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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung
Band 5
Seite 104
Kommentar Seite
388
Aus: »Der Schneckenweg«
Die bestohlenen Äbte
Die Donau
strömte breit und grün, nur ein Strudel manchmal wallte schwarz,
aus der kalten Tiefe herauf, lief eilig, weiß schäumend, und
rascher als die gelassenen Wellen neben ihm, und verging wieder. Die Berge
der Wachau lagerten wie mächtige Tiere an den Ufern, die mit Wald
besetzten riesigen Igeln zu vergleichen, die ihre spitzen Schnauzen zum
Fluß hin streckten, die Weinberge aber erschienen wie Löwen,
nur waren ihre Halskrausen nicht wie die verfilzten Mähnen der lebendigen
Raubkatzen, sondern wie die sorgsam aneinandergelegten starren Locken,
wie sie die Künstler ihren Tierstandbildern geben. Und der Kirchturm
aus grauem Stein, der in kühnen Windungen gierig nach oben sich schraubte,
wie um den Himmel anzubohren, daß der himmlische, goldblaue Lichtwein
fließe, war wie eine lustig gezackte Felsnadel, so ähnlich sehen
hier die Gebilde der Natur denen der formenden Menschenhand.
Der Kirchendiener, auf
den wir gewartet hatten, daß er uns das Gotteshaus öffne, kam
eben über den gepflasterten, sonnenheißen Platz daher. Weiß
war das kurzgeschorene Haar des alten Mannes, und er war nicht mit einem
schwarzen Gewand angetan, wie sonst Leute seines Standes, wie ein Jäger
eher war er anzusehen, in der kurzen Lederhose, mit nackten braunen Knien,
kleine stechende Augen in bartlosem Gesicht: durchdringend hellblau waren
sie, man mochte an Gletschereis oder an blaues Feuer denken. Die Schlüssel
schwang er, daß sie aneinanderklapperten, und er sperrte das mächtige,
mit faustgroßen Nägeln beschlagene Kirchentor auf, und ließ
uns eintreten ins Dämmerige, und trat selber als letzter ein und begann
mit der Führung.
Von jedem Getäfel,
von jedem Eisengitter wußte er zu melden, wer es geschnitzt, wer
es geschmiedet hatte, und dem Namen des Meisters, den er nannte, fügte
er hinzu, von wo der herstammte. Der ist von Mautern droben, so sagte er
etwa, und zeigte zum hohen, bunt geglasten Fenster hinaus in die Richtung,
wo dieses Mautern liegen mußte. Oder er berichtete von einer Kanzel,
die weiß und blau und rosa schimmernd, wie ein Schwalbennest hoch
an einer Säule hing: Die hat der Vater gemacht des Künstlers,
von dem das Bild vorn am Altar ist, und der ist in Roßlarn begraben,
und wieder wies er in eine unsichtbare Landschaft hinaus. Das alles klang
so vertraut und gegenwärtig, als hätten die kunstreichen Männer,
von denen er redete, noch gestern gelebt und gewerkt, und als hätte
er sie alle noch gekannt, und die lagen nun doch schon seit weit über
hundert Jahren in ihren Särgen.
Der jägerische Alte
schüttelte seinen Schlüsselring nun, daß der klirrende
Ton widerhallte, so, als schüttle hoch oben unter der Decke noch einmal
einer, und das war ein Zeichen weiterzugehen, und er ging, und wir gingen
ihm nach, und er wandte sich einer kleinen Tür zu, und schritt uns
voran über ausgetretene Steinstufen, hinab in ein Gewölbe, in
dem es nach Moder roch und Staub und Mäusedreck, und im Licht, das
durch ein winziges rundes Fenster hereinfiel, glänzten die seidenen
Fahnen der Spinngewebe. Die Mönche des Klosters, zu dem die Kirche
früher gehört hatte, lagen hier bestattet. Die Gräber waren
in die Tiefe der Wand eingelassen, und glatt behauene Steinplatten, die
keine Inschrift trugen, verschlossen sie. Von fünfen der Gräber
waren die Platten entfernt, sie lagen aufeinander getürmt in einer
Ecke der Gruft, und die leeren Nischen gähnten schwarz und beleidigt
her.
Die Platten, sagte der
alte Mann, und stieß mit dem Fuß gegen sie, die liegen hier,
seit uns die Franzosen besuchten, mein Großvater hat mir noch oft
davon erzählt. In den jetzt leeren Nischen, sagte er dann, seien die
toten Äbte gelegen, die mit ihren edelsteinbesetzten Ringen, dem Zeichen
ihrer Würde, begraben worden waren, und eben diese heiligen Ringe
sich an die eigenen, unheiligen Finger zu stecken, hätte es die Franzosen
gelüstet, und eben deswegen hätten sie nur die Äbte aus
ihren steinernen Kammern geholt, während sie die Mönche in Ruhe
gelassen, weil die ja ohne Schmuck seien, im Leben und im Tod, und auf
die Ringe natürlich; und nicht auf die morschen Knochen der Toten
hätten es die Franzosen abgesehen gehabt.
Einer von uns, ein noch
junger Mensch, mit scharf gezogenem Scheitel, im modisch geschnittenen
Anzug, pochte gegen eine der Platten, die noch fest in der Wand saß,
aber sie gab keinen Klang her, und tat sich auch nicht auf, da mußte
man schon dringender klopfen, wie es die Franzosen gemacht hatten. Und
er fragte, die Worte genau aussprechend, mit seiner hellen Stimme, woher
denn die Franzosen gewußt hätten, wo die vornehmen Ringeträger
lagen, und wo die bescheidenen Toten ohne jegliches Gold, auf den Tafeln
stehe ja kein Wort, weder Name noch Stand, und als habe er auf diese Frage
nur gewartet, antwortete der Alte schnell und heftig und fast böse:
Das sei ihnen natürlich verraten worden! Und er fuhr fort zu berichten,
daß es der Förster gewesen sei, der so getan, und darüber
bestünde ja nun allerdings kein Zweifel! Denn man habe gesehen, wie
er, barhäuptig, an der Spitze eines Trupps von Franzosen, aus dem
Wald heraus gekommen und auf die Kirche zugegangen sei, auf der leeren
Straße, mitten durchs ausgestorbene Dorf, aber durch die Fenster
habe doch mancher und manche heimlich und furchtsam gespäht. Der Förster,
und die torkelnden und johlenden Franzosen, die betrunken schienen, und
von denen manche Stemmeisen und Hämmer trugen, und Weinflaschen, und
auch Flaschen voll weißen Wassers (es war nicht Quellwasser, natürlich
nicht, scharfes Zwetschgenwasser war es), seien eiligst im Gotteshaus verschwunden.
Drollig sei es anzuschauen
gewesen, daß dem gröhlenden Haufen der zahme Rehbock des Försters
sich angeschlossen hatte, mit seinem jungen Gehörn auf die Franzosen
wie zornig einstoßend. Nur einen der Ihren hätten sie an der
Kirchentür zurückgelassen, als Wache, und ihm eine Flasche in
die Hand gegeben, daß er nicht Durst zu leiden habe, und auch der
Rehbock habe ihm Gesellschaft leisten müssen, am Halsband festgehalten.
In der Kirche sei eine
alte Bäuerin gesessen, die sich dorthin geflüchtet hatte, als
oben im Wald der Kampflärm sich erhoben, und die habe, tief in den
Betstuhl gedrückt, mit angesehen, wie der Förster, ohne in der
Kirche im geringsten sich aufzuhalten, seinem schlimmen Gefolge voraus,
sogleich zu den Gräbern hinabgestiegen sei, aber nicht, ohne vor der
Tür der Gruft, unter dem Lachen der Franzosen, geschwinde das Zeichen
des heiligen Kreuzes geschlagen zu haben. Sie seien nicht lange dort unten
geblieben, berichtete der alte Mann weiter, eine kleine Stunde nur, dann
hätten sie wieder weg gemußt, weil schon bald darauf Gewehrfeuer
zu knattern begonnen habe und die ersten österreichischen Plänkler
den Berg herunter gekommen seien, und das sei ihnen von dem Aufpasser an
der Kirchentür gemeldet worden, und darum hätten sie nur fünf
der Platten von den Gräbern reißen können.
Und was aus dem verräterischen
Förster geworden sei? wollte die helle Stimme jetzt wissen, und was
der Schuft denn selber gesagt, bevor man ihn gehängt habe, hoffentlich,
an den nächsten Baum? Der alte Mann sah über ihn hinweg, den
Fragenden, und über uns alle hinweg, als blicke er angestrengt und
beunruhigt in eine ungewiß dämmernde Vergangenheit. Der habe
gar nichts mehr gesagt, antwortete er dann, kein armseliges Sterbenswörtlein
mehr. Denn die ihn damals, aus den Fenstern lugend, hätten abziehen
sehen, in der Mitte des französischen Trupps, es sei aber kein Offizier
dabeigewesen, den Hang hinauf, in den tiefen Wald hinein, die hätten
ihn auch zum letztenmal vor den Augen gehabt in diesem Leben, den Unglücksmann.
Wieder habe der Rehbock,
von jedermann zu erkennen an seinem rotledernen Halsband, sich an den Schluß
des traurigen Zugs gesetzt, und, weil auf dem Heimweg, vergnügt trippelnd
jetzt in seinem glücklich-unwissenden Zustand. Im Wald dann habe man
den Förster vermutlich totgeschlagen, und daß man ihn nicht
fände, verscharrt wie ein Stück Vieh, in sorgfältiger Arbeit
alle Spuren verwischend, und so sei nie die bewiesene Wahrheit ans Licht
gekommen. Der Rehbock doch mußte den Soldaten entkommen sein, aber
nicht zu einem sanften Ende: von wildernden Hunden gerissen fand man seinen
Kadaver später in der Nähe des Forsthauses.
Natürlich hätten
viele in den Dörfern ringsum es geradeheraus gesagt, der Förster
habe so übel gehandelt in der Hoffnung, mit seinem Anteil an der Beute
in der Fremde dann ein langes und lustiges Leben mit Braten und Wein und
Weibern führen zu können, und die in Roßlarn drüben
seien bei denen gewesen, die so geredet.
Der alte Mann hatte bei
dem Wort Roßlarn wieder eine deutende Bewegung mit dem Daumen gemacht,
und nun erinnerte sich mancher von uns, vom Platz vor der Kirche aus das
Dorf erblickt zu haben, das am andern Ufer der Donau lag. Aber die Männer
hier am Ort, sprach er dann weiter, alles Leute, die den Förster gut
gekannt hätten, von Kindesbeinen an, die hätten so etwas nicht
geglaubt, auch die Frauen nicht, und die Mädchen nicht, und die schon
gleich gar nicht, die hätten ja schon immer was übrig gehabt
für den unverheirateten Mann, und manchmal mehr als sich ziemte. Frau
Försterin zu werden hätten viele geträumt, versteht sich.
Und als wieder Friede
gewesen sei im Lande, habe die Gemeinde alle männlichen Mitglieder,
die Frauen natürlich nicht, die ginge so etwas nichts an, habe alle
Männer also an einem Sonntagnachmittag in den großen Tanzsaal
des Wirtshauses zusammen berufen, zum Gericht über den Förster,
und alle seien gekommen, und stumm dagesessen voller Erwartung, und an
der verschlossenen Tür hätten die Weiber neugierig gelauscht.
In der ängstlichen Stille dann sei als erster der alte Lehrer aufgestanden,
der dem Förster einst das Buchstabieren beigebracht hatte, und habe
gesagt, es könne doch vielleicht auch so gewesen sein, daß der
Förster die Franzosen nur deswegen schnurstracks in die Gruft geführt
habe, um sie davon abzuhalten, die Kirche selber zu plündern, daß
er sie gierig auf die Ringe gemacht habe, um Schlimmeres zu verhüten,
denn gar so kostbar nun seien die auch wieder nicht gewesen, und viel weniger
wert als die goldenen Geräte am Altar. So, oder so ähnlich, müsse
es sich verhalten haben, und ob so oder so, oder auch ganz anders, und
gleichviel wie, der Förster habe wohl seinen guten und richtigen Grund
gehabt, zu handeln, wie er gehandelt habe, dessen seien sie sich alle gewiß
in ihrem Herzen, wenn er sich auch nicht mehr hier vor ihnen verantworten
könne.
Und alle hätten dem
Lehrer beigepflichtet, mit lauten Zurufen, und Vermutungen, wie es sonst
noch habe gewesen sein können, und der Pfarrer, der ja vom Beichtstuhl
her den Mann am besten habe kennen müssen, der habe sich am entschiedensten
für ihn verbürgt, obwohl er seiner Schürzenjägerei
wegen dem frommen Herrn oft ein Ärger und Anstoß gewesen war.
Und es sei keiner gewesen unter den Männern, der den Förster
gemeinen Verrats für fähig gehalten, und einer nach dem andern
habe sich erhoben, um für ihn zu zeugen mit einem kurzen oder langen
Wort.
Der zehnjährige Bub
des Wirtes habe sich unbemerkt durch eine kleine Hintertür in den
Saal geschlichen gehabt, wo an der Rückwand alte Stühle, wacklig
gewordene Tische und sonst Plunderzeug aufgestapelt war, dahinter er sich
versteckte. Als ein Häusler, ein geringer Mann, der aber als klug
und guten Rat gebend trotzdem galt, eben besonders feurig für den
Förster redete, sei der Bub aufgesprungen, Stühle umwerfend,
und habe laut in die Versammlung geschrieen: Er ist unschuldig, unser Förster,
dreimal unschuldig! Der Schrecken über das Gepolter des stürzenden
Gerümpels sei groß gewesen, und an den Donner des jüngsten
Gerichtes habe man denken müssen. Der weinende Bub sei schleunigst
vor die Tür gesetzt worden, wo man ihm eine Tracht Prügel versprach.
Das Versprechen sei dann auch gehalten worden.
So sei es gewesen, so
habe es sich zugetragen, so habe die Gemeinde Gericht gehalten über
den Förster, und habe ihn frei von Schuld gesprochen, mit allen Stimmen.
Und der Spruch sei ihm, und hier klopfte sich der Alte an die Brust, sei
ihm und allen hier am Orte überliefert worden von den Vätern,
und sei gültig für sie alle bis zum heutigen Tag und für
immer.
Er war fertig mit seiner
Erzählung, der Alte, und da standen wir, und wußten nicht recht,
was wir sagen sollten, und bedachten den Richterspruch, und es war an uns,
ob wir ihm zustimmen mochten oder nicht. Der Alte aber kümmerte sich
nicht darum, und schon gar nicht mehr um den jungen Frager, der vorwitzig
den Förster schon am Strick hatte baumeln sehen. Er schüttelte
den Schlüsselbund, eine Aufforderung zu gehen, die wir nun schon kannten,
und aufwärts stiegen wie wieder, und, ganz in Dunkel und Verlassenheit
zurück sank die Gruft, und wir waren wieder im Kirchenraum, und Licht
fiel durch die hohen farbigen Fenster herein, sich spiegelnd am Altar,
um den die Engel sich schwangen voll Lust, und auf dem die Heiligen freudig
und stolz in steifen Händen die Marterwerkzeuge hielten, unter denen
sie verblutet zu ihrer Zeit. Und eine holzgeschnitzte Taube zu Füßen
der heiligen Magd Notburga drehte den Kopf, die Flügel leicht gehoben,
als wolle sie gleich wegfliegen.
Die bestohlenen Äbte,
berichtete der Kirchendiener dann noch, vor dem Altar stehenbleibend, das
heißt, was von ihnen an sterblichen Überresten noch dagewesen,
mürbes Gebein und hohle Schädel, das sei dann später hier
unterm Altar beigesetzt worden. Der Herr Bischof von Linz sei selber zu
der feierlichen Umbettung in einem großen Schiff die Donau herabgefahren,
und wo das Schiff sich gezeigt, hätten die Böller gekracht und
die Kirchenfahnen geweht, und alle Glocken hätten geläutet, und
viel Volk sei von weither herbeigeeilt, das Bischofsschiff zu sehen. Und
überall den Strom entlang seien die Leute betend auf die Knie gefallen,
Männer und Frauen, und der Bischof, hoch auf purpurnem Thron, mit
Stab und Mütze habe allen, die da knieten, seinen Segen gegeben. Vorn
am Schiff habe in einem silbernen Leuchter eine riesengroße Kerze
gebrannt, dick und ragend wie ein Baum, von den Wachsziehern der Stadt
Linz als Geschenk dargebracht, und die sei nicht erloschen auf der langen
Fahrt, und habe noch eine Weile am neuen Grab der Äbte gebrannt. Und
daß die Äbte nun ohne Ringe dem jüngsten Tag entgegen schlafen
müßten, und es nun nicht mehr vornehmer hätten als die
gewöhnlichen Mönche, das mache ihnen wohl nicht viel aus.
Eine dicke, rote Schnur
war quer über den Zugang zum Altar gespannt, und an jedem Ende der
Schnur hing eine riesige Quaste, und die waren wie gequollen von Blut,
so sah es sich an, und wenn man sie zusammenpreßte, mußte das
Blut aus ihnen fließen, wie es der Förster in Güssen hatte
dahinströmen lassen müssen im schwarzen Wald, und die gleiche
rote Farbe hat das Blut eines Verräters und das eines braven Mannes.
Daß noch alljährlich
und bis heute eine Seelenmesse gelesen werde für den verschollenen
Förster, jeweils am Jahrestag der Plünderung der Gruft, und gerade
hier am Altar der Äbte, sprach der alte Mann mit Nachdruck, das geschehe
nach dem ausdrücklichen Willen der Gemeinde, und in einer Stiftung
von ihr für immer festgelegt. Und von den Leuten in Roßlarn
dürfe sich keiner dabei blickenlassen, und das habe auch noch nie
einer gewagt.
Und hiermit sei die Führung
zu Ende, sagte er dann kurz abbrechend, und schulterte seinen Schlüsselring,
und beugte das Knie vor dem Altar, und die Taube flog nicht auf, und die
heilige Notburga lächelte gnädig und vieles wissend, und an der
Kirchentüre wartend entließ er uns, und nahm, mit gelassenem
Dank das Trinkgeld, und vergab sich nichts dabei.
Wir traten aus dem Dämmern
der Kirche ins volle Licht des Tages, und standen wie geblendet zuerst,
und vom erhitzten Pflaster stieg die Glut. Dann gewöhnten sich die
Augen an das mächtige Leuchten, und erblickten die Hügel der
Wachau, die trugen ihren Wein und kochten ihn an der Sonne, die Wälder
rauschten im Dunst, die Donau blinkte grün herauf, und von Roßlarn
drüben, das wie aus Gold gebaut sich hob, ungläubig und glänzend,
schlug die Turmuhr drei dunkel hallende Schläge.
Der junge Frager, der
dem Förster den Strick des Verräters zugedacht gehabt hatte,
als er allein die leere staubige Straße zum Wirtshaus hinaufstieg,
zwischen weiß gekalkten, stummen Häusern - die Dorfleute waren
alle an der Arbeit in den Weinbergen - und ein Klirren und Rasseln vernahm,
wie von Waffen, der glaubte schon im zitternden Licht den Förster
zu sehen, innitten der Soldaten, und wie er ihn lächelnd und ein wenig
verächtlich anblickte, aber dann war es nur ein junges Frauenzimmer,
das, einen Karren vor sich herschiebend, um die Ecke bog und den Wanderer
grüßte. Der erzählte davon mit seiner hellen Stimme uns
allen abends beim Wein dann.
Anmerkung: Ort der Handlung ist Dürnstein
Drucknachweise und Anmerkungen:
S.104 DIE BESTOHLENEN ÄBTE
E: Das Innere Reich 5, 1938/39, S. 247.
D1: Das Reich Nr.3, 9.6.1940, S.29f. u.d.T. Der Verräter.
D2: Schneckenweg, S.167 u.d.T. Der Verräter.
D3: E III, S.77.
Die Erzählung hieß ursprünglich »Judas Perlachinger«
und findet sich in dieser Fassung [mit geringfügigen Änderungen]
in Bd.3/2 S.414.(Vgl.Bd.3/2 S.455 und 511). 1933 druckte sie der Kölner
Stadtanzeiger unter dem Titel ‘Der Ring der Äbte’. Britting
arbeitete den Text noch zweimal um und veröffentlichte eine neue wesentlich
gestraffte Fassung.
Jung erwähnt die Erzählung in seinem Schneckenweg-Aufsatz
(Aufzeichnungen S.79):
Britting ist ein echter Epiker vor allem darin, daß er nur erzählt,
an Gestalten Schicksale geschehen läßt, aber niemals sagt, was
dies alles "bedeute". Es ist bezeichnend, daß in der endgültigen
Fassung der Erzählung ‘Der Verräter’ die Sätze getilgt
sind, die in der ersten Fassung auf den Sinn des Geschehens deutend hinweisen.
Dieser soll von selbst aus dem Geschehen herausfallen [...] aber er [der
Leser] ist auch nicht betrogen, wenn er sich nur an die Gestalten und die
Handlung und die farbige bildhafte Sprache hält: das alles ist reich
und schön genug.
S.113 DER MANN KRUCH
E: Schneckenweg, S.167 u.d.T. Der Flüchtling.
D1 : E III, 87.
Auch diese Erzählung geht, wie Britting gegenüber Bode bestätigte,
auf einen Entwurf aus den zwanziger Jahren zurück. Britting benutzt
wie oft ein wahres Geschehnis (Vgl.S.xxx). Frühe Abdrucke ließen
sich nicht ermitteln.
Der Selbstmord als umsichtig geplantes Davonstehlen aus dem Leben,
das Grübeln über die Gebundenheit einer Tat an ihre Umwelt, schließlich
die Faszination durch so kräftige Bilder wie den grausam schreienden,
dottergelben mechanischen Papagei, die primitive Wasserfarbenmalerei der
sich vom Turm herabstürzenden Jungfrau, vielleicht auch die rotglänzenden
Kälberhälften in den Metzgerbuden“ - das gehört wohl zum
Kern der Erzählung »Der Flüchtling«. Davon meint
man, die ausmalenden oder betrachtenden Partien, die bis zu der 1941 vorgelegten
Fassung dazugekommen sind, ohne Anstrengung scheiden zu können. (Bode
S.84)
S.121 DAS MÄRCHEN VOM DICKEN LIEBHABER
E: Schneckenweg S.181.
D1: Europäische Revue 17.4.1941, S.263-266.
D2: Geschichten und Gedichte 1956, S.310.
D3: E.III, S.96.
Eine erste, teils beträchtlich abweichende Fassung erschien
in: Jugend
33.Jg. (1928) Nr.33, S.518-522 mit der Illustration von Friedrich L.
Heubner
Aus eben den Gründen, die für „Ulrich unter der Weide“ geltend gemacht wurden (S.xxx), soll auch diese Frühfassung hier abgedruckt werden..
DAS MÄRCHEN VOM DICKEN LIEBHABER
Er griff in die zitternden Weinranken mit seinen braunen Fingern wie
eine Adlerklaue in ein Nest voll junger, flaumbehaarter Vögel, in
einen Korb aufgeregter Zappelenten oder Gänsegelbschnäbel fährt,
und die grünen, dunkelgrünen, grünlackierten Glanzblätter
zischelten und schnatterten, als wollten sie: Achtung! und: Einbrecher!
rufen. Aber es kam niemand, und er stieg durchs Fenster in das Schlafzimmer
des Gutsbesitzers und erbrach den Kleiderschrank. Mit den schwarzbehaarten
Beinen fuhr er in die weiß und gelb gewürfelten Hosen, den Schlips
knotete er sich um den Hals wie einen Strick, und weil er zu kräftig
ihn zuzog, röchelte er, als hinge er am Galgen. Dann erwischte er
noch den hohen, steifen, glänzenden, schwarzen Röhrenhut, und
mit dem Hut auf dem Schädel streckte er nun zuerst das eine weiß
und gelb gewürfelte Hosenbein durchs Fenster, schob das andere nach,
saß einen Augenblick lang witternd am Rand, rutschte durch die aufschnatternden
Weinlaubzungen und machte sich davon.
Über die abendliche Landstraße trabte er zur Stadt. Der
Himmel hatte eine tiefe, weiße Bläue, Glocken schlugen an. Im
Straßengraben standen versprengte, gelbe Blumen herum. Ein paar waren
wie auf einen Haufen zusammengeweht, wie vom Wind zu einem lodernden Züngelbusch
zusammengetrieben. Hallo! schrie er und kreischend wichen ihm zwei Mädchen
aus, die ihn für einen Betrunkenen nahmen. Er schnaufte, die ungewohnten
Hosenträger schmerzten, sein dicker Bauch wackelte, um seinen Hals
der Galgenstrick flog und seine gro-ße, hügelige, abenteuerlich
gekurvte Nase schnupperte, und das Selbstgespräch, das er jetzt begann,
einen wirren Schwall von vielen und saftigen und krummen Worten, hörten
nur die gelben Blumen. Sie verstanden nicht viel davon, nur einzelne Brocken,
aber das genügte ih-nen, um sich kichernd auf ihren Stielen zu drehen
und zu wenden, gelenkigen Halses, und auf der Unterseite der Blätter
rosa errötend.
Nun kam er an die Brücke. Unten der Fluß schwang sich in
einem starken Bogen nach Süden, und er schaute ihm nach. Er legte
die Hände auf das körnige Steingeländer, drückte, drückte
fest zu, vom Stein bröckelte warmer Sand, und als er weiter ging,
blieb der Abdruck zweier Hände, gewaltig vertieft, der Daumen neben
je vier Fingern, wie in Lehm eingesenkt, und es war doch harter, grauer,
körniger Stein! Die Taube, die schwarzblaue, die sich in einer der
Handhöhlungen niederließ, flügelschlagend, äugte ihm
wichtig nach.
Er trabte weiter; die Stadt rückte näher heran. War das nicht
eine Schenke? Arbeiter saßen beim Abendbier. Er nahm einen Stuhl,
der Wirt brachte ihm einen vollen Krug. Er trank, legte den Kopf weit zurück
beim Trinken, und der Röhrenhut stieß wie ein Kanonenrohr ins
Abendrot, stieß ein dunkles Loch ins Abendrot. Aber dann vergaß
er zu zahlen, ging, rannte davon, Flüche und Gelächter kollerten
hinter ihm drein. Das Abendrot wurde feuriger; wenn er sich umsah, loderte
es wild um Himmel und Brücke. Aber bald sah er sich nicht mehr um.
Und als er tiefer in die Stadt hineinkam und auf einem Schild eine
Weinflasche abgemalt erblickte, und das Schild hing über einer Haus-türe,
schob er sich durch die dunkle Haustüre, in einen schwachbeleuchteten
Flur, tappte sich vorwärts, öffnete eine kleine Tür und
stand geblendet in einem Zimmer, in einem großen Zimmer, wo viele,
weißgekleidete Tische taubenflügelig blitzten. Er ging nicht
weit in das Zimmer hinein, nur ein paar Schritte, da war ein leerer Tisch
und ein leerer Stuhl davor, und schon saß er und hatte auch schon
die Wein-karte in der Hand.
Er fuhr mit dem fetten Finger auf der Karte auf und ab, die Weinpreisleiter
hinauf und hinunter, und blieb mit der Nagelkuppe irgendwo hängen.
Der Kellner brachte die bestellte Sorte, es war ein spanischer Roter. Er
trank davon, in langen, gurgelnden Zügen und sah glücklich um
sich. Am Nebentisch saß bei einem Herrn eine Dame in weißer
Bluse und mit weißem Hals. Er drehte seine Kugelaugen, winkte ihr
zu. Sie sagte laut: "Pfui!" und sah weg. Der Kellner brachte ihm die zweite
Flasche. Er setzte sich breit zurecht, es wurde ihm warm und ge-mütlich.
Glucksend trank er seinen Wein, sah fröhlich in das rötliche
Schimmern, leckte sich die Lippen, und als das weiße Dreieck ihres
Ausschnittes immer blendender wurde, nahm er seine Flasche unter den Arm,
schob mit dem Fuß den Stuhl vor sich her und siedelte an den Nachbartisch
über. Cäcilie, so hieß das weiße Mädchen, bog
den Kopf zurück, denn ein schwerer Weindunst ging von ihm aus. Einen
Zipfel des Galgenstricks um seinen Hals nahm er, zog, daß er wie
eine Saite stramm gespannt war, befeuchtete ihn mit Wein, daß er
schlüpfrig gleißte, und klimperte darauf eine stumme Melodie.
Und als die Melodie am stürmischsten wurde, spritzte ihr ein roter
Tropfen der weingetränkten Saite mitten ins weiße Gesicht, mitten
auf die roten Lippen. Rot auf Rot, das sah man nicht. Vorsichtig holte
sie sich mit der Zungenspitze die Weinperle, und er lachte sie mit seinen
Knopfaugen so vergnügt an, daß sie ihm gut wurde, ihm auf den
breiten Rük-ken patschte. Er hatte schon längst seine Hand auf
ihr Knie gelegt. Heiß wurde es ihr da. "Er trägt keinen Kragen",
rief der Herr, und "Oft wäscht er sich nicht!".
Der Dicke war schon bei der dritten Flasche, das Gesicht Caciliens
lag an seiner Schulter. Der Herr sagte: "Zahlen!" Aber der Dicke hat-te
kein Geld. Cäcilie geriet in Verlegenheit, und legte den Betrag aus.
Auf der Straße war der Herr auf einmal verschwunden, und der
Mann mit dem Röhrenhut hatte den Arm um ihre Hüfte. Am Himmel
rauchten die Sterne. Bald saßen sie auf einer Bank in den Anlagen.
Bäume sprachen mit dem Wind und Sträucher. Die Bäume wirbelten
mit vielen kleinen Blättern, und die Sträucher schlappten mit
großen, handgroßen und merkwürdig geschwungenen Grünlappen.
In der Tie-fe lief ein Fluß, der ein sprudelndes Wort manchmal dazwischen
warf. Der Kerl rieb sich schweigend, nur die dicken Lippen wie wiederkäuend
bewegend, den Rücken an der Banklehne. Hin und her rieb er, daß
die Lehne krachte, unaufhörlich, wie ein Eber im Wald, wie ein Eber
an Buchenstämmen. Seine Hände griffen überall hin. Sie spürte
die Härte des Holzes nicht und verging selig und zappelnd in seiner
Umarmung. Wie lange lagen sie? Sie wußte es nicht. Er wurde ungeduldig
mit einem Male, und sie ging taumelnd neben ihm, über die Brücke
und weiter. Die Häuser hörten auf, und die Ebene begann. Sie
war müd, er warf sie über die Schulter und trabte weiter. Das
Morgengrauen kam. Sie war eingeschlafen. Er machte Halt bei einer Weide,
legte das Mädchen zu Boden. Die Hose zog er aus, die Joppe. Neben
einem schwarzen Kamin stieg die rote Sonne herauf, und das Licht brandete
in goldenen Wellen einher, Kamm hinter Kamm, Wiesen und Felder überschwemmend.
Ein Hase jagte vorüber.
Der dicke Mann nun, nackt nun, braun, rotbraun, dunkelkupfrig, mit
Armen dick bemuskelt, daß sie wie die Äste eines Weidenstrunks
aussahen, die Arme, - der dunkelkupfrige Mann nun schwang die Hosenträger,
die gestohlenen, blauseidenen Hosenträger, schwang sie wie eine Peitsche,
knallte damit, er brachte es fertig, wahrhaftig, mit den Hosenträgern
zu knallen, wie ein Ziegenhirt, wie ein Kuhhirt, und schwang die Hosenträger
wie eine Waffe, wie eine altertümliche, blauseidene Waffe. Der Hase,
der große, gelbe Hase verhielt sekunden-lang, wie gelähmt, aber
dann wich die Lähmung, er sprang los, und wie sprang er los! Und wie
sprang der Peitschenschwinger hinter ihm drein, der große Jäger!
So ging die Jagd über die Ebene, einem kleinen Wäldchen zu, das
unfern war. Der Hase schoß gelb ins Unterholz, und der dicke Jäger,
immer dicht hinter ihm, brach durch die Brombeerstauden, ihm nach ins Wäldchen,
ins dunkle. Das Wäldchen zitterte, so war es anzusehen, von der Jagd,
die in ihm gejagt wurde, aber der Jäger und das Gejagte waren nicht
mehr zu schauen, vom Wald ge-borgen, nur die zitternden Bäume waren
zu schauen und die wackelnden Brombeerstauden.
Cäcilie lag noch immer schlafend unter der Weide, ihre Bluse stand
offen, als von einem nahen Bauernhof ein Knecht kam. Blieb der Knecht stehen.
Er kniete neben ihr nieder und stieß mit den Fingern gegen ihre Brust.
Sie breitete die Arme, die Augen noch geschlossen. War der Dicke immer
noch da? Der Knecht nahm sich die Morgenbeute. Cäcilie sah ihm verwirrt
nach. Er ging einen schmalen Wiesenpfad weiter, die Hände in den Hosentaschen,
die Ellbogen abgespreizt. Durch den Kreis, den die gekrümmten Arme
formten, strömte das Licht, er selbst war schwarz, war finster, und
als er sich umsah, ihr zuwinkte, war auch sein Gesicht nur ein dunkler,
ungewisser Fleck, zweimal handgroß, und ob er lachte, konnte sie
nicht sehen.
Sie stand auf, drehte sich, wie Gold strahlte die Stadt, und wankend
ging sie darauf zu. Um acht Uhr mußte sie im Geschäft sein,
es war sechs Uhr, da war es noch Zeit, sich ein Bad einlaufen zu lassen.
Müd stieg sie ins Wasser. Die Sonne sah durchs Fenster, und blinzelte
nicht der Dicke durchs Glas? Ja, es war der Dicke! Mit einem Schrei fuhr
sie auf, stürzte aus dem Badezimmer auf den Flur. Ihre Hauswir-tin
sagte: "Aber Fräulein!" als sie die Nackte sah. Und warf ihr einen
Schurz über, weil eben ihr Mann aus seinem Zimmer kam. Errötend
zog sich Cäcilie zurück, kleidete sich träumend an, und
träumend machte sie sich auf den Weg.
Abends, nach Geschäftsschluß, ging sie vor die Stadt und
fand auch die Weide. Sie setzte sich, griff mit den Armen nach hinten in
das biegsame Astwerk. Er kam nicht. Aber der Knecht kam, der die Weide
in angenehmer Erinnerung behalten hatte.
In der Mulde knabberten drei große Mäuse an einem hohen,
schwarzen Hut. Eine hatte ein Loch in den Deckel gefressen, die zweite
zerfranste die Krempe, und die dritte trennte weißzahnig das Seidenband
von der Wölbung. Und als die Abendsonne in die Mulde schien, waren
sie alle drei im Dunkelhohlraum des Huts verschwunden. Nur drei Schwänze
ringelten sich wie feurige Regenwürmer empor.
Und ein Hasenskelett, ein armseliges, nacktes, gebleichtes, lag noch
einen Herbst lang, einen weißen Winter lang, bis wieder zum Früh-jahr
unter einer Buche, und selbst die Ameisen, als es wieder Sommer geworden
war, selbst die schwarzen, ekelhaften Ameisen des Wäldchens verschmähten
es, an ihm noch herumzuklettern.
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Dazu (Bode, S.22-23):
[...] Dieses Faunische, vom Expressionismus übernommen (Heym nach
Rimbaud), kann überhaupt als eine Schlüsselfigur der nachex-pressionistischen
Bukolik gelten. „Das Märchen vom dicken Liebhaber“ [...] handelt [...]
von ihm.
Da springt Pan selbst in voller Identität durch die süddeutsche
Landschaft, pokuliert und verführt unterm Lachen seines bocksfüßigen
Gesindels die weißhalsige Cäcilie und prescht, mit den Hosenträgern
einen Hasen jagend, ins dunkle Unterholz davon. Ein gebleichtes Hasenskelett
im Herbst bleibt übrig von seiner Erscheinung und der Cäcilie
ein leichter Traum.