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© Ingeborg Schuldt-Britting

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Ingeborg Schuldt-Britting

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Band 5  Seite 283
Kommentar Seite 415

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«
.. Diese Erzählung liegt, von Britting gesprochen, als CD 1 vor.



Der Gesang des Weckers
(oder: Ein anderer König von Thule)

Manchem mag es nicht viel ausmachen, jeden Tag um vier in der Frühe geweckt zu werden, für die meisten aber ist es, je länger, desto mehr, ein böses Leben, und der Ton der Weckeruhr ist ihnen wie Geklirr von Sklavenketten. Eine große süddeutsche Tageszeitung wurde den Beziehern gegen elf Uhr des Vormittags zugestellt, mit den neuesten Meldungen aus aller Welt, und hatte der Ätna Feuer gespuckt, während sie die Frühstückssemmeln schmausten - fürs Mittagessen gab das schon einen Gesprächsstoff her. Das zu ermöglichen, mußten die Leute, die die Zeitung machten, beim Morgengrauen aus den Federn, um ihre Arbeitsplätze aufzusuchen. Da saßen sie dann, Stapel von Geschriebenem vor sich, rieben sich den Schlaf aus den Augen, kratzten sich das unrasierte Kinn, schieden das Wichtige vom Unwichtigen, erfanden fette Schlagzeilen, und rauchten, und gähnten. Mählich wurden sie dann munter, und wenn die erste druckfeuchte Nummer vor ihnen lag, waren sie springlebendig geworden wie die Heuschrecken in der Sommerwiese.
 Der Zeitung, es war erstaunlich, merkte man es nicht an, unter welcher Bedrängnis sie hergestellt worden war. Der Doktor Ehm, klein und spitzbärtig, Witwer und kinderlos, war schon lang ein wichtiges Rad in dem nächtlichen Getriebe. Er war einer, der gelernt hatte, sich ins Joch des »Früh ins Bett und früh heraus« zu fügen. »Schaut die Hühner an«, pflegte er zu sagen, »die machen es ebenso, und sind ihre Eier nicht köstlich?« Er dachte dabei an seine Zeitung. Er dachte immer an seine Zeitung. Einsiedlerisch lebte er, mit vielen Büchern, und den Frauen ging er lieber aus dem Wege. Jeden Spätnachmittag suchte er seine Stammkneipe auf, saß allein vor seinem Glas, und langweilte sich gar nicht, und wenn der erste der Freunde kam, hatte er schon vorweggenommen was ihm zustand an abendlichem Wein. Um neun Uhr, da war die Runde vollzählig geworden, erhob er sich, und ging, und die er lassen mußte, spotteten über den Geknechteten. Er trat in die Nacht hinaus - im Sommer war es noch gar nicht Nacht, der helle Tag lag auf den Straßen - und ließ daheim im Schlafzimmer die Vorhänge herunter, dem Licht zu wehren. Bevor er sich ins Bett legte, stellte er seinen Wecker, der ihm schon seit vielen Jahren treu und höflichgenau diente, auf vier Uhr, und meistens gelang es ihm auch bald einzuschlafen, aber nicht immer. Dann lauschte er dem Ticken der Uhr, das ihm hold vertraut war.
 Seine Tätigkeit an der Zeitung war verantwortungsvoll, und gut bezahlt, und er hatte seine Freude an ihr, und seinen Stolz, und es wäre unrecht zu sagen, daß er, nehmt alles nur in allem, unzufrieden gewesen wäre mit seinem Los, oder gar mit ihm gehadert hätte als ein Geschlagener. Ein volles und gutes Männerleben läßt sich auch auf diese Weise führen, und wenn ihm, bildlich gesprochen, die Weckeruhr den notwendigen täglichen Stachel schmerzhaft ins Fleisch drückte - bei anderen ist es ein anderes, und es ist alles nur stellvertretend. Er besaß ein kleines Bauernhaus an einem See, und war Angler, und ein Boot gehörte ihm auch. Im Wechsel zwischen seinen zwei Zimmern in der Stadt und dem bäuerlichen Anwesen gedachte er zu hausen von dem Tag an, und der war nun schon nahe, da er sich von seiner Arbeit zurückziehen konnte, um von dem Ruhegehalt zu leben, das ihm vertraglich zustand. Kein Wecker sollte ihm dann mehr den Schlaf stören, und mit gelassenem Blick betrachtete er jetzt manchmal die Uhr - so sieht ein Jäger auf den Rehbock, wenn er in der Dämmerung auf die Wiese heraustritt, aber es ist Schonzeit, und er darf das edle Wild nicht schießen, noch nicht!
 Und dann kam der Tag, der ihm die Freiheit schenkte. Es gab eine kleine Abschiedsfeier, man stand ein wenig herum, die Rotweingläser in der Hand, und als der Verlagsleiter eine kurze Rede hielt, und dem Scheidenden einen Strauß roter Rosen überreichte, dreißig an der Zahl, für jedes Arbeitsjahr eine, unterließ er es nicht zu sagen: keine Rose ohne Dornen! Und er hörte die Dornen klirren und scheppern, metallisch-grausamen Tons, Schicksalsgenossen sie alle, und tranken einander zu, fröhlichen Gemüts.
 Noch am gleichen Abend fuhr der Doktor Ehm zu seinem See hinaus. Bevor er zu Bett ging, stellte er wie immer den Wecker auf vier Uhr. Unruhig war sein Schlaf in dieser Nacht. Pünktlich um vier Uhr begann das gehorsame Gerät zu läuten. Er setzte sich auf den Bettrand und wartete bis die Uhr verstummte, es schien ihm lang zu dauern. Dann zog er sie wieder auf und stellte den Zeiger auf fünf Uhr. Er kleidete sich an, steckte die Uhr in die Tasche, ging zu seinem Boot hinab und ruderte auf den See hinaus. Es war morgenfrisch, leichte Nebel wehten, und über den Bergen zeigte sich ein zartes Rosa. Er ruderte bis zur Seemitte und zog die Ruder ein. Immer heller wurde es über den Bergen. Den Wecker hatte er vor sich auf die geteerten Planken gestellt, und er sah ihn an, und dachte manches. Dann begann der Wecker zu singen, den alten, oft gehörten Gesang. Schön war der Gesang! Er hob die Uhr auf, und sie rührte sich in seiner Hand, als sei sie lebendig. Und wie jener König von Thule, der sein Liebstes, es ging ihm nichts darüber, den goldenen Becher der Geliebten, in die Flut warf, so warf er jetzt den Wecker in den See. Er sah ihn stürzen, trinken, und sinken ... heißts in dem alten Lied. Und auch ihm gingen die Augen über, als er dem Wecker nachstarrte, der klingelnd zur Tiefe fuhr, und ein Leben nahm er mit hinab.
 Die Fische unten mögen arg erschrocken sein über das lärmende Metallding, die Forellen und Barben. Manche davon gedachte er noch an den Haken zu kriegen, der Doktor Ehm, mit der Schleppangel, oder vom Ufer aus.



 
 
 

Drucknachweise und Anmerkungen:

S. 283 Der Gesang des Weckers
E: Merian 6, Heft 9, 1953, Der Chiemgau, S. 18, u. d. T. Die Stunde der Freiheit.
D1: Stuttgarter Zeitung, 25. B. 1956.
D2: Die Zeit, Nr. 47,21. r z. 1957, S. 8, u. d. T. Ein anderer König von Thule.
D3: Christ und Welt, 2.6. 1961, u. d. T Ein anderer König von Thule.
Der Text wurde noch mehrfach veröffentlicht.
Druckvorlage:Typoskript im Nachlaß.

S. 286 Die sizilianischeVesper
E: Süddeutsche Zeitung, Nr. 45,27.6. 1950
Der Text wurde noch mehrfach veröffentlicht.
D: Anfang und Ende, S. 89.

S. 289 Der polnische Schmied
E: Hier schreibt München. Hg. Karl Ude, München: Langen/Müller 1961,
u. d. T Wie man mit Löwen umspringt.
D: Die Zeit, Nr. 16, 14.4. 1961.
Druckvorlage: Typoskript im Nachlaß, u. d. T. Der polnische Schmied.
Bode an Ingeborg Britting (14.5.1965):
»...auch scheint es mir beim ›polnischen Schmied‹ nicht einfach um den erzählenden Stoff zu gehen, sondern um das poetologische Problem einer Kalendergeschichte (auch mit ›Moral‹ im 20. Jahrhundert: Ironische Aufnahme einer alten Form«.
Die Geschichte wurde nicht in Anfang und Ende aufgenommen.

S. 292 Der Sekt der Geizigen
E: Süddeutsche Zeitung, Nr. 45, 10.11,1951.
D1: Westermanns Monatshefte 98, 1957, u. d. T. Das kostbare Erbe.
D2: Heiterkeit in Dur und Moll, Anthologie.
 Hg. Erich Kästner, München: Deutscher Bücherbund 1958. Der Text wurde noch mehrfach veröffentlicht.
D3: Anfang und Ende, S. 48 f. In Buchners Sammlung liest sich der Stoff wie folgt:
Augspurgische Ordinari Postzeitung, 1782, Nr. 95:
Der Herr P, ein überaus geiziger Mann in B., ward so schwerlich krank, daß er nicht umhin konnte, zu einem Arzt seine Zuflucht zu nehmen. Er schickte zu dem Doctor G., der ebenfalls einer der größten Geizhälse war, und dieser kurierte den andern Geizigen glücklich. Nun aber gerieth der gesund gewordene in eine große Verlegenheit, wie er es machen sollte, sich mit dem Doctor abzufinden, ohne von seinen Barschaffen zu scheiden. Der Gedanke, ihm Geld zu schenken, war ihm unausstehlich, daher verfiel er auf folgende sinnreiche Erfindung. Er füllte zwölf alte Champagner-Bouteillen mit Wasser, verpichte sie ganz auf die Weise, wie dieser Wein aus Frankreich kommt und machte unter diesem falschen Namen dem geizigen Doctor damit ein Geschenk für seine Cur. Er schloß dabei aus seinen eigenen Grundsätzen so: Die Sparsamkeit des Doktors wird es nicht zulassen, eine für sich davon zu verzehren, und andern Freunden etwas vorzusetzen ist in seinem Hause nie Herkommens gewesen. Sie werden also gewiß bis an des Doctors seliges End uneröfnet bleiben. Der Erfolg zeigte, daß er richtig geurteilt hatte. Der Doctor starb nach Verlauf von ein paar Jahren, und seine Erben fanden die zwölf Bouteillen Champagner noch unberührt in seinem Keller, mit einer Nachweisung, woher sie erfolgt wären, nahmen aber dabey eine Verwandlung wahr, die sie sehr befremdete, denn das Wasser war faul geworden.

S. 296 Entrückung in die Landschaft
E: Süddeutsche Zeitung Nr. 298 vom 24. 12.1953
u. d. Sammeltitel »Begegnungen 1953«.
Die Redaktion der Süddeutschen Zeitung hatte eine Reihe von Mitarbeitern ihres Feuilletons gebeten, den Lesern der Zeitung in der Weihnachtsnummer 1953 mitzuteilen, welches ihrer geistigen Erlebnisse des Jahres ihnen am nachhaltigsten im Bewußtsein geblieben sei. Unter verschiedenen Überschriften - »Verzauberung durch das Kunstwerk«, »Die Fragestellung«, »Ich kann mich nicht entscheiden«, Entrückung in die Landschaft« - antworteten Georg von der Vring, Hans Sahl, Hans Egon Holthusen, Heinz Piontek, Walter Foitzick, Friedrich Torberg, Hellnut von Cube, Eckart Peterich, Sigismund von Radecki, Barbara Klie und Georg Britting.
Druckvorlage: Zeitungsausgabe im Nachlaß.

S. 298 Unser Freund Flör
Typoskript aus dem Nachlaß, redaktionell bearbeitet von Georg Jung. Diese Einrichtung wird hier vorgelegt. Die Erzählung lag in zwei verschieden langen Fassungen dem Nachlaß-Konvolut von Eglseder bei; der längere Text wurde von Jung für den Druck eingerichtet.

S. 307 Nachwort [zu einer Mörike-Ausgabe]
E: Eduard Mörike. Eine Auswahl, 2 Bände. München: Carl Hanser, 1946, S. 254-255. Britting an Jung (31.5.1946):
meine mörikeausgabe ist druckfertig, zwei bände; der erste band: gedichte, 80% aller gedichte ungefähr, der zweite band enthält die idylle vom bodensee, das hutzelmännlein, die mozartnovelle. die anderen erzählungen nicht, und auch nicht den oraler nolten. mein nachwort ist wirklich nur ein nach»wort«, anderthalb seiten, ich bewundere essais, kann aber keine schreiben. mörike war mein lieblingsdichter von je.
D: Eduard Mörike. z. erweiterte Auflage. 3 Bände München: Carl Hanser, 1947.

S. 310 Der Kuß der Musen
E: Die Neue Zeitung, 16. 7.1951, u. d. T Gespräch über das Handwerk des
Dichtens.
(Aufgezeichnet von Carl Conrad und eingeleitet mit den Worten: Der Bayerische Rundfunk sandte vor einiger Zeit in seinem Nacht-Studio eine Hörfolge, in der Äußerungen toter und lebender Dichter über ihre Arbeitsweise zu einem fiktiven Gespräch zusammengestellt waren. Wir bringen im folgenden einen Auszug.) Neben Aussagen Brittings fanden sich solche von Belzner, Poe, Flaubert,Valery, Penzoldt, Nietzsche, E. Jünger, Rilke und Zuckmayer. Die Sendung wurde auszugsweise von der Neuen Zeitung abgedruckt.
 Im »Kuß der Musen«, schrieb Britting am 18. 5. 1951 an Wilhelm Lehmann, »sagte man nur, war ich auch vertreten, und Flaubert, und Penzoldt, und wer weiß noch! Ich bekam hundert Mark Honorar, hatte dafür ein Gedicht auf Band gesprochen, und mich interviewen lassen. Mühsam sucht sich das Eichhörnchen seine Nahrung.«

S. 311 DerVogel Bienenfresser
Ausstrahlung: Deutschlandfunk, 10.7.1957.
Druckvorlage: Manuskript nach Tonbandaufzeichnung.
An Hans Bender hatte Britting am 11. 2. 1961 im Zusammenhang mit dessen Anthologie Widerspiel geschrieben:
Ich würde Ihnen ja gerne etwas Poetologisches zu meiner Lyrik schrei
ben, wenn ich das könnte. Ich kanns und kanns nicht, ich würde mich
nur blamieren, und ein Schandfleck in Ihrer Anthologie sein: Ein Schelm,
der mehr gibt als er hat [...]

S. 315 Das alles ist Bayern
E: Die deutschen Lande. Band II: Bayern. Hg. Harald Busch, Frankfurt:
Umschau Verlag, 1952, Einführungstext S. 5-6.

S. 319 Für Fontane
Kurz vor Fontanes 140. Geburtstag am 30. Dezember 1959 legte die NymphenburgerVerlagshandlung einer kleinen Zahl deutscher, österreichischer und Schweizer Autoren zwei Fragen vor: »Was hat Fontane für Sie selbst bedeutet?« und »Was bedeutet Ihrer Meinung nach Fontane für die deutsche Gegenwart?« Die Antworten wurden in zwei Werbedrucksachen und in einem Sonderdruck anläßlich des 6o. Geburtstags des Verlegers 1976 veröffentlicht.
 Es äußerte sich neben Werner Bergengruen, Heimito von Doderer, Rudolf Hagelstange, Theodor Heuss, Erich Kästner, Walter Kiaulehn, Wilhelm Lehmann, Max Rychner, Emil Staiger und Werner Weber auch Britting. In seinem Begleitbrief schrieb er am 23. August 1959:
Lieber Herr Spangenberg, beiliegend meine Liebeserklärung an Fontane. Ich bin kein Essaiist, und muß mich damit begnügen, den Meister zu loben.
 

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