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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Ingeborg Schuldt-Britting
Aus: »Erzählungen,
Bilder, Skizzen«
..
Diese
Erzählung liegt, von Britting gesprochen, als CD 1 vor.
Manchem
mag es nicht viel ausmachen, jeden Tag um vier in der Frühe geweckt
zu werden, für die meisten aber ist es, je länger, desto mehr,
ein böses Leben, und der Ton der Weckeruhr ist ihnen wie Geklirr von
Sklavenketten. Eine große süddeutsche Tageszeitung wurde den
Beziehern gegen elf Uhr des Vormittags zugestellt, mit den neuesten Meldungen
aus aller Welt, und hatte der Ätna Feuer gespuckt, während sie
die Frühstückssemmeln schmausten - fürs Mittagessen gab
das schon einen Gesprächsstoff her. Das zu ermöglichen, mußten
die Leute, die die Zeitung machten, beim Morgengrauen aus den Federn, um
ihre Arbeitsplätze aufzusuchen. Da saßen sie dann, Stapel von
Geschriebenem vor sich, rieben sich den Schlaf aus den Augen, kratzten
sich das unrasierte Kinn, schieden das Wichtige vom Unwichtigen, erfanden
fette Schlagzeilen, und rauchten, und gähnten. Mählich wurden
sie dann munter, und wenn die erste druckfeuchte Nummer vor ihnen lag,
waren sie springlebendig geworden wie die Heuschrecken in der Sommerwiese.
Der Zeitung, es war erstaunlich,
merkte man es nicht an, unter welcher Bedrängnis sie hergestellt worden
war. Der Doktor Ehm, klein und spitzbärtig, Witwer und kinderlos,
war schon lang ein wichtiges Rad in dem nächtlichen Getriebe. Er war
einer, der gelernt hatte, sich ins Joch des »Früh ins Bett und
früh heraus« zu fügen. »Schaut die Hühner an«,
pflegte er zu sagen, »die machen es ebenso, und sind ihre Eier nicht
köstlich?« Er dachte dabei an seine Zeitung. Er dachte immer
an seine Zeitung. Einsiedlerisch lebte er, mit vielen Büchern, und
den Frauen ging er lieber aus dem Wege. Jeden Spätnachmittag suchte
er seine Stammkneipe auf, saß allein vor seinem Glas, und langweilte
sich gar nicht, und wenn der erste der Freunde kam, hatte er schon vorweggenommen
was ihm zustand an abendlichem Wein. Um neun Uhr, da war die Runde vollzählig
geworden, erhob er sich, und ging, und die er lassen mußte, spotteten
über den Geknechteten. Er trat in die Nacht hinaus - im Sommer war
es noch gar nicht Nacht, der helle Tag lag auf den Straßen - und
ließ daheim im Schlafzimmer die Vorhänge herunter, dem Licht
zu wehren. Bevor er sich ins Bett legte, stellte er seinen Wecker, der
ihm schon seit vielen Jahren treu und höflichgenau diente, auf vier
Uhr, und meistens gelang es ihm auch bald einzuschlafen, aber nicht immer.
Dann lauschte er dem Ticken der Uhr, das ihm hold vertraut war.
Seine Tätigkeit an
der Zeitung war verantwortungsvoll, und gut bezahlt, und er hatte seine
Freude an ihr, und seinen Stolz, und es wäre unrecht zu sagen, daß
er, nehmt alles nur in allem, unzufrieden gewesen wäre mit seinem
Los, oder gar mit ihm gehadert hätte als ein Geschlagener. Ein volles
und gutes Männerleben läßt sich auch auf diese Weise führen,
und wenn ihm, bildlich gesprochen, die Weckeruhr den notwendigen täglichen
Stachel schmerzhaft ins Fleisch drückte - bei anderen ist es ein anderes,
und es ist alles nur stellvertretend. Er besaß ein kleines Bauernhaus
an einem See, und war Angler, und ein Boot gehörte ihm auch. Im Wechsel
zwischen seinen zwei Zimmern in der Stadt und dem bäuerlichen Anwesen
gedachte er zu hausen von dem Tag an, und der war nun schon nahe, da er
sich von seiner Arbeit zurückziehen konnte, um von dem Ruhegehalt
zu leben, das ihm vertraglich zustand. Kein Wecker sollte ihm dann mehr
den Schlaf stören, und mit gelassenem Blick betrachtete er jetzt manchmal
die Uhr - so sieht ein Jäger auf den Rehbock, wenn er in der Dämmerung
auf die Wiese heraustritt, aber es ist Schonzeit, und er darf das edle
Wild nicht schießen, noch nicht!
Und dann kam der Tag,
der ihm die Freiheit schenkte. Es gab eine kleine Abschiedsfeier, man stand
ein wenig herum, die Rotweingläser in der Hand, und als der Verlagsleiter
eine kurze Rede hielt, und dem Scheidenden einen Strauß roter Rosen
überreichte, dreißig an der Zahl, für jedes Arbeitsjahr
eine, unterließ er es nicht zu sagen: keine Rose ohne Dornen! Und
er hörte die Dornen klirren und scheppern, metallisch-grausamen Tons,
Schicksalsgenossen sie alle, und tranken einander zu, fröhlichen Gemüts.
Noch am gleichen Abend
fuhr der Doktor Ehm zu seinem See hinaus. Bevor er zu Bett ging, stellte
er wie immer den Wecker auf vier Uhr. Unruhig war sein Schlaf in dieser
Nacht. Pünktlich um vier Uhr begann das gehorsame Gerät zu läuten.
Er setzte sich auf den Bettrand und wartete bis die Uhr verstummte, es
schien ihm lang zu dauern. Dann zog er sie wieder auf und stellte den Zeiger
auf fünf Uhr. Er kleidete sich an, steckte die Uhr in die Tasche,
ging zu seinem Boot hinab und ruderte auf den See hinaus. Es war morgenfrisch,
leichte Nebel wehten, und über den Bergen zeigte sich ein zartes Rosa.
Er ruderte bis zur Seemitte und zog die Ruder ein. Immer heller wurde es
über den Bergen. Den Wecker hatte er vor sich auf die geteerten Planken
gestellt, und er sah ihn an, und dachte manches. Dann begann der Wecker
zu singen, den alten, oft gehörten Gesang. Schön war der Gesang!
Er hob die Uhr auf, und sie rührte sich in seiner Hand, als sei sie
lebendig. Und wie jener König von Thule, der sein Liebstes, es ging
ihm nichts darüber, den goldenen Becher der Geliebten, in die Flut
warf, so warf er jetzt den Wecker in den See. Er sah ihn stürzen,
trinken, und sinken ... heißts in dem alten Lied. Und auch ihm gingen
die Augen über, als er dem Wecker nachstarrte, der klingelnd zur Tiefe
fuhr, und ein Leben nahm er mit hinab.
Die Fische unten mögen
arg erschrocken sein über das lärmende Metallding, die Forellen
und Barben. Manche davon gedachte er noch an den Haken zu kriegen, der
Doktor Ehm, mit der Schleppangel, oder vom Ufer aus.
Drucknachweise und Anmerkungen:
S. 283 Der Gesang des Weckers
E: Merian 6, Heft 9, 1953, Der Chiemgau, S. 18, u. d. T. Die Stunde
der Freiheit.
D1: Stuttgarter Zeitung, 25. B. 1956.
D2: Die Zeit, Nr. 47,21. r z. 1957,
S. 8, u. d. T. Ein anderer König von Thule.
D3: Christ und Welt, 2.6. 1961, u.
d. T Ein anderer König von Thule.
Der Text wurde noch mehrfach veröffentlicht.
Druckvorlage:Typoskript im Nachlaß.
S. 286 Die sizilianischeVesper
E: Süddeutsche Zeitung, Nr. 45,27.6. 1950
Der Text wurde noch mehrfach veröffentlicht.
D: Anfang und Ende, S. 89.
S. 289 Der polnische Schmied
E: Hier schreibt München. Hg. Karl Ude, München: Langen/Müller
1961,
u. d. T Wie man mit Löwen umspringt.
D: Die Zeit, Nr. 16, 14.4. 1961.
Druckvorlage: Typoskript im Nachlaß, u. d. T. Der polnische
Schmied.
Bode an Ingeborg Britting (14.5.1965):
»...auch scheint es mir beim ›polnischen Schmied‹ nicht einfach
um den erzählenden Stoff zu gehen, sondern um das poetologische Problem
einer Kalendergeschichte (auch mit ›Moral‹ im 20. Jahrhundert: Ironische
Aufnahme einer alten Form«.
Die Geschichte wurde nicht in Anfang und Ende aufgenommen.
S. 292 Der Sekt der Geizigen
E: Süddeutsche Zeitung, Nr. 45, 10.11,1951.
D1: Westermanns Monatshefte 98, 1957,
u. d. T. Das kostbare Erbe.
D2: Heiterkeit in Dur und Moll, Anthologie.
Hg. Erich Kästner, München: Deutscher Bücherbund
1958. Der Text wurde noch mehrfach veröffentlicht.
D3: Anfang und Ende, S. 48 f. In Buchners
Sammlung liest sich der Stoff wie folgt:
Augspurgische Ordinari Postzeitung, 1782, Nr. 95:
Der Herr P, ein überaus geiziger Mann in B., ward so schwerlich
krank, daß er nicht umhin konnte, zu einem Arzt seine Zuflucht zu
nehmen. Er schickte zu dem Doctor G., der ebenfalls einer der größten
Geizhälse war, und dieser kurierte den andern Geizigen glücklich.
Nun aber gerieth der gesund gewordene in eine große Verlegenheit,
wie er es machen sollte, sich mit dem Doctor abzufinden, ohne von seinen
Barschaffen zu scheiden. Der Gedanke, ihm Geld zu schenken, war ihm unausstehlich,
daher verfiel er auf folgende sinnreiche Erfindung. Er füllte zwölf
alte Champagner-Bouteillen mit Wasser, verpichte sie ganz auf die Weise,
wie dieser Wein aus Frankreich kommt und machte unter diesem falschen Namen
dem geizigen Doctor damit ein Geschenk für seine Cur. Er schloß
dabei aus seinen eigenen Grundsätzen so: Die Sparsamkeit des Doktors
wird es nicht zulassen, eine für sich davon zu verzehren, und andern
Freunden etwas vorzusetzen ist in seinem Hause nie Herkommens gewesen.
Sie werden also gewiß bis an des Doctors seliges End uneröfnet
bleiben. Der Erfolg zeigte, daß er richtig geurteilt hatte. Der Doctor
starb nach Verlauf von ein paar Jahren, und seine Erben fanden die zwölf
Bouteillen Champagner noch unberührt in seinem Keller, mit einer Nachweisung,
woher sie erfolgt wären, nahmen aber dabey eine Verwandlung wahr,
die sie sehr befremdete, denn das Wasser war faul geworden.
S. 296 Entrückung in die Landschaft
E: Süddeutsche Zeitung Nr. 298 vom 24. 12.1953
u. d. Sammeltitel »Begegnungen 1953«.
Die Redaktion der Süddeutschen Zeitung hatte eine Reihe von Mitarbeitern
ihres Feuilletons gebeten, den Lesern der Zeitung in der Weihnachtsnummer
1953 mitzuteilen, welches ihrer geistigen Erlebnisse des Jahres ihnen am
nachhaltigsten im Bewußtsein geblieben sei. Unter verschiedenen Überschriften
- »Verzauberung durch das Kunstwerk«, »Die
Fragestellung«, »Ich kann mich nicht entscheiden«,
Entrückung in die Landschaft« - antworteten Georg von der Vring,
Hans Sahl, Hans Egon Holthusen, Heinz Piontek, Walter Foitzick, Friedrich
Torberg, Hellnut von Cube, Eckart Peterich, Sigismund von Radecki, Barbara
Klie und Georg Britting.
Druckvorlage: Zeitungsausgabe im Nachlaß.
S. 298 Unser Freund Flör
Typoskript aus dem Nachlaß, redaktionell bearbeitet von Georg
Jung. Diese Einrichtung wird hier vorgelegt. Die Erzählung lag in
zwei verschieden langen Fassungen dem Nachlaß-Konvolut von Eglseder
bei; der längere Text wurde von Jung für den Druck eingerichtet.
S. 307 Nachwort [zu einer Mörike-Ausgabe]
E: Eduard Mörike. Eine Auswahl, 2 Bände. München: Carl
Hanser, 1946, S. 254-255. Britting an Jung (31.5.1946):
meine mörikeausgabe ist druckfertig, zwei bände; der erste
band: gedichte, 80% aller gedichte ungefähr, der zweite band enthält
die idylle vom bodensee, das hutzelmännlein, die mozartnovelle. die
anderen erzählungen nicht, und auch nicht den oraler nolten. mein
nachwort ist wirklich nur ein nach»wort«, anderthalb seiten,
ich bewundere essais, kann aber keine schreiben. mörike war mein lieblingsdichter
von je.
D: Eduard Mörike. z. erweiterte Auflage. 3 Bände München:
Carl Hanser, 1947.
S. 310 Der Kuß der Musen
E: Die Neue Zeitung, 16. 7.1951, u. d. T Gespräch über
das Handwerk des
Dichtens.
(Aufgezeichnet von Carl Conrad und eingeleitet mit den Worten: Der
Bayerische Rundfunk sandte vor einiger Zeit in seinem Nacht-Studio eine
Hörfolge, in der Äußerungen toter und lebender Dichter
über ihre Arbeitsweise zu einem fiktiven Gespräch zusammengestellt
waren. Wir bringen im folgenden einen Auszug.) Neben Aussagen Brittings
fanden sich solche von Belzner, Poe, Flaubert,Valery, Penzoldt, Nietzsche,
E. Jünger, Rilke und Zuckmayer. Die Sendung wurde auszugsweise von
der Neuen Zeitung abgedruckt.
Im »Kuß der Musen«, schrieb Britting am 18.
5. 1951 an Wilhelm Lehmann, »sagte man nur, war ich auch vertreten,
und Flaubert, und Penzoldt, und wer weiß noch! Ich bekam hundert
Mark Honorar, hatte dafür ein Gedicht auf Band gesprochen, und mich
interviewen lassen. Mühsam sucht sich das Eichhörnchen seine
Nahrung.«
S. 311 DerVogel Bienenfresser
Ausstrahlung: Deutschlandfunk, 10.7.1957.
Druckvorlage: Manuskript nach Tonbandaufzeichnung.
An Hans Bender hatte Britting am 11. 2. 1961 im Zusammenhang mit dessen
Anthologie Widerspiel geschrieben:
Ich würde Ihnen ja gerne etwas Poetologisches zu meiner Lyrik
schrei
ben, wenn ich das könnte. Ich kanns und kanns nicht, ich würde
mich
nur blamieren, und ein Schandfleck in Ihrer Anthologie sein: Ein Schelm,
der mehr gibt als er hat [...]
S. 315 Das alles ist Bayern
E: Die deutschen Lande. Band II: Bayern. Hg. Harald Busch, Frankfurt:
Umschau Verlag, 1952, Einführungstext S. 5-6.
S. 319 Für Fontane
Kurz vor Fontanes 140. Geburtstag am 30. Dezember 1959 legte die NymphenburgerVerlagshandlung
einer kleinen Zahl deutscher, österreichischer und Schweizer Autoren
zwei Fragen vor: »Was hat Fontane für Sie selbst bedeutet?«
und »Was bedeutet Ihrer Meinung nach Fontane für die deutsche
Gegenwart?« Die Antworten wurden in zwei Werbedrucksachen und in
einem Sonderdruck anläßlich des 6o. Geburtstags des Verlegers
1976 veröffentlicht.
Es äußerte sich neben Werner Bergengruen, Heimito
von Doderer, Rudolf Hagelstange, Theodor Heuss, Erich Kästner, Walter
Kiaulehn, Wilhelm Lehmann, Max Rychner, Emil Staiger und Werner Weber auch
Britting. In seinem Begleitbrief schrieb er am 23. August 1959:
Lieber Herr Spangenberg, beiliegend meine Liebeserklärung an Fontane.
Ich bin kein Essaiist, und muß mich damit begnügen, den Meister
zu loben.
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