zurück zum Inhaltsverzeichnnis

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung
Band 5   Seite 129
Kommentar Seite 394

Aus: »Letternspuk« drei Erzählungen
Das hinkende E   S.131
Der nackte Shakespeare  S.134
Beim lautlosen Krähen des Messinghahns   S.136
 
 
 



Das hinkende e

Wir hatten einmal, es war in einer der untersten Klassen der Mittelschule, ja, ich weiß es genau, es war die dritte Klasse, ich weiß es genau, weil ich sie zweimal durchlief, nicht durchlief, durchstolperte (was gab es da an Hindernissen und Fallgruben, an Wolfslöchern und Fußangeln!) ? in dieser dritten Klasse also hatten wir einen Lehrer für Deutsch, der war sehr durchschnittlich begabt, und tat uns auch nicht viel zuleid, man durfte ihm nur in einem Punkt nicht wehe tun, da war er empfindlich wie ein Pferdemaul gegen Hornissenstiche. Und das war so, es klingt unglaublich und komisch, aber es ist wahr, er verlangte, wenn man den Buchstaben e das kleine e das kleine deutsche e schrieb, daß man da den zweiten e?Strich etwas kürzer mache als den ersten. Das war früher allgemein üblich gewesen, alte Leute tun es heute noch, aber zu unserer Zeit war das schon nicht mehr Sitte, aber er, der Deutschlehrer, verlangte es von uns.
    An der schwarzen Tafel malte er uns das Muster?e hin, das beispielhafte, es sah ein bißchen hinkend aus, denn standen die E?s, die wir gewohnt waren zu schreiben, auf zwei gleich langen, festen Beinen unerschütterlich und stramm und ordentlich da, so glich das e, das er gebieterisch forderte, einem Invaliden, einem Stelzfuß, einem Kriegsbeschädigten, dem man das eine Bein unterhalb des Knies abnahm. Aber ihm schien dieses verstümmelte Zeichen besonders liebenswert, und wir Schüler nun, wenn man nichts Schwereres von uns verlangte, das konnten wir leisten, wahrhaftig, und wir leisteten es.
    Ich träumte viel damals, nicht nur im Schlaf, da träumt jeder, da träumte ich auch, aber auch mit offenen Augen war ich abwesend (wo nur überall!) und träumte davon, berühmt zu werden, und wußte nur nicht recht, wie. Eine Spur mußte man von sich hinterlassen, irgend etwas tun, was noch Jahrhunderte nachwirkte, und da kam mir der Lehrer mit seinem e gerade recht. Wenn ich, träumte ich, in allem, was ich schrieb, nicht nur in den deutschen Aufsätzen, nein, auch in allen anderen Arbeiten, in der Naturkunde zum Beispiel, in jedem Fach, ja auch in jedem Brief, den ich an Freunde, an Verwandte schickte, in allem Schriftlichen, das ich aus der Hand ließ, das Kurzbeinige anwendete, so würde das Nachahmer finden.
    Da und dort im Land würden Leute aufstehen, die mir darin folgten. Meine Freunde konnte ich bitten, auch ihrerseits das umstrittene Zeichen nur in der kurzbeinigen Fassung aus der Hand zu geben. Und das würde ich mein ganzes Leben hindurch so halten, und wenn ich erst groß sein und Kinder haben würde, so war es ganz klar, daß die mir nachfolgten und das e malten wie ich, und die Kinder meiner Freunde würden es auch tun und deren Kinder wieder und so durch viele Geschlechter. Ich träumte davon, auch Lehrer zu werden, und natürlich meine Schüler davon zu überzeugen, daß das Invaliden?e das einzig richtige, das einzig schöne sei, und von den Schülern würden wieder ein paar Lehrer werden dereinst und unsere, die kurzbeinige Fassung verbreiten und vielleicht, wenn wir alle recht zusammenhielten, so konnte es gelingen, daß man auf dem ganzen großen Erdball das gleichbeinige e besiegte und im Triumph das alte, gediegene auf allem Papier zu finden war.
    Welch eine Tat, dachte ich, das zu leisten, und sich zu denken, daß auf dem dicken, gelben Pergament, auf dem man einen künftigen Friedensvertrag niederschrieb, mein e. denn mein e war es nun geworden, herrlich erglänzte! Und wenn die Weltgeschichte, träumte ich, wie man uns gesagt hat, das große Buch der Menschheit ist, in der von allen riesigen Taten unvergänglich erzählt wird, und seine Blätter sind, wie man uns auch sagte, mächtige Tafeln, auf denen goldene Lettern stehen, nun, zu den Lettern, sogar zu den am häufigsten gebrauchten, gehört das e. und das würde in meiner Fassung ruhmvoll in die Jahrtausende schreiten, und noch von mir zeugen, wenn ich längst unter der Erde lag, vergessen und vermodert, wie von dem verschollenen und namenlosen Sänger das Lied bleibt, das auf aller Lippen ist, landauf und landab.
    Ein Kastanienbaum blühte vor unserem Schulfenster mit großen, fast handgroßen Blättern, dunkelgrünen, und mit vielen weißen Kerzen, die im Frühlingswind leise schwankten, und ein Vogel, ein Star, saß auf einem Ast und pfiff, und ich träumte mir meinen Ruhm. Caesar ritt heran, goldgepanzert, mit kühnem Gesicht, und hinter ihm römische Kohorten, in Viererreihen, in Sechserreihen, schauten kühn wie er, trugen den Adler an der Stange, der flog auf und rauschte, breitflügelig um des Imperators blaugeäderte Schläfen. In einer Tonne saß der schmutzige Diogenes, Columbus fuhr in seiner Caravelle übers Meer, Napoleon drückte das fette Kinn auf die weiße, schnupftabakgebräunte Weste, Helden überall! Die Dichter sangen ihren Ruhm, schrieben Bücher, viele, viele Bücher, dicke und dünne, mit vielen, vielen Buchstaben und hinter jedem Kapitel drein hüpfte und tanzte, wie auf der Dorfkirchweih nach dem Siebenjährigen Krieg der gewesene Dragonerwachtmeister, der stelzbeinige Buchstabe e.


 zurück
Der nackte Shakespeare

Es ist ein braunes Buch, schön und schmal, so lang wie eine gute Männerhand, so breit wie eine, flohbraun ist das Buch, nein, dunkler: kaffeebraun. Aus Leder ist der Einband, und auf dem Rücken trägt er ein verschlungenes Muster in Gold. Das Buch ist alt, das sieht man an dem Braun – kein junger Einband ist so getönt. Und das Gold steht matt darauf, müde, altersmüde, zart verwischt, und schlägst du das Buch auf, so siehst du gelbe Seiten, wachskerzengelbe Seiten – hast du weiße erwartet? Auf den gelben, auf den weizenfarbenen Seiten stehen zierliche, schwarze, verblaßte Lettern, wie Perlen aufgereiht an einer Schnur, Zeile unter Zeile. Ein zärtliches, ein schwermütiges, ein spinnwebschwankendes Lied zu hören, darauf warst du gefaßt, aber da schlägt dir ein Tubaton entgegen, ein wilder, Trompeten schmettern, Schwerter fahren gegen eiserne Strickhemden, ah, Shakespeare! Es ist ein Band einer alten Shakespeare?Ausgabe, es ist Othello, der Mohr von Venedig, und der König Lear, und der finstere Macbeth. Und doch dieser Einband, überlegst du, dieser allzu schöne Einband! Ein Liederbuch sollte er umschließen, süße Gesänge für lämmerweidende Hirten und sanfte, traurige Liebende. Aber dieser Einband, fluchst du, ein Blumenzaun um eine Büffelherde, auf seidenen Kissen ein blutendes Schwert! Und jetzt liest du eine Seite aus dem Othello, und noch eine, und das Feuergesicht des Mohren glüht dich an, und jetzt fangen deine Finger zu zittern an, und sie greifen fest in den Deckel, sie zerren, sie reißen, und der Einband, der edle Einband in Braun und Gold, flattert, braust schnatternd in eine Ecke, und du hältst den nackten Shakespeare in der Hand, und freust dich, und schreist, schämst dich nicht und schreist, du mußt schreien, mußt laut und barbarisch und zimbrisch schreien über deinen entkleideten, abgehäuteten, entschuppten Mann, größer nun und gewaltig erst ganz in seiner schaudernden Blöße. Bis die Frau kommt und sich weinend bei dem Einband in der Ecke nieder hockt, und ihre Augen voll Wasser auf dich richtet, ihre Rehaugen, ihre vorwurfsvollen, ihre Rotkäppchenaugen, die tropfenden. Tuts dir jetzt nicht auch leid, du Urmensch, du Waldmensch, du Vieh? Und da hockst du dich jetzt auch nieder, vor das Rotkäppchen hin, Aug in Aug. und jetzt Mund auf Mund: wie glänzen die Tränen! Deine linke Hand auf dem Rücken aber hält den nackten Engländer, und schwingt ihn, und dein Herz innen, tief innen, kicherts nicht?


zurück
Beim lautlosen Krähen des Messinghahns

In einem niederen Sessel zu sitzen, in einem niederen, schwarzen Ledersessel, und Kaffee zu trinken, und ein Buch in der Hand zu halten, ein aufreizendes, begehrlich machendes, ein verwegenes Buch, und an den Wänden, ringsherum an den Wänden Bücher, Bücher, Bücher, braune, rote und gelbe Bücherrücken, zusammengewachsen zu einem großen Tier, das dampfend lauert und gestreift ist wie ein Tigertier! Der Kaffee rinnt wie Gift in die Fingerspitzen, daß sie beben, und mir ist, ich dürfte kein glattes, hautweißes Blatt Papier damit betupfen, es gäbe braune Flecken, runde, pestfarbene Flecken! Aber das Buch, das ich lese, das hitzige, brandrote, schwelende Buch wird von dem Gift nicht gefärbt. Ich darf einen wilden Wirbel auf dem Deckel schlagen, einen Fingerspitzentriller, einen rasenden Nägelparademarsch, es färbt nicht ab. Oft klappe ich das Buch schnell und schnappend zu, daß eine grelle Lohe, die zwischen zwei Seiten herausfahren will, erstickt, bevor sie mich und das Zimmer und das große Büchertigertier versengt und verascht.
    Auf dem Messingaschenbecher aber schlägt ein Hahn die Flügel, kräht mit krummem Schnabel lautlos, und das Tigertier faucht ihn an, den Vogel mit den Messingfedern. Der flattert und flügelt und sperrt den Schnabel drachengroß auf zu einem lautlosen Gekräh. Ich habe kein Gewicht mehr, ich schwebe. Der Hahn ist auf den Schrank geflogen, hoch hinauf, und wie eine stumme Trompete schmettert er sein Kikeriki. Ich will dir die schönen, langen Federn ausreißen, eine nach der andern, schön der Reihe nach, und will dir mit deinen eigenen Federn, mit einer Handvoll deiner eigenen Federn den Schnabel stopfen, und dem Tiger will ich mit der längsten und buntesten der Federn den blutroten Rachen kitzeln, daß er seine Katzenaugen rollt und mit dem Schwanze schlägt, das komische Vieh ? und wie ich lachend zwischen dem gerupften, armseligen Messinghahn und dem gereizten Fauchtiger inmitten und in der blauen Luft schwebe, glüht tief unter mir wie ein Vulkan die atmende Zigarre.
    Das Buch liegt aufgeschlagen vor mir wie vor dem Mönch das große, steinbesetzte Buch. Ein Satz daraus sticht mich ins Gehirn wie eine brennende Nadel, und dem Nadelstich folgt ein Pfeilschuß, und noch ein Pfeil schwirrt und noch einer, und mit zitternden Schäften stecken sie mir im Kopf, daß mir das Blut das Haar feuchtet, warm und klebrig. Und der Gockelhahn kräht wieder lautlos, und der Tiger funkelt, und auf einmal ist mein Herz aus Glas, und alles an mir ist aus Glas, und die Pfeile können mir nicht mehr weh tun, prallen ab von mir, klirrend, scheppernd, und mit den Füßen werfe ich sie raschelnd durcheinander, wie Schilfstreu, scharf knackend wie Schilfstreu, und gellend darüber kräht flügelschlagend der betrunkene Messinghahn.
    Hier, hier oben, auf der linken Seite des Buches, beginnt ein neuer Abschnitt, und das erste Wort des ersten Satzes fängt mit dem Buchstaben O an, und der Buchstabe O ist groß und rund und mächtig, wie ein Krug, wie ein Faß, wie eine Tonne, gewölbt und gebläht, und aus dem O heraus, wie Diogenes aus seiner Tonne, kommt nicht ein bärtiger, glatzköpfiger Mann im schmutzigen Rock des Weisen, kommt eine Frau im gelben Gewand und steht an der Schwelle der O–Tonne, mit weißen Blumen in der Faust, mit einem Strauß weißer Blumen in beiden Fäusten, und ich rufe ihr zu: Dringeblieben, du Tote! Siehst du nicht, daß dir hier die weißen Blumen gelb werden wie dein gelbes Gewand? Nun wird die Frau traurig, aber das mag ich nun gar nicht, und mit einem Sprung sitze ich neben dem Hahn auf dem Kasten, schlage mit den Flügeln wie er und krähe unaufhörlich: Marsch! Marsch! Zurück!
    Die Frau hebt mir die Blumen entgegen, bittend, aber dann läßt sie die Arme sinken, ergeben, und eine Träne rinnt ihr übers Gesicht, und dann wendet sie sich, und zieht frierend die schmalen Schultern zusammen, und durch das Buchstabenportal des O weht sie zurück in ihr papierenes Totenreich und geht und geht und wird kleiner und kleiner und verdämmert im rötlichen Dunkel.
    Hinunter auf die Straße, hinab die knarrende Treppe, durch die schlagende Tür ins Freie! Wie donnert die Stadt! Wie sich die Isar grünschäumend an der Brücke bricht: Sie kommt vom Gebirge und haut mit patschenden Händen, mit derben Gebirglerpratzen an die Pfeiler. Das spritzt bis zu mir herauf, frisch wie Eis, und der Kaffeedunst steigt aus meinem Kopf und kräuselt sich zu kleinen Wolken, und die heben sich, und die Vögel, die durch dies seltsame Abendgewölk streifen, taumeln, und verfehlen die Brummfliege. Aus den Anlagen kommt die Lebendige, und ihr gelbes Kleid flattert. Tief in das Grün der Sträucher und wippenden Büsche dringen wir, und wie ihre Lippen einen Seufzer formen, schau ich auf das kreisrunde Rot ihres Mundes, rund wie das Buschrund, das hinter uns zusammenschlägt, während wir atmend und liegend und liebend verdämmern wie im bergenden O.

zurück


 

Drucknachweise und Anmerkungen:

Letternspuk
Zur Gründung der Münchener Bibliophilen-Gesellschaft  veranstalteter und als Festgabe zum 9.Mai 1953 von der D. Stempel AG, Frankfurt am Main überreichter Sonderdruck. Zum Satz wurden die Trajanus und die Caslon-Gotisch verwendet. (Ohne Seitenzahl und Angabe der Auflage).
Die Anregung zu dieser Ausgabe kam wohl von Gotthard de Beauclair, jedenfalls war er es, der Britting anrief und  die Druckgenehmigung erbat.

S.131 DAS HINKENDE E
E: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.45, 18.1.1926,
    u.d.T. Das stelzbeinige E ( unter diesem Titel in Bd.1, S.248 ).
D1: Krakauer Zeitung,  Nr.57, 12.3.1941.
D2: Die Neue Zeitung, 6.6.1953,
      u.d.T. Der Traum vom hinkenden E
D3: Letternspuk
D4: E III S.61.

S.134 DER NACKTE SHAKESPEARE
      in einer frühen Fassung, zuerst gedruckt in der Vossischen
      Zeitung, Nr.46, 24.3.1926, (so in Bd.1, S.251),
      u.d.T. Der nackte Engländer. (Vgl. Anhang Bd.1 S.646.)
E: Letternspuk.
D: E II, S.234.

S.136 BEIM LAUTLOSEN KRÄHEN DES MESSINGHAHNS
    in einer frühen Fassung, zuerst gedruckt in Romantik, 6,H.1,
    1924/25 (in Bd.1, S.246  u.d.T. Das Initial, vgl. Anhang Bd.1 S.646).

E: Ausritt 1934/35 München: Almanach des
    Albert Langen / Georg Müller Verlags, 1934, S.80 - 82.
S.136, Z. 8-9: Fingerspitzen] E: in die vordersten Fingerspitzen, daß sie beben, Z.11-12:  pestfarbene Flecken,] E: pestfarbene Flecken, so sitzt mir der Kaffee in den zitternden Fingerkuppen. Z.24-25: schwebe. ] E: schwebe, wie ich nun wieder eine Tasse leere.
S.137, Z.4: Zigarre.] E: Zigarre. Und ich trinke noch eine Tasse Kaffee. Z. 3: wie vor dem Mönch] E: wie vor dem Priester in der Messe das große, steinbesetzte Buch. Z.8: feuchter, warm und klebrig] E: warme, klebrige Blut.
S.138, Z.16: gelbes Kleid flattert.] E: gelbes Kleid flattert diesmal wie die Fahne beim Einzug des Kardinals.
D1: Krakauer Zeitung,  Nr.155, 3.7.1942.
S.136, Z.10-11 : damit betupfen, es gäbe braune Flecken, runde pestfarbene Flecken ] D1: anrühren, es gäbe braune Flecken, rund und pestfarben, wie Aussatz, so brodelt mir der Kaffee in den zitternden Fingerspitzen.
S.137, Z.2: die atmende Zigarre]D1: die atmende Tabakspfeife. Z.3: Das Buch liegt aufgeschlagen vor mir wie vor]D1: das Buch liegt nun wieder aufgeschlagen vor mir, wie vor dem Pfarrersmann in der dämmernden Kirche der große, edelsteinbesetzte Schweinslederband, den ein scharlachrot gewandetes Kind auf Kinderarmen herbeischleppte, und daraus der Schwarzrock dunkeltönende Worte hebt.
D2: Die Neue Zeitung, 10.10.1952.
D3: Letternspuk.
D4: E II, S.231.
Britting an Wetzlar am 20.5.1953:
deine stilkritische meinung über die kleinen arbeiten im ‘letternspuk’ stimmt. die arbeiten stammen alle drei aus ungefähr dem jahr 30. den ‘berg thaneller’ hatte ich ganz vergessen, er hätte gut dazu gepaßt, aber dann wäre der kleine druck wohl zu umfangreich geworden.