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Georg Britting
Sämtliche Werke - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-StiftungAls pdf-Datei öffnen Band 5 Seite 141
Kommentar Seite 395Aus: »Afrikanische Elegie«
.. Ein Ausschnitt dieser Erzählung liegt, von Britting gesprochen, als CD 1 vor.
Afrikanische ElegieDamals sah ich zum erstenmal Wildschweine. Simons Vater war Förster, weit unten, an der Donau, lag sein Forsthaus, und ich war an einem schulfreien Nachmittag mit dem Rad hingefahren. Simon war mein Freund. Er hatte ein Gesicht mit sehr weißer, etwas unreiner Haut, eine große, gerade Nase, helle blaue Augen mit einem schnellen, unruhevollen Blick - und er war, weiß Gott! und alles, was recht ist! ein so wenig guter Schüler! Das war nun weiter nicht verwunderlich: er hatte ja nicht Zeit und Aufmerksamkeit genug für die Weisheit der Schulbücher, für Edleres schlug sein Herz, für Freiheit und Menschenwürde. Mächtige Gefühle bedrängten ihn, alle großen Gedanken hatte er noch einmal zu denken, auch während der Unterrichtsstunden. Stets trug er irgendein Heft, auf schlechtem, faserigem Papier schlecht gedruckt, in der Brusttasche - das handelte vom Wohnungselend in den Arbeitervierteln der großen Städte, oder von der käuflichen Liebe, und wie, das tägliche Brot zu verdienen, die Töchter der Armen den Söhnen der Reichen sich hingeben mußten auf Seide und Plüsch. Die Hefte berichteten wohl auch von dem großen englischen Naturforscher Darwin, der furchtlos die Abstammung des Menschen vom Affen lehrte, und erzählten von dem berühmten Ernst Haeckel - der hatte das Welträtsel gelöst! Die Weltsprache Esperanto zu erlernen wandte Simon mehr Fleiß auf als je für das alte, greisenhafte Latein, und Esperanto werde auch bald, sagte er, alle andern Sprachen ganz und gar überflüssig machen. Verse in der neuen Weltsprache, sagte er, und warf mir das wie einen Köder hin, weil er meine Leidenschaft für Gereimtes kannte, Verse in Esperanto, klangvoller als im hartsilbigen Gang der Sprache unserer Väter, und überall auf dem Erdball verständlich - welche Aussichten für mich und jeden, der hinfort Gedichte zu machen beabsichtige!
Er, Simon, aufgewachsen im stillen Forsthaus, hatte nie eine große Stadt in ihrem Jammer gesehen, nie auch das heiße Abessinien, in dem noch Sklavenhalter die Peitsche schwangen, und wo man den Dieben grausam die Hand abhackte, und ihnen den Stumpf dann in siedendes Öl zu tunken befahl, die Wunde zu schließen, aber was er darüber glaubwürdig gelesen hatte, erschütterte ihn zutiefst. Ein gewaltiger Zorn war in ihm über den Zustand, in dem die Welt sich befand und sträflich verharrte. Wenn etwas besonders Abscheuliches ihn beleidigt hatte, kam er zu mir, und las mir darüber vor, aus einem der Hefte, und seine Stimme bebte. Blaue Blitze zuckten aus seinen Augen, und er wollte, ich sollte mit ihm in gleicher Empörung aufglühen, und einig sein mit ihm in dem Entschluß, die Welt zu ändern. Oft sagte er mir dann auch, daß ich zu lau sei in meinen Vorsätzen, ein neues Zeitalter heraufzuführen, und wenn alle so wären wie ich, tadelte er mich, gelänge das wohl nie, und seine Schultern, manchmal ein wenig gebeugt wie unter einer Last, senkten sich dann noch tiefer.
Rot ist die Farbe der Freiheit. Darum trug Simon seit einiger Zeit mit Vorliebe einen knallroten Schlips, der wild abstach von seinem bürgerlichen blauen Anzug, und keiner der Lehrer ahnte, daß er Aufruhr ansagte, Aufruhr gegen das satte Behagen der besitzenden Klasse. Nur ich wußte um die sinnbildliche Bedeutung, und manchmal, während des Unterrichts, wenn ich zufällig zu dem Freund hinsah, griff er an die flammenfarbene Seide, wie um mir zu zeigen, worum seine Gedanken treu und unablässig kreisten.
Simon wohnte während des Schuljahres bei Verwandten in unserer Stadt, und nur zum Wochenende, und an den Sonn- und Feiertagen, fuhr er heim ins Forsthaus. Das stand, wie ich nun sah, und wie er es mir oft beschrieben hatte, nicht allein und abgeschieden im finsteren Wald, sondern zwischen den Bauernhäusern, mitten im Dorf, das der Donau entlang sich erstreckte. Der Vater Förster war im Dienst des Herzogs, wie man den kurz, ohne den Namen hinzuzufügen, überall nannte - es wußte ohnehin jeder, wer gemeint war. Der Herzog war sagenhaft reich, hatte Besitzungen da und dort in der weiten Welt, in Ungarn und Böhmen, Schlösser und Rittergüter, Gestüte und Glasbläsereien, Wälder, darin zu jagen, und Seen, darin zu fischen, und hatte sich hier, an den Hängen über dem Strom, einen großen Wildpark angelegt. In ihm hausten Wildschweine, hinter festen Zäunen, mit Futterstellen, an denen ihnen Nahrung geschüttet wurde, und der Obhut von Simons Vater waren sie anvertraut.
Der Herzog, und wer hätte ihn nicht gekannt, ging an schönen Tagen gern und ohne Begleitung durch unsere engen, finsteren Straßen. Er bewohnte am Stadtrand ein mächtiges, häßliches, gelbes Schloß aus neuer Zeit - an Wucht und Würde nicht zu vergleichen mit den gotischen Bürgerhäusern und ragenden Geschlechtertürmen der Altstadt. Der Herzog trug die Hosen hoch aufgekrempelt, daß man die buntfarbigen, seidenen Strümpfe sah, und trug Handschuhe, an denen die überlangen Lederfinger baumelten. Das sei Pariser Sitte, sagte man, und starrte ihn bewundernd an, und jeder grüßte ihn, und jedem dankte er mit gleicher Höflichkeit, den Hut zierlich schwingend: der war vorne fesch aufgeschlagen. Als ihm auf dem Bürgersteig eine Bäuerin entgegenkam, im grün-blau schillernden Kopftuch, und eine aus Holz geflochtene Kürbe auf dem Rücken, trat er auf die Straße hinab, ihr Platz zu machen – ich hatte es beobachtet! Er grüßte sie, den Hut ziehend, und mit einer kleinen Verbeugung. Ja, das ist Paris! dachte ich, denn auch der Sonnenkönig, hatte ich unlängst gelesen, pflegte vor jeder Putzfrau, die ihm in den hallenden Gängen des Schlosses Versailles begegnete, zuvorkommend sein Haupt zu entblößen.
Daß er mir die Wildschweine zeige, hatte ich Simon aufgesucht. Der Vater Förster war nicht daheim, Simons Mutter, eine kleine, sommersprossige Frau mit fest an den Kopf gebürstetem, gescheiteltem Haar, begrüßte mich mit freundlichem Eifer, und mit der Mahnung, wenigstens nicht zu spät zum Abendessen zu kommen, wenn wir schon für jetzt jede Erquickung ablehnten, entließ sie uns Ungeduldige, und wir machten uns auf den Weg in den Wildpark. Langsam schritten wir bergan, und wenn wir einmal einen Blick zurückwarfen, sahen wir unten den Strom dahinziehen durch die in der Sonne glänzende Weizenebene. Laubwald nahm uns auf, mächtige Buchen und Eichen standen wie Säulen und weit auseinander. Ihre Früchte seien willkommene Nahrung für die Säue, belehrte mich Simon. Kühl und dämmrig war es im Wald, ein grünes Licht lag auf dem Boden, und Simon führte mich einen Jägerpfad, bergauf und bergab, der kein Ende hatte. Lange wollten sich die Tiere, die wir zu sehen begehrten, nicht zeigen, und Simon unterhielt mich einstweilen damit, wie gefährlich ein alter Eber sein könne, wenn er, aus oft unerklärlichen Gründen, sich gereizt fühle, und in solcher Laune den Menschen anginge mit krummen Hauern, und wie dann nichts übrigbleibe in Todesnot, als schnell auf einen Baum zu flüchten. In Gedanken schätzte ich den Umfang der Stämme ab, und überlegte, wie ich, immer schon ein schlechter Turner, einen sollte erklettern können, wenn so ein Untier plötzlich auf uns losstürzen würde, Schaum vor dem Maul.
Geschichten fielen mir ein, wie der mittelalterliche Jäger die Sauen mit der Saufeder jagte, und vom hürenen Siegfried, und auch von der Pfalzgräfin Genoveva, die, von ihrem Gemahl verstoßen, nur mit ihrem langen Haar bekleidet, und nackt darunter in schamvoller Blöße, das Söhnlein Schmerzenreich bei sich, in einem hohlen Baume wohnen mußte, und eine mitleidige Hirschkuh versorgte sie mit Milch und ließ sich von ihr melken wie das liebe Vieh im Stall. Bei dem Gedanken an die keusche Dulderin kamen mir Simons Töchter der Armen in den Sinn, die ihren weißen Leib verkaufen müssen gegen schnödes Geld. Lang konnte ich solchen Vorstellungen nicht nachhängen, denn, während der Pfad sich wieder einmal senkte, und der blaue Falter, der uns schon ein ganzes Stück begleitet hatte, auf einmal zurückblieb, auf einem Brombeerstrauch zu rasten, begann der Freund von Friedrich Nietzsche zu reden. Er hatte in der letzten Zeit viel, wenn auch nicht von ihm, so doch über ihn gelesen, den aufbegehrenden Umwerter aller Werte, der mit dem Hammer alles beklopfe, und nichts Tönernes sei vor ihm sicher, und bräche in Scherben. Voll Bewunderung war er für ihn, aber unwidersprochen könne er es nicht hingehen lassen, daß der große, grausame Mann jegliches Mitleid verächtlich abtue als Schwäche und Entartung. Oh, wie ihn das erzürnte, ihn, den von Menschenliebe hell Entflammten, der gepeinigt wurde von den Bildern des Elends und der Ungerechtigkeit, und schlaflos lag manche Stunde deswegen in schwarzer Nacht. Die Jünglingspusteln auf seiner Stirne glühten, und ein reiner Glanz war um sein Haupt, wie wir so hinschritten, und er mir Güte und Erbarmen predigte, einem neuen Heiligen gleich. Dazu wollte es freilich nicht recht passen, daß er den christlichen Glauben, in dem er erzogen worden war, so heftig ablehnte, und ihn volksverdummend schalt, und jedem aufgeklärten Menschen ein Greuel. Der Widerspruch war ihm noch nie aufgefallen, und mir auch nicht, und oben rauschte nachdenklich der Wald.
Da geschah es, daß wir die Sauen sahen. Erregt drängte ich mich neben Simon hinter einen dicken, graurindigen Buchenstamm. Aus der Tiefe des Forstes her kam ein Trupp von Wildschweinen, einige alte, und auch Ferkel waren dabei, die klein und niedlich waren, und dunkel gestreift. Gemächlich trotteten sie einher, und wir rührten uns nicht hinter unserem Baum. Die jungen Tiere schweiften manchmal seitwärts ab, oder blieben zurück, am Boden zu schnüffeln, und im Galopp holten sie die Gefährten dann wieder ein. Die Unholde waren nicht nur zu sehen, sie waren auch zu riechen, und mir schien, ein großer, schwerer Eber, schwarzzottig, sähe tückisch und mißtrauisch aus kleinen, verklebten Augen zu uns her. Wie sie gekommen waren, verschwanden sie wieder, der Zug eilte an uns vorbei, wie einem bestimmten Ziele zu, das Laub gab unter ihren Füßen einen leichten und geisterhaften Ton von sich, und dann verschlang sie das Dunkel. Wir gingen noch eine Zeitlang weiter, aber wir begegneten keiner Sau mehr. Einmal bückte sich Simon und hob einen gelblich-weißen, matt glänzenden, wie Elfenbein aussehenden Wildschweinzahn auf und schenkte ihn mir. Ich trug ihn noch lange als glückbringendes Andenken in der Hosentasche, aber dann kam er mir doch abhanden.
Beim Abendessen war auch Simons Vater da, gar nicht försterlich anzusehen, ohne wallenden Bart, ohne Hirschfänger und grünes Hütchen, eine gedrungene, feste Gestalt, mit Simons hellblauen Augen - die hatte der Junge vom Alten! Wir aßen im Garten, unter einem Apfelbaum, die Füße im grünen Gras, am weißgedeckten Tisch. Es gab kaltes Fleisch und Butter und Bauernbrot, und dazu ein fast schwarzes Bier aus der herzoglichen Brauerei, das dick war und süß. Ich konnte es nicht lassen, ich mußte immerfort die Hände der Försterin anschauen. Sie waren voll von Sommersprossen, wie ihr Gesicht. Es war ihnen, den Eltern, lieb, daß ich gekommen war, der vertraute Freund ihres einzigen Kindes, dessen Schulzeugnisse ihnen Sorgen machten. Es verschaffte mir eine leise Beklemmung, zu merken, daß sie sich von mir eine fördernde Einwirkung auf den Sohn versprachen. Aber wie hätte ich ihm helfen können, ihm, der von den Großen des Geistes sich Rats holte über alles, und von ihnen Antworten bekam, klüger als meine? - und der hier neben mir saß, verlorenen Blicks, wenig sprechend, die Schultern gebeugt unter einer Last, die ihn eben jetzt wieder besonders schwer zu drücken schien.
Der Holunder blühte groß und üppig, und sein Duft wehte durch den Garten. Ich atmete ihn in vollen Zügen. Der Förster schenkte mir immer wieder ein, und ein schöner, leichter Rausch ergriff mich, der mich geschwätzig machte und töricht lachen. Die Försterin trank wenig und betrachtete nur liebevoll den Sohn. Wenn sie das Glas hob und der Ärmel ihres Kleides sich zurückschob, sah man, daß die Sommersprossen auch den Arm zierten. Mir gefiels! Viel später, als ich mir vorgenommen gehabt hatte, brach ich dann auf, mit einem erschrockenen Blick auf die Uhr: ich hatte keine Laterne am Rad und mußte noch vor Einbruch der Dunkelheit in der Stadt sein!
Es war ein stiller, warmer Abend. Auch über dem Dorf lag der betäubende Holunderduft, an allen Zäunen glänzten die weißen Blütenteller. Als ich das Dorf hinter mir hatte, zog sich die Straße neben der Donau hin. Rechts traten Rebenhügel heran, die letzten, die es in unserer Gegend noch gibt. Die sorgsam ausgerichteten Reihen der Weinstöcke schienen schnelle Schwenkungen zu vollführen, wie ich so an ihnen vorbeiflog. Die Sonne war im Untergehen, rosig behauchte Wolken standen im Westen. Die Straße war glatt und fest, es war eine Lust, auf ihr zu fahren. Pappeln säumten sie jetzt ein, schwarze Flammen vor dem hellblau verblassenden Himmel. Wieder gings durch ein Dorf, durch einen Schwall von Blütenduft hindurch. Auf den Bänken vor den Häusern saßen Leute und winkten mir zu, und ich winkte zurück. Es kam die lange, weiße Mauer, die mir schon bei der Herfahrt aufgefallen war. Brennesseln wuchsen zu ihren Füßen, Weinlaub hing an ihr herab, und in Abständen hatte sie hölzerne Türen. Ich hatte sie gezählt, bei der Herfahrt, es waren sechs gewesen, diesmal zählte ich nur fünf. Der Holunderduft, dachte ich, der hat mich wirr
gemacht, und am liebsten wäre ich umgekehrt, mit dem Zählen neu zu beginnen.
Es war schon fast Nacht, als die Domtürme sich vor mir erhoben. Das letzte Stück durch die Stadt schob ich das Rad, und die Mondsichel leuchtete mir silbern. Als ich im Bett lag, im Halbtraum schon, trotteten die Wildschweine an mir vorbei, und ich roch sie wieder, aber da war es wie Holunderduft, der von ihnen ausging, und in der Verwunderung darüber schlief ich vollends ein.
Das Ende des Schuljahrs war herangerückt, und wir waren uns alle darüber einig, daß es Simon nicht erlaubt sein werde, mit uns in die nächsthöhere Klasse aufzusteigen, und er selber rechnete auch nicht damit, ich wußte es von ihm. Mit noch weniger Anteilnahme als sonst saß er während des Unterrichts da, und die Lehrer, die ihn schon verloren wußten, plagten ihn nicht mehr mit Fragen. Eines Morgens fehlte er, und auch tags darauf, und die folgenden Tage. Und dann verkündete der Klassenleiter mit unbewegtem Gesicht, und wir hielten vor Aufregung den Atem an, Simon sei aus der Schule ausgetreten. Ohne mehr zu sagen, fuhr dann der Lehrer mit dem Unterricht fort, und er hatte vieles an uns zu tadeln an diesem Vormittag - unsre Gedanken waren bei Simon! Es war nicht schwer, sich, was geschehen war, auszumalen, und die Wahrheit sickerte denn auch bald durch: Simon war geflohen, in die weite Welt hinaus gegangen, nach einem Abschiedsbrief an die Eltern, und die hatten die Schule verständigt. In einem Brief fragte kurz darauf der Förster bei mir an, ob ich, der Freund, Kenntnis gehabt von Simons Plänen und ob ich Vermutungen hätte, wohin er sich gewendet haben könne? Ich mußte in meinem Antwortbrief bekennen, daß er nie zu mir gesprochen hatte von seiner erschreckenden Absicht. Es kränkte mich sehr, daß er mich nicht ins Vertrauen gezogen hatte - aber das schrieb ich nicht!
Wohin mochte er sich aufgemacht haben? Nach Norden, zu den großen Städten, in denen er sich am leichtesten verborgenhalten konnte vor Nachstellungen? Ich sah ihn auf der Landstraße dahintraben, im schrägen Regen, durchnäßt, den Kragen hochgestellt. Er nächtigte in Scheunen, auf raschelndem Stroh, so mochte es sein, und wenn sein hungriger Magen knurrte, erbettelte er sich bei den Bauern eine Wassersuppe und ein Stück Brot, und mancher scheuchte ihn vielleicht mitleidlos vom Hofe, oder ließ gar den Hund von der Kette, den Landstreicher zu hetzen. Und immer regnete es dort, wo er war, wenn ich seiner gedachte, und seine Hosen waren kotbespritzt, als wäre es nicht Sommer jetzt und die Sonne glühte. Möglicherweise wollte er sich nach Hamburg durchschlagen, dort auf einem Schiff als Heizer sich zu verdingen, um die neue Welt zu erreichen, das freie Amerika. In der ersten Zeit nach seiner Flucht erwartete ich mit jeder Post einen Brief von ihm, aber keiner traf ein. Lautlos war er im Nebel und Regen verschwunden.
Die großen Ferien waren wieder einmal gekommen. Das waren acht schöne Sommerwochen, mit Streifzügen durch die schwarzen Wälder, mit Ausflügen in die Dörfer, zu den ländlichen Wirtschaften, wo wir die hölzerne Kugel nach halbvermorschten Kegeln warfen. Lange Tage brachten wir am Wasser zu, an der Donau, badend, oder wir machten Ruderfahrten auf dem Flusse Regen, und beklommen und begehrlich, heimlicher Sünde schuldig, blickten wir auf die Mädchen hin, die im begegnenden Boot saßen, hell gekleidet und kichernd. Vergessen, tief hinabgesunken war die Schule. Wir spielten Schach an trüben Tagen, und auch Tarok, und Siebzehn und vier, und Bankeln, und lasen, was uns nur irgend in die Hand kam. Dann war es Herbst geworden, Mitte September, und das neue Schuljahr begann, mit den alten Gesichtern. Neue Kreise bildeten sich, Bündnisse fielen auseinander, im Hin und Her der wechselnden Anziehungskraft. Ich schloß mich um diese Zeit enger an die zwei Brüder Holtermeier an, Söhne eines Postamtmanns. Ludwig hatte einen dünnlippigen Mund in einem durchfurchten Gesicht, das älter war als seine Jahre. Uns hatte die Begeisterung für Bücher zusammengeführt, und wir liehen uns gegenseitig von unseren Schätzen. Zwar von den Werken der alten, großen Meister ging es wie ein erkältender Hauch aus, fremd und abwehrend, und nur zögernd nahten wir ihnen, den Gewaltigen. Aber wie ein Jagdhund eine erregende Wildspur wittert, so witterten wir die neue Dichtung der Zeit: regel- und zügellos, in einer noch nie gehörten Sprache redend und singend, zog sie uns an mit unwiderstehlicher Gewalt. Daß wir beide auch Verse machten, gestanden wir einander, und sein Bruder Franz, der Rotkopf, habe es auch schon mit Glück damit versucht, verriet mir Ludwig. Da war ich denn also an die richtigen Leute gekommen! Im weißgekalkten Stübchen der Brüder, das an Einrichtung nicht viel mehr enthielt als zwei schmale Betten und einen mit geblumtem Wachstuch bezogenen Waschtich, auf dem zwei Blechschüsseln standen, trafen wir uns oft. Noch ein Vierter wurde zugezogen, ein blonder bebrillter Junge, den ich nicht recht leiden mochte. Der, mit seinem Milch- und Kuchengesicht, besaß die alte Ausgabe einer Verslehre, und übte fleißig in den antiken Maßen - Lehrlingsarbeit, wie er sagte, und ich fand das ziemlich langweilig, und meinte, die Lerchen sängen doch auch aus frischer Brust und ohne einengende Vorschriften, und eben deswegen so schön! Aber im Schach besiegte er uns alle!
Während wir andern zu scheu waren, unsre Verse laut zu sprechen, und sie uns nur gegenseitig zum Lesen gaben, liebte Ludwig es, sich mitten im Kämmerlein aufzustellen, und seine Gedichte mit Kraft und Leidenschaft, durch ausdrucksvolle Gebärden unterstützt, vorzutragen. Wir bewunderten ihn sehr darob, und das schmeichelte ihm.
Bald erbot er sich, auch die Gedichte, die wir gefertigt hatten, durch seine Kunst zu gehöriger Wirkung zu bringen. Dann sprang er wohl in seiner Begeisterung auf einen Stuhl, hielt mit der linken Hand die Lehne, als wäre der Stuhl ein Pferd, in der rechten Hand das Blatt, von dem er das Gedicht ablas, es bald nah an die Augen führend, bald es hoch über seinem glühenden Haupte schwingend, und knirschte mit den Zähnen, und säuselte wie der Frühlingswind, und donnerte wie ein Sommergewitter. Mit einem Gemisch aus Stolz und Verlegenheit hörte ich so zum erstenmal laut schallend ertönen, was ich in der Stille schwarz auf weiß niedergeschrieben hatte.
Eines Tages überraschte uns Ludwig mit der Mitteilung, es sei ihm, was er lange geahnt, zur Gewißheit geworden, daß er zum Schauspieler geboren sei nämlich, und daß er sich einen Dichter geglaubt, sei nur eine törichte, jugendliche Selbsttäuschung gewesen! Hin und her überlegte er nun, was zu tun, sich den Weg zur Bühne zu bahnen. Unser städtisches Theater hatte wie alljährlich im Herbst zu spielen begonnen. Wir besuchten eifrig die Klassikeraufführungen, was die Schule erlaubte, unser fortschrittlicher Deutschlehrer sogar wünschte, weil er sich davon eine Verbesserung unseres Aufsatzstils versprach. Wir schlichen aber auch verbotenerweise zu den Stücken der Lebenden, saßen auf den Holzbänken des obersten Rangs, mit Halstüchern abenteuerlich vermummt, die Mütze tief in die Stirn gezogen, um nicht erkannt zu werden, und lauschten den neuen, wilden, gefährlichen Worten. Wir Schüler schwärmten für eine junge Schauspielerin, der man eine große Zukunft voraussagte. Sie war zart und zerbrechlich anzusehen, mit großen Augen im schmalen Kindergesicht. Der verwegene Ludwig sagte uns, daß er sie besuchen werde, um sich prüfen zu lassen von ihr. Wir erschraken, denn die Höhle eines Löwen zu betreten hätten wir eher gewagt, als uns der Rehäugigen zu nähern. Aber er setzte es ins Werk! Holtermeier schien ihm ein zu alltäglicher Name für einen künftigen Heldendarsteller, und auch gar nicht geeignet, sich mit ihm einzuführen bei der Hochbewunderten. So beschloß er, sich einen klangvollen Bühnen-Namen zuzulegen, und er wußte ihn auch schon, und sagte ihn uns: Hanns Heinz Sperber! Auf eine Besuchskarte, die er zu überreichen gedachte, schrieb er mit adlerhaften Zügen diese drei Worte, und war nun bereit, wie der Raubvogel auf das Küken, auf sein Opfer niederzustoßen. Wir drei begleiteten ihn, der einen mächtigen Blumenstrauß trug, zu dem Haus, in dem die Schauspielerin wohnte, einem hohen finstern Gebäude, von dessen Wänden der Verputz bröckelte. Bevor er durch das Tor verschwand, drehte er sich noch einmal um, und hob, die Zuversicht selber, den Blumenstrauß gegen uns.
Uns war bang zumute, grundlos, sollte sich zeigen! Wir gingen vor dem Gebäude auf und ab und starrten zu den Fenstern im zweiten Stock hinauf, dahinter das Zimmer der Rehäugigen lag, und bald war es klar, daß er vorgelassen worden war. Eine Stunde und länger harrten wir des Eroberers, dann endlich trat er aus dem Tor, unverändert, derselbe geblieben, fast wunderte es uns. Er sagte kein Wort, wölbte die Brust heraus und nahm die Schultern zurück, und wir wagten auch nicht zu sprechen. Schweigend gingen wir zur Donau hinab, und jetzt endlich begann er zu erzählen, und seine Stimme klang heiser vor Erregung. Er hatte, mit einer tiefen Verbeugung, die Karte abgegeben, und den Strauß, der gleich ins Wasser gestellt worden war, in einen schönen, geschliffenen Glaskrug. Er hatte bitteren Tee zu trinken bekommen, Tee aus Ceylon, sagte er, -in winzigen Tassen, und süße Mandelplätzchen zu essen, war auf schwellenden, roten Polstern gesessen, mit nachlässig gekreuzten Beinen, und hatte, ohne zu zittern, den nahen Blick der großen Augen ertragen. Er hatte dann vorgesprochen, was er eingeübt gehabt hatte, und es hatte
ihr gefallen, und er war als begabt erklärt worden, für das Fach der jugendlichen Liebhaber. Er habe erwidert, sein Wunsch sei Helden zu spielen, und sie hatte dunkel gelacht und gesagt, es würde sich schon zeigen, im Lauf der Zeit, wo seine wahre Berufung läge. Dann war er entlassen worden, mit dem menschenklugen Rat, zuerst mit einem Zeugnis den Schulbesuch abzuschließen, für alle Fälle, das sei immer gut!
Die Sonne glänzte, mächtig stand sie am Himmel, im Westen schon, in einer Stunde mußte sie untergehen, aber noch schüttete sie ihr Licht auf den Strom und über die Pappeln auf der Donauinsel. Es war im Anfang November, aber er war noch warm und voller Bläue. Mückenfahnen schwangen sich, hingen schräg her durch die windlose Stille, wie goldener Rauch. Ein Sieger, schritt Ludwig in unserer Mitte, den Kopf stolz im Nacken, die Hand noch um den Schwertgriff, nach gewonnener Schlacht! Kupfern leuchteten die roten Haare seines Bruders. Ein Fisch sprang aus dem Wasser, Silber verspritzend. Fahl rosig war das Gesicht des Blonden, von der Farbe verblühender Heckenrosen. Das Gras auf der Uferböschung, lichtumrändert, war wie metallisches Gespinst. Von einem Strudel lief ein Zitterstreifen über das Wasser, das sah aus wie hundert kleine aufblendende Spiegelblitze. Überm Strom drüben bellte ein Hund. Dreimal heulte er, so wild bekümmert und langgezogen, daß wir erschrocken einander ansahen. » Der Zerberus«, sagte der Blonde, der es mit der Antike hatte, mit einem Versuch zu scherzen, aber wir lachten nicht. »Ein gewöhnlicher Spitz«, sagte Franz, »oder ein Schnauzer«, und schnippte bös mit dem Fuß einen Kiesel ins Wasser. »Ein Wolfshund eher«, sagte Ludwig, »das muß ein großes Tier sein! Kein Spitz bellt so! « Aber der Glanz der schönen Stunden war uns verdüstert, und Ludwig ließ, für den Augenblick wenigstens, den Schwertgriff los, ich meinte es zu sehen.
Zuweilen, an den Sonntagen, fuhren Ludwig und Franz zu ihrem Onkel, oder, wie sie auch sagten, zum Leutnant. Der wohnte auf dem Lande, in der Gegend, wo Simon zu Hause war. Ein Leutnant, nun, das ist ein junger Herr, hochmütig glänzend, mit silbernen Achselstücken auf dem blauen oder grünen Waffenrock, alle Tage sah mans. Ihr Leutnant aber, wenn sie von ihm sprachen, war ein schon alter Mann, der einsiedlerisch in seinem Häuschen lebte, sich die Schuhe selber putzte, und nur einmal in der Woche für ein paar Stunden eine Zugehfrau beschäftigte. Als sie, die Neffen, einmal, und ausnahmsweise, er mochte das nicht, bei ihm übernachteten, hatte er am Morgen sich in ihre Kammer geschlichen, hatte die bestaubten Schuhe unter dem Bett der Schlafenden hervorgeholt, sie gereinigt und schwarz und glänzend gemacht, und dann vor die Tür gestellt, in Erfüllung seiner Gastgeberpflicht.
Glatzköpfig sei er, der Leutnant, berichteten sie, wenn auch nicht ganz und gar. An den Schläfen habe er noch Haare, und am Hinterkopf, und wenn er lang nicht beim Barbier gewesen, seien sogar Löckchen zu sehen. Und kleine, goldene Ohrringe trage er. Die Bauernburschen bei uns tun das auch, im Glauben, das sei gut für die Augen. Von diesem Brauch seiner Jugend sei der Leutnant nie abgewichen.
Das Häuschen, erzählten die Brüder, zwischen Weinbergen gelegen, habe nur zwei Stuben, und eine kleine Küche, in der er sein Essen selber zubereite. Auch einen Garten habe er, in dem er Tabak pflanze. Er sei stolz auf die Ernten, die er erziele, und sei ein Meister darin, die getrockneten Blätter mit Honigsäften und dem Absud von Zwetschgen zu brühen und zu würzen. Auch vermenge er seinen Eigenbau mit den vom Händler gekauften Tabaken auf die verschiedenste Weise, immer die Mischung zu haben, die ihm gerade zusage. Und war ein Raucher, der die kurze Pfeife kaum je aus den Zähnen ließ, und dampfte den ganzen Tag.
Und dann erfuhr ich auch, wie es mit seinem militärischen Rang bestellt war. Der Onkel hatte sein halbes Leben in Afrika zugebracht, in der französischen Fremdenlegion. Er war, der Sohn eines wohlhabenden Wagenmachers, als junger Mensch von Eltern und Werkstatt fortgelaufen, einer trübseligen Liebesgeschichte wegen. Treulos war sie gewesen, die Wirtstochter aus dem Nachbardorf, und in seinem Schmerz, und um das arge Frauenzimmer zu vergessen und, wie er auch meinte, es zu bestrafen, hatte er sich zum Rhein aufgemacht, und hatte dort Handgeld von einem Werber genommen. In der fremden Truppe hatte er sich emporgedient, zum Korporal, und dann sogar, was selten gelingt, zum Offizier - es hatte aber auch zwei Jahrzehnte gedauert, bis es soweit war. Seine Auszeichnungen, Kreuze und Sterne, verwahrte er in einer Blechschachtel. Er hatte den Kram, wie er ihn nannte, den Neffen einmal gezeigt und dann plötzlich die Schachtel wild geschüttelt, und sie dann wieder in die Schublade gelegt. Die verräterische Braut, wußten die Brüder von ihren Eltern, war bald nach des Onkels Verschwinden im unehelichen Kindbett gestorben. Er selber sprach zu ihnen nie davon. Jetzt, in seiner Kinderheimat, lebte er von seinem Ruhegehalt, nach manchen Gefechten gegen die braunhäutigen Wüstensöhne, die mit Pfeilen und Lanzen und Gewehrschüssen ihm nichts hatten anhaben können - aber die stechende Sonne hatte ihm die Haare vom Kopf gesengt!
Das gab es also, nicht weit von unsrer Stadt, einen Mann, der solches erlebt hatte - nur in Büchern hatte ich von dergleichen gelesen! Da ging er durch seine zwei Stuben, der einsame Kahlkopf, oder saß auf der Bank vor seinem Haus, und die weißen Sommerwolken am Himmel mochten sich ihm in die flatternden Mäntel der Berber verwandeln! Glühendes Afrika, dachte ich, und schlug die Landkarte auf. Gelbe Löwen gab es da und grüne Krokodile, und jetzt sprangen vor dem Leutnant die Barsche aus der Donau, wenn er abendlich sich dort erging. Gelber Löwe, dachte ich, und der duckte sich zum Sprung. Wölbig breit war seine Brust, und zottelmähnig, schmal und hungrig dehnten sich seine Flanken, es glühten seine Augen groß und kugelhaft im bärtigen Gesicht. Mit dem Schwanz peitschte er den Wüstensand, Schlag auf Schlag, und immer schneller, einen Trommelwirbel, bis ihn der Staub verhüllte. Ich las die Namen der Berge und Flüsse auf der Karte, und die Namen der Städte Biskra und Sidi Bel Abbes, und wie auf einem Bilderbogen sah ich es vor mir: Moscheen und Paläste, den Märchenerzähler im Schatten des Tors, sich bäumende Rosse, von Menschen wimmelnd die Basare, und mitten unter ihnen, puppenhaft klein, den Leutnant in glänzenden Schaftstiefeln, und goldene niederbayrische Ringe in den Ohren.
Daß er den Wein gern trinke, der um ihn herum gedeihe, er, der Erfahrene, der doch den von der afrikanischen Sonne gekochten Rotwein oft im Becher gehabt hatte, erzählte Ludwig und sagte, er lobe die Festigkeit und würzige Säure des hellgrünen heimatlichen Rebensafts. Ich hatte es immer schon als Auszeichnung empfunden, daß ein paar trotzige Weinberge bei uns noch ausharrten, und daß der weltkundige Mann ihn schlürfen mochte, den Säuerling, über den mancher Spottvers umging, bestärkte mich in meinem Stolz über die Trauben- und Obstlandschaft, über das milde, gesegnete Gelände, dort unten am Strom.
In unserer Stadt gab es nicht nur blauröckige Soldaten, die waren vom Fußvolk, es gab auch die leichten grünen Reiter. Zu den Pferderennen, die alljährlich im Sommer stattfanden, fuhr stets auch das Herzogpaar, in einem prunkvollen Aufzug, mit Vorreitern an der Spitze, mit goldbetreßten Dienern auf der Rückseite der Wagen und neben den Kutschern hoch am Bock. Der Herzog fuhr vierspännig, seinem minderen Range gemäß, seine Frau, die aus kaiserlicher Familie war, ihm vorauf sechsspännig. Viele der grünen Offiziere stiegen zu den Rennen in den Sattel, die blauen sahen nur zu, mit Feldstechern vor den Augen, und wahrscheinlich war ihnen unbehaglich zumut. Ich war dabei, als das Rennen geritten wurde, das so aufregend verlief. Es war ein Hürdenrennen, für Herrenreiter, die Teilnehmer waren alle Offiziere, in seidenen Renn Uniformen, die Hosen waren natürlich aus festem Tuch, aber auch ein Buckliger ritt mit, ein Gutsbesitzer aus der Umgebung, der eine rote Kappe trug zu einer veilchenblauen, mit weißen Sternen besetzten Jacke. Schon bei den ersten Hindernissen gab es schlüsselbeinbrechende Stürze, und schwerere dann bei den Sprüngen über heckengesäumte Wassergräben, und zuletzt war nur noch der Bucklige im Feld und ein grüner Rittmeister. Ihre seidenen Kappen blähten sich im Wind. Der Bucklige hatte sich an die Spitze gesetzt. »Dieser Teufel«, sagte ein Mann neben mir, und lachte, krähend wie ein Hahn, »und dabei hat er noch die Kriegskasse auf dem Rücken.« Unter dem schallenden Jubel der Zuschauer ritt der Bucklige als Sieger durchs Ziel. »Bravo, Kriegskasse«, rief der Mann neben mir, »Bravo!« Er hatte auf den Sieg der roten Mütze gewettet, und lief, sein Geld zu holen. Der Bucklige bekam als Preis von der Herzogin einen goldenen Pokal überreicht, und er küßte ritterlich ihre Hand, während auf Bahren die Gestürzten von der Rennbahn getragen wurden, zu einem Zelt, von dem eine Flagge mit dem roten Kreuz wehte.
Der grüne Rittmeister dieses Rennens war mir oft begegnet. Er war von geschmeidiger Gestalt, in den Gelenken federnd, und mit schmalen Hüften. Sein Gesicht war von einem Aussatz verunstaltet, nässende, rötliche Bläschen bedeckten es. Von der Krankheit, die ihn so gezeichnet hatte, wurde Schlimmes getuschelt: Frucht der Sünde sei sie, und Strafe dafür! Aber man wußte, daß er ein Neffe des Bischofs war, und oft bei ihm speiste, und so schalten die Frommen, Verleumdung sei es, was man ihm nachrede. Der Rittmeister nahm dann seinen Abschied, in vollen Ehren zwar, mit der Erlaubnis zum Tragen der Uniform. Aber jedermann war es klar, daß man an höherer Stelle gewünscht hatte, nicht länger mehr ein schwäriges Antlitz über einem Uniformkragen sehen zu müssen. Der Rittmeister blieb in der Stadt wohnen, und zeigte sich hinfort in bürgerlicher Kleidung, tänzergeschmeidig wie je, und auch bei seinem Onkel, dem Bischof, speiste er noch, und diente ihm manchmal bei der Messe in der bischöflichen Hauskapelle, das blieb nicht verborgen.
Oft war jetzt neben ihm die rehäugige Schauspielerin. Uns tat es in der Seele weh, den Eber dem Reh gesellt zu sehen, so drückte Ludwig sich aus. Fröhlich plaudernd schritten die beiden nebeneinander her, und beachteten nicht die glitzernden Blicke, die sie trafen. Dicht an ihnen vorbeigehend, hörte ich einmal die Stimme des Rittmeisters. Tief und dröhnend war sie, ein rabenschwarzer Baß, wie zu einem Riesen gehörend. Daß sein verwüsteter Mund sollte die Lippen der Künstlerin berühren, es war nicht auszudenken, und Ludwig meinte denn auch, es müsse sich um eine Seelenfreundschaft handeln! Die meisten aber waren anderer Ansicht!
Einmal abends, bei einem unserer Donau-Spaziergänge, sahen wir das Paar, weit vor uns. Der volle Mond stand am Himmel, sein Licht verzauberte die Welt. Von den aufgeschichteten Brettern und Stämmen der Holzlände kam ein modrig-feuchter Geruch, und mischte sich mit dem fischigen Moosduft des Wassers. Ratten hausten in dem Holzlager, und erhielten oft Besuch von den Wasserratten, mit denen sie in Eintracht zu leben schienen. Die Wasserratten waren größer als die Landratten, fürchterliche Tiere, wenn sie naß und triefend uns über den Weg liefen. Heut ließ sich keines blicken, vielleicht scheuten sie den Mond. Die beiden Menschen vor uns gingen Hand in Hand, wie Kinder, und blieben zuweilen stehen und sahen zum Mond hinauf. Dann blieben wir auch stehen, und hörten deutlicher den Strom gegen die Ufersteine plätschern. Und dann sahen wir, wie der Mann vor uns die Arme um seine Begleiterin schloß, und sahen, wie sie unerschrocken das schwürige Gesicht küßte.
Mit dem Ende der Spielzeit verließ die Schauspielerin die Stadt, und auch der Rittmeister ward nicht mehr gesehen. Ein früherer Schulkamerad von uns, der bei einer Reisevermittlung tätig war, berichtete uns, der Rittmeister und seine Freundin hätten Bahn- und Schiffskarten nach Venedig genommen und weiter nach Athen. Trübsinnig murmelte Ludwig, als er das vernahm, etwas von Polizei und Mädchenhandel, aber der Brillenträger widersprach, immer besonnen, wie er war, und sagte, man müsse sich hüten, voreilig zu urteilen, und sagte, die Liebe überwinde eben alles, auch den Widerwillen gegen ein nässendes Gesicht, und sagte, eigentlich sei es doch großartig von der jungen Frau, und er jedenfalls werfe keinen Stein auf sie!
Zwei Jahre später, da war schon Krieg, und ich war Soldat, und als Leichtverwundeter in der Heimat, in einem Lazarett, das der Herzogin unterstand. Manchmal erneuerte sie, in Schwesterntracht, meinen Verband. Sie war nicht sehr geschickt darin, und wenn ich Ausgang hatte, ließ ich mir von einer der schwarzen Klosterfrauen, die uns betreuten, einen anderen und gut sitzenden anlegen. Die Kameraden machten es auch so, die Herzogin wird es nie erfahren haben. Es war ja gut gemeint von ihr. Damals vernahm ich auch, der grüne Rittmeister sei gefallen. Er hatte sich bei Kriegsausbruch zum Fußvolk gemeldet, näher am Feind zu sein als die unnütz gewordenen Reiter. Von der Rehäugigen hörte ich nie mehr etwas.
Ludwig, zu ihm zurückzukehren, blieb nun doch nicht bis zur Abschlußprüfung auf der Schule. Er hatte, ohne es seinen Eltern zu sagen, bei dem ergrauten Väterspieler unserer Bühne Unterricht genommen: der afrikanische Leutnant hatte ihm das Geld dafür vorgestreckt. Nun war es ihm gelungen, an eine kleine Bühne der Nachbarstadt verpflichtet zu werden, und da erst deckte er zu Hause seine Karten auf. Auch Franz, der Rotkopf, hatte von der Schule genug. Er wollte Schriftsteller werden, und er hatte, er sah es als Sprungbrett an für seinen künftigen Beruf, durch eine Zeitungsanzeige eine Stellung in einem Berliner Verlag bekommen - und so verließen mich die beiden Brüder, Glück und Ruhm zu erwerben, und ihre Eltern blickten ihnen verängstigt und ratlos nach.
Ich hatte die Schule auch schon hinter mir, als ich Ludwig dann wieder sah. Er kam mir auf der Straße entgegen, und ich staunte ihn an. Er trug einen Anzug von auffallendem Schnitt, aus einem dicken, rauhen, haarigen Stoff von braungelber Farbe. Sein Gesicht war, wie es immer gewesen, faltig, als habe es zu viel Haut, und war rot und großporig, für das Gesicht eines Vierzigjährigen konnte man es halten, aber mit den weißen Zähnen der Jugend im Mund. Und vor dem linken Auge hatte er ein randloses Einglas. Er war nie kurzsichtig gewesen, erinnerte ich mich. Weltmännisch begrüßte er mich, wir gingen nebeneinander her, und mir war es peinlich, wie die uns Begegnenden ihn neugierig, auch lächelnd musterten, aber die Ladenmädchen senkten befangen den Blick vor dem Blitz seines Einglases. Ihn kümmerte das alles nicht, er war es wohl gewohnt. In ein paar Tagen schon, erzählte er, müsse er nach Thüringen fahren, bei den Aufführungen einer Freilichtbühne mitzuwirken. Dort spiele man im grünen Wald, unter rauschenden Bäumen, vor Fels und Höhle, und manchmal sei schon mitten in der Vorstellung ein Gewitter losgebrochen, mit Blitz und Donner, aber unter ihren
Schirmen hätten die Zuschauer dennoch ausgeharrt bis zum Ende, von der Kunst der regentriefenden Darsteller auf ihren Plätzen festgehalten. Ich erkundigte mich nach Franz, dem Rotkopf, und dem Leutnant. Unverändert ginge es dem, sagte er, er lebe, er rauche, der gute, afrikanische Mann, morgen wolle er ihn besuchen. Und Franz? Franz sei im Begriff, sich einen Namen zu machen! Kürzlich habe er einer angesehenen Zeitschrift ein Gedicht zum Abdruck angeboten, und hier, er holte sie aus seiner Brieftasche, sei die Antwort der Schriftleitung: angenommen! Er blieb stehen, und wies mir mit ausdrucksvollem Finger die Anschrift auf dem gelben Umschlag. Da stand, mit der Schreibmaschine deutlich hingesetzt: Franz Holtermeier, Schriftsteller.
Ludwig hatte den kostbaren Brief wieder eingesteckt. Er solle mir künftig schreiben, wie es ihm gehe, mahnte ich ihn, und er versprach es. Nach dem Brillenträger fragte ich ihn. Der sei im Zollamt einer kleinen Stadt beschäftigt, sagte er, droben im Wald, und verspreche ein Meister der vierundsechzig Felder zu werden. Das Brett nicht vor Augen, blind spielend, habe er schon manchen sehenden Gegner besiegt, und sei die Turnierhoffnung des Schachvereins, dem er angehöre. Ob der Blonde noch antikische Verse schreibe, fragte ich ihn? »Das nicht mehr«, sagte Ludwig, »man kann nicht zween Herren dienen! Man muß sich entscheiden!« Wir waren, weiterschlendernd aus der finsteren Straßenschlucht auf die steinerne Donaubrücke ins Freie hinausgetreten. Ans Brückengeländer, das aus Steinplatten besteht, uns lehnend, sahen wir zum Strom hinab, der in blauschwarzen Strudeln sich hier dreht. Ein Angler, drunten an der Uferstraße, hatte eben in diesem Augenblick einen großen, weißen Fisch aus der Flut geholt und ans trockene Land geschleudert. Der Haken mußte nicht fest gesessen haben, denn der Fisch hatte sich von ihm befreit, und strebte in schnellen blitzenden Sprüngen ins Wasser zurück. »Oh, schön!« frohlockte Ludwig. »Was mag der Fisch jetzt fühlen? Ob ers den Brüdern erzählt, was ihm geschah, in der stummen Fischsprache?« Es klang ein wenig geziert, wie ers sagte.
Als wir zum Rückweg umdrehten, lag vieltürmig die Stadt vor uns. »Das«, sagte Ludwig hindeutend, »möchte ich zeichnen können!« Der vertraute Umriß hob sich scharf und glänzend vom Himmel ab. Er bückte sich und hob einen Kastanienzweig vom Pflaster auf. Zwei, drei große Blätter waren daran, und eine noch kleine, grüne gestachelte Kugel. »Oder das«, sagte er, und sah seinen Fund durch sein Einglas fast traurig an. »Wers könnte!« sagte er voll Sehnsucht, und wieder war ein wenig Ziererei in seiner Stimme. »Aber das Leben ist lang«, sagte er, mit Genauigkeit sprechend, als stünde er auf der Bühne, »wir werden noch manches zu lernen haben!« Dann verabschiedeten wir uns, mit einer Verabredung für übermorgen, weil er ja morgen zum Leutnant fahre. »Grüß ihn von mir«, sagte ich. Er nickte und ging davon, den Zweig mit Blatt und Frucht mit sich tragend. Das Wiedersehen sollte nicht mehr sein. Am gleichen Abend kam ein Zettel von ihm, daß er unerwartet und sofort an seine Berg- und Waldbühne abberufen worden sei.
In diesem Sommer hatte ich Kurt Kurilla kennengelernt. Er war ein Maler. Manchmal, in der schönen Jahreszeit, tauchte so ein Bildermacher bei uns auf, von irgendwo her, für eine kurze Weile, der Schwalbe gleich, die kommt und geht. Dann saß ein Mann, den man nie vorher erblickt hatte, vorm Dom, oder vor einem gotisch finstern Haus, als Fremdling und andersartig gleich kenntlich, die Leinwand vor sich, den Farbkasten auf den Boden gestellt, den Pinsel bewegend. So kam auch Kurt Kurilla zu uns, heuer, im Juni.
Als er die Donaubrücke malte, hatte ich mich hinter ihn gestellt, seine Arbeit zu betrachten, und er nahm das nicht übel, sondern begann ein Gespräch mit mir. Ich traf ihn dann noch öfter. Einmal lud er mich ein, ihn zu besuchen. Er hatte ein großes Zimmer zu ebener Erde gemietet, das sein Wohn- und Schlafraum war und zugleich auch seine Werkstatt. Auf einer altertümlichen Truhe lag eine Laute, mit bunten Bändern geschmückt. An den Wänden hatte er mit Reißnägeln viele seiner Zeichnungen befestigt, auch farbige Blätter. In der Ecke stand eine mächtige Ruhegelegenheit, auf der er auch schlief, wie er sagte, und darüber hingen gekreuzt zwei krumme türkische Säbel. Er bewirtete mich mit Schnaps, und schob mir ein Kästchen mit Zigaretten zu, und einen großen, bauchigen Steintopf, in dem gelber, langfädiger Tabak war. Ein paar Pfeifen lagen daneben. Leider habe er nicht viel Zeit, sprach er, in einer Stunde müsse er fort. Er war fertig gekleidet, für eine langweilige Teegesellschaft, und darum vorher Schnaps zu trinken, sei angemessen, gab er mir zu verstehen. Er stopfte sich eine Pfeife, und bot mir auch eine an. Ich rauchte lieber eine Zigarette. Sein Teeanzug war sonderbar. Zu neuen, gelben Reithosen, zu Wickelgamaschen und derben Schuhen trug er eine dunkelblaue Joppe aus Rippelsamt, dazu ein blühweißes und bretterhart gestärktes Hemd, und um den hohen steifen Kragen schlang sich eine blaue, weiß getüpfelte Schmetterlingsbinde. Wieder schenkte er mir ein, und sein gestärktes Hemd krachte bei jeder Bewegung. »Die lieben Leutchen wollen mir ein Bild abkaufen«, sagte er, »drum hab ich mich so fein gemacht!« Er stellte sich auf die Zehenspitzen, der mittelgroße, eher kleine Mann, und holte einen Säbel von der Wand, mir die eingelegte Goldarbeit des Griffes zu zeigen. Aus Afrika habe er den Degen mitgebracht, sagte er, und schwang ihn, dort gäbe es gute Goldschmiede. Als ich ihn betroffen ansah, warf er es hin, als sei es das Alltäglichste von der Welt: »Ich war fünf Jahre in der Fremdenlegion. « Ich fand mich nicht gleich zurecht unten, zwischen Weinbergen, der Leutnant, und hier, vor mir, Kurt Kurilla, der Maler! »Nicht einmal bis zum Korporal hab ichs gebracht«, sagte er und lachte, und legte den Säbel auf das Ruhelager. »Es kann nicht jeder Leutnant werden«, antwortete ich. Er achtete nicht darauf, und goß sich ein, er trank nicht wenig. »Bei Sidi Bel Abbes«, sagte er, »das war ein Höllentag! Heut ists ja auch heiß«, sagte er, »aber damals, die Hitze, Sie können es sich nicht vorstellen. Es ging da eine Schlucht empor, eine Steinrinne, hoch hinauf, bis zum Himmel hinauf. Alles war weiß, auch der Himmel war weiß. Wir sollten hinauf, und die oben wollten das nicht, und schossen herunter. Von den Felsblöcken splitterten die Steinsplitter, Steinmetzarbeit machten sie an den Felsblöcken, hinter denen wir lagen. Wir sahen sie nicht, die Steinmetze, natürlich nicht, sie lagen in Deckung. Wir auch, hinter den Felsblöcken, aber weil wir hinauf wollten, mußten wir manchmal aufstehen, und das nützten sie aus, die oben, und machten dann nicht bloß Steinmetzarbeit. Der Tag, sage ich Ihnen, war lang. Dante, die Hölle«, sagte er, »kennen Sie das Buch? Ich nicht. Nur so vom Hörensagen. Aber damals, als die Splitter um uns sausten, dachte ich immerzu an Dantes Hölle. Das ist so«, sagte er, »bei solchen Gelegenheiten, da zwingt es einen, immer den gleichen Gedanken zu denken, als ging einem ein Mühlrad im Kopf herum. Heißer kann seine Hölle auch nicht gewesen sein als unsre Schlucht. Die brodelte wie ein Suppentopf, und wir waren das Fleisch darin. Mir ist manchmal, wir seien nie droben angekommen, und hupften und hupften, immer noch! Wie in Dantes Hölle eben! Ich wollte das Buch immer einmal lesen. Es soll aber so langweilig sein! « Er tat den Säbel wieder an die Wand, zum andern, da hingen die Waffen, gekreuzt und die goldnen Griffe blitzten.
Er goß uns beiden ein, der Schnaps war nicht gekühlt, er trank sich fad und lauwarm, aber das nahm ihm nichts von seiner Wirkung. Aus einer Schublade holte der Maler einen Packen Bilder, und warf sie klatschend auf den Tisch, wie man ein Spiel Karten hinwirft. Sie waren in Postkartengröße, abgegriffen und verblaßt. Tänzerinnen sah man da, unbekleidet, den Bauch vorgestreckt, an den Handgelenken, auch um die Oberarme, Spangen und Ringe, Schmuckgehänge in den Ohrläppchen. Zierliche Arabermädchen, eine Kette von Münzen um den Hals, bogen sich in schwülen Stellungen, und eine feiste Negerin zeigte schamlos ihr schwarzes Fleisch, die Arme hochgehoben, das Haar zu ordnen, damit die kürbis-schweren Brüste sich spannten. Liebliche Gesichter waren neben gemeinen Gesichtern, nur Frauen und immer wieder nackte Frauen waren auf den Bildern zu sehen, auch solche, die noch halbe Kinder waren, noch ohne Brust, und mit magerem Schoß. Es waren auch weiße Mädchen darunter, die meisten aber waren farbig. »Das«, sagte der Maler, und wies auf die Bilder, »trägt jeder Legionär mit sich herum, und das bringt er dann auch nach Hause mit, sonst meistens nichts. Ich habe die Säbel dort noch mitgebracht. Nun«, sagte er, »besser als nichts, man lebt!«
Es war die Zeit gekommen, aufzubrechen, er mußte zu seiner Teegesellschaft. Die Bilder ließ er liegen, wie sie lagen, zwischen den Schnapsgläsern. Ich begleitete ihn bis zur Straßenbahn, er fuhr weg, ich sah dem Wagen nach, bis er um die Ecke bog, und dann ging ich nach Haus.
Viel, viel später, mehr als ein Dutzend Jahre später, tat ich, wie verstohlen durch ein Fenster, den letzten Blick auf ihn. Ein Mann aus unserer Stadt hatte ihn als den Wirt der Künstlerkneipe zum »silbernen Nashorn« wieder erkannt, in Prag. Ein buntes Halstuch umgetan habe er die Gäste unterhalten mit Liedern, die er zur Laute sang, oder auf ihr die Wirtin begleitet, seine Frau, wenn sie auf den Tisch stieg, mit geschürzten Röcken, und jodelte. Er hatte sich einen kurzen Vollbart wachsen lassen, und wenn er sang, sei es zu sehen gewesen, daß er zahnlückig war im Liedermund. Sei er, ausruhend, in einer Ecke gesessen, habe er immerfort zu seiner Fau hin geschielt, die mit den Gästen scharmutzierte und ein zutrauliches Wesen hatte mit dem jungen Volk. Doch wenn sie rief: Sing!, habe er zu singen begonnen, gehorsam. Der Mann aus unserer Stadt, der mir so berichtete, mochte sich ihm nicht zu erkennen geben, zahlte seinen Wein, und entfernte sich.
So sollte es also mit ihm sein, viel, viel später, noch konnte er es nicht wissen, und noch war er bei uns, Kurilla, der Maler. Er lud mich nicht mehr zu sich ein, aber ich verbrachte noch manchmal eine Stunde mit ihm im Kaffeehaus. Er erzählte, während wir unser Erdbeergefrorenes aßen, von einem Leutnant der Legion, einem königlichen Prinzen aus einem Land im Norden, er nannte den Namen. Der Prinz, sagte er, sei hinten wie vorn über und über mit Tätowierungen bedeckt gewesen. »Auf der Brust«, erzählte er, »hatte der Prinz einen Löwen, der sperrangelweit das Maul aufriß, und zwei Gazellen liefen vor ihm davon. Auf dem Bauch sah man ein Segelschiff in voller Fahrt. Feuernde Kanonen und einen Kamelreiter und so Zeug hatte er, wer weiß wo überall, und das Schönste war auf seinem Rücken: eine genau gezeichnete Ansicht der Stadt Fez. Ein Meisterwerk! Ein wahres Meisterwerk!« begeisterte er sich. »Es gab richtige Künstler unter den Tätowiern«, sagte er, »die berühmt und gesucht und hoch bezahlt waren.« Er zog seinen Bleistift und zeichnete auf die weiße Marmorplatte des Tisches einen vierblättrigen Klee. »Den«, sagte er, und steckte seinen Bleistift wieder ein, »hatte sich der Prinz gerade über dem Herzen eintätowieren lassen. So einen hab ich auch. « Er knöpfte sein Hemd auf und zeigte ein Stück seiner behaarten Brust, und über dem Herzen das Glückszeichen. Wir aßen jeder noch ein Erdbeergefrorenes. Es war ein warmer Tag.
Mit dem, was mir der Maler von dem nördlichen Prinzen erzählte, hatte es seine Richtigkeit. Ich sah später sein Bild in einer Zeitschrift. Er war aus Lust am Abenteuer zur Legion gegangen, diente lang, und wollte das wilde Leben dort nicht lassen, das ihm besser gefiel, als Hofluft zu atmen. Aage hieß er.
Einmal noch, nach unserm letzten Kaffeehausgespräch, sah ich Kurilla von weitem. Er sah mich nicht. Er hatte eine Begleiterin zur Seite, eine hochgewachsene und schöne Frau, die ihren Strohhut an einem blauen Band in der Hand trug. Er redete eifrig zu ihr hinauf, und ich hörte ihr helles Lachen, und schneller schwang sie ihren Hut am Band. Kurz darauf muß er die Stadt verlassen haben.
Ludwig hielt sein Wort und schrieb. Es kam ein langer Brief von ihm, in seiner ordentlichen, genauen Schrift, mit unmäßig dicken Punkten auf dem Buchstaben i und hinter jedem Satz. Er berichtete von seiner Freilichtbühne, und daß sie bisher mit dem Wetter viel Glück gehabt hätten. Freimütig gestand er, daß er seine Namensänderung bereue, und daß er sich hinfort statt Hanns Heinz Sperber wieder Ludwig Holtermeier nennen wolle. Er freue sich schon darauf, wieder in das alte Namenskleid zu schlüpfen wie in eine bequeme, nach Maß geschneiderte Hausjoppe. Für den neuen Beruf, den zu ergreifen er sich jetzt anschicke, sei es nicht nötig, pfauenmäßig sich aufzuplustern - bei den vom äußeren Schein viel mehr abhängigen Bühnenleuten sei das etwas anderes und entschuldbar! Und kurz - er wolle Maler werden! Ich solle ihn nicht eine Windfahne schelten, schrieb er, und er glaube, mir noch mit Leistungen beweisen zu können, daß er jetzt, endlich, auf dem rechten Wege sei. Und wenn der auch noch lang und steinig und mühevoll bergauf sich krümme - oben, auf dem Gipfel, dessen sei er gewiß, wachse ihm ein Lorbeerbaum, oder ein Lorbeerbäumchen wenigstens. Sofort nach Ablauf der Spielzeit wolle er zu seinem Bruder Franz, dem Dichter, nach Berlin ziehen, um dort eine Malschule zu besuchen. Daß er das könne, verdanke er einer kleinen Erbschaft, die sie beide eben jetzt gemacht hätten, und sie stamme von dem gleichen Manne, der ihm auch schon die Ausbildung zum Schauspieler ermöglicht hatte. Der Leutnant, schrieb er, sei tot, und besonders dick und schwarz war der Punkt, den Ludwig hinter diesem Satz anbrachte. Er, der alte Soldat, der Wagenmacher, bewandert in jeder Art von Handfertigkeit, habe seines Nachbars zwölfjährigen Buben, der haben wollte, was andere auch hatten, Pfeil und Bogen geschnitzt und ein paar vergnügte Abende damit verbracht, die Waffe kunstgerecht herzustellen, nach afrikanischem Vorbild. Auch eine Scheibe habe er gemalt, mit zwölf Ringen, und dem schwarzen Zielpunkt in der Mitte, und den Knaben darin geübt, nach ihr zu schießen. Der Pfeil sei mit einer harmlosen, kurzen Eisenspitze versehen gewesen, damit er in die Scheibe eindringen könne. Einmal habe der Lehrer sich zu nahe an der Scheibe aufgehalten, den Schuß des Schülers zu beobachten, und da sei ihm der Pfeil ins Gesicht gefahren, unter die Nase, in die Oberlippe, und dort steckengeblieben. Gleich habe er ihn wieder aus dem Fleisch gerissen, und den erschrockenen Schützen getröstet, und die beiden hätten das Scheibenschießen noch eine Weile fortgesetzt, und die kleine Schramme habe der Leutnant gar nicht weiter beachtet. An Wundstarrkrampf sei er dann, nach Tagen erst, und unter großen Schmerzen, gestorben.
So schrieb Ludwig Holtermeier, und auch, daß er sein Einglas nicht mehr trage. Den Namen des Rotkopfs, den Namen Franz Holtermeier, fand ich in keiner Zeitung oder Zeitschrift, obwohl ich manch eine mit dem Gefühl aufschlug, jetzt und jetzt könne er mir entgegenspringen. Den Lorbeerbaum, oder das Lorbeerbäumchen wenigstens, beide sollten es nie zu Gesicht bekommen! Der Weltkrieg, der jetzt ausbrach, nahm ihnen beiden den Atem aus der Brust, und dem Schachspieler auch.
Im dritten Jahr nach Friedensschluß sah ich Simon wieder. Ich war wieder einmal daheim, zu Besuch im Vaterhause, da kam er. Er war älter geworden, natürlich, mir fiel es an ihm auf, und ihm an mir, wir sagten es uns. Sein Gesicht war noch immer blaß, fast weiß, von der Art, die keine Sonne bräunt, und ohne die rötlichen Pusteln auf der Stirn. Er war in Afrika gewesen, in der Fremdenlegion! Ach, vieles hatte er erlebt, als er zu erzählen begann. Er sprach von Sonne und Hitze, von langen Märschen im gelben Sand, aber die eingeborenen Völker hatten Frieden gehalten während seiner Soldatenzeit, und er hatte keinen Schuß abzugeben brauchen gegen braune Reiter im weißen Flattermantel. Sie hatten ihm rote Ledertaschen verkauft, oder die Hand der Fatme aus Silberblech, die schützt vor Ungeziefer, Krankheit, und Liebesschmach. Während des Krieges war er still behütet in Frankreich im Gefängnis gesessen - man hatte ihm nicht recht getraut, als einem Deutschen! Er war im Küchengarten beschäftigt worden, die Erde umzugraben für Kohl und Spinat, die französische Erde, die das Blut der drei Freunde zu trinken bekommen hatte. Die hatten nie so Wildes im Sinn gehabt wie er, der aufgebrochen war, freiwillig Kriegsdienst zu nehmen unter fremden Herren, im schwarzen Erdteil, und nun stand er prall und glänzend vor mir, narbenlos, und sie waren bei den Schatten.
Er war, nach dem Gefängnis, noch einmal zur Legion gegangen, nun schon ein »Alter«, der Vorrechte hatte, und hatte zuletzt ein Lager von Scheiben und hölzernen Pritschen und Fähnchen für Schießübungen zu verwalten gehabt. Als sich sein Ärmel verschob, sah ich, daß über seinem Handgelenk zwei sich schnäbelnde Tauben eintätowiert waren, von einem Blätterkranz umschlossen. »Das trägt man dort«, sagte er erklärend. Ob er auch einen vierblättrigen Klee über dem Herzen hat?, mußte ich denken.
Er werde bald heiraten, sagte Simon. Seine Eltern seien gestorben, nun sei er ganz allein, aber nicht mehr lang. Er habe eine Stellung gefunden, in einem Kalkwerk, unten an der Donau, nah seinem Heimatdorf, und sie wünschten beide sich Kinder, er und seine Braut. Er sah mich an mit seinen hellen, blauen Augen, und fragte mich: »Wirst du nicht auch heiraten? Ein kleiner Garten«, sagte er, »und Frau und Kind, was willst du mehr vom Leben?« Ich suchte die Unruhe, die in der Tiefe seines Blickes gewesen war, früher, sie war nicht mehr da. Und von der Weltverbesserung sprachen wir nicht, und nicht von Gedichten in Esperanto. Breit um die Brust war er geworden. Und jetzt zog er die Brieftasche, und zeigte mir die Bilder in Postkartengröße, die mir schon Kurt Kurilla gezeigt hatte. Sie waren wie jene abgegriffen und oft betrachtet, und die fette Negerin mit den kürbis-schweren Brüsten erkannte ich wieder. »Deiner Frau darfst du aber die Bilder nicht zeigen«, sagte ich. Er lachte, und sagte: »Ich werde sie gut verwahren. « Und sagte: » Da, eins schenk ich dir!« Es war eine nubische Tänzerin.
Drucknachweise und Anmerkungen:
Anläßlich der Gründung der Münchener Bibliophilen-Gesellschaft veranstalteter und als Festgabe zum 9. Mai 1953 von der D. Stempel AG, Frankfurt am Main, überreichter Sonderdruck. Zum Satz wurden die Trajanus und die Caslon-Gotisch verwendet. (Ohne Seitenzahl und Angabe der Auflage.) Die Anregung zu dieser Ausgabe kam wohl von Gotthard de Beauclair, jedenfalls war er es, der Britting anrief und die Druckgenehmigung erbat.
S.131 Das hinkende E
E: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 45, I8.1.1926, u. d. T. Das stelzbeinige
E (unter diesem Titel in Bd. 1, S. 248).
D1: Krakauer Zeitung, Nr. 57, 12.3.1941.
D2: Die Neue Zeitung, 6. 6. 1953, u.d.T DerTraum vom hinkenden E.
D3: Letternspuk.
D4: E III, S. 61.S.134 Der nackte Shakespeare. In einer fiühen Fassung zuerst gedruckt in der hossischen Zeitung, Nr. 46, 24.3.1926, u. d. T Der nackte Engländer (so in Bd. 1, S. 251).
E:Letteruspuk.
D: E II, S. 234.S.136 Beim lautlosen Krähen des Messinghahns
In einer frühen Fassung zuerst gedruckt in Romantik, 6, H. 1, 1924/25
(in Bd.1 S. 246 u.d.T. Das Initial).
E: Ausritt, 1934/35. München: Almanach des Albert Langen /
Georg MüllerVerlags, 1934, S. 8o-82.
S.136, Z. 9: Fingerspitzen]
E: in die vordersten Fingerspitzen, daß sie beben, Z. 11-12: pestfarbene Flecken,]
E: pestfarbene Flecken, so sitzt nur der Kaffee in den zitternden Fingerkuppen.
Z. 24-25: schwebe.]
E: schwebe, wie ich nun wieder eine Tasse leere.
S.137, Z. 4: Zigarre] E: Zigarre. Und ich trinke noch eine Tasse Kaffee.
Z. 3: wie vor dem Mönch] E: wie vor dem Priester in der Messe das
große, steinbesetzte Buch. Z. 8: feuchter, warm und klebrig]
E: warme, klebrige Blut.
S. 138, Z. 16: gelbes Kleid flattert.] E: gelbes Kleid flattert diesmal wie
die Fahne beim Einzug des Kardinals.
D1: Krakauer Zeitung, Nr. 155, 3. 7. 1942.
S.136, Z. 10-11: damit betupfen, es gäbe braune Flecken, runde
pestfarbene Flecken] D1: anrühren, es gäbe braune Flecken, rund und
pestfarben, wie Aussatz, so brodelt nur der Kaffee in den zitternden
Fingerspitzen.
S.137, Z. 3-4: die atmende Zigarre] D1: die atmende Tabakspfeife.
Z. 3: Das Buch liegt aufgeschlagen vor mir wie vor] D1: das Buch liegt nun wieder aufgeschlagen vor mir, wie vor dem Pfarrersmann in der dämmernden Kirche der große, edelsteinbesetzte Schweinslederband, den ein scharlachrot gewandetes Kind auf Kinderarmen herbeischleppte, und daraus der Schwarzrock dunkeltönende Worte hebt.
D2: Die Neue Zeitung, 10. 10. 1952.
D3: Letternspuk.
D4: E II, S. 231. Britting an Wetzlar am 20. 5. 1953: deine stilkritische meinung über die kleinen arbeiten-,im ›letternspuk‹ stimmt. die arbeiten stammen alle drei aus ungefähr dem jahr 30. den ›berg thaneller‹ hatte ich ganz vergessen, er hätte gut dazu gepaßt, aber dann wäre der kleine druck wohl zu umfangreich geworden.Afrikanische Elegie
S. 141 Afrikanische Elegie
Britting an Jung (27.12. 1946):Ich habe eine erzählung geschrieben, ›afrikanische elegie‹, von einem fremdenlegionär, eine ausgestaltete kindheitserinnerung, und ich hab auch sonst prosaische pläne.Mit der Afrikanischen Elegie und der im Jahr 1949 entstandenen Erzählung »Das Baderhaus« beginnt Britting sich wieder seiner Jugend, der kleinen Welt am Strom, zuzuwenden. Auch die letzte, Fragment gebliebene epische Prosa Eglseder spielt in Regensburg, und das Geburtshaus der Hauptfigur, des Journalisten Eglseder, der unehelich geboren ist, steht im tiefsten Bayerischen Wald.
Brittings Fäden zu seinerVaterstadt waren nie abgerissen. Auch nach dem Tod der Eltern (die Mutter starb 1934, der Vater 1938), kam er weiterhin alle paar Monate nach Regensburg, um alte Freunde wiederzusehen.
Am 15. Februar 1947 berichtet er an Wetzlar nach London:Ich war vorige woche in regensburg, zu einer vorlesung, meine erste seit anno hitler, es war natürlich ausverkauft, der berühmte sohn der stadt, ich traf viele alte freunde, grau geworden, und recht sorgenvoll. die donau war zugefroren, was sie nur alle menschenalter einmal tut, ich bin hinüberspaziert ans andre ufer, ein recht sonderbares gefühl ist das. aber sonst ist die uralte stadt ziemlich gänzlich geblieben, und es ist nur wieder recht anschaulich geworden, wie uralt sie ist nur ihren engen gotischen gassen und den romanischen kirchen.Am 6.8.1949 kommt Britting brieflich zum erstenmal auf die Heimat seiner Mutter zu sprechen. An Wetzlar:[...] als wir durch niederbayern fuhren, wars so schön zu sehen, wie unberührt dort alles noch ist. ich möchte einmal mit kiefhabers auto noch nördlicher fahren, durch die oberpfalz.Von dort, von neukirchen-balbini in der nähe von neunburg vorm wald, stammt meine mutter her. eines baders tochter, aber der bader war ein halber studierter, chirurgus heißt er in den papieren, die ich wegen des ahnennachweises sammeln mußte. er ging in landshut in die chirurgenschule. ich hab den alten herrn noch gekannt. er wurde fast 9o alt. i8co geboren, starb 1898. Er trug eine altmodische halsbinde, keine kravatte, immer ein weißes hemd. Er war ein liberaler, und als er in den siebziger Jahren als einziger in neukirchen-balbini [...] das liberale regensburger tagblatt abonniert hatte, predigte der pfarrer gegen die aufklärer. Aber die leut' ließen sich trotzdem von meinem großväterchen die hühneraugen schneiden, blutegel setzen und knochenbrüche heilen. übrigens wird der wilhelm meister dann auch, nach seiner theaterlaufbahn chirurg.Den Wunsch, die Heimat seiner Mutter wiederzusehen, hat Britting nicht mehr geäußert, aber die Sehnsucht nach dem »Wald« blieb ihm. 1953 und 1954 fuhr er je für eine Woche in die kleine Stadt Regen am gleichnamigen Fluß:Ich spür doch, daß meine Mutter, mein Großvater, meine mütterlichen Ahnen alle aus dem Wald stammen. Mir ist recht heimatlich zu Mute!schrieb er im Sommer 1953 an seine Frau.
(Vgl. »Entrückung in die Landschaft«, S. 296.)
Am 18. 1. 1951 bot Britting die erste Fassung seiner Afrikanischen Elegie, an der er seit 1946 gearbeitet hatte, Joachim Moras, dem Herausgeber der Zeitschrift Merkur, an:Ich lege Ihnen eine Erzählung vor.Vielleicht gefällt sie Ihnen. Alles Gute wünschend.Als Moras darum bittet, mit dem Abdruck noch warten zu dürfen, antwortet Britting:Ich habe nichts dagegen, wenn die »Afrikanische Elegie« erst Mitte des Jahres erscheinen sollte. Wenn Sie aber so arg besetzt sind - bitte, sagen Sie es mir nur, und ich nehme die Arbeit dann auch ohne Groll zurück.Moras hatte auf Brittings Brief für seinen Mitherausgeber Hans Paeschke vermerkt: »Britting ist einer der wichtigsten wenn auch eigenwilligsten Prosaisten. Soll ich fragen, wie lange er warten könnte ...«E: Merkur 41, 5. Jg., 1951, 7. H., S. 652-667.
In dieser Fassung des Merkur fehlen einige wichtige Partien des Textes, so das kurze Porträt des Herzogs [von Thurn und Taxis], wie er den Regensburger Bürgern als leutseliger Landesherr erscheint. Simons blaßgezeichnete Mutter erhält in der endgültigen Fassung eine kräftigere Kontur dadurch, daß sie sommersprossig ist, was ein wenig zurVerwirrung des Erzählers beiträgt.Es fehlt die Schilderung des jährlich stattfindenden Pferderennens, dem das Herzogspaar stets als Ehrengäste vorsteht, daran anschließend die Episode von der rehäugigen Schauspielerin und dem eleganten grünen Rittmeister, einem Neffen des Bischofs, der durch Aussatz verunstaltet, von den Bürgern mißachtet wird und seinen Abschied einreicht. Er verschwindet kurz darauf zusammen mit der Schauspielerin ins Ausland.An späterer Stelle erfährt man noch, daß er im Krieg fiel.
Der alte Fremdenlegionär, der, nahe Regensburg, in seinem Heimatdorf an der Donau wohnt, wo noch der saure Krukenberger Wein gezogen wird, ist in der endgültigen Fassung, um sein Weglaufen von zu Hause plausibler zu machen, in eine unglückliche Liebesgeschichte verstrickt, »die den Sohn eines wohlhabenden Wagenbauers« in die Fremdenlegion treibt.D1: Afrikanische Elegie. Erzählung. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1953, Pappband, 46 Seiten, Auflagenhöhe nicht verzeichnet.
Umschlagzeichnung von Gunter Böhmer.Britting an Jung (27.3.1953):
im herbst kommt bei der nymphenburger als kleines bändchen im umfang der ›kleinen welt a. st.‹ ›die afrikanische elegie‹ von mir, die im »merkur« stand, verbessert (hoffentlich) und um 6--7 druckseiten vergrößert.Zwei Monate später (17.5.1953) wieder an Jung:daß die vergrößerte ›afrikanische elegie‹ im herbst als buch kommt, schrieb ich ihnen schon. ich bin gar nicht recht zufrieden damit, sie scheint mir ein bißchen kahl und altersstilig. der mut zu stilistischem überschwang, wie in dem ›letternspuk‹, ist mit 6o schwerer aufzubringen als mit dreißig. nicht daß ichs nicht mehr könnte, denke ich, aber so viel worteschwall zu machen, scheint mir heut genierlich. aber es steckt doch viel kraft dahinter, und jugendlicher übermut. trotzdem: ich will schon noch einmal eine kühn strotzende prosa schreiben. helf gott!Auszüge aus der Erzählung hatte Britting vorab noch der Süddeutschen Zeitung gegeben: Süddeutsche Zeitung, Nr. 112, 14. 5. 1952, u.d.T. Die Wildschweine, Süddeutsche Zeitung, Nr. 157,11. 7.1953, u. d. T. Kurilla, der Maler.
Eine japanische Ausgabe erschien 1958, erläutert von W Harada Tokyo: Ikobundo Verlag,1958.
D2: E III, S. 105-138.
Bode spricht im Hinblick auf die in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre entstandene Prosa Brittings Afrikanische Elegie und »Das Baderhaus«, von Altersstil.
Afrikanische Elegie in diesem Donauland ist zunächst einmal reizvolle Titelverschlüsselung. Alle Unruhe, so findet sich eine Erklärung, alles Wild-Phantastische und Hochfliegende, so Abenteuerliche wie Unfertige in jenen Jugenderlebnissen, von denen die Erzählung handelt, verbindet sich mit einem Traum vom fernen Afrika. Die jugendlich-ernsthaften Ausbrüche aus der bürgerlichen Ordnung um 1910 beschäftigen Britting mit dieser Erzählung im Jahr 1946 noch einmal. [...]
Wie es nur wenige Einzelheiten auf den vorhergehenden Stilstufen als eine spätere Möglichkeit absehen ließen, sind nun ohne eine ausgeprägte Fabel, die bei Britting eigentlich oft eine große Rolle gespielt hatte, und vor allem ohne gesteilten Aufbau bestimmte Motive leicht und locker ineinander verhakt. Dabei kann die Technik solcher Verknüpfungen statt der Einzügigkeit des Erzählens in keinem Moment darüber hinwegtäuschen, wie präzise die Bilder gesetzt, wie dicht der Text gefügt ist. Das Brittingsche Formbewußtsein unterbindet jedes Absinken ins »Plaudern«. Die Erzählhaltung ist nun kaum besser als mit Thomas Manns Begriffen von dem »ironischen Objektivismus«, der »liebevollen Ironie« oder der »Ironie des Herzens« zu bestimmen. [...](Bode, S. 119-121)
Mit dem »Baderhaus« wird noch deutlich, wie sich dieser Stil gerade durch seine Lockerheit auch mit jenem alten Prinzip verbindet, das als das »Magische der Zusammenstellungen« bezeichnet worden war und bei Britting meist primär bildhaft ist. Damit gewinnt diese Prosa nein Kraft und Farbe und kann vielleicht in einem echteren Sinn als die Erzählungen der späten dreißiger Jahre als die entspannte Analogie zum nachexpressionistischen Prosastil Brittings gelten.
Späte Fassungen und Nachlaß
S. 173 Der Fisch E: Die Erzählung 3, Heft 8, 1949, S. 23 f, u. d. T. Tauschgeschäfte (textgleich mit D3).
D1: Süddeutsche Zeitung, Nr. 1, 5.1.1952, (Auszug), u.d.T. Das Hochzeitsmahl.
D2: Merian, 5, Heft 2, »Passau und der Bayerische Wald«, 1952, S. 69-72.
D3: E III, S.138
Die Zeitschrift Der Zwiebelturm brachte in der Aprilnummer 1951 einen Auszug aus »Tauschgeschäfte«. Britting schickte das Heft an Wetzlar nach London; in seiner Antwort ging dieser auf die Erzählung ein. Am 21.5.1951 erwiderte ihm Britting:die ›tauschgeschäfte‹ sind fünf fahre alt. was dir schon beim ›baderhaus‹ auffiel, fällt dir, und auch mir, auch bei den ›tauschgeschäften‹ auf, eine veränderung des still. schlichter, unfarbiger, weiß nicht, woher das kommt. ich kanns schon farbig auch noch. mal sehen, wie das weitergeht! ist doch drollig, daß so eine änderung ganz unbewußt vor sich geht ... es ist eine dreiviertel wahre geschichte.Britting hatte Wetzlar wohl eine Abschrift des »Baderhauses« geschickt die Erzählung wurde erst 1952 veröffentlicht.
S.184 Das Baderhaus
Britting an Jung am 1.6.1949:ich trainiere jetzt sozusagen auf Prosa, zwei, drei kleinere erzählungen [»Das Goldstück«, »Die schöne Magd«] habe ich geschrieben, größere arbeiten (»Das Baderhaus«)schweben mir vor.E: Merkur 53, 1952, 6. Jg., 7. H., S. 659-666 (textgleich mit D2).
D1: Merian 8, Heft 6, »Oberpfalz«, 1955, S. 47-50 (Kurzfassung).
D2: E III, S. 159.Siehe dazu Afrikanische Elegie, S. 398-401.
S. 195 Mohn
E: Akzente, 2. Jg., Heft 4,1955, S. 29o-296.
Vierte Bearbeitung eines Stoffes, dessen frühere Fassungen u.d.T. ›Marion‹
in Bd. 1, S.188, und ›Die verwegene Marion‹ in Bd. 1, S. 235, gedruckt sind. (Siehe auch Bd. 1, S. 645, zur dritten Fassung.) Seit 1929 hatte das Sujet geruht.
D1: Jahresring 1958/59, S. 10-16.
D2: E II, S. 163.Zu seiner allerersten Prosa gehörte eine Erzählung »Marion«. Sie erschien im September 1919 in der Sichel und war damals nicht mehr als zwei Druckseiten lang, formal ein Wirbel unverbundener überhitzter Momentbilder und inhaltlich selbst unter gleichzeitigen Stücken von ziemlich hochgetriebener Sexualität und Blutrünstigkeit. 1924 kam diese Erzählung unter dem Titel »Die verwegene Marion« in der Monatsschrift Vers und Prosa des Rowohlt-Verlages heraus. Das Schockierendste war damals schon gedämpft, wodurch sich allerdings vielleicht gegen Ende ein gewisser Bruch und Spannungsabfall bemerkbar machte. [...]Am 24. Januar 1955 schickte Britting das umgearbeitete Manuskript an Jung:
»Mohn« oder »Das verwegene Mädchen« hieß dann auch die dritte Fassung der Erzählung, die, wiederum fünf Jahre später, 1929 in der Jugend gedruckt wurde.
[...]
Nach dieser [relativ wenig veränderten] Veröffentlichung von 1929 je
doch waren die Chancen für die Erzählung und vor allem, wie Britting
meint, für den etwas wüsten Stoff und der epater le bourgois-Stimmung
ziemlich vorüber. [...] Um 1955 aber dann, als die Muster wieder ge
wechselt hatten, reizte die Erzählung; durch keine Buchveröffentlichung
bisher fixiert, erneut zur Bearbeitung.
(Bode S. 124)ich brauche ihr urteil: beiliegende erzählung stammt aus meiner expressionistischen zeit. irgendwas ist dran, was mir heut noch gefällt. ich habe die arbeit etwas überarbeitet - und weiß nicht, ob es möglich ist, sie heute noch zu publizieren.. ich habe kein Urteil mehr darüber. der stoff ist nicht schön, bitte, mir streng und gerecht, wie ich es von ihnen gewöhnt bin, die meinung zu sagen [...] ihrem richterspruch mich unterwerfend.Auf Jungs Zustimmung hin antwortete Britting am 31.1.55:ich bin recht froh, daß ich sie habe, beratend und helfend. die marion ist 30 jahre alt, ich hab das zu expressionistische gemildert, und einiges neu geschrieben. auch der wenig schöne stoff ist expressionistisch, frech [...], aber das ganze ist nicht ohne schwung und kraft, fand ich beim wiederlesen. ich dachte daran, sie an die ‘akzente’ zu schicken, aber das tu ich besser doch wohl nicht? [...] freut mich, daß sie auch der meinung sind, an der arbeit sei was dran. sie zu schreiben brauchte es den mut der jungen jahre, heut würde ich mich an den stoff nicht mehr herantrauen.Trotz seiner Bedenken sandte Britting das Manuskript an die
Akzente; Walter Höllerer reagierte sofort und schrieb am 2.2.1955:Hochverehrter Herr Britting,Zustimmung zu dieser Erzählung kam auch von Friedrich Georg Jünger. Am 12.9.1955 antwortete ihm Britting:
über Ihre Geschichte gibt es nur eine Stimme: sie ist faszinierend. Ich habe lange nichts gelesen, was mich so gleich gepackt - und be-halten hat. Dieser Raum aus teufelsschwarz und brandrot ist großartig, und kein Wörtchen fällt heraus. Ich bewundere diese Geschichte sehr, sie ist von einer Geschlossenheit, die aber nirgends verriegelt ist, sondern auf überall hin offen bleibt, sodaß sie wie ein Sta-chel sitzen bleibt im Leser, und er muß alles weiterspinnen. Der Teufelskater, wie er dreimal durch die Geschichte hext, ist ein Vieh, Ihrem Hecht im Untergrund und dem Vogel Bienenfresser verwandt, so wie der Gestiefelte doch auch auf irgendeine Weise ein schwarzer Bruder Ihres glänzenden Achill mit dem apfelkleinen Haupt ist. Das sind Bild und-Rhythmus-Zusammenhänge.Überhaupt, der Rhythmus trägt alles und spielt noch viel mehr herein, als da steht und als was ich hier sagen kann. Ich bin sehr begeistert, und ich bitte Sie, daß Sie uns die Geschichte auf alle Fälle drucken lassen. Sie wird Ihnen und den Akzenten Freude und immer noch mehr Freunde machen. Ich sage Ihnen herzlichsten Dank dafür!Daß Ihrem Bruder der „Mohn“ gefiel, und Ihnen, und daß Sie mir das schreiben, freut mich sehr. Es ist eine etwas verwegene Geschichte, geht auf eine frühe Arbeit zurück, und mir war ein wenig bänglich sie zu publizieren - da tun Ihre Worte doppelt gut.