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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung
Band 5
Seite 258
Kommentar
Seite 406
Zeichnung
Aus: »Erzählungen,
Bilder, Skizzen«
In der großen und volkreichen
Stadt London gibt es viele enge Gassen; die gabs dort schon vor zweihundert
und mehr Jahren, und sie sind nicht breiter geworden seitdem beharrend
ist das englische Wesen. Die Herren trugen weißgepuderte Zöpfe
damals und Schnallenschuhe, und die Damen ließen die Schuhe nicht
sehen, so züchtig lang waren die Röcke, aber dafür geizten
sie mit dem Stoff um Hals und Brust.
Zwei Ladies, wie man dort
die Frauen höherer Stände nennt, waren unterwegs zu einer Putzmacherin,
die einen großen Namen hatte, aber ihr Geschäft in einer dunklen,
schmalen Gasse: das soll des Landes so der Brauch sein, hört man,
und man vermeidet es, protzig nach außen hin zu tun. Die Ladies saßen
in einem hochrädrigen Wagen, vor den zwei Pferde gespannt waren, und
steif wie ein Ladestock saß auf dem Bock der Kutscher. Die Damen
schwätzten ein bißchen miteinander, dies und das, und als der
Wagen vor dem Putzgeschäft hielt, stieg die eine aus und sagte zur
andern: »Warte ein wenig, und gleich bin ich wieder da!« Die
Freundin blieb wahrhaftig sitzen, was merkwürdig ist, denn gern begleitet
eine Frau die andre zu einem Einkauf, aber sie hatte Kopfweh vielleicht
oder am Morgen einen Brief bekommen, über den sie nachsinnen mußte,
und antwortete also nur: »Beeile dich, meine Beste!« Die rauschte
hinweg.
Die Kutsche nahm einen
ziemlichen Platz ein, und doppelt groß und ungetümlich wirkte
sie in der engen Gasse, und so war es nur gut, daß keine andre ihr
entgegen kam: an ein Ausweichen wäre nicht zu denken gewesen! Und
wer von den Fußgängern an dieser Stelle die Gasse überqueren
wollte, weil er jenseits zu tun hatte, oder das Kaffeehaus ihn lockte,
das drüben war, der mußte einen umständlichen Bogen um
das Gefährt machen. Manche taten es auch. Ein Herr jedoch, der hinüber
wollte, blieb ärgerlich stehen und rief dem Mann auf dem Bock zu,
er möge weiterfahren. Aber der sah und hörte nichts, versteht
sich, und machte sein hochmütigstes Kutschergesicht. Der eilige Herr
indessen war einer von den Kurzentschlossenen. Er riß den Wagenschlag
auf, stieg in den Wagen, und sagte: »Um Vergebung«, und lüftete
den Hut vor der Dame, und öffnete die jenseitige Türe und stieg
aus, und drüben war er, auf dem kürzesten Weg. Noch verwirrt
und unbegreifend sah die Lady ihm nach, als schon ein andrer Herr, der
alles mitangesehen hatte, auch durch den Wagen ging, um Verzeihung bittend
auch er, und den Hut höflich hebend, und er brauchte nicht einmal
die Wagentüren zu öffnen, sie standen ja noch sperrangelweit
offen!
Was sich nun ereignete,
geschah wie auf Verabredung. Ein dritter Herr nahm den Wagenpfad, als sei
es das natürlichste von der Welt, und andre folgten so schnell, daß
keine Lücke entstand im Zug der an der Dame vorüber Wandelnden,
und es war anzusehen, als liefen Ameisen über einen Stein, der ihnen
den Weg sperrte. Und jeder der Eiligen hielt sich an die Vorschriften der
Höflichkeit und erbat sich Verzeihung, und grüßte ehrerbietig,
ob ihm auch ein Lachen den Hals kitzeln mochte. Die Lady fühlte eine
Ohnmacht nahen, und daß ihr die Augen naß werden wollten, und
sie hob den Seidenrock ein wenig, daß ihr niemand drauf trete, und
dachte des Briefes, der ihr heut am Morgen solchen Kummer gemacht hatte
und nun dies! Sofort nach Haus zu fahren, rief sie mit erstickter Stimme
dem Mann auf dem Bock zu, der die ganze Zeit gesessen hatte, als ginge
ihn nichts an, was hinter seinem Rücken geschah: nach vorn zu schauen
war seine Kutscherpflicht! Jetzt knallte er mit der Peitsche und die Pferde
zogen an.
Als nach einer reichlichen
Stunde eine junge Dame, noch glühend von der Lust des Wählens
und Verwerfens, aus dem Putzmacherladen trat, fand sie weder ihre Freundin
vor, noch Wagen und Pferde und
Kutscher, und wahrscheinlich ist sie zu Fuß nach Haus gegangen, oder
sie nahm einen Mietwagen.
S. 258 Schule der Höflichkeit
E: Süddeutsche Zeitung, Nr. Si, 23. 3. 1951.
D1: Almanach der Dame auf das Jahr
1958.
Hg. Ruth Klein, Baden-Baden: Waldemar Klein, S. 119 f.
D2: Die Zeit, 4.9.1964, mit einer hier
abgebildeten Illustration von Peg Rice.
D3: Anfang und Ende, S. 38. Der Text
wurde noch mehrfach veröffentlicht.
Schule der Höflichkeit.
Zeichnung von Pec Rice
S. 261 Das Goldstück
E: Die Neue Zeitung, Nr. i7,2o. Januar 1951, u. d. T Der Indienfahrer
kam nach Hause.
Am 311. i. 1951 antwortet Britting auf eine Anfrage von Jung, der die
Veröffentlichung in der Neuen Zeitung gelesen hatte: meine moritat
heißt »das goldstück«, die redaktion änderte
natürlich den titel. in dem brief, in dem die »neue zeitung«
die arbeit annahm, schrieb sie schon: »es wird sie vielleicht interessieren,
daß ein ähnlicher fall neulich durch die presse lief da ist
ein rußlandheimkehrer von seinen bäuerlichen eltern, ahnungslos,
daß es der sohn sei, erschlagen worden«. nun
> schreiben sie, axel lübbe, ein gar nicht schlechter mann, heut
völlig verschollen, habe den stoff auch benützt. und ein drama,
schreiben sie, gibt es darüber auch? und ein pensionierter major aus
dem badischen schrieb mir, der » 24. februar« von zacharias
werner, dem schicksalsdritmatiger, die gleiche fabel, im gebirge spielend,
in einer almlütte, und der major winkte von fern mit dem wort: Plagiat!
woher ich den stofl habe?
wetzlar aus London schickte mir vier [sic!] bände, im alten langen
verlag erschienen, das »neue von gestern« oder so ähnlich.
[...] da stand von dem korrespondenten der vossischen zeitung, i76o etwa,
die geschichte, mit namen und details, als eine meldung aus marseille,
nicht als novelle, als >vermischte nachricht<. so wandern die Stoffe.
Bei der von Britting genannten fiinfbändigen Sammlung handelt
es sich
um: »Das Neueste von gestern«. Kulturgeschichtlich interessante
Dokumente aus
alten deutschen Zeitungen. Hg. Eberhard Buchner. München: Albert
Langen,
IgII.
D': Süddeutsche Zeitung, Nr. 125,26.5. 1957, u. d. T: Das holländische
Goldstück.
D': Die Zeit, 211. 9. 1962, mit Zeichnungen von Wilhelm M. Busch. D3:Anfang
und Ende, S.4i.
Britting hat diese Erzählung mehrfach verändert. Sein Bemühen
um stilistische Verbesserungen nachzuvollziehen gelingt am ehesten durch
einen Vergleich des Erstdrucks mit der autorisierten Fassung. Um dies zu
ermöglichen, findet sich anschließend an die Originalmeldung
von 11727 aus Buchners Sammlung die Erstfassung der Erzählung. In
der Vossischen Zeitung, Berlin, 1727, Nr. 86, heißt die Stelle:
Paris, den 7. Juli:
Ein gewisser Mensch, so von Corbeil gebürtig und 118 Jahre in Indien
gewesen, ohne jemals an seine Eltern geschrieben zu haben, kam die verwichene
Woche unverhofft nach Corbeil zurück, und begab sich zu einem von
seinen Paten, welchem er sich zu erkennen gab und dabey sagte, daß
er unbekandter Weise bey seinen Eltern so Wirtschafft trieben, Logiren,
und folgenden Tages erst sich zu erkennen geben wollte. Solches geschahe
auch,