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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung
Band 5
Seite 11
Kommentar
Seite 368
Aus: »Der
Schneckenweg«
als
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Der Schneckenweg
Um die Jahrhundertwende
war der Freiherr
von Zeeh, ein großer, magerer Mann mit feurigen Augen, schon
weit über fünfzig Jahre alt, aber das sah man ihm nicht an, und
seit über zwanzig Jahren war er Maler, nachdem er vorher Reitoffizier
gewesen war, und das konnte man ihm eher ansehen, oder sich einbilden,
es ihm angesehen zu haben, wenn man es dann erfuhr. Den kurzen Krieg gegen
Frankreich im Jahre 187o hatte er als Leutnant mitgemacht und war verwundet
worden, und der schlecht verheilte Schuß zwang ihn sein Leben lang,
beim Gehen das linke Bein etwas nachzuziehen, aber das sah gut aus an ihm
und gab seinem Gang etwas fröhlich Nachlässiges, damit er gleich
auffiel. Zu reiten und seinen Dienst zu tun, daran hatte ihn der kleine
Mangel nicht gehindert, und auch nicht einmal daran, zu Rennen in den Sattel
zu steigen und über die grüne Grasbahn hinzufegen, und nicht
seines verkürzten Beines wegen hatte er von der geliebten Waffe dann
Abschied genommen, da war er schon Rittmeister, sondern weil es ihn unwiderstehlich
vor die Staffelei hingezwungen hatte, Maler zu werden, und man zählte
ihn bald zu den besten seiner Zeit.
Aber er vergaß über
dem Malen nicht zu leben, und tat das eine wie das andere mit aller Herzens-
und Sinnenkraft, und hatte nur Staunen für die, die es anders damit
hielten, oder halten mußten, in ihrer Schwäche. Er war ein Jäger,
der den Bock und die Schnepfe und den roten Fuchs schoß, aber er
konnte auch stundenlang, ohne die Flinte anzurühren, im hohen Sommergras
liegen und träumen wie ein junger Dichter, der erwachsene Mann mit
den ersten weißen Fäden im Spitzbart, aber Verse machte er nicht,
wenn sie ihm auch durch den Kopf blitzen mochten, wie Gold funkelnd aus
der schwarzen Tiefe herauf.
Im Grase zu liegen: er
hatte einen Lieblingsplatz dafür, eine Gehstunde nur von seinem Wohnhaus
entfernt, unter einer uralten, geborstenen Weide, neben einem Bach, über
den ein hölzerner Steg führte, und nirgendwo sonst wuchs das
niegeschnittene Gras so hoch wie dort, in den Flußauen. Und wo vom
Steg ab der schmale, brennesselüberwucherte Pfad sich zum Flusse wandte,
da waren die vielen Schnecken, rote, ohne Haus, und graue, die ein Haus
trugen, und wer den Pfad ging und die Füße noch so vorsichtig
setzte, es knackte immer wieder, als zertrete man Nüsse, es waren
aber die brechenden Schneckenhäuser. Und diesen Schneckenpfad ging
der Freiherr im Sommer nicht gern, er führte aber am schnellsten zu
seinem Hochstand am Fluß.
Er liebte die Karten,
das farbige Gebetbuch des Teufels, und spielte gern hoch und scharf, und
wenn er nach dem Süden fuhr, sich den Winter zu verkürzen, und
kein Jahr verging, da er das nicht tat, versäumte er es nie, den Umweg
über die kleine weiße Bergstadt am Meer zu nehmen, darin sich
die Spieler aus aller Welt einfinden, und zitternd erprobte er die rollende
Glückskugel, Sieg und Niederlage mit Lust und Schmerz zu genießen,
wie es sich eben traf.
Den Freuden der Tafel
war er sehr zugetan - wie hätte es anders sein können bei einem
Mann seines Schlages! - und er hatte gern schöne Frauen und gute Freunde
um sich am geschmückten Tisch versammelt und war, das heitere Weltkind,
der angenehmste Wirt, den man sich denken konnte, jeden Scherz und jedes
Witzwort wie ein Ballspieler aufnehmend, selber sprudelnd von Einfällen,
hell auflachend, ob ihm eine ins Schwarze treffende Bemerkung geriet, oder
ob sie von einem seiner Gäste stammte, das minderte sein Vergnügen
nicht.
Auf seinem Schloß,
im Schwäbischen gelegen, tief in Wäldern versunken, verbrachte
er die Sommermonate, Forellen fischend und jagend, und auch, Fischen und
Jagen vergessend, zeichnend und malend, und das war ihm eine Lust und Qual
zugleich, aber er redete über beides nicht, und überhaupt nicht
gern über seine Bilder.
In der süddeutschen
Hauptstadt, in der er lebte, hatte er eine große Werkstatt im Gebäude
der Hochschule für bildende Kunst. Er hatte es für seine Pflicht
gehalten, die Lehrstelle nicht auszuschlagen, obwohl sie ihm viel Zeit
raubte und nur wenig einbrachte, gemessen an den Preisen, die man ihm für
seine Bilder bezahlte, und die Schüler kamen in Scharen zu dem berühmten
Mann. Er hatte noch einen anderen, kleineren Arbeitsraum in der Stadt,
aus der Zeit noch her, da er begonnen hatte zu malen, hoch unter dem Dach
eines der grauen Häuser des Malerviertels im Norden, und auch in dem
Haus natürlich, das er bewohnte und das ihm gehörte, zwischen
Gärten am Flusse liegend, an das mit Feldern und Wind das Land sich
heranschob, hatte er eine mächtige Werkstatt sich eingerichtet, und
mit der im Schloß waren es deren vier, die er zur Verfügung
hatte.
Und in allen vier Werkstätten
standen halbfertige Bilder auf den Staffeleien oder lehnten an den Wänden.
Es war ihm nicht gegeben, wie den Malern seiner Zeit allen nicht, lang
und zäh und unablässig an einem Bilde zu malen, im ersten Anlauf
mußte es ihm gelingen, oder nicht, wie man vom Löwen sagt, er
springe nicht zum zweitenmal auf dasselbe Wild, wenn ihm der erste Sprung
mißlang. In einer Art von Verzweiflung, in die sich Glück mischte,
bestaunte er die feste und edle Form der alten Meister, ihre bestürzende
Farbigkeit und die Fülle ihrer Gesichte - aber er mußte mit
dem Seinen auskommen! Wie hatten die ein Stück Wald bloß gemalt,
der tief sich verlor mit goldenen Bäumen und dunkelgrünem Moos,
was waren das Gesichter, die einen anblickten, und wie blühten auf
ihren Bildern Blumen, Gras und Unkraut in üppiger Mächtigkeit,
wie heut nicht mehr! Mit Nachahmung war da nichts getan, wie es manche
billig versuchten. Man mußte auf seine Weise mit der Welt fertig
werden, die gemalt werden wollte wie je, sie verlangte es herrisch. Aber
sie selber war nicht mehr so leuchtend und morgenfrisch, und ihr Abbild
darum auch nicht. Aber das mußte ertragen werden, und das tat er
schweigend und gewann eine heitere Gelassenheit daraus und eine Verachtung
für die Stümper, die sich übernehmen.
Einmal hatte ihn einer
seiner Schüler gesehen, in der großen Gemäldesammlung der
Stadt, wie er lang vor einem Bild verweilte, bis er sich endlich abwandte,
und dem Schüler konnte es nicht entgehen, daß dem Freiherrn
die Tränen übers Gesicht liefen. Der winkte ihn, als er ihn dann
erkannte, zu sich heran, und seine Augen waren noch naß, aber seine
Stimme klang voll und zufrieden, als er dann sagte: Man sollte vielleicht
doch nicht mehr malen! Als der Schüler, bestürzt, daß der,
der ihm unerreichbar schien, so redete, etwas Abwehrendes stammeln wollte,
lachte der Freiherr, mit ganz plötzlich wieder strahlendem Gesicht
und sagte, und rüttelte ihn zärtlich an der Schulter wie einen
Sohn: Jetzt gehen wir beide aber gleich und erst recht wieder vor unsere
Leinwand! und ließ ihn stehen und ging mit eiligen Schritten davon,
und das war die schönste Lehrstunde, die der Schüler je gehabt
hatte.
In dem Haus am Fluß
war der Freiherr verheiratet gewesen, mit einer ungewöhnlich schönen
Frau aus dem Volke, in einer kurzen und wilden Ehe, die nicht dauern konnte,
wie man das allgemein und spöttisch vorausgesagt hatte. Die Frau,
von riesigem Wuchs und mit dem kuhäugigen Gesicht einer Göttin,
war früher Kellnerin gewesen, und er hatte sie, wozu sie nimmermehr
taugte, als Hausfrau heimgeführt, selber über sich lächelnd
und seine Torheit. Seltsam genug, daß er es gerade mit ihr wagte,
von bedenklicher Herkunft und angetasteten Rufes, und waren doch Frauen
in seinem Leben gewesen, in allem dazu angetan, daß man sie vor den
Altar führe, die demütig Stolzen, aber nie war es dazu gekommen,
und mit Tränen und Leid und Scham oder auch mit Gleichgültigkeit
hatte es jedesmal geendet. Und nun war es ihm geschehen, daß er zu
heiraten begehrte, und er hatte es getan. Wenn er daran zurückdachte,
war ihm, die Jahre seiner Ehe seien wie mit Flammen und Rauch erfüllt
gewesen, als hätten sie in einem brennenden Haus gelebt, und der Dachstuhl
habe über ihnen gelodert, funkenwerfend, und gleich würden die
glühenden Balken stürzen, sie zu begraben. Und die Frau gebar
ihm einen Sohn in dem Feuerhaus, der starb aber bald, und dann ließen
sie sich scheiden, nach kaum drei Jahren schon, und die Frau zog in eine
andere Stadt, und sie sahen sich nicht mehr, und ein alter Diener besorgte
ihm seitdem das Hauswesen, von einer Zugehfrau unterstützt, welche
die gröberen Arbeiten verrichtete.
So lief die Zeit dahin,
er hatte schon Hunderte von Bildern gemalt. Keine große Sammlung,
im Inland und im Ausland, die nicht ein Gemälde von ihm besaß,
und Fürsten und große Damen kamen von weither gereist, nur um
von ihm auf der Leinwand sich dargestellt zu sehen, und Reichtum und Ehre
Floß ihm zu, ein goldener Strom. Man erzählte sich, neidvoll
und bewundernd, viele Geschichten aus seinem glücklichen Leben, und
von schönen Geliebten, die er hatte, auch noch als er dann sechzig
und darüber geworden war und das Alter anfing, ihn zu beugen und seinen
Bart gänzlich weiß zu machen, aber seine Augen waren noch immer
voll Feuer und durstig. Oft sah man ihn in guten Weinstuben sitzen, wo
man für Feinschmecker zu kochen wußte und wo man ihn gut kannte
und noch besser bediente, und hin und wieder war dann auch einmal eine
junge Frau an seiner Seite, zu der er das Glas hob, und manchmal eine am
Nebentisch verstand nur zu gut, was jene an den weißhaarigen, schlanken
Mann binden mochte, und der Junge neben ihr gefiel ihr auf einmal nicht
mehr so sehr.
Seine Arbeitskraft verließ
ihn nicht bis zuletzt, und von den Bildern seiner späten Zeit wußte
man zu rühmen, daß sie an Glanz und Tiefe dazugewonnen hatten,
dergleichen sie früher nicht immer besessen. Aber nun galt es, sich
auf den Abschied vorzubereiten, er sah ihm mit klaren Augen entgegen, und
er richtete es so ein, daß eine Stille um ihn entstand, und immer
seltener traf er sich mit alten Freunden, die ihm Vorwürfe machten
deswegen, aber er lächelte nur dazu.
Er wußte von einem
malaiischen Sprichwort, das ging ihm jetzt oft durch den Sinn: daß
nur der einen Mann sich nennen dürfe, der ein Kind gezeugt, einen
Feind getötet, einen Baum gepflanzt und einen Vers gemacht habe. Nun,
das alles konnte er von sich sagen, und seine Verse malte er zwar und schrieb
sie nicht, aber das mochte doch gleich viel gelten, wollte er schon hoffen.
Der Sohn war ihm im Feuerhaus gestorben, er dachte kaum je an ihn und wußte
nicht mehr, wie er ausgesehen, der unbekannte Feind in roten Hosen aber,
den er niedergehauen im klirrenden Anritt, der war mit den Jahren sein
bester Freund geworden, in der Erinnerung, die sie mächtig aneinanderband,
den lebenden an den toten Mann, dessen Gesicht deutlich vor ihm war, zu
ihm aufblickend mit einem unvergeßlichen Blick, dann war es niedergesunken
in den Staub. Und auch Bäume hatte er oft pflanzen lassen, im Garten
seines Hauses und im Schloß garten, und einmal, das Malaienwort auf
den Lippen, hatte er dem Gärtner den jungen Baum aus der Hand genommen
und ihn selber in die Erde gesenkt.
Er war nun schon siebzig
Jahre alt, da rief ihn ein dringender Brief zu seiner geschiedenen Frau,
die, auf den Tod im Krankenhaus einer entfernten Stadt darniederliegend,
nach ihm verlangte. Er reiste sofort ab, an einem schönen Sommertag,
fuhr nach seiner Ankunft vom Bahnhof aus gleich ins Krankenhaus und wurde
in das Zimmer der Sterbenden geführt. Er hatte sie seit zwanzig Jahren
nicht mehr gesehen, es waren auch keine Briefe in all der Zeit zwischen
ihnen hin und her gegangen, und er fürchtete sich ein wenig jetzt:
sie war viel jünger als er, und nun mußte sie doch schon fort,
und er, der Alte, war noch da! Die Kranke habe hohes Fieber, sagte man
ihm, seit Tagen schon rede sie wirr und unzusammenhängend und wisse
oft nicht mehr, wo sie sei, man höre es an den Worten, die sie zu
schattenhaften Gestalten spreche, aber den geliebten Mann erkannte sie
sofort und streckte ihm glücklich auflachend ihre abgezehrte Hand
hin und nahm die seine und ließ sie nicht mehr los. Er sah in ihr
Gesicht, das mager und faltig geworden war, und das Herz zog sich ihm zusammen
beim Anblick dieser Veränderung. Aber was sich auch alles geändert
haben mochte seit ihrer gemeinsamen traurigschönen Zeit, an ihm schien
sie es nicht zu bemerken. Sie sah ihn mit glühenden Augen an, als
sei er der junge Liebhaber von damals. Sie liebkoste seine Hand und breitete
die Arme, ihn zu umfangen, und drückte ihn fest an ihre Brust und
küßte ihn mit heißen Lippen und gab ihm die vertrauten
Namen, die sie ihm früher gegeben hatte, und keinen hatte sie vergessen,
und jeden kannte er wieder, und er wußte nicht, wie er sich benehmen
sollte, in Scham und Rührung. Inzwischen war die Krankenschwester
ins Zimmer getreten und hatte ihm verstohlen ein Zeichen gegeben, daß
es an der Zeit sei, die Kranke zu verlassen, daß ihr die Aufregung
nicht zu sehr schade. So löste er sich vorsichtig aus ihren Armen,
die ihn nicht lassen wollten, und sagte, und seine Stimme war nicht fest,
er müsse jetzt gehen, aber natürlich komme er morgen, und schon
in der Frühe wieder, und wollte sich zur Tür wenden. Bleib doch
noch! schrie aber die Kranke, ach, ich habe dich so lange nicht mehr gehabt!
und ihre Augen glänzten, und sie zerrte an ihrem Hemd, daß die
welke Schulter sich entblößte, und dann sagte sie Worte der
wildesten Raserei, wie die Liebenden sie sich sagen in den Nächten,
und deren sie sich selber schämen müssen am nüchternen Morgen
dann, und die Nonne, die dergleichen nie gehört hatte, errötete
tief unter der weißen Haube über das, was da zu ihr drang. Dann
war der Freiherr gegangen, und als er, nach einer unruhigen Nacht, in der
er wenig Schlaf gefunden, aber viel Zeit, manches zu bedenken, am andern
Morgen wieder kam, war die Frau schon tot, und er wußte, daß
es richtig gewesen war, sie zu heiraten und keine andere. Ohne die Beerdigung
abzuwarten, war er dann wieder heimgereist in sein leeres Haus.
Am Tag nach seiner Rückkehr
ließ er sich wieder einmal, wie oft, im offenen Wagen flußabwärts
fahren und bedeutete dem Kutscher, mit dem Wagen auf der Straße zu
warten, und ging durch einen grünen Gürtel Fichtenwaldes zu den
Flußauen und zu der alten Weide. Die flimmerte im grellen Licht,
und das Gras stand hoch, und an den Blättern der Weide hingen die
weißen Tropfen des Kuckucksspeichels, und mit leisem Geräusch
fiel hier und da ein Tropfen ins Gras, daß er zuerst gemeint hatte,
es wolle zu regnen beginnen - aber wie hätte das sein können,
aus dem wolkenlosen Himmel herab? Er legte sich ins Gras, so, daß
die Tropfen ihn nicht treffen konnten, und schloß die Augen, schlief
aber nicht. Er hörte die tausend Sommergeräusche, ein dünnes
Summen und Brodeln, so kochte die Wiese, und die Hände hatte er ins
Gras gewühlt, tief hinein, wo die Stengel aus der Erde kommen, und
wo es immer kühl ist. So lag er eine Zeitlang, und dann beschloß
er, zu seinem Hochstand zu gehen. So stand er denn auf und ging. Er kam
an den Holzsteg, der Bach floß mit schwarzen, schnellen Stößen,
und neben dem Steg weitete er sich zu einer Bucht, an deren Rand Binsen
wuchsen und in der das Wasser sich zu weißen, schaumigen Strudeln
kräuselte, und grüne Wasserjungfrauen standen zitternd über
der Flut. Er ging über den Steg, und der schmale Pfad, der nun kam,
war kaum zu sehen, so war er bedrängt von Brennesseln, Gras und dem
niederhängenden Gezweig von Sträuchern.
Heuer waren wieder so
viele wie sonst, und mehr noch, Schnecken da. Die kleinen, in den gelblichen
und grauglänzenden Häusern, saßen auf Halmen und auf den
Blättern des Elefantenohrs, die großen krochen am Boden dahin,
die grauen, behausten, und die roten, die kein Haus trugen, auch – es war,
als sei da eine Heerstraße der Schnecken oder ihr großer Lagerplatz,
zu dem sie von weither zusammenkamen. Er wollte die Tiere schonen und schaute
zu Boden, daß er keines zertrete, und bückte sich, sie aufzuheben,
und warf sie wie Steine raschelnd in die Sträucher. Aber der Pfad
war mit Gras überwachsen, und im Gras verborgen entgingen die Tiere
seinen Augen, aber nicht seinem Fuß, und bald ertönte das knackende
Geräusch eines brechenden w, Gehäuses, und wieder und wieder,
und er zuckte jedesmal schmerzlich zusammen. Dann mußte er es aufgeben,
die Schnecken zu schonen, es waren ihrer zu viele, er hörte es krachen
und splittern, und ging schneller, und begann dann zu laufen, und mit Lust
stampften seine Schritte jetzt den Boden, erbarmungslos zu töten.
Die Zweige der Sträucher, die den Pfad säumten, schlugen ihm
ins Gesicht, und weil auch auf ihren Blättern der Kuckucksspeichel
saß, klatschte es ihm naß über Stirne und Mund und Augen,
und bei jedem Schlag, den er empfing, und der ihm weh tat und ihn demütigte,
trat er um so heftiger auf, als wolle er an den schuldlosen Schnecken sich
rächen. Als der Pfad ihn endlich am Flußufer ins Freie entließ
und er keuchend stand, waren sein Gesicht und sein Bart beschmiert von
der klebrigen Nässe der weißen Tropfen, und auch sein Anzug
war mit Flecken weißen, ekelhaften Speichels bedeckt, und ihm war,
er sei Spießruten gelaufen zwischen wilden Männern, höhnisch
im Gesträuch verborgen, den fliehenden Greis mit ihrem Auswurf zu
verunreinigen, und fast schien ihm, er habe die verzerrten Gesichter der
Wütenden gesehen.
Er säuberte sich
mit zitternden Händen und wischte mit Gras die Schuhsohlen ab, an
denen die schleimigen Überreste der getöteten Schnecken hingen,
und ging nicht mehr zum Hochstand, und auf Umwegen zu seinem Wagen zurück,
und befahl die Heimfahrt, und der Kutscher erschrak, als ihn der Freiherr
mit flackernden Augen anblickte.
Drei Wochen später
starb der Freiherr schnell und unerwartet an einem Herzschlag. Die Zeitungen
veröffentlichten lange Nachrufe auf ihn, in denen Werk und Persönlichkeit
des Verewigten eingehend gewürdigt wurden, und die Beerdigung fand
mit großem Gepränge statt. Hunderte von Teilnehmenden waren
herbeigeeilt, und Vertreter von Staat und Stadt und großen Körperschaften,
und auch bloß Neugierige, die einmal sehen wollten, wie ein großer
Mann zu Grabe getragen wird. Als Erben seines Vermögens und seines
gesamten Nachlasses hatte der Freiherr in seinem letzten Willen seines
jüngeren Bruders einzigen Sohn bestimmt, der ihm schon immer lieb
gewesen war. Am Tage nach der Beisetzung ging der Neffe in das Haus seines
toten Onkels, das ja nun ihm gehörte, und in der Halle empfing ihn
der Diener. Er solle ihn durch das Haus führen, begehrte der Neffe,
und sie schritten durch die Räume, die wohleingerichtet waren. Die
Böden spiegelten, die alten Schränke glänzten, und der Neffe
sprach dem Diener sein Lob aus, wie schön und ordentlich alles gehalten
sei. Aber das hätte der verstorbene Freiherr, darin peinlich wie ein
alter Soldat, nicht anders geduldet, wehrte der bescheiden ab. Als sie
dann zum ersten Stock hinaufstiegen und der Diener wieder ein Zimmer wies
und der Neffe die Klinke an der Tür des nächsten niederdrückte
und die Tür öffnen wollte, war sie versperrt. Den Schlüssel
zu diesem versperrten Zimmer habe er nicht, sagte der Diener, und auch
nicht zu den anstoßenden Zimmern. Sie habe der Freiherr abgeschlossen,
eins nach dem andern, im Lauf der letzten Jahre, und sie selber wohl nie
mehr betreten, und die Schlüssel dazu müßten in seinem
Schreibtisch liegen.
Dort fanden sie sich auch.
Der Neffe steckte selber den Schlüssel zum ersten der versperrten
Zimmer ins Schloß und sperrte es auf und trat ein und der Diener
hinter ihm. Es war dämmerig im Raum, die Sonne, die draußen
lag, drang nur dünn durch die Ritzen des herabgelassenen hölzernen
Rollvorhangs, und so drehte der Diener die Deckenbeleuchtung an. Sie sahen
einen weißgedeckten Tisch, Teller und Geschirr und Weingläser
darauf, als seien Speisende eben vom Mahl aufgestanden. In einer Vase ließen
blaue und rote Blumen die vertrockneten Köpfe hängen, und als
der Neffe sie anrührte, zerbröckelten sie unter seinen Händen.
Die Luft roch modrig, und der Fußboden war so mit feinem Staub bedeckt,
daß die Spuren ihrer Schritte sich abzeichneten.
Als der Neffe dann das
anstoßende Zimmer aufsperrte, die Tür weit offenstehen lassend,
war es dämmerig in ihm auch, und auch hier war der Rollvorhang herabgelassen,
und wieder war ein weißgedeckter Tisch da, und noch Gläser und
Schüsseln darauf, von einem beendeten Mahl, und welke Blumen in einer
Schale, und aus einem Kühler ragte der Hals einer Weinflasche. Und
was klares Eiswasser gewesen war in dem silbernen Kübel, das war ein
trüber, grünlicher Bodensatz nun, vom Schimmel weiß überzogen.
Und überall lag Staub, und mehr als im ersten Zimmer, auf dem Boden
und auf jedem Schrank und Stuhl.
So war es auch im nächsten
Zimmer, das der Neffe aufsperrte: sie hatten es gar nicht mehr anders erwartet,
die beiden, der Neffe und der Diener, auf diesem wunderlichen Weg in die
Vergangenheit. Die Zimmer stießen eins ans andere, durch Türen
miteinander verbunden, und das Licht drehten sie nicht mehr an, als scheuten
sie sich, das Bild der Verlassenheit zu sehr zu erhellen, und sie sprachen
mit so leiser Stimme miteinander, als sollte sie niemand hören dürfen.
Sie traten an den Tisch heran, an dem man gespeist hatte, mit Geschirr
darauf, in dem verschimmelte Reste von Fleisch und Brot waren, und auf
dem geleerte Gläser standen. Neben einem Weinglas lag ein zerknülltes
Tuch. Der Neffe nahm es auf und schüttelte den Staub daraus. Es war
ein kleines, zartes Taschentuch, wie es Damen benützen, und die Zerstreute
hatte es liegengelassen und vergessen und auch nicht mehr zurückverlangt
oder es sich wiedergeholt.
Sie öffneten das
nächste Zimmer, das vierte nun von fünfen, die seit Jahren versperrt
gewesen waren, sagte der Diener. Dämmerig lag der Raum vor ihnen wie
die andern. Wieder war der Tisch da, an dem gegessen und getrunken worden
war und geredet und gescherzt und gelacht, und kein Schall war mehr da
von den Worten, bösen und guten, aber die verstaubten Teller und Gläser
waren noch da und der zerknitterte Blumenstrauß, und der Staub, der
sich über alles gelegt hatte, grau und flaumig, war hier schon wie
eine dicke Aschenschicht, denn je weiter sie vordrangen, von Zimmer zu
Zimmer, desto weiter drangen sie ja in die Vergangenheit zurück, und
desto modriger und totengrüftiger wurde die eingesperrte Luft.
Und dann waren sie im
letzten der versperrt gewesenen Zimmer. Sie hatten die Türen, die
von Zimmer zu Zimmer führten, alle weit offenstehen lassen, und in
dem Zimmer, das sie zuerst betreten hatten, brannte noch das Deckenlicht
und drang, wie aus der Tiefe eines Schachtes her leuchtend, matt bis zu
ihnen. Vor vier Jahren vielleicht sei es gewesen, erinnerte sich der Diener,
daß ihm der Freiherr zum erstenmal gesagt habe, er habe ein Zimmer
verschlossen, im ersten Stock, und niemand solle sich darum kümmern.
Der noch gedeckte und verlassene Tisch stand hier an den Ofen gerückt,
wie wärmesuchend, mit zwei Gläsern darauf- nie hatten mehr als
zwei oder drei Menschen gespeist gehabt in
jedem der Zimmer, an der Zahl
der Gläser war es immer zu erkennen gewesen. Schwarze Spinnwebfahnen
hingen von der Decke herab, und auch zwischen den zwei Gläsern auf
dem Tisch war ein Netz gespannt, und eine riesenbeinige Spinne lief aufgestört
zwischen den Tellern davon, und wovon die nur gelebt haben mochte, all
die Jahre? Aber tote und ausgedörrte Fliegen hatten sie auch in den
andern Zimmern liegen sehen, die mochten dort verhungert sein aber die
in dem Zimmer hier hatten den Spinnen als Nahrung gedient.
Langsam gingen dann die
zwei den Weg zurück, den sie gekommen waren, durch die Zimmerflucht,
auf ihren eigenen Spuren, ihren Fußstapfen nach, und der Staub wirbelte
unter ihren Schritten, und es war ihnen wie grabschänderisch zumut
auf diesem Gang. Als sie dann im Flur waren und das volle Sonnenlicht sie
mächtig beschien, sahen sie, daß ihre Schuhe grau bestaubt waren,
als hätten sie eine lange Wanderung hinter sich, und sie waren ja
auch vier Jahre unterwegs gewesen.
Der Diener war gegangen
und wieder gekommen, mit Bürsten und Lappen, die Schuhe des Neffen
zu säubern, und der war inzwischen vor das Haus hinausgetreten und
stand auf der Treppe, die zum Garten führte, und während der
alte Mann die Bürste schwang, sah der Neffe über den Garten hin,
der mit hohen Bäumen und Gesträuch bis zum Flußufer hinab
sich dehnte. Die grünen Wipfel glänzten im Licht, und wo der
weiße Kiesweg eine Schleife machte, sah man den Brunnen, eine große
Marmorschale auf steinernem Sockel ruhend, und deutlich sah man aus der
Schale einen Wasserstrahl aufsteigen und in der Sonne funkeln. Dort habe
er den Freiherrn tot gefunden, sagte der Diener, und zeigte auf den Brunnen,
vor vier Tagen nun. Der Freiherr habe zu Mittag gespeist gehabt, im Eßzimmer,
und nur wenig gegessen, und der Wein habe ihm nicht geschmeckt, und er
habe einen andern sich bringen lassen.
Aber auch der sei nicht nach
seinem Gefallen gewesen. Er habe nur einen Schluck davon genommen und den
Kopf geschüttelt, und dann habe er Wasser verlangt. Er, der Diener,
habe ihm ein Glas frischen Wassers gebracht, aber der Freiherr habe es
nur mißmutig betrachtet und gesagt, das sei ja schales Zeug, und
er ginge jetzt selber zum Brunnen, dort zu trinken, und er brauche kein
Glas dazu, er wisse noch gut, wie sie es als Buben gehalten hätten,
und das könne er noch: den Mund an den Strahl legen und davon schlürfen.
Damit sei er aufgestanden und in den Garten gegangen, und er, der Diener,
habe nicht gewagt, ihm zu folgen, obwohl er es gern getan hätte, weil
ihm das Wesen des Herrn bedenklich vorgekommen sei. Aber vom Küchenfenster
aus habe er den Freiherrn beobachten können und habe gesehen, daß
er, vor dem Brunnen angelangt, sich niedergekniet habe, so besser trinken
zu können. Er habe die Hände auf den Rand der Schale gelegt und
lang dem steigenden und fallenden Strahl zugesehen, und dann habe er nicht
den Mund an den Strahl gehalten, sondern das Gesicht tief in das Wasser
der Schale getaucht, so lang, daß es ihn, den Diener am Fenster,
schon ängstigte, und dann habe der Freiherr den Kopf gehoben und sei
aufgestanden, und plötzlich sei er neben dem Brunnen zusammengesunken.
Er sei voll Sorge hingelaufen, sagte der Diener, aber der Freiherr sei
schon tot gewesen, als er bei ihm ankam, und in seinem Bart und in seinen
Haaren hätten die Wassertropfen geblitzt wie der Tau im Gras, daß
er nicht gewagt habe, sie mit seinem Taschentuch abzuwischen.
Der Neffe ging dann allein
zu dem Brunnen. Weiß hob sich der Strahl und sank und stieg mit neuer
Kraft, wie vor Erregung zitternd, und der Neffe tauchte die Hand in die
Schale. Das Wasser war von eisiger Frische, und der Neffe ließ die
Hand so lange darin, bis ihm war, sie würde gefühllos. Es lockte
ihn, auch das Gesicht in das Nasse zu tauchen, aber er tat es nicht und
sah zum Haus hin, wo das Küchenfenster sein mochte, und von wo aus
man ihn vielleicht beobachtete. Da nahm er die Hand aus dem Wasser und
ging ein Stück tiefer in den Garten hinein, bis an den hölzernen
Zaun, der ihn vom Nachbargarten trennte. Am Zaun wuchsen Himbeerstauden
in großer Menge. Die roten Früchte waren reif und überreif,
und das Rankenwerk glühte in der Sonne, und geflügeltes Getier,
Hummel und Biene, umschwirrte es. Der Neffe pflückte sich eine Handvoll
der Beeren, die waren trocken und heiß, und legte sie auf ein großes,
grünes, kühles Blatt. Dann schlug er einen Bogen und kam auf
einen Nebenpfad und ging den, von den Beeren essend, und sah eine Sandsteinfigur
stehen, halb verwittert, vom Regen ausgewaschen, und es war nicht zu erkennen,
ob das ein Heiliger sein sollte oder ein heidnischer Gott, und mit einem
Armstumpf langte die Steingestalt in die blaue Leere des Himmels hinauf.
Der Neffe legte das Blatt mit dem kleinen Häuflein Beeren, das noch
darauf war, vor der Gestalt nieder wie ein Opfer: und wenn der Gott es
verschmähte oder der trotzköpfige Heilige es ungnädig ablehnte,
so mochten es die Vögel fressen. Dann ging er langsam zum Haus zurück.
Als er wieder auf der
Haustreppe stand, hörte er ein Rasseln über sich, ein Rolladen
im ersten Stock fuhr knarrend hoch, ein Fenster wurde aufgestoßen,
und fünfmal, wie Donner, prasselte es über ihm, und fünfmal
fuhren Fensterflügel auseinander, frische Luft einzulassen: der alte
Diener war schon an der Arbeit. Dann beugte er sich auch aus einem der
Fenster und schrie herunter, das gäbe nun zu tun, und morgen ließe
er Putzfrauen kommen, und in ein paar Tagen schon könne er, der Erbe,
das Haus vom Boden bis zum Keller gesäubert finden und in Besitz nehmen,
und der nickte nur.
Drucknachweise und Anmerkungen:
Der Schneckenweg
Erstausgabe: Der Schneckenweg. Erzählungen.
München: Albert Langen/Georg Müller 1941. 195 Seiten
Leinen mit Schutzumschlag. Preis 3.80 RM.
1938 war Brittings letzter Prosaband Das gerettete Bild erschienen.
Bei der Zusammenstellung des „Schneckenweg“, einer Sammlung von acht Erzählungen,
griff Britting teilweise auf Geschichten zurück, deren Wurzeln bis
in die zwanziger Jahre hinabreichten, etwa "Das Märchen vom dicken
Liebhaber", "Die Base aus Bayern" oder "Ulrich unter der Weide". Sie sind
zumeist in Bayern angesiedelt; für "Die bestohlenen Äbte"
ist der Ort Dürnstein in der Wachau Schauplatz der Handlung. In der
in München spielenden Geschichte "Der Flüchtling" wird der ‘Mann
Kruch’ durch den einstigen Todessturz der Fanny Ickstatt vom nördlichen
Münchner Frauenturm zu seinem herostratischen Selbstmord angeregt.
Vorbild für die Hauptfigur der in der Vorweltkriegszeit angesiedelten
Titelgeschichte "Der Schneckenweg" war der Maler und Akademiepräsident
Hugo
Freiherr von Habermann. Fünf der acht Geschichten waren als Erstdrucke
im Inneren Reich veröffentlicht.
1949 legte die Nymphenburger Verlagshandlung eine im Text unveränderte
Auflage dieses Erzählungsbandes mit der Auflagenbezeich-nung
22.bis 24.Tausend vor.
In die Nymphenburger Gesamtausgabe wurde der "Schneckenweg" mit Ausnahme
von „Ulrich unter der Weide“ in den Band 5: Erzählun-gen III (1941-1960),
Seite 5-104 aufgenommen. Letztere Erzählung reihte Britting in Band
4: Erzählungen II (1937-1940) ein.
Unter der Überschrift "Bayrisches Sprachbarock. Ein stilkritischer
Versuch statt einer Buchbesprechung" rezensierte W.E.Süskind in Die
Literatur [Das literarische Echo, 44.Jg.Heft 3, Dezember 1941] die Neuerscheinung:
Eine einfache Buchbesprechung käme nämlich nicht ohne Wiederholungen
aus; denn Britting ist in seinem neuen Buch um kein Haar anders als in
den vier oder fünf Geschichtenbüchern, die wir von ihm kennen,
höchstens hat er sich in seiner Eigenart noch gesteigert. Auch ist
ihm gegenüber gar nichts damit geleistet, daß man etwa die Fabeln
seiner Erzählungen aufsagt; dagegen alles darauf an-kommt, die höchst
eigentümliche dichterische Natur des Mannes darzustellen. Das ist
aus verschiedenen Gründen nicht einfach, einmal weil bei ihm in einem
heute ungewöhnlichen Maß auch die Prosa, die Erzählung,
selbst die Anekdote in die Gattung des Gedichts schlägt; zum andern
weil er - ohne "tief", ohne "esoterisch" zu sein - vielen Menschen, auch
solchen, die zu lesen und zu differenzieren verstehen, Schwierigkeiten
macht.[...] Es ist nicht zu verschweigen, daß die Schwierigkeiten,
die Britting vielen Lesern im eigenen Lande bereitet, auf Stammeseigentümlichkeiten
seines Stils zurückgehen, auf das durch und durch Altbayrische in
seiner Sprache, seiner Komposition, seiner Weltsicht.[...]
"Was ist altbayrische [barocke] Formensprache", fragt Süskind,
und erläutert am Beispiel von Ludwig Thoma, was er damit meint. Thoma,
sagt er, sei:
ein Darsteller seiner heimischen Welt, ein hervorragender Kenner, Sprecher
und Schreiber des Bayrischen [...] eben deshalb kein Ge-genstück zum
altbayrischen Barock, weil er ja nicht das Allgemeine, Überbayrische
ausdrücken wollte [...] sondern weil er immer, auch wo er hochdeutsch
schrieb, ganz bewußt ein Altbayer blieb. Britting aber, auf den wir
zusteuern, hat gar nichts bewußt Bayri-sches; er läßt
wohl viele Geschichten in einer "süddeutschen Hauptstadt", "im nahen
Gebirge" oder an der heimischen Donau spielen, aber nicht ausdrücklicher
als es das epische "Anno dazumal" verlangt [...]. Er erzählt Geschichten,
meist recht grausame, ungezähmte Seelen- und Körperkatastrophen,
wie sie sich unter Menschen von starken Leidenschaften überall auf
der Welt zutragen. Seine Umwelt mag häufig bayrisch sein; aber seine
Welt ist weder bayrisch noch überhaupt der menschlichen Gesellschaft
eingeordnet; sie ist kreatürlich-naturhaft wie die Welt im Wassertropfen,
in Andersens Märchen. Ja, sie gleicht einem unendlich vergrößerten
Stück Mikrokosmos; sie gleicht - um es mit einem von ihm selber gern
gebrauchten Bild zu sagen - einem übergenau betrachteten Büschel
Kraut, Farn oder Riedgras mit dem darin wimmelnden und sich verschlingenden
Käfer, Fliegen - und Spinnenwesen - und das Bayrische daran ist höchstens,
daß die Grasbüschel auf einer bayrischen Wiese wachsen. Auf
Herz und Nieren gefragt, würde Britting sich nie als einen bayrischen
Dichter bezeichnen, sondern als einen Mann, der halt seine Geschichten
und Gedichte aufschreibt. In die Sprache übersetzt, in der man von
sich selber nicht reden kann: als einen deutschen Dichter. Und als solcher,
versteht sich, schreibt er deutsch und nichts anderes, weiß vielleicht,
daß es sein Deutsch ist, niemals aber, daß die altbayrische
Formensprache daraus redet - wie es auch jene [Barock] Architekten aus
dem 18.Jahrhundert nicht gewußt haben.
Ein paar Sätze aus dem neuen Buch: "Er kam an das einsame Landhaus
wieder, und blieb stehen am Zaun, gerade vor der Tür, und kein Täfelchen
daran zeigte den Namen des Besitzers." Oder:" und nachdem sie den Ofen
angeheizt im Zimmer des Gastes, und ihre Einkäufe in der Küche
verwahrt, war sie gleich wieder aufgebrochen, ins Dorf, um nicht allzu
spät wieder zurück zu sein, vor Einbruch der Dunkelheit noch,
wenn es möglich war." Oder:"...und das brachte auch die Freundinnen
gegen sie auf, die sich von ihr abwandten und nichts mehr redeten mit ihr."[...]
Oder gar:"...und dann schwieg der Vogel auf seiner Stange und es war feierlich
still in dem klei-nen Raum nun."
Was fällt einem bei dieser Schreibweise auf? Ganz allgemein geantwortet:
Ein Zug nach hinten, ein Drang, den schweren Ton ans Ende des Satzes zu
verlegen, selbst um den Preis einer ungewöhnlichen oder gar ungehörigen
Umstellung der Wörter. Unbetonte Wörter - nun, wieder, sonst,
vielleicht, dann - rücken ans Satzende und winken, ja glotzen dort
wie seltsame Ausrufezeichen. Ebenso treten die Umstandsbestimmungen von
ihrem normalen Platz weiter nach hinten "blieb stehen am Zaun" - "angeheizt
im Zimmer".) Das Verbum rückt dementsprechend nach vorn, und das ist
nun allerdings eine Eigentümlichkeit des Bayrischen ("I hab's scho
g'sagt zu eahm"), die es mit den romanischen Sprachen teilt. Der Italiener,
der am Deutschen bemängelt, daß es seine Wortstellung nicht
nach dem Gebote der Logik und Wichtigkeit einrichtet, daß es die
Ergänzungen und Adverbialien dem Zeitwort vorbaut, statt sie von ihm
abschnellen zu lassen - dieser italienische Germanist fände an der
bayrischen Grammatik wahrscheinlich weniger zu tadeln. Bei Britting vollends
fän-de er an vielen Stellen den bayrischen Satzbau ins Hochdeutsche
gewendet. Er fände bei ihm eine Sprache, die im selben Rhythmus weiterrückt,
wie Blick und Gedanke weiterrücken, während die normale deutsche
Hochsprache stillsteht und vorausdenkt. Sie wirkt rund; Brittings Sprache
wirkt - wir wollen nicht sagen eckig, aber sie wirkt kantenreich und knorzig,
und das bedingt schon einen Teil ihrer Schwierigkeit.[...] Das ist ganz
offensichtlich eine Prosa, die vom Vers herkommt, sich nach eigenen Gesetzen
ihre Betonungen, ihre Zäsuren setzt und vom Dichter, wenn man das
recht verstehen will, laut geschrieben ist.[...]
Um Brittings merkwürdig ruckhafte, in Zickzacklinien verlaufende
Anfänge zu studieren, sind die früheren Bände tauglicher;
dafür enthält der neue einige hervorragende Beispiele einer merkwürdig
aufgelösten, vom Thema scheinbar abführenden Schlußtechnik,
so daß man bei diesen Geschichten an einen kunstvollen Peitschenknall
denken muß, bei dem man den Stock der Peitsche fest in der Hand des
Schwingers sieht, das Ende der Peitschenschnur aber verzüngelt in
der Luft. Doch genügt es uns, daß wir eine Seite der Sa-che
gezeigt haben und damit, hoffentlich, ein Bild des ganzen Mannes: als einer
Natur, so in sich fest und unverkennbar, daß man sie niemals vergessen
kann.
S.11 DER SCHNECKENWEG
E: Das Innere Reich 7, 1940/41, S.17-25,
(mit geringen Abweichungen gegenüber
der Buchfassung).
D1: Schneckenweg, S.5.
D2: E III, S.5.
Britting an Jung (7.8.1946):
meinen schneckenweg haben sie mir deutlicher gemacht, als er mir selber
war. vieles ereignet sich ja beim schreiben im halben däm-mer.
Jung, durch Brittings Lob ermutigt, schrieb 1948 einen Aufsatz (Aufzeichnungen
S.79) über die Erzählung; am 1.2.1949 antwortete ihm Britting:
ihr kleiner schneckenwegaufsatz ist vorzüglich. ihre deutung,
das wort zu gebrauchen, hat mir selber licht gegeben. ich habe mich immer
gehütet, und hüte mich, mir während des schreibens "klar"
zu machen, was "gemeint" sei. wenn so liebevoll, und gescheit, wie in ihrem
aufsatz, dann ein anderer mir sagt, was in meiner erzählung verborgen
läge - das ist dann eine sonderbare empfindung. und ich bin ihnen
dankbar für ihr eingehen auf meine arbeit.
Von Brittings Arztfreund Josef Kiefhaber (vgl.S.xxx) ist ein Brief
überliefert, in dem er der angehenden Germanistin Susanne Dillmann,
die an ihrer Magisterarbeit über Brittings Prosa arbeitete und sich
mit Fragen an Freunde Brittings wandte, am 30.8.1967 über den Schneckenweg
schrieb:
Freiherr von Zeeh - die Hauptfigur der Erzählung - ist ziemlich
eindeutig Hugo Freiherr von Habermann, geboren ca.1850 in Dillingen, den
wir ja alle aus seinen Werken kannten, er war zuletzt Akademiepräsident
in München, Max Unold war sein Schüler, an seinen Anfängen
deutlich zu sehen. Der erzählte am Stammtisch oft. Die Geschichte
von den fünf Zimmern erzählte ebenfalls ein Habermannschüler,
er hieß Wiedemann, wanderte Mitte der dreißiger Jahre wenn
ich mich recht erinnere, nach Columbien oder Peru aus. Ob es nun Habermann
war, von dem er die Geschichte erzählte, bin ich nicht ganz sicher,
halte es aber für sehr wahrscheinlich.
Der Schneckenweg ist so großartig beschrieben. Wir beide sind
ihn oft gegangen. Wir fuhren noch einige Kilometer über Ismaning hinaus
zu den Fischerhäusern und dann gings in die Auwälder an der Isar,
ich fände ihn heute noch, es war zwischen 1935-37, Kuckucksspeichel,
nie gemähte Wiesen, Holzsteg übern Bach, dann der Schneckenweg
mit krachenden Schneckenhäusern, und so weiter.
So viel zum Stofflichen. Zeeh hat natürlich auch noch ein bißchen
was von Binding und auch von Britting selbst.
Was sogenannte Interpretationen betrifft, äußerte Britting
oft Skepsis:
„Das ist halt wie mit dem Schmetterling, den darf man auch nicht in
die Hand nehmen und mit dem Finger über die Flügel fahren“; oder
ein andermal, als er nach der Bedeutung einer Erzählung gefragt wurde,
'dunkle Stellen' erklären sollte, antwortete: „Ich meine das so, wies
da steht, besser kann ichs nicht sagen, sonst hätt ichs anders geschrieben.“
S.26 VALENTIN UND VERONIKA
E: Das Innere Reich 6, 1939/40, S.22f. u.d.T. Veronika.
D1: Schneckenweg, S.29
D2: Valentin und Veronika.
Drei Erzählungen. Düsseldorf:
Merkur-Verlag 1947, (broschiert) und
1948 (neu gesetzt, Pappband).
Lizenzausgabe der Nymphenburger
Verlagshandlung.
(Die beiden anderen Erzählungen
sind:
»Die Wallfahrt« und
»Die Totenfeier«.)
D3: E III, S.22.
Die Erzählung wird in den Jahren 1936 bis 1938 entstanden sein.
In der Buchfassung geringfügige Änderungen gegenüber dem
Erstdruck.
S.50 DER EISLÄUFER
E: Schneckenweg, S.67.
D1: Der Tod im Schlepp. Eine Sammlung ernster Erzählungen.
Hg. Friedrich Velmede, Berlin:
1941, S.47-60.
D2: Der Eisläufer, Erzählungen und Gedichte,
Wörishofen: Drei Säulenverlag
1948, S.7-25,
(Das kleine Säulenbuch Bd.12).
D3: Der Eisläufer, Erzählungen und Gedichte.
Mit einem Nachwort und einer Bibliographie
von Armin Mohler.
Stuttgart: Reclam 1956 (Universal-Bibliothek
Nr.7829) S.26 - 42.
D4: E III, S.49.
Durch die Reclam-Ausgabe, die 1971 neu gesetzt und bibliographisch
ergänzt bis heute im Verlagsprogramm ist, fand die Erzählung
als Schullektüre weite Verbreitung; der „Eisläufer“ gehört
zu Brittings bekanntesten Erzählungen. Neben der Titelgeschichte enthält
diese Ausgabe noch "Das Waldhorn", "Der Sturz in die Wolfsschlucht" und
"Der Fisch".
S.64 ULRICH UNTER DER WEIDE
E: Das Innere Reich 8, 1941/42, S.2 -18.
Am 10.3.1941 hatte Britting mit einem Begleitbrief das Manuskript an
Alverdes geschickt:
Lieber Alverdes, kannst du diese übersteigerte Geschichte brauchen?
Sie war schon einmal gedruckt, vor 15 Jahren in der ‘Deutschen Rundschau’,
aber ist an Haupt und Gliedern so verändert, daß ich leichter
eine neue Geschichte geschrieben hätte. Aber wenn sie dir nicht gefällt,
sollst du es barsch sagen deinem
Britting.
Die erwähnte frühe Fassung war unter dem Titel ‘Josef am
See’ in der Deutschen Rundschau im April 1929, 55.Jg.Bd.219, S.15-27
ge-druckt; sie sollte die Titelgeschichte für einen „demnächst“
(1933) bei Langen-Müller erscheinenden Novellenband abgeben, aber
Britting zog die Erzählung zurück und veränderte sie, wie
er schreibt „an Haupt und Gliedern“. Gemäß der Absicht dieser
Ausgabe die Entwick-lungsgeschichte einzelner wichtiger Texte darzulegen,
wird „Josef am See“ im Folgenden hier abgedruckt.
D1: Schneckenweg, S.91.
D2: E II, S.177.
JOSEF AM SEE
Josef, der Mann dieser Geschichte, fünfunddreißigjährig
und unabhängig, unabhängig, weil er gerade so viel verdiente,
daß es zu einem mönchischen Leben in der Zelle eines Großstadtmietshauses
reichte und er vorläufig mehr nicht begehrte, Josef also hatte seinen
Kaffee ge-trunken, und ihm zitterten noch ein bißchen die Finger,
denn das dunkelbraune Giftgetränk war zu stark gewesen, wie immer,
und es war eine Tasse zuviel gewesen, wie immer, und nun saß er vor
dem leeren Tisch, der eine frischgewaschene weiße Decke trug. Es
war wohltuend, so ruhig zu sitzen und auf die schneeweiße Decke zu
sehen, die faltenlos war, nur von vier Linien fast unmerklich durchschnitten.
Das waren die Linien, die davon herrührten, daß die Decke nicht
immer so ausgebreitet lag wie ein winterliches Feld, daß sie vorher
zusam-mengefaltet im Wäscheschrank sich befunden hatte. Die weiße,
tote Fläche ließ seinen Blick nicht mehr los: das war Winter,
Schnee, rein und kalt und so sauber, so klar, während der Kaffe doch
in seinen Fingerspitzen braun und giftig und lebendig, überlebendig
bebte und leb-te. Aber dann ärgerte ihn das Tote, Weiße, und
er zog die Tischschublade auf und holte eine Orange heraus und legte sie
mitten auf das weiße Tischtuch. Die rötliche Kugel, mit kleinen
Poren, die lag nun protzig da wie ein kleiner Globus und wartete, daß
man sie rolle, und Josef rollte sie. Er stieß vorsichtig mit dem
kleinen Finger gegen sie, und da drehte sie sich dahin und schaukelte ein
wenig und blieb wie-der ruhig liegen, und ihr Schatten auf dem Schnee war
wie eine blasse, rötliche Scheibe. Er legte die Hände auf das
Tischtuch, mit den Handkanten auf den Schnee, und rollte nun die Kugel
zwischen den beiden Händen hin und her, immer die gleiche Strecke.
Weich prallte die Frucht gegen seinen Handteller, sprang elastisch ab,
rollte den Weg zurück, bis sie an die gegnerische Hand stieß
und wieder zurück-rollte. Das war ein dummes Spiel, dachte er, und
einmal, als die Orange eben wieder die eine Hand verließ und sich
auf den Weg zur an-dern machte, hob er diese andre Hand hoch, grad so hoch,
daß die Frucht unter ihr wegglitt, weiterrollte, das Tischende erreichte,
zögerte und dann abstürzte, mit einem dumpfen saftigen Geräusch
auf dem Fußboden auffiel, am Boden weiterrollte und erst an der Zimmerwand
halt machte. Er nahm sie auf und legte sie wieder in die Schublade.
Es war Ende Februar, er hatte eine kleine Summe Geldes vorrätig,
was hielt ihn in der Stadt? Nichts! Was lockte? Der weiße Schnee
des Gebirges und die Kälte und das gefrorene Wasser, und er beschloß,
nach Eichhausen am Aprersee zu fahren und dort einige Tage, eine Wo-che,
einige Wochen zu bleiben. Er saß zwar immer noch vor dem Tisch,
aber in Gedanken war er schon in dem Ort, den er kannte, wo er schon im
Sommer ein paar Tage gewesen war und damals sich vorgenommen hatte, auch
im Winter einmal hinzugehen. Er stand auf und wußte, daß er
morgen in Eichhausen sein würde.
Er beobachtete im Zug mit Vergnügen, wie die Berge immer näher
rückten, wie die Berge immer größer wurden und die Häuser
immer kleiner und auch die Menschen immer kleiner, so schien's, gegen die
hohen Berge, und wie immer mehr Schnee zu sehen war, wie der Schnee immer
dichter an das Bahngeleise herankam, und dann kam Eichhausen. Er ging gleich
zum Wirtshaus, wo er im Sommer gewohnt hatte, und bekam ein kleines, billiges
Zimmer, gut heizbar, versicherte ihm der Wirt, und mit Aussicht auf den
See, und er räumte seine Wäsche ein und ein paar Bücher
und die Kaffeemaschine, und weil es Nachmittag um vier Uhr war und es bald
dunkeln würde, ging er noch schnell ins Dorf und durch das Dorf zum
See. Es war nicht sehr kalt, und als er vorm Wasser stand, war das gar
nicht gefroren, war schwarz-blau und ohne Bewegung, groß, flach,
gegenüber sah er ein Dorf und dahinter wieder Berge. Dicht
vor ihm stieg trockenes Schilf aus dem Wasser, gelblich braun, stachlig,
es erinnerte ihn, woran wohl? Er wußte es nicht gleich, aber dann
sah er eine frischgerupfte Gans, wie oft in seiner Kinderzeit, in deren
Leib einzelne Federkiele stecken geblieben waren, und da hatte er das Bild,
das er wollte. Lang-sam kam der Abend über den See mit leichten Nebeln,
es wurde kühler, er ging ins Dorf zurück, wo die ersten Lichter
dumpfrötlich durch die kleinen Scheiben auf die Straße sahen,
und ging ins Wirtshaus und in die Wirtsstube und fand die Ecke neben dem
grünen Ofen leer, und in diese Ecke setzte er sich und legte die Hände
an die warmen Kacheln, und nun strömte langsam behagen in ihn ein,
langsam und mächtig und glückähnlich. Es war still in der
Stube, es war sechs Uhr abends, eine Uhr tickte, wie sich das gehörte,
eine zuverlässige Wirtshausstubenuhr im braunen Holzgehäuse,
und jetzt kam aus der Tür im Hintergrund eine große, schwarzhaarige
Frau und erkundigte sich nach seinen Wünschen. Ob es Wein gäbe?
fragte Josef, und den gab es, er war gar nichts schlecht, ein leichter
Pfälzer, der grünlich im Glas schimmerte, säuerlich war,
aber rein, und den Rücken am Ofen, den Wein in kleinen Schlucken trinkend,
unter der Lampe, draußen nun schon die Nacht, saß er. Als die
große, schwarzhaarige Frau, die Kellnerin, ihm ein zweites Glas brachte,
spürte er Hunger, und er ei-nigte sich rasch über das zu Bestellende.
Anna hatte große, klare Gesichtszüge, war hochgewachsen, er
schätzte sie so groß wie sich, und er war ein Mann und keiner
von den kleinen. Sie mochte dreißig Jahre alt sein, und unter der
schwarzen, seidigen Bluse wölbte sich eine Brust, die fest sein mußte
und gesund. Sie schritt davon, die Röcke schlugen ihr an die Knie,
eine Magd, sagte er sich, und er dachte mit einer leichten Geringschätzung
an die zierlichen und puppenhaften Geschöpfe, die Damen waren. Da
kam sie wieder und brachte ihm das Mahl, und er aß, und das Essen
war gut, er war gut aufgehoben hier. Später kamen ein paar Männer,
halbbäuerliche Gestalten, die Karten spielten, ihn kurz grüßten,
aber dann nicht weiter beachteten. Er hatte sich eine schwarze Zigarre
angezündet, rauchte langsam, betrachtete die weiße, leicht angebräunte
Asche, trank seinen Wein und verfolgte mit seinen Blicken die Kellnerin,
die ab und zu ging, und sie hatte es wohl bemerkt, gab ihm Blick auf Blick
zurück. Aber es war gar nicht leichtfertig, wie sie das taten, sie
mußten sich ansehn, sie waren auch gar nicht verlegen dabei, lächelten
aber auch nicht, sie sahen sich fest und mit Ernst an, und auch als er
zahlte, sprach er nur das Notwen-digste und horchte darauf, wie ihre seidige,
schwarze Bluse knisterte.
Er ging auf sein Zimmer, trat ans Fenster. Der schwarze See blickte
dunkel her, der Mond, im ersten Viertel, stand am Himmel. Der Tag hatte
sich gut angelassen, er freute sich auf den morgigen, und als er sich im
Bett ausstreckte und das saubere Leinen des Kopfkissens un-ter seinem Ohr
raschelte, dachte er, wie Meerwasser, wie wenn man eine Muschel ans Ohr
hält, und schon im Entschlummern verbesserte er sich ohne Lächeln:
wie das Knistern einer schwarzseidenen Bluse.
Als er am andern Morgen erwachte, nicht gleich wußte, wo er sich
befand, aber dann zum Fenster blickte, es wieder erkannte, setzte er sich
glücklich im Bett auf. Es schneite, sah er, nicht in dicken Flocken,
es fielen weiße, harte Kristalle vom Himmel, ein schöner, frostiger
Schnee war das, einer, der liegen bleiben würde, das sah man ihm an,
der sich sträuben würde am Boden zu Wasser zu zergehen. Er zog
sich an, im Zimmer war noch ein Rest Wärme geblieben von gestern,
und er trat zum Fenster, wo man den See nicht sehen konnte und nicht die
Berge vor dem Schneegwimmel, wo aber doch eine große Helligkeit draußen
lag, die anzeigte, daß der Schneefall bald aufhören würde.
Josef stieg in die Wirtsstube hinab, die sah schon wieder freundlich und
sauber her, war schon gewärmt, es roch nach frisch gewa-schenem Boden,
es war gut gelüftet worden, und an seinem Platz am grünen Ofen
lag die neue Nummer einer Zeitung der nahen Groß-stadt. Er blätterte
darin, da kam Anna, frisch und blühend, frisch gelüftet, dachte
er. Er bestellte warme Milch und Schwarzbrot und Butter, und sie brachte
es. Er sprach ein paar Worte, sie antwortete wie jemand, der sich auf eine
Unterredung gefreut hat und der doch bange dar-auf war. Die Stimme kam
nicht frei aus der gewölbten Brust herauf, dunkel und heiser, kindlich
zaghaft.
Dann trieb es ihn in den Winter hinaus, er hatte es leicht, hinauszugehen,
er wußte, daß er zu Mittag wieder hier sein würde, daß
das große, schwarzhaarige Mädchen, nein, die Frau, aber das
paßte auch nicht, er lächelte, daß die Magd ihn bedienen
würde, da konnte er leicht in den Winter hinausgehen. Wirklich hatte
es aufgehört zu schneien. Er ging durch den Ort. Er war bald am Dorfende,
der Weg lief weiter, und da kam nun ein Hügelland, sanft, gewellt,
erst weit hinten wieder hohe Berge, hier die Hügel, Brust an Brust,
er dachte an die feste, gewölbte Brust Annas, die hier, die Hügelbrüste,
waren auch kraftvoll und fest wie die ihren, aber nicht in Schwarz gehüllt,
in Schneeweiß. Er ging den Weg weiter, zehn Minuten hinterm Dorf
lag am Weg ein Haus, städtisch aussehend, kein Bauernhaus. Es war
nicht zu erkennen, ob das Haus bewohnt war. Er blieb am Zaun stehen, an
der Zauntüre, nichts regte sich. An den Fenstern sah er Vorhän-ge,
die Fensterläden waren offen, es war alles in gutem Zustand, aber
so unheimlich ruhig. Er konnte nicht anders, obwohl es peinlich sein mußte,
wenn sich daraufhin jemand zeigte, er mußte schallend in die Hände
klatschen, schämte sich aber, ging schnell weiter, sah sich dann scheu
um, aber nichts im Haus hatte sich gerührt. Er ging den Weg, der hügelauf
und hügelab sich schlängelte, ging auf einem Holz-steg über
einen Bach, schlug einen großen Bogen, der ihn zum See brachte, und
ging den Seeweg entlang zum Dorf.
Der Ofenplatz wartete auf ihn, Anna hatte ein kleines, viereckiges,
weißes Tuch am Tischende über das rote Tischtuch gelegt, und
als er eintrat, sie unter der Tür stand, die zur Küche führte,
wurden ihre Augen groß und feurig, sie flammten auf, dann brannten
sie wieder sanft, aber sie brannten, und vorher hatten sie nur still geglommen,
hatten auf den Wind geduldig geharrt, der ihnen das Glänzen geben
sollte.
Er aß mit großem Behagen, man kochte gut, auch an höheren
Ansprüchen gemessen, man war das noch vom Sommer her gewohnt, wo viele
Gäste aus der Stadt hier im Landaufenthalt Erholung suchten. Jetzt,
im Februar, war alles leer von Fremden, weil die Gegend keine oder nur
geringe Möglichkeit zum Wintersport bot, aber der Zuschnitt des Gasthauses
war noch städtisch, nur die dämmernde Stille der Wirtsstube ländlich.
Anna bediente ihn mit einer unaufdringlichen, scharfäugigen Sorgfalt,
und wenn er ihr ruhiges, beglänztes Gesicht sah, wußte er: das
ist Liebe. Vielleicht wußte sie es noch nicht, sie spürte wohl
nur eine sanfte Zufriedenheit, ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen zu
dürfen, und konnte gut vor sich verbergen, daß das Liebe war,
denn war es nicht ihre Berufspflicht und ihre Berufsehre, jede Kraft aufzubieten,
dem Gast genug zu tun?
Als er zahlte und ihre Hand einen Augenblick auf dem Tischtuch lag,
legte er leicht seine Hand auf ihre. Es ging ein Zittern durch ihren Körper,
dann regte sie sich nicht, sie hielt den Atem an, das sah er und fühlte
er, sie hielt den Atem an, und ihr Gesicht rötete sich davon, und
da nahm er die Hand wieder weg von der ihren und ging hinauf in sein Zimmer,
kochte sich seinen gewohnten Kaffee.
Später machte er einen Spaziergang, den Weg vom Vormittag. Es
war ein strahlender Wintertag nun geworden, mit einem blauen Him-mel ohne
jede Wolke, und die beglänzten Hügel ringsum blendeten die Augen.
Da war auch schon wieder das Landhaus, und er stand schon wieder vor der
Tür und sah auf das Haus, in dem sich nichts rührte und regte.
Er blieb lange stehen in der prallen Sonne, die wärmte ihn. und sah
von Fenster zu Fenster, und auf einmal fühlte er, wie er die Klinke
der Gartentür niederdrückte, aber die Tür öffnete sich
nicht. Die Besitzer sind in der Stadt, sagte er sich, sah aber immer noch
ungläubig auf die lebendigen Fenster. Wer weiß, warum er es
nicht glau-ben wollte, daß das Haus unbewohnt sei? Er stand wohl
fünf Minuten vor der Gartentür, aber dann ging er doch zögernd
und wieder den Weg wie am Vormittag, zum See hinunter und den See entlang.
Auf einer kahlen Weide saßen ein paar Krähen, das einzige Lebendige
weit und breit, wenn man nicht den See als etwas Lebendiges rechnen wollte,
der kleine Wellen über den Uferschnee warf, der davon zu glän-zendem
Eis wurde. Die Sonne, die er am Vormittag auf dem Kirchturm des Jenseitsdorfes
hatte sitzen sehen und am Mittag freischwebend und kugelfeurig über
dem See und am Nachmittag brennend über den beglänzten Hügeln,
drohte nun glühend über einem Wald am Hori-zont, sank, wurde
aufgespießt von spitzen Fichten, blutete, versank ganz im Wald, und
schnell war die Dämmerung da. Er ging den nun schon gewohnten Gang
in sein Zimmer und saß ruhig neben dem Ofen und sah durch das Fenster
noch die schwarze Nacht kommen. Und als in der schwarzen Nacht der Mond
heraufkam und viele Sterne heraufkamen, verließ er wieder sein Zimmer
und ging nach unten in die Wirtsstube. Es war ihm, als sei er das alles
schon seit langer, langer Zeit gewohnt, geregelt und vorbestimmt schien
ihm der Verlauf dieser Tage. Der grüne Ofen stand, und er saß
schnell wieder an seinem Platz, und als er saß, sah er nach rechts
schräg oben und sah Annas ruhig strahlendes Gesicht unter dem schwarzen
Haar, und die Bluse knisterte, und er bestellte das Essen, und das Essen
kam und wurde wieder weggetragen, und die Zigarre wurde angezündet,
und zum Nebentisch die Männer kamen, grüßten kurz und spielten
Karten und tranken Bier, während er bei seinem grünlichen Pfälzer
blieb. Er brachte es heute auf fünf Schoppen, wurde heiter, langweilte
sich gar nicht in sei-ner einsamen Ecke, sprach mit Anna nur das Notwendige,
aber sie unterhielten sich mit den Augen, ja, sie verständigten sich
durch ihr blo-ßes Dasein, durch jede Bewegung ihrer Körper.
Wenn er sich fest an den Ofen drückte und sich dehnte und sich straffte,
so antwortete sie seiner Bewegung in einer seltsam aufnehmenden Art, unwillkürlich,
und als er einmal seine Hand auf den Tisch legte, die Handfläche nach
oben, legte sie ihre Hand hinein, obwohl sie drüben am Kartenspielertisch
war. Sie lächelte ruhig und legte ihre Hand in seine, legte sie in
die Luft natürlich, in eine Luftspiegelung. Aber sie mußte doch
seine fleischige Hand spüren, denn sie erbebte und errötete.
So ging es den ganzen Abend, ihr Zusammensein vor aller Augen, und unbemerkt
doch, spannte und erregte sie. Die Kartenspieler gingen, Josef saß
nun allein in der Stube, Anna stellte die Stühle auf die Tische, es
war elf Uhr abends geworden, und plötzlich fragte Josef, ob er nicht
noch eine Tasse Kaffee auf sein Zimmer gebracht haben könne, er koche
ihn zwar sonst selber, aber dazu sei er jetzt zu müd, aber auf den
Kaffee wolle er doch nicht verzichten? "Natürlich können Sie
das", sagte Anna, ich koche ihn selber noch, die Köchin schläft
schon, und bringe ihn Ihnen", und lief in die Küche, und er ging hinauf
in sein Zimmer und wartete, bis Anna kam. Auf einmal stand sie unter der
Tür, und er stand auf und nahm ihr das Geschirr ab und stellte es
auf den Tisch, und Anna trat aus dem Türrahmen heraus und herein in
das Zimmer und schloß die Tür hinter sich und blieb vor der
Tür stehen. Wie groß sie ist, dachte er. In dem kleinen Zimmer
kam es deutlicher zur Gel-tung. Ihr Gesicht schien blaß zu sein und
war demütig und entschlossen, der schöne Leib auf den starken
Beinen regte sich nicht, nur lang-sam und schwer ging die Brust. Josef
ging auf sie zu, sie war so groß wie er, sie kam ihm aber größer
vor. Er stand dicht vor ihr, sah in ihre Augen, sah auf ihren Mund. Er
zog sie an sich, etwas nur an sich und küßte sie. Sie regte
die Lippen zuerst nicht, er spürte, wie sie sich aber dann unter dem
Druck der seinen leicht öffneten. Sie hatte die Augen jetzt geschlossen,
atmete tief, lehnte sich gegen die Tür und fing lautlos zu weinen
an. Es war ein stilles Weinen, ihr Gesicht verzerrte sich nicht dabei,
die Tränen liefen aus den geschlossenen Augen, dann lächelte
sie, schlug die Augen auf, die Tränen flossen weiter, ja sogar stärker,
eine tiefe Glückseligkeit lag über dem tränenüberströmten
Gesicht, so verharrte sie eine Weile, der Ausdruck eines grenzenlosen Glücks
verwischte sich nicht in ihren Zügen, und als Josef auf sein Bett
hin sah, dessen Decke schon zurückgeschlagen war, kam in ihre Augen,
die noch feucht waren, ein von tief innen heraufspielender Glanz, eine
kindliche Bereitwilligkeit zu jedem Tun lockerte die starken Glieder. Josef
sah schnell weg vom Bett. "Gute Nacht, Anna", sagte er, und sie nickte
nur, drehte sich um zur Türe und ging wie ein Trunkener geht, oder
wie ein Lastragender, aber die Last ist seine Beseli-gung.
Als Josef ausgestreckt im Bett lag und seinen ruhig atmenden Körper
fühlte und sich dann aufrichtete und ihn betrachtete, sich die Schenkel
abtastete und auf die Brust klopfte und spürte, wie warm und sicher
und kräftig er war, wurde die Verwunderung in ihm stärker, daß
er Anna so hatte gehen lassen. Anna, murmelte er, und dann kam die Müdigkeit
des Weines, und er schlief ein und schlief tief und traumlos die ganze
Nacht.
Der Stundenplan des neuen Tages stand ja fest. Erst kam wieder das
Frühstück in der gescheuerten, glänzenden Wirtsstube und
unge-wöhnlich, weil zum erstenmal, war, daß ihm Anna, als sie
ihr "Guten Morgen" sagte, ihm die Hand hinstreckte, die er fest schüttelte,
sonst war alles wie immer. Es kam der Gang durch das Dorf. Nachts hatte
es wieder geschneit, der Schnee war noch weißer als sonst, unter
den Haustüren standen Leute, die er nun schon kannte und die nun auch
ihn schon kannten, und einer grüßte, und er sah, daß es
einer von den kartenspielenden Männern war, und er grüßte
erfreut zurück, und die Sonne war die von gestern und vorgestern und
goldfarbig wie je, und die Hügel liefen vor seinen Augen auf
und ab, und der Weg lief, und er lief auf dem Weg und stand auch schon
wieder vor der Gartentür des Landhauses und sah auf die Fenster. Die
spiegelten wie nur immer, und unverwandt starrte er lange auf eines, das
schillerte und glänzte wie närrisch, und wenn ein Kopf und in
dem Kopf ein paar Augen ihn durch dieses Fenster beobachtet hätten,
sie wären nicht zu erblicken gewesen, und warum er nur immer dachte,
daß in dem Hause jemand vielleicht wohne, wußte er sich nicht
zu erklären, und er beschloß, heut Mittag Anna zu fragen, wem
das Haus gehöre, und war erstaunt, daß er das nicht schon längst
getan hatte. Aber einstweilen stand er immer noch an der Tür und stellte
fest, daß mindestens heut noch niemand das Haus betreten, noch verlassen
haben könne, weil der Schnee im Garten und auf dem Weg, der von der
Gartentür zur Haustür führte, unberührt war. Lustig
spiegelten die Fenster, er ging, er sah sich ein paar mal um, ging sogar,
als er schon an die zwanzig Schritte weg war, wieder zurück, aber
dann ging er endgültig und trat des zum Zeichen fest auf und ging
zum See hinab, wo die Krähen schrieen und die leisen Uferwellen plätscherten,
die genug zu tun hatten, den frischgefallenen Schnee zu übersprühen
und zu Eis zu machen.
Anna bediente ihn beim Mittagessen. Das große, schwere Mädchen
schwebte, das Glück war zu ihren Füßen ein See, auf dessen
Wellen sie wandelte, gewichtslos. Josef betrachtete sie, ein wenig befremdet
und ein wenig beunruhigt, denn an diesem Glück, das er hervorgeru-fen
hatte, hatte r nicht in dem Maße teil wie sie, und ihr Glück
bestand wohl auch darin, daß sie annahm, er teile es. Mußte
er ihr sagen, daß er das nicht tat? Hatte er sich zu Unrecht und
unbedacht in ihr Leben gedrängt? Mußte er, um ihr Liebeslust
und Liebesleid zu erspa-ren (und Liebestod vielleicht! sagte etwas frech
und überschwenglich in ihm), mußte er da jetzt gehen? Aber war
es nicht auch und ebenso vorwitzig, jetzt die Flucht zu ergreifen, wenn
es schon Vorwitz gewesen war, zu kommen? Er blieb jedenfalls und wartete
ab, beunruhigt und neugierig, was da wohl werden würde.
Später tat er, was er jeden Nachmittag hier getan hatte, er ging
durchs Dorf dem Hügel zu und blieb an der Gartentür des Landhauses
stehen. Er faßte nach der Klinke und drückte, und die Tür
sprang diesmal auf. War also jemand im Haus, oder hatte er damals nicht
fest genug gedrückt, damals, am ersten Tag seines Aufenthaltes hier,
als er schon einmal sie zu öffnen versucht hatte? In der beginnenden
Dämmerung lag das Haus, er machte ein paar Schritte auf dem überschneiten
Weg, blieb beobachtend stehen und ging dann weiter, bis er an der Mauer
des Hauses hielt, sich dicht an die Mauer drückte, daß niemand
in dem Haus, der vielleicht aus dem Fenster sah, ihn sehen sollte. Er sah
einen Sprung im Verputz der Mauer, sah ein paar vom Herbst gebliebene Spinnfäden
wehen und dachte sich: wenn man mich sieht und mich frägt, sage ich,
ich wollte mich erkundigen, ob hier ein Zimmer zu vermieten sei! Er ging
vorsichtig an dem Haus entlang, die Haustüre war geschlossen, er ging
um die Hausecke herum, ging die Seitenmauer des Hauses entlang und ging
wieder um die Ecke, und auf der Hinterseite des Hauses war wieder eine
Tür, und er drückte gegen sie, und sie ging auch auf.
Er stand in einem halbdunklen Flur und sah wieder eine Tür vor
sich und öffnete auch diese und befand sich in einem hellerleuchteten
Zimmer, und eine kleine, blonde Dame saß auf einem Stuhl und hielt
am Halsband fest einen mittelgroßen, braunen, stachelhaarigen Hund,
der leise knurrte, der nicht übel Lust hatte, laut zu heulen, aber
die Hand der Dame auf seinem Halsband drückte ihm etwas den Kopf ge-gen
den Boden, und das hieß: schweig du! Die Dame war zierlich gewachsen,
hatte ganz helle Augen und ganz helle Augenbrauen, Augen-brauen, die sich
kaum von der blonden Haut, auch die Haut des Gesichtes war blond, abhoben.
Mit diesen hellen Augen sah sie Josef ent-gegen, gar nicht überrascht,
gar nicht erschreckt, die Augen sahen so, als seien sie eben in einem Gebiet
der Einbildungskraft geschweift, wo nichts unmöglich ist, da konnten
sie nicht erschrecken vor dem Anblick eines gewöhnlichen Mannes, wenn
der auch etwas unerwartet gekommen war, und mit einer Stimme, die sehr
den Augen glich, einer blonden und hellen Stimme, sagte die Dame jetzt
und fragend: Bit-te? Der Hund knurrte, und Josef stand an der Tür,
und die Dame hatte "Bitte" gesagt, und dann nahm er sich zusammen und fragte,
ob hier nicht ein Zimmer zu vermieten sei. "Das ganze Haus", schrie die
Dame lachend, "das ganze Haus vom Keller bis zum Dachboden, gewiß
doch!" und lachte laut und aufgeregt und lang und hörte nicht mehr
auf zu lachen, und Josef sah verwirrt zu Boden und hörte immer noch
das Lachen, ohne das lachende Gesicht zu sehen, und als er endlich doch
wieder aufsah, lachte die Dame immer noch, aber Tränen liefen aus
ihren Augen, das Lachen ging in Weinen und Schluchzen über, und dann
wurde sie still und legte das Gesicht auf die Tischplatte, daß man
es nicht mehr sah und war ganz ruhig, nur die Hand zitterte, die immer
noch dem Hund den Kopf gegen den Boden drückte. Das war alles unerklärlich,
und als Josef jetzt gehen wollte, wieder nach der Klinke griff, sah aber
die Dame wieder auf und sagte, und jetzt weinte sie schon wieder nicht
mehr, "nein, jetzt müssen Sie schon bleiben".
"Jetzt müssen Sie schon bleiben", wiederholte die Dame. "jetzt
wo Sie gerade zu dieser Stunde gekommen sind". "Gerade zu welcher Stunde?"
fragte Josef. Er betrachtete die Dame genau. Ihre Züge waren jetzt
entspannt, die ganze Gestalt gelockert, es war etwas um sie wie Heiterkeit,
nein, etwas, wie einer Gefahr entronnen sein, vorläufig wenigstens
einer Gefahr entronnen sein. Die Dame antwortete ihm nicht und sagte nur:
"Ein Zimmer im ersten Stock, ein schönes Zimmer können Sie haben,
mit Aussicht auf den See und recht bequem". "Ich weiß noch nicht",
sagte Josef, ob es nicht besser ist...und "ich wohne im Adler auch sehr
gut". Aber das ließ die Dame nicht gelten, und dann sagte sie ihm,
er, Josef, habe sie soeben ins Leben zurückgerufen. Sie habe das Giftfläschchen
schon in der Hand gehabt, eben, als er eintrat, und wäre er nur zwei
Minuten, nur eine Minute, ja sogar nur eine halbe Minute später gekommen,
so hätte er wohl einen le-benden Hund, aber eine tote Frau im Zimmer
vorgefunden. Josef lächelte und tat, als scherze sie, was sollte er
wohl sonst auch tun in dieser ungewöhnlichen Lage? Die Dame beachtete
sein Lächeln nicht. Jetzt müsse er bleiben, wiederholte sie hartnäckig,
und ihre Stimme klang zäh und entschlossen, in dem Augenblick, da
er wieder ginge, würde sie das Fläschchen wieder hervornehmen
und nachholen, was sie ver-säumt. Sie sah ihn an: "Das wollen Sie
nicht! Sie müssen bleiben. Das Zimmer im ersten Stock ist gut eingerichtet,
lassen Sie Ihre Sachen vom Adler holen und bleiben Sie. Um sechs Uhr kommt
Maria, ein Bauernmädchen aus der Nachbarschaft, das Besorgungen für
mich macht. Schreiben Sie den Auftrag auf einen Zettel, sie trägt
ihn zum Adler und holt das Ihrige". Sie wies auf einen Schreibtisch. "Gestern",
sagte Josef, "gestern Nachmittag und auch heute sah ich keine Spur im Garten!"
"Ich kam gestern abend an", sagte die Dame, und heute nacht hat's geschneit
und auch die Spuren verschneit, und ich verließ das Haus nicht mehr.
Um sechs Uhr kommt Maria. Schreiben Sie". Josef ging an den Schreibtisch
und schrieb dem Wirt, er habe hier im Landhaus ein Zimmer gemietet, und
der Wirt solle seine paar Sachen einpacken lassen und der Überbringerin
des Zettels mitgeben und ihr auch die Rechnung mitgeben. Er betrachtete
den Zettel, aber die Da-me kam und nahm ihn und las ihn und sagte: "Das
ist gut so. Wollen Sie Ihr neues Zimmer sehen?" Sie stieg vor Josef die
Treppe hinauf, zeigte ihm den hübsch eingerichteten Raum, und dann
gingen sie wieder in das untere Zimmer hinab. Da ließ ihn die Dame
gleich allein und sagte, sie müsse ihm oben Feuer machen, und ging,
und er saß nun da; neben ihn hatte sich der Hund geschlichen, der
seinen Kopf auf seine Stiefel legte, es war ihm wohl zu einsam. Und die
Dame erschien wieder und sagte:" Jetzt wird's droben schön warm".
Kurz darauf kam Maria, und die Dame sagte ihr, sie habe an diesen Herrn
das obere Zimmer vermietet und sie solle nun gleich zum "Adler" gehen und
die Sachen des Herrn holen. "Es ist nur ein einziger Koffer", sagte Josef,
"Hier ist der Zettel", sprach die Blonde, sie holte ihn aus dem Ausschnitt
ihres Kleides, "und nun gehen Sie". Maria ging, und nun waren Mann, Frau
und Hund wieder allein.
Die Dame versuchte es gar nicht, ein Gespräch in Fluß zu
bringen, und Josef hätte jetzt Zeit gehabt, über das merkwürdige
Erlebnis nachzudenken. Er nahm auch einen Anlauf dazu, aber es gelang ihm
nicht, die Gedanken gehorchten ihm nicht, er konnte nicht denken, er mußte
nur sehen, er mußte die Dame ansehen und den Hund und das Zimmer
und immer wieder die Dame und immer wieder und vor al-lem das Gesicht der
Dame, den blassen Mund im hellen Gesicht und die hellen Augen. Dann fiel
ihm auf einmal ein, es wäre wohl das Be-ste, trotz allem von hier
fortzugehen, aber er hatte es kaum gedacht und den Gedanken wohl durch
ein Zucken des Mundes oder ein Stirn-runzeln oder durch sonst etwas nach
außen dringen lassen, denn die Dame wurde unruhig, sah ängstlich
auf ihn, da ließ er den Gedanken gleich wieder los, und auch das
fühlte sie, sie wurde wieder ruhig und zuversichtlich, und so warteten
sie.
Nach einer Stunde kam Maria wieder mit seinem Koffer und der Rechnung
und einer Empfehlung vom Wirt, und Josef ging mit dem Mädchen in sein
neues, nun schon behaglich warmes Zimmer, räumte den Koffer aus, legte
die Wäsche in den Schrank. Welch ein Aben-teuer! dachte er, welch
ein Abenteuer! Da kam Maria wieder und sagte: "Zum Essen".
Es wurde nicht viel gesprochen zwischen ihnen an diesem Abend, der
sehr lang war, aber die Befangenheit zwischen den beiden Men-schen war
weg, und auch der Hund spürte das, er lag am warmen Ofen, schlief,
erwachte dazwischen., sah vom Herrn auf die Dame, schlug mit dem Schweif
den Boden und schlief wieder ein mit beruhigten, tiefen Atemzügen.
Am andern Morgen, nach dem Frühstück, das er wieder gemeinsam
mit der Dame einnahm, als er am andern Morgen ihr sagte, er wolle nun einen
Spaziergang machen, in einer Stunde sei er wieder zurück, erbleichte
sie, die Blonde, ihre hellen Lippen zitterten, und dann fleh-te sie ihn
an, das nicht zu tun, sie nicht allein zu lassen, sie wolle ihm Bücher
bringen und ein Schachbrett habe sie und Turngeräte, aber bleiben
solle er, bleiben, um Gottes und aller Heiligen willen bleiben und sie
nicht verlassen! Er komme ja nach einer Stunde wieder zu-rück, erwiderte
er, bestimmt und sicher wieder zurück. Sie schüttelte den Kopf
und flehte: „Bleiben Sie".
Er blieb, setzte sich ans Fenster, sah in den hellen Wintertag hinaus,
auf den schwarzen Zaun und die Tür, an der er gestern neugierig gerüttelt
hatte. Nun kannte er das Geheimnis des Hauses, oder eigentlich, er kannte
es nicht. "Da ist nicht viel zu wissen", sagte sie, ich bin seit vierzehn
Tagen, nach einer fünfjährigen Ehe, geschieden. Wahrscheinlich
liebe ich den Mann noch, aber das weiß ich nicht, aber ich weiß,
daß ich sterben will". "Sie", sagte sie und sah ihn an , "haben mir
eine Gnadenfrist verschafft, ich lebe weiter, so lange und so kurz Sie
bleiben". Ihr weißes Gesicht sah ihn saugend an. "Bleiben Sie, bitte,
oder gehen Sie: ich bin in Ihrer Hand", und ging aus dem Zimmer.
Er blieb am Fenster sitzen bis zum Mittagessen, speiste mit ihr, trank
Kaffee, spielte Schach mit ihr den langen Stubennachmittag. Abends las
er, sie las auch, er rauchte, sie rauchte nicht, er ging schlafen, sie
ging schlafen. Er erwachte am Morgen, klare Sonne schaute auf sein Bett.
Er wußte der würde jetzt die Treppe hinabsteigen, zum Kaffeetisch,
zum Hund, der nun sein Freund geworden war, zu ihr, die ihm fremd war,
die an ihn gebunden war, die sich an ihn gebunden hatte. Er lachte, ich
bin im Gefängnis, sagte er sich.
Nach dem Kaffee saß er am Fenster, sah wenigstens hinaus auf
den Schnee, sah hinaus auf den Weg, sah hinaus auf die Hügel, sah
we-nigstens hinaus, da er nicht hinausgehen durfte. Aber wenigstens in
den Garten darf ich gehen? wollte er fragen, aber er öffnete den Mund
nicht, denn schon bevor er sprach (erriet sie denn seine Gedanken?), war
sie weiß geworden wie der Schnee draußen, und so fragte er
nicht, und da kehrte die Farbe wieder zurück in ihre Wangen. Er lachte
wieder, sie lachte mit. Wie lang soll das gehen? dachte er. Kummer-voll
wurde ihr Gesicht. Sie konnte seine gedachte Frage nicht beantworten, drum
sah sie traurig her, aber da sein Lächeln blieb, wich die Sorge wieder
aus ihrem Gesicht.
Und wie er jetzt wieder zum Fenster hinaus sah, stellte sie sich hinter
ihn, er spürte das leichte Rauschen ihres Gewandes, eine leichte Wärme,
spürte ihre Lippen auf seinem Hals, sie war kleiner als er, sie mußte
sich auf die Zehen gestellt haben, er wunderte sich trotzdem, daß
sie seinen Hals erreichen konnte, er spürte die Lippen, unterschied
Unterlippe und Oberlippe, spürte, daß sie beim Kuß die
Lippen leicht geöffnet hatte. Dann drehte sie ihn herum, er ließ
sich drehen, lässig, nun küßte sie ihm das Gesicht, Lippen,
Stirn und Wangen, küß-te ihn lange und oft, nicht wild, und
er ließ sich willenlos abküssen und ließ sie sich an ihn
pressen, und dann ging sie wieder weg von ihm und aus dem Zimmer, und er
drehte sich um und sah wieder in die Freiheit hinaus, in die weiße
Freiheit. Er sah die Gartentüre, schwarz, und den schwarzen Zaun,
ein schwarzes Käfiggitter. Er besah seine linke Hand. Mit ihr hatte
er den vorwitzigen Griff nach der Klinke ge-tan, und das war der Anfang
gewesen, und nun war kein Ende abzusehen in der Verwirrung, in die ihn
seine sträfliche Neugier gelockt hat-te.
Abends deckte die Blonde den Tisch. Nicht das gewöhnliche Geschirr
brachte sie, sie holte aus einem Schrank, den sie bisher noch nie geöffnet
hatte, schönes Porzellan, gelblich. Er nahm einen Teller in die Hand.
Um den Tellerrand ruderte ein venezianischer Schiffer in sei-ner Gondel,
gold, blau und rot, und Kristallgläser brachte sie, und silberne Gabeln
und Löffel, und zwischen das Geschirr legte sie grüne Tannenzweige,
wie eine Festtafel sah es aus. Und einen Weinkühler brachte sie, der
war mit Eis gefüllt, und eine Flasche Wein steckte drin.
Wieder ging die Blonde, wieder wanderte er allein im Zimmer auf und
ab. Und wieder kam sie und hatte sich umgekleidet, hatte sich festlich
gekleidet, trug ein ausgeschnittenes Abendkleid, mit freiem Hals, wie war
ihr Fleisch weiß und ihr Haar blond und ihre Augen hell. So saßen
sie zu Tisch, und Maria, die eine weiße Schürze trug, brachte
das Essen, und er schenkte den Wein ein, der war gelb wie das Haar der
Blonden und ging ins Blut, ging ihr auch ins Blut, der Blonden, ihre Augen
glänzten bald.
Auf einmal sah er neben seinem Glas einen Brief liegen, einen weißen
Umschlag, angegilbt, als sei er lange in einer Schublade gelegen, in einer
etwas feuchten Schublade, und der Brief trug seinen Namen, mit dünner,
blasser Tinte geschrieben, mit einer Tinte geschrieben, die schon verdickt
und fast eingetrocknet gewesen sein mußte, und die man mit zugeschüttetem
Wasser wieder flüssig gemacht hatte. Der Brief trug seinen Namen,
und ihn hatte Maria hingelegt. Die Schrift war kindlich, mit zu großen
Buchstaben und mit genau gesetzten U-Häubchen und I-Punkten. Die blonde
Frau war weggegangen, sie wollte den Kaffee selbst kochen, und er öffnete
den Brief schnell und las. Er war von Anna, der Kellnerin vom "Adler".
Wie hatte er sie vergessen! Es war merkwürdig, wie er sie in seiner
Gefangenschaft vergessen hatte, nein, nicht vergessen, sie war noch da
in ihm, aber er hatte wohl absichtlich nicht mehr an sie gedacht, aus bestimmten
Gründen, die ihm selber nicht klar waren, aber nun auf einmal lebte
sie wieder, war ihm unheimlich nah, und da war ihr Brief, den sie ihm geschrieben
hatte, und den er nun schnell las und der bestürzende Inhalt des Briefes
stand in einem seltsamen Gegensatz zu der regelmäßigen, kindli-chen
Schrift, zu den genau gesetzten U-Häubchen und I-Punkten, und er war
in guter Rechtschreibung geschrieben, kein Schreibfehler störte, und
sie schrieb ihm, wenn er sie nicht noch heut Abend, heut Abend um elf Uhr
an der Tür, hinter der Tür des "Adlers" erwartete, dann, ja dann,
dann ginge sie von dieser Tür weg ins Wasser, in den See, in den Tod!
Er lachte über diese schnelle und harte Drohung. Dann erschrak
er. War's ihr Ernst? Wie kam sie dazu, ihm das zu schreiben? Nun, er wußte
wohl, wie sie dazu kam. Wußte er es nicht? Er steckte den Brief rasch
ein. Die Blonde kam aus der Küche, mit geröteten Wangen, die
Kaffeekanne in der Hand. Es war ein guter und starker Kaffee, er rauchte,
sie rauchte. Das Kristall glänzte, das weiße Tischtuch, die
Gläser blitzten, grün die Tannenzweige dazwischen.
Das Gespräch ging weiter, er hörte sich reden und lachen,
er hörte die Blonde reden und lachen, und in seiner Tasche steckte
der Brief. Er sah verstohlen auf die Uhr. Es war halb zehn. Noch anderthalb
Stunden, dachte er. Was sind anderthalb Stunden? Anna geht in die See!
Sie geht nicht, dachte er, denn ich erwarte sie an der Hintertür des
"Adlers".
Die Blonde ihm gegenüber blühte wie eine gelbe Blume. Ihr
Gesicht war runder geworden in den zwei Tagen, ihre weiße Haut weißer.
Sie dehnte sich in dem seidnen Abendkleid, behaglich, und wenn es sie schüttelte,
wie im Frost, so verbarg sie das schnell.
Nach einer Stunde ging sie schlafen, die Blonde, und an der Tür
sah sie sich unruhig nach ihm um und blieb stehen und lächelte und
sagte:" Wie lange darf ich noch leben?" und ging. Josef wartete eine Viertelstunde,
dann verließ er das totenstille Haus, ging durch den Gar-ten, öffnete
die Gartentür und trat auf den Weg. Es war eine sternklare und kalte
Nacht. Wie ein aus dem Gefängnis Entsprungener kam er sich vor. Wenn
er rasch ging, kam er gerade noch recht zu dem Stelldichein mit Anna. Der
Weg war fest gefroren, der Mond stand hoch am Himmel, vor ihm, in der Ortschaft
waren noch einige Lichter wach. Er war fast schon beim Dorfeingang. Aber
die Blonde? und ihre letzte Frage? Wenn sie entdeckte, daß er geflohen
war! Er blieb stehen, drehte dann kurz um und ging den Weg wieder zurück.
Die Blonde, die hatte das Gift ja bereit gestellt, und er mußte schleunigst
zurück, das Schlimmste zu verhindern. Der Schnee knirschte unter seinen
Füßen, sang Gift, Gift! Er ging schneller, den halben Weg zum
Landhaus hatte er schon wieder zurückgelegt, als er hinter sich elf
Schläge der Dorfuhr hörte. Jetzt trat Anna aus der Hintertür
des "Adlers". Da machte er kehrt und lief, die kalte Luft fuhr pfeifend
in seine Lunge, auf das Dorf zu. Er lief, er durfte nicht zu spät
kommen, zehn Minuten würde sie wohl warten. Jetzt kam der Bogen, den
der Weg machte, und um ihn abzuschneiden, lief er querfeldein, lief, stolperte.
Er hatte schon fast die Sehne des Bogens durchlaufen, er sah das Band des
Wegs schon wieder, da kam ein Graben, er fiel, neben dem Graben stand ein
Baum. Er wollte sich aufrichten, es ging nicht, er schleppte sich un-ter
den Baum, saß eine Weile, versuchte dann wieder aufzustehen. Unmöglich!
Es stach unerträglich im linken Knöchel. Er betastete die Stelle.
Das schmerzte höllisch. Gebrochen, dachte er.
Er saß mit dem Rücken am Baum. Kalt! Er schlug den Mantelkragen
hoch, zog den Hut tief ins Gesicht, vergrub die Hände in die Man-teltaschen.
Von der Kirche schlug die Uhr einmal. Schon eine Viertelstunde. Der Knöchel
tat weh, er schwoll auch schon an. Nun mußte er wohl bis zum Morgen
so sitzen bleiben, sechs, sieben, wohl auch acht Stunden. Das war lang,
und es war bitter kalt, würde wohl nach Mit-ternacht noch kälter
werden. Erfrieren, ging ihm durch den Sinn. Lächerlich! Sich wehren!
Er hatte einen warmen Mantel an, und nun hieß es, die Nacht durchkämpfen.
Der volle Mond stand am Himmel, das Dorf lag schwarz vor ihm, die Berge
verliefen weit, rechts unten das Bläuliche, das war der See. Nicht
einschlafen, dachte er. Aber er hatte keinen Schlaf, der scharfe Kaffee
tobte noch in ihm, er würde nicht einschlafen. Zwölf Schläge,
schon Mitternacht! Das ging aber rasch.
Noch spürte er die Kälte wenig, noch war ihm heiß,
sollte das schon etwas Fieber sein? dachte er. Nur nicht einschlafen, heiß
es, in sol-chen Fällen wie dem seinen. Einschlafen? Ihm war wahrhaftig
gar nicht zum Einschlafen zu Mut. Das war seine geringste Sorge. Er sah
lang zum Himmel auf, zu den vielen Sternen. Er erkannte einzelne Sternbilder,
viel wußte er nicht von diesen Dingen. Der Himmel war blauschwarz
und tief, unendlich tief, und das Mondlicht lag auf dem Schnee, bläulich,
unwirklich. Wie wohl tat's, sich an den Baum zu lehnen. Er griff mit der
Hand hinter sich nach dem Stamm, spürte die steifkalte geborstene
Rinde. Unbeweglich lag das Dorf vor ihm. Ob er in einem Acker lag? Oder
auf einer Wiese? Es war nicht zu erkennen, der Schnee lag zu dicht, keine
Ackerfurche war zu sehen, waren viel-leicht alle ausgefüllt. Er langweilte
sich gar nicht. Es schlug die erste Stunde nach Mitternacht vom Kirchturm.
Schon, dachte er. Seine Hände waren kalt, aber er hatte ja in den
Manteltaschen Handschuhe stecken, und die zog er nun bedachtsam, langsam
an und genoß froh die Erwärmung.
Später einmal, nach zwei Uhr, kam etwas Schwarzes gegen ihn herangehopst,
ein Hase. Der machte ein Männchen, sein Schatten stand schräg
und schwarz und komisch. Dann kam das Tier näher und blieb und wagte
noch einen Satz und war ihm nun zum Greifen nah, und er sah in die Augen
des Hasen, er sah die Ohren, sah das braungelbe Fell, die Pfoten, den helleren
Bauch, sah den Bauch sich atmend re-gen. Die Augen sahen ihn friedlich
und neugierig an, dann verschwand die Neugier aus dem Blick, Furcht ließ
sich drin nieder, Furcht drückte auf einmal der Körper aus, die
Furcht wurde helles Entsetzen, dann warf sich der Hase mit einem Ruck herum,
daß der Schnee stäubte, und raste wild zurück, auf das
Dorf zu, der schwarze Schatten hinterdrein, als jage er das Lebendige,
und Josefs Gelächter, das wie eine Peitsche hinter dem Hasen und seinem
Schatten herschlug, trieb das Paar noch schneller und zum Äußersten
an. Dann verschluckte die beiden der Dorfschatten.
Noch viel später, das mußte wohl schon gegen Morgen sein,
obwohl am Himmel keine Veränderung vorgegangen war, nur der Mond seinen
Platz gewechselt hatte, bekam er Besuch von drei Krähen, die sich
in schleppendem Flug ihm auf zwanzig Schritte näherten, dann im Schnee
hocken blieben, unbeweglich. Er sah lange auf sie hin, auf die drei schwarzen
Vögel. Wo mochten die wohl hergekommen sein? Wie lange sie wohl blieben?
Er schloß die Augen, zählte bis sechzig, machte sie auf, sie
hockten noch da. Mit geschlossenen Augen ging er diesmal bis hundert. Als
er bei achtzig war, war es ihm, als hörte er sie die Flügel auftun
und wegfliegen. Aber er zählte tapfer bis hundert, wie er es sich
vorgenommen hatte, mit geschlossenen Augen, und als er wieder sah: sie
waren immer noch da! Das freute ihn unbändig. Bis zweihundert, nahm
er sich vor. Das dauerte lange, und als er die Augen öffnete, waren
die Vögel schon weggeflogen.
Und dann mußte er doch sterben, so tapfer er sich gewehrt hatte
bisher, es war fast schon Morgen, die Nacht schon heller, da hatte er auf
einmal keinen Mut mehr zum Leben, keinen Widerstand mehr gegen den Tod,
keine Lust mehr zu atmen, Begierde nur mehr nach Schwärze und Schweigen.
Die beiden Frauen waren nun wohl auch schon tot, tot die Schwarze, tot
die Blonde. Er sah Anna im Wasser treiben, das stille Gesicht nach unten
im Kühlen, und sah die Blonde, quer über den Tisch liegend, mit
verzerrtem Gesicht, und das Schul-terband des Gesellschaftskleides war
verrutscht und ließ die weiße Haut sehen, lockend, aber das
verzerrte Totengesicht war nicht mehr lockend.
So mußte er also auch sterben, und er wollte sterben, und das
war die Strafe dafür, daß er in fremde Gebiete eingebrochen
war, die Ge-rechtigkeit verlangte, daß er starb, jetzt, wo die beiden
Frauen schon totenstarr waren. Und er war ja auch recht überflüssig
auf der Welt (wer war nicht überflüssig auf dieser Welt?), er
konnte sich schon davonmachen, was tat's, angenommen selbst, daß
er unschuldig war an dem Schicksal der Frauen?
Josef dehnte sich wohlig und ohne Schrecken und starb.
Aber in einem Krankenhaus der Stadt erwachte er wieder, mit vier erfrorenen
Fingern an der linken Hand, mit Fingerstümpfen, mit Fin-gern kurz
und ohne Nägel, vier Fingerkuppen hatte man ihm weggeschnitten. Der
Fuß war verbunden, es war ein leichter Bruch, der rasch heilte. Fünf
Tage später schon konnte man Josef entlassen, wenn er auch noch an
einem Stock humpeln mußte.
Er saß an seinem Tisch in seinem Zimmer, an seinem weißgedeckten
Tisch, und in der Tischschublade lag noch die Orange, ver-schrumpft, an
einer Ecke angefault, klebriger Saft saß an der Wunde. Von den beiden
Frauen hatte er nichts mehr erfahren, auch nicht sich nach ihnen erkundigt,
er hatte nicht den Mut dazu. Vielleicht lebten sie noch! Wahrscheinlich
lebten sie noch, denn er lebte ja auch noch und hätte doch sterben
müssen, damals in der Winternacht, wenn sie ihm im Tod vorausgegangen
wären. Er betrachtete seine verstümmelte linke Hand. Das Gift
war zu schwach gewesen, das Wasser nicht tief genug, und darum auch die
Kälte nicht eisig und fressend und mörde-risch genug.
Er rollte die Orange hin und her, die gelbrote Tupfen auf dem Tischtuch
zurückließ. Auch sie, die Orange, war noch da, mit einem fau-len
Fleck allerdings, mit einer Wunde, einer blutenden Wunde, aber sie war
noch da. Und sterben mußten sie alle einmal. Anna, die Blon-de, und
er. Die Orange mußte gänzlich verfaulen, sie alle mußten
vermorschen und vermodern, aber erst später einmal, jetzt noch nicht.
S.93 DIE BASE AUS BAYERN
E: Das Innere Reich 6, 1939/40, S.868 - 874
Die Urform dieser Erzählung reicht bis in die zwanziger Jahre
zurück. Sie wurde wohl öfter gedruckt, vermutlich in Tageszeitungen,
es ist aber vor ihrem Erscheinen im Inneren Reich kein weiterer
Druck nachweisbar.
Varianten der Fassung E zu D3 :
D3: S.93, Z.:18: bei Wein und Karten zugebracht hatte]
E: Wein und nicht mit Rosenkranzbeten, mit des Teufels Gebetbuch vielmehr,
den Spielkarten, zugebracht hatte...(Dieser Zusatz fehlt in allen weiteren
Drucken).
D3: S.95, Z:16-17: und vielem Reden./ Drei Tage später, als der
Oberleutnant heimgekommen sei ] E: und vielen Reden (kein
neuer Absatz) -, und erst sehr spät wieder sei der Oberleutnant heimgegangen
in sein Zimmer. Und als er dann mit unsicherer Hand die Kerze zum Brennen
gebracht hatte, fast habe er sie gleich wieder fallen lassen, als. Ebenso
in D1.
D3: S.97, Z.:2: Und der Bruder des Ermordeten hatte nicht gezögert...]
E: Aber der Bruder des Ermordeten, der versteckt, aber waf-fenlos,
Zeuge der Tat gewesen sein mußte, hatte sich ein Gewehr geholt, und
Tags drauf, daß die heilige Kette nicht abrisse, die niemals abreißen
durfte, den Mörder durchs Fenster erschossen, als der gerade, aus
Neugier wohl, im Zimmer des Oberleutnants sich zu schaffen gemacht hatte.
E: wagte ihr kaum die Hand zu küssen. Fehlt in D1 -D3.
D3: S.104, Z.:1 und einen solchen Versuch duldet, ja wünscht noch
das keuscheste Mädchen. Fehlt in E.
D1: Schneckenweg, S.135.
S.103, Z.:16f wie in E.
D2: Die Literatur 44, Heft 5, 1942, S.198 - 199,
u.d.T. Die toten Albaner, (wie in D1).
D3: E III, S.65.
D4: Süddeutsche Zeitung, Nr.36, 11.2.1961,
u.d.T. Die Nichte des Gutsherrn
(wie in D3).
Dazu Bode (S.84):
Bei der »Base aus Bayern« ist es vor allem die unaufgelöste
Wirklichkeit, das harte Rätsel des Erlebnisses, das diese Erzählung
von dem Erscheinungsjahr 1941 abrückt. Die beiden toten schwarzen
Albaner und der blonde Oberleutnant, dem gleich ihnen eine Kugel in die
Stirn bestimmt ist, die fremden Toten im Bett und die "rotlippige Base“
im Bett, dies alles schmilzt zu einer untergründigen Iden-tität
der reinen Bilder zusammen, wie es sie nur in den frühen Erzählungen
gibt. Aus der absoluten Anschauung trifft da ein Schock, geschieht die
magische Berührung. Erzählrahmen und einige Kommentare muten
als spätere Einfügung an.