zu dem der schwarze Schoßrock und der
hohe, steife, schwarze Hut gut paßten, hatte nicht nur zu planen
und zu werken hinterm Schreibtisch, ihm oblag auch, wie sich das versteht,
die Pflicht, die manchmal nur ungern geübte, bei feierlichen Anlässen
irgendwelcher Art, traurigen oder heiteren, Ansprachen zu halten, das Wort
zu ergreifen, wie die
Zeitungen hernach in ihren Berichten
zu schreiben pflegten. Am öftesten traf es sich, daß er bei
Beerdigungen mit unbewegter Miene, denn traurig war er nicht immer, ein
paar teilnahmsvolle Sätze zu sprechen, einen großen Kranz mit
schwarzen wehenden Flügelschleifen am Grab nieder zulegen hatte. Manchmal,
wie gesagt, kam er dieser Pflicht leidlich gerne nach, manchmal gefiel
es ihm weniger, aber Gefallen hin, Gefallen her, Pflicht ist Pflicht, und
er tat sie unter allen Umständen.
Wenn das Wetter gar zu
schlecht war, wenn vom grauen Himmel der graue Regen niederfiel, niederfiel
in ein offenes Grab, und um das offene Grab standen viele schwarze Männer
und schwarze Frauen und hatten viele schwarze Schirme aufgespannt, auf
die der Regen trommelte - so waren sie immerhin vor der schlimmsten Nässe
geschützt, die Männer und die Frauen, nur in das Grab fiel der
Regen ungehindert, den Toten aber schützte der Sarg - wenn das Wetter
also gar zu schlecht war, und er hatte seine kleine Rede gehalten, der
Geheimrat Zet, und hatte seinen großen Kranz niedergelegt, und war
wieder zurückgetreten in den Kreis der beschirmten Trauergäste,
so verstand er es vortrefflich, jede Gelegenheit wahrzunehmen, sich in
die zweite und dritte Reihe der betrübten Zuschauer zu schieben, unmerklich,
ganz wie zufällig, bis er der hinterste und allerletzte Mann war,
nur mehr schwarze Rücken vor sich sah. Dann wandte er sich, dann ging
er mit raschen, frohen Schritten durch die Gassen der fröstelnd nassen
Grabsteine, dahin zwischen weißen Marmorengeln und gelben Säulen,
zum Friedhofsausgang, stieg in seinen Wagen, der dort hielt, setzte sich
wohlig in den Polstern zurecht, und fand es doppelt warm und gemütlich
mit einem Dach über sich, wenn er sich erinnerte, daß noch immer
viele schwarze, nasse Schirme wie riesige Aasvögel über einem
offenen Grab schwankten.
Die Geschicklichkeit,
vor Beendigung von Feierlichkeiten sich davonzuschleichen, und das brauchten
nicht immer nur Beerdigungen zu sein, und es brauchte auch nicht grade
immer zu regnen, bildete er mit großem Fleiß immer kunstvoller
aus, und die am nächsten Beteiligten, die trauernden und die jubelnden,
merkten fast nie seine frühe Flucht. Die merkten nur Leute seines
Schlages, Männer in wichtigen, öffentlichen Stellungen, die,
wie er auch, gezwungen waren, viele Freudenfeste und Trauerversammlungen
mitzumachen, die merkten es, mit Mißbilligung manche, die neidisch
waren auf diese seine füchsische Gabe, andere mit Freude über
seine Schlauheit, die sie bewunderten. Aber immer war es so, daß,
wenn die Feier zu Ende war, und die Gäste, bevor sie sich zerstreuten,
noch ein wenig zusammenstanden und schwätzten und lachten, froh des
aufgehobenen Zwangs, daß dann der Geheimrat Zet schon längst
über alle Berge war.
Aber dann kam einmal der
Tag, da schwankten wieder viele schwarze Schirme über einem offenen
Grab, und im offnen Grab und vernagelten Sarg lag der Geheimrat Zet, ein
Sechziger nun, sein Gesicht war noch rund, aber nicht mehr rot wie ehedem,
und er lag im Sarg wie wir alle einmal im Sarg liegen werden. Der Regen
fiel, unter den Schuhen der Trauergäste plantschte der klebrige Lehm
und schrie auf, wenn ein Schuh sich hob, schrie boshaft auf, weil er den
Schuh loslassen mußte, und Reden wurden gehalten, kurze und lange,
gute und schlechte, und Kränze häuften sich über dem Grab,
und die Feier nahm kein Ende, und der Regen nahm kein Ende, und wenn ein
Windstoß ging, fand der Regen trotz der Schirme seinen Weg in die
Gesichter. Nun hob eben wieder ein schwarzer Mann zu reden an, weit ausholend,
das würde eine lange Rede werden, spürte man, und nach diesem
Redner würden noch andere kommen, es standen ja immer noch Männer
herum, die Kränze in den Händen hielten.
Einer, der oft den lebenden
Geheimrat Zet hatte in solcher Stunde fuchsschlau entwischen sehen, einer,
der den großen, schweren Mann gern gehabt hatte, der legte die Hand
im schwarzen Leder vor den Mund und flüsterte, lächelnd und mit
einen sonderbaren Zucken um die Augen, seinem Nachbarn mit einem Kopfnicken
auf das offene Grab hin zu: »Heut muß er aber bis zuletzt dableiben!«
Wahrhaftig, heut blieb
er bis zuletzt, der Geheimrat Zet, trotz der vielen Reden und des vielen
Regens, aber ein guter Sarg ist besser als der beste Schirm, und Reden
und Regen gleiten von ihm ab.
510 ANHANG
Drucknachweise und Anmerkungen:
S.402 Der Flüchtling (Der Geheimrat Zet) In: Vossische Zeitung,
Nr.22, 22.9.1931.
Einige Jahre lang erschien der Text u.d.T.: Der Flüchtling,
seit 1938 (Die Lesestunde, 15, 1938, S.288 [November]) aber nur noch
als
Der Geheimrat Zet (oder auch unter den Titeln Der schlaue
Geheimrat und Der schlaue Herr Geheimrat).
B. änderte 1940 das Alter des Geheimrats in: »ein behäbiger
Sechziger«.-. Mit dem neuen Titel Der Geheimrat Zet erschien
der Text erstmals in Buchform in: Die deutsche Anekdote, hg. v. Karl Lerbs
(Berlin: Knaur, 1943, S.49I-493).
Vgl. auch S.So2.
S.405 Der Rabe von Elbigenalp
In: Stadtanzeiger für Köln und Umgebung, Nr.411, 14.8.1932.
Zuerst um die beiden ersten und die beiden letzten Absätze gekürzt
in: Uhu, 8, 1932, H.8, S.34-36 [Mai], mit dem Untertitel Eine merkwürdige
Begebenheit; dann vollständig, mit einigen Abweichungen, in: Westfälische
Neueste Nachrichten, Nr. 162, 13.7.1932. B.s Erzählung war der erste
von vier Texten, die im Uhu unter dem Obertitel Merkwürdige Begebenheiten
und ritselhafte Erlebnisse gedruckt wurden (außerdem Geschichten
von Balder Olden, Wilhelm von Scholz und Hans Fallada). Ihnen war folgender
redaktioneller Vorspann beigegeben:
In den Erlebnissen, die hier mitgeteilt werden, kommen keine Gespenster,
keine Magnetiseure und keine Medien vor. Die Erzähler sind auch keine
mit dem »zweiten Gesicht« begabten Menschen. Als Schriftsteller
von Beruf und Darsteller des Lebens sind sie gewohnt, genau zu beobachten
und ihre Eindrücke beständig zu kontrollieren. Derart rätselhafte
Begebenheiten können jedem passieren, und sicher könnten sie
ähnliche aus ihrem Leben berichten.
Bereits 1930 war, mit ähnlicher Zielsetzung, die literarische
Anthologie Mondstein. Magische Geschichten, hg. v. F Schauwecker, erschienen
(Berlin: Frundsberg Verlag; mit Beiträgen von W Bergengruen, O. Brües,
H. Johst, E. Jünger, E. v. Salomon, P Zech u.a.); 1932 gipfelte die
Diskussion über Okkultismus, Sektenwesen und Wunderglaube in dem kritischen,
von Rudolf Olden verantworteten Sammelband Das Wunderbare oder Die Verzauberten.
Propheten in deutscher Krise (Berlin: Rowohlt).
Es ist dies im übrigen der letzte Text, mit dem der bayerische
Dichter demonstrativ in die Berliner Literaturszene einbezogen wird (vgl.
Komm. in Bd.I).
Der Text wurde in den dreißiger Jahren häufiger in Zeitungen
gedruckt, dann aber von B. nicht mehr angeboten. - Der biographische Hintergrund
dieser Geschichte ist B.s Aufenthalt in dem Tiroler Dorf Elbigenalp, im
Juli/August 1929, »im Lechtal, in einem wunderbaren Bauernhaus, voll
Heuduft, es waren schöne vier Wochen« (an Jung 8.4.1947); B.
schrieb dort den zweiten Teil des Hamlet-Romans (vgl. auch Komm. in Bd.III,1).
S.408 Schnee überm Oktoberfest
In: Stadtanzeiger für Köln und Umgebung, Nr.49t, 26.9.1932.
Zum Teil leicht überarbeitet erschien der Text in den dreißiger
Jahren in mehreren Zeitungen.
Eine wiederum leicht überarbeitete und gekürzte Fassung druckte
die Zeitschrift Merian im München-Heft von 1957 (10, H.12, 1957, S.74f.;
diese Fassung, erneut mit nur ganz unwesentlichen Abweichungen, auch in
AuE (S.107-112).
Vgl. zu diesem Text die frühe Skizze von igii mit dem Titel Die
Dult (Bd.l).
S.414 Judas Perlachinger
In: Stadtanzeiger für Köln und Umgebung, Nr. 117, 5.3.1933.
Offenbar entschloß sich B. sehr schnell, den Titel zu ändern:
Erstmals u.d.T Die Ringe der Äbte erschien der Text in: Magdeburgische
Zeitung, Nr.230, 7.5.1933.
B. spielte zunächst mit dem Gedanken, ihn in seine Novellensammlung
Das
treue Eheweib aufzunehmen (vgl. Komm. S.455), ließ den Text aber
liegen und überarbeitete ihn vollständig für einen Druck,
der 1938 im Inneren Reich u.d.T Die bestohlenen Äbte erschien
(5, 1938/39, H.3, S.247-254 Juni 19381). Schließlich überarbeitete
B. den Text ein weiteres Mal grundlegend und integrierte ihn in seine Sammlung
Der
Schneckenweg von 1941 (vgl. Bd.V).
B. hatte für diese Erzählung eine Auszeichnung des Stadtanzeigers
für Köln und Umgebung im Preisausschreiben des Kölner DuMont
Schauberg Verlags vom September 1932 erhalten (»Unsere dritte Preiserzählung);
für seine Erzählung Das Bild, die erst 1941 u.d.T Der
Verräter im Schneckenweg wieder erschien, hatte B. sogar den Hauptpreis
des Kölner Stadtanzeigers zugesprochen bekommen (vgl. Komm. in Bd.II).
Den Sonderpreis des Stadtanzeigers gewann Gustav Schenk für die Erzählung
Der
Gorilla, eine zweite Auszeichnung neben B. erhielt Friedrich Griese
für die Skizze Der Bach (vgl. Stadtanzeiger für Köln
und Umgebung, Nr.65, 4.2.1933).
Die ungewöhnliche doppelte Auszeichnung B.s demonstrierte die
große Wertschätzung, der er sich im Rheinland, gefördert
durch Otto Brües, Feuilletonleiter des Stadtanzeigers und seit 1933
auch der Kölnischen Zeitung, schon seit Mitte der zwanziger Jahre
erfreute; eine Wertschätzung, die bis in die fünfziger und sechziger
Jahre reichte und ihren Ausdruck in der Verleihung des Immermann-Preises
der Stadt Düsseldorf 1953, des Großen Kunstpreises des Landes
Nordrhein-Westfalen 1961 und in zahlreichen Lesereisen fand, die B. immer
wieder in den rheinischen Raum führten.
Die Erzählung spielt im niederösterreichischen Dürnstein,
bei Krems in der Wachau an der Donau, einem geschichtsträchtigen Ort
mit mächtiger Burg(ruine) -auf der
1192-1 193 Richard Löwenherz nach seiner Rückkehr aus dem
Morgenland von Hadamar II. von Kuenring gefangengehalten wurde, bis ihn
Herzog Leopold an Kaiser Heinrich VI. auslieferte. Das im Mittelpunkt von
B.s Erzählung stehende Chorherrenstift, ein Höhepunkt österreichischer
Barockarchitektur, war 1788 aufgehoben worden! Während der Napoleonischen
Kriege wurden am 11.November
1805 unterhalb von Dürnstein die Franzosen von Russen und Österreichern
geschlagen. Zeitlich kurz davor ist der von B. »nach einer wahren
Begebenheit<« geschilderte Vorgang der Plünderung geschehen
(an Jung, 25.10.48). B. selbst war einmal eine Woche in und um Dürnstein
(Spitz, Melk, St.Michael) auf einer Wanderung gewesen und kannte die Umgebung
sehr gut (ebd.).
S.420 Der gemalte Blitz
In: Danziger Neueste Nachrichten, Nr.211, 9.9.1936.
Der Text erschien zunächst etwa ein dutzendmal in kleineren Zeitungen,
in mehreren sprachlichen Überarbeitungen bis zu einer Fassung in Die
Lesestunde [D] (i7, 1940, S.48 [Juni]). Stark abweichend sind hier vor
allem der Anfang (den B. immer wieder neu formuliert hat) und der Schluß.
S.420, Z.1-9: Weit hinten lag das Dorf [...] das Unheil! D: Weit hinten
lag das Dorf, zierlich, wie aus dem Spielzeugkasten, die Häuser und
die Kirche, und hoch über dem Dorf schwebte eine kleine, eisengraue
Wolke, die hatte das Ansehen eines ruhenden, krauswolligen Lammes, und
in dieses Wolkenlamm war wie ein Feuersäbel der Blitz gefahren und
hatte es durchbohrt, bös und mitleidlos, und unten aus dem Bauch sah
die Spitze des Säbels fürchterlich hervor. Unbeweglich stand
die Wolke und unbeweglich steckte der rote Blitz in ihr. Alles war friedlich
und heiter auf dem Bilde sonst, nur über dem fernen, hingeduckten
Dorf die kleine, eisengraue, blitzdurchzuckte Wolke kündete Gewitter
und Sturm an.
S.422, Z.18f: ihr kindliches Entzücken bekunden werden. D: ihr
Entzükken bekunden werden - aber das ist vielleicht nur Hochmut, oder
die Unfähigkeit des Gealterten, sich auch nur vorzustellen, daß
der Glanz seiner Jugend unverblaßt bei anderen dauert.
S.423 Die gepeitschte Sünderin In: Simplicissimus, 41, 1937, S.377 [25 Juli.]
ZUR EINRICHTUNG DES ANHANGS
Orthographie und Interpunktion der im Anhang zitierten Briefstellen
wurden normalisiert; vor allem B.s eigenwillige, inkonsequente Orthographie
wurde vereinheitlicht (vgl. auch Komm. in Bd.I, S.667).
Zitatnachweise werden vollständig gegeben; nur in wenigen Fällen,
bei mehrfacher Zitierung, wurde abgekürzt nachgewiesen. Der vollständige
Nachweis findet sich im Verzeichnis Siglen und Abkürzungen. Auf die
weiteren Bände dieser Ausgabe wird mit der Angabe der Bandnummer in
römischen Ziffern verwiesen.
Briefe B.s werden durch die Namensnennung des Adressaten und die Angabe
des Datums nachgewiesen; ebenso zitiert werden die Briefe an B. Die Briefe
an Georg Jung und Alexander Wetzlar bilden gesonderte Konvolute im B.-Nachlaß
in der Staatsbibliothek München (Handschriftenabteilung). Die Briefe
an Hermann Sendelbach und Fritz Knöller befinden sich in der Monacensia-Abteilung
der Stadtbibliothek München (Nachlaß H. Sendelbach, Nachlaß
E Knöller).
Siglen und Abkürzungen
B - Sammlungen (Druckvorlagen für diesen Band).
E - Erster Druck oder Erste Fassung.
D (D 1, D 2, D 3) - Druck(e) mit Abweichungen von B.
M - Michael und das Fräulein und andere Geschichten. Frankfurt
am Main:
Iris-Verlag 1927.
Gedichte - Gedichte. Dresden: Wolfgang jeß 1930.
EI - Erzählungen 1920-1936 (Gesamtausgabe in Einzelbänden
[3]).
München: Nymphenburger Verlagshandlung 1958.
EII - Erzählungen 1937-1940 (Gesamtausgabe in Einzelbänden
[41). München: Nymphenburger Verlagshandlung 1959.
AuE - Anfang und Ende. Erzähltes und Dramatisches aus dem Nachlaß
(Gesamtausgabe in Einzelbänden [8]). Hg. v. Georg-Britting-Stiftung Britting und
Friedrich Podszus. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1967.
B. - Georg Britting.
DLA - Deutsches Literaturarchiv, Marbach. am Neckar.
GV - Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1911-1965.
Hg. v. Reinhard Oberschelp. Bearb. unter Leitung von Willi Gorzny.
Bd.19. München: Verlag Dokumentation Saur KG 1976.
Bode - Dietrich Bode: Georg Britting. Geschichte seines Werkes.
Stuttgart: Metzler 1962.
Haefs - Wilhelm Haefs: Die unheimliche Idylle. Georg Britting in den
30er Jahren. In: Georg Britting (1891-1964). Hg. v. Walter Schmitz. München:
Süddeutscher Verlag 1987, S.44-54.
Hohoff - Curt Hohoff: Unter den Fischen. Erinnerungen an Männer,
Mädchen und Bücher 1934-1939. Wiesbaden und München: Limes
1982.