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Georg Britting Sämtliche Werke - Prosa - kommentierte Ausgabe / List verlag München Herausgegeben Ingeborg Schuldt-Britting Band 5
Seite 323
Dies Ausgabe ist nicht mehr lieferbar! | Lieferbar ist die 23 bändige Taschenbuchausgabe Georg Britting / Sämtliche Werke Hsg Ingeborg Schuldt-Britting Band 16 Ein Fragment »Egseder« Verlag: Georg-Britting-Stiftung |
[Ein Fragment]
Der kleine,
schnellfüßige Mann mit den feurigen Augen war der uneheliche
Sohn einer Dienstmagd aus dem Bayerischen Wald. Auf einem Einödhof,
nahe der böhmischen Grenze, hatte er das Licht der Welt erblickt.
»Das Licht ist aber ziemlich dunkel dort«, sagte er, »schon
mehr eine Finsternis!« Maria Walburga Theresia Eglseder, die Mutter,
die bald nach der Geburt gestorben war, am Kindbettfieber, hatte den Namen
des Kindsvaters nicht zu nennen gewußt, oder sie hatte ihn nicht
nennen wollen. »Vielleicht war der ein Böhmak«, vermutete
Eglseder, »ein Mausefallenhändler oder ein wandernder Musikant.«
Das war ohne Wichtigkeit für ihn, er hatte keinen Ahnenstolz. Daß
seine Mutter gleich drei Vornamen gehabt habe! sagten wir. »So ists,
so stehts in meinen Papieren«, antwortete er, »aber sonst hatte
sie wenig, das heißt, sie hatte nichts. Sie war arm wie eine Kirchenmaus.
Ich muß mich mit einem Vornamen durchs Leben schlagen, so sparsam
war sie, in dieser Beziehung wenigstens, oder es war Bescheidenheit. Auf
den Namen Georg bin ich christkatholisch getauft. Es hat aber nicht viel
genützt«, sagte er, »das Wasser machte mich nur naß.«
Er lachte.
Die Frucht der Sünde,
mit des Drachentöters Namen, wurde in einem Waisenhaus aufgezogen,
fromm und fröstelnd, und lernte das Einmaleins und sein Bett selber
zu machen und das Rosenkranzbeten. Mit vierzehn Jahren wurde Eglseder in
die Schneiderlehre getan. »Man fragte mich nicht lange«, sagte
er, »was ich Lust hätte zu werden, wir waren alle armer Leute
Kinder, man verfuhr mit uns, wie man nur eben wollte, und zu einem Schmied,
weiß Gott, hätte ich auch nicht getaugt! Ein schmächtiges
Knäblein war ich, könnt ihr euch ausmalen, aber zum Zwirneinfädeln,
dazu reichte es, und ich war dann sogar gern ein Schneider, und kein schlechter.«
Als Eglseder die Lehrzeit
hinter sich gebracht hatte, schon das gewaltige, mit Holzkohlen geheizte
Bügeleisen mühelos schwang, arbeitete er noch drei Jahre als
Geselle, bei einem andern Meister als seinem ersten. Der zwar wollte ihn
auch behalten, und war, nehmt alles nur in allem, kein übler Mann,
still und in sich gekehrt, bienenfleißig, und schlug ihn nie – aber
er war ihm zuwider geworden mit seiner ewigen Schnupferei. Immer bröselte
ihm der Tabak traurig aus den Nasenlöchern, und seine blauen oder
roten riesigen Taschentücher waren stets feucht wie die Windeln in
der Kinderwiege, und des Niesens war bei ihm kein Ende – es klang wie Donnerschall!
Und ständig zog er seine rutschenden Hosen hoch: weder mit Hosenträgern
noch mit einem Gürtel waren sie befestigt – das ist aber bei den meisten
Schneidern so!
Genau noch sehe er, sagte
Eglseder, seines ersten Meisters Schnupftabaksgefäß vor sich.
Aus venezianischem Glas sei es, brüstete der stolze Besitzer sich.
Der Lehrling glaubte ihm, damals, heut meine er, es sei böhmischer
Herkunft gewesen. In ihm ringelten und schraubten sich vielfältige
Schlangen, purpurn und blau und gelb spiralig empor, und auf dem Holzstöpsel,
der die Öffnung verschloß, wehte wie ein Flämmchen ein
rosa Flederwisch.
Von Venedig, sagte Eglseder,
habe er schon eine Vorstellung gehabt, mit seinen Marmorpalästen,
und dem Meere, und den Gondeln darauf, von einer Abbildung in seinem Schullesebuch,
schwarz auf weiß und nüchtern war es da, aber er träumte
es sich, wie es in Wirklichkeit sein mußte, aus Gold und Feuer, wie
die Schlangen im Tabakglas. Haifische sogar, träumte er sich hinzu,
die in der salzigen Wassertiefe jagten, und die Wogen röteten mit
dem Blut der wehrlosen Sanftmut.
Den Tabak, einen Schmalzler,
fett und braun, mußte Eglseder bei einem Schuster in der Nachbarschaft
holen, der ihn im Nebenerwerb herstellte: viele Schuster tun das. Hausgemachter
Schmalzer also war es, mit Zwetschgenbrühe gesalbter, mit Eigengeschmack,
nach einem alten Rezept – und besser als der, den die Fabriken liefern
für jedermanns Nase. Der traurige Meister war ein Kenner!
An dem neuen Arbeitsplatz
nun verdiente der eben es gewordene Geselle schon ganz ordentlich, war
ein freier Mann, speiste im Wirtshaus nach Laune und ging abends auf die
Tanzböden zu den kichernden Mädchen: schön schmetterte die
Blasmusik! Die Paare drehten sich im Walzertakt, oder zu einer Mazurka,
oder einem Ländler, im gehörigen Abstand von einander blieb man
und machte ernsthafte Gesichter wie bei einer feierlichen Handlung, und
sittsam legte der Tänzer ein weißes Tuch auf die Schulter seiner
Tänzerin, die Glut seiner führenden Hand sie nicht fühlen
zu lassen, auch um die Bluse zu schonen. Schöner noch waren die Sonntagsausflüge
mit den Dienstmädchen und vornehmen Näherinnen, und der Heimweg
in der Dämmerung, wenn der Mond heraufstieg über den Wäldern
und die Grillen sangen im Gras und die Unterröcke der Frauenzimmer
rauschten – sie trugen deren viele damals, einen über den andern,
wie Rosenblätter.
Dann litt es den Jüngling
nicht mehr in der Heimat, und er begab sich, wie es das Herkommen verlangte,
auf die Wanderschaft, auf die Walz. Bis hinauf nach Schleswig Holstein,
meerumschlungen, war er geeilt, fremde Welt zu erfahren und fremde Schneiderkunst,
und hinab durch Gebirg und Tal bis Verona und Venedig. So sah er die Stadt
mit Augen, von der er oft geträumt, die Markuskirche und die Lagunen.
Ein bißchen Italienisch war ihm davon geblieben, ein paar Redewendungen
und Flüche zumal.
Schauderhafte Flüche
kannte er und abscheuliche Redewendungen, die er im südlichen Land
vernommen: es ist
nicht wiederzugeben, wie ausschweifend
– unflätig sie waren – ein erwachsener Mann konnte erröten, wenn
er sie hörte! Sie bezogen sich fast immer, wenn ein Streit entbrannt
war am Wirtshaustisch, Tisch gegen Tisch, und die Schimpfworte nur so herumprasselten,
als werfe der erzürnte Vesuv feurige Steine aus, auf die Mütter,
die Großmütter, die Tanten der Zankenden, auf deren entfernteste
Ahnfrauen, auf den Lebenswandel der längst Verstorbenen und eheliche
Treue und voreheliche Bettvergnügen, merkwürdiger- und unbegreiflicherweise.
In Verona, in einer Vorstadtschenke
hatte der Fremdling aus dem Norden es erlebt, und nicht zum erstenmale
und nicht zum letztenmale, wie die Männer wüst und schamlos gegeneinander
tobten, vom roten Wein erhitzt, wie da manche Hand schon zur Messertasche
griff, aber ohne den blanken Stahl zu rücken, wohlweislich!
Er, Eglseder, mußte
seiner Mutter gedenken, wehmütig und demütig, sie verteidigend
in seinem sie verehrenden Herzen, und in den Zank habe er sich nicht gemischt
– er hätte sich auch nicht verständlich machen können mit
seinem geringen Sprachschatz.
Übrigens, sprach
er, habe er sich einmal auch den Einödhof angesehen, indem er geboren
worden war. Von einer baumbestandenen Anhöhe aus habe er zu ihm hinuntergeschaut,
im warmen Nadelgestreu sitzend, den Rücken an einer Tanne, und unschlüssig
sei er gewesen, ob er sein Vaterhaus, sein Mutterhaus vielmehr, betreten
solle. Hart und rauh war die Rinde der Tanne, und es habe ihm wehgetan
im Kreuz, an ihr zu lehnen. Mancherlei sei ihm dabei durch den Kopf gegangen.
Der Wald roch süß und vertraut, wie ihm immer bekannt. Eine
geraume Weile sei so verstrichen, und lustig und traurig zugleich sei ihm
zumute gewesen in dieser langen Stunde. Der schindelgedeckte Hof lag finster
in der Nachmittagssonne, still und verlassen, nur einmal drang das Brüllen
einer Kuh zu ihm
herauf, die angekettet im Stalle
stehen mochte, das Kälbchen neben sich. Als er, der Waisenknabe, das
Auge wendete von dem Gehöft, und er nach oben blickte, sei er eines
Eichhörnchens gewahr geworden, das über ihm im Geäst saß,
zum Greifen nahe. Das Tier sah ihn unverwandt an, mit schlauen, kleinen
Perlenaugen und rührte sich nicht. Es hatte ein braunrötliches
Fell, ins Schwärzliche sich verfärbend, und einen buschigen Schwanz,
der war aber fast ganz schwarz. Es konnte ihn lange schon beobachtet haben.
Er sah es atmen; da sprach er es an und fragte es etwas. Aber es antwortete
nicht, nur den Schwanz bewegte es leicht hin und her – es sah verneinend
aus. Du hast recht! habe er gesagt, und sei aufgestanden und gegangen.
Im Gardasee, berichtete
er uns, hatte er gebadet, im Valpolicelli die riesigen, blauen Weintrauben
bestaunt, und diebisch davon geschmaust, hatte in Rom den heiligen Vater
betrachtet, den alten Leo XIII., klein war der und spindeldürr, aber
im Golde schimmernd vom hohen Balkone, und er hatte sich von ihm segnen
lassen. Das konnte auf keinen Fall schaden«, sagte er – seine Waisenhauserziehung
machte sich geltend!
In Venedig war Eglseder
mit einem Gondoliere befreundet gewesen, trotz der Sprachschwierigkeiten,
die sie miteinander hatten. Gaetano hieß der, Gaetano Coco, konnte
nicht lesen und nicht schreiben, und hatte ers je gelernt gehabt, so hatte
ers wieder vergessen. Aber gewitzigt war der wie ein Advokat im Feilschen,
wenn es um den Fahrpreis ging, war ihm keiner der Genossen über, obwohl
die auch tüchtig waren. Der Gaetano war sehr eifersüchtig auf
den deutschen Freund, ohne Grund, leider, seine Frau war tugendhaft! Sie
hieß Lucia und hatte zwei Kinder, einen Buben und ein Mädchen.
Der Bub war schwarzlockig wie ein Pudel, das Mädchen hellhaarig, mit
blaugrünen Augen, als sei es aus Hannover. Das ereignet sich manchmal.
»Die Bambini«, sagte Eglseder, »du guter Gott waren die
verzogen! « Die Lucia ging täglich in die Frühmesse, ein
selbstgehäkeltes Spitzentuch über den Schultern, und ein Tüchlein
auf dem Kopf, gesenkten Blicks, wie eine Heilige.
Haifische hatte Eglseder
nie zu Gesicht bekommen, die schwammen, wenn es überhaupt vor Venedig
welche gab, tief drunten im Meer. Aber Tintenfische hatte er essen müssen.
Auf dem Markt hatte er, neben Krebsen und stachligen See-Igeln und sonst
sonderbaren Wassergeschöpfen die grau-schleimigen Tiere gesehen. Sie
waren nicht billig, hatten ekelhafte Fangarme und waren schwarz gefleckt,
als habe man ein Tintenfaß über sie ausgegossen. »Aber
sie schmeckten gut«, sagte er, »wie unsre Schmalznudeln, so
ungefähr.«
Es konnte Eglseder nicht
verborgen bleiben, daß der Gaetano seine Frau betrog, mit einer Wäscherin,
und die Lucia ahnte es wohl auch, aber ohne ein Wort darüber zu verlieren
zu ihrem Gemahl. Vielleicht war sie deswegen eine so eifrige Kirchgängerin,
um auf der Betbank zu erfahren, daß dem Sünder seine Sünde
vergeben werden möge, und daß er sich bessere! Er tat es aber
nicht, vorläufig. Und seine Kinder küßte und liebkoste
sie desto inbrünstiger.
Bevor sich Eglseder wieder
aufmachte, nach Norden, über den Brennerpaß, hatte er von seinem
letzten Geld eine Perlenkette auf der Rialtobrücke eingehandelt. Er
hatte der Lucia, die sich dazu bücken mußte – er war klein und
sie war groß – die Kette um den stolzen Hals geschlungen. Ihren Brustansatz
hatte er dabei sehen müssen, das hatte ihn nicht wenig verwirrt. Gaetano,
der Gondoliere, war zugegen gewesen, als er die Lucia so schmückte
mit zitternden Fingern und hatte es, sein Bärtchen zwirbelnd, mit
einem gnädigen Lächeln geduldet – es galt ja dem Abschied, da
mochte es sein!
In Italien sei er nie
wieder gewesen, erzählte Eglseder. Er habe seine Wander- und Bettlerschaft
im deutschen Vater-
land weitergeführt, ein
paar Jahre noch, wie es manchem Walzbruder geschah, der das ungebundene
Leben nicht mehr lassen mochte und dem es im nassen Straßengraben
zu sterben gelüstete, statt im weißen Spitalbett.
Solches und vieles andere
wußte Eglseder zu berichten von der vergangenen Zeit, da noch die
Kunden über die Landstraßen trabten, im Sommer im Heu nächtigten,
Hemden und Socken im Wiesenbach wuschen, und es Himbeeren in Fülle
gab, an jedem Waldrand, groß wie die Haselnüsse, und süßer
als Honig! Wenn dann auch die Brombeeren reif wurden, ahnte man das Ende
der schönen Tage. Aber noch war es nicht so weit. Noch grüßte
man bei den Herren Meistern das Handwerk und war froh, wenn die einem nicht
Arbeit zumuteten, sondern einen Zehrpfennig schenkten. Den verwandelte
man in einen scharfen Schnaps und bettelte sich bei den Bauern ein Stück
Brot dazu, und bekam zu dem Brot, manchmal, wenn man der Bäuerin listig
liebliche Augen machte, ein Stück Geselchtes dazu. Das gelang aber
nur ganz ausnahmsweise.
Im Winter freilich, klagte
er, mußte man bei dem schäbigsten Flickschneider in Stellung
gehen. Lohn gab es nicht, nur eine schlechte Kost und einen Strohsack unterm
Dachbalken für die Nacht, und die Mäuse wisperten das Schlaflied.
Über den Feldern draußen lag der Schnee, weiß wie die
Hauben der Schwestern im Waisenhaus. An die mußte er oft denken.
»Eine hatte einen Schnurrbart«, sagte er, »wie ein Husar.
Aber sie war der mildesten eine. Die Sanftgesichtigen«, sagte er,
»hielten nicht immer, was ihr Gesicht versprach.«
Beim ersten Tauwetter
kündigte man und machte sich wieder auf die Reise. Ade, krummer Flickschneider!
Und der schaute mürrisch drein und mürrischer seine kropfige
Frau. Am Morgen waren die Wasserlachen noch gefroren, und trat man darauf,
knisterte es zart, es erinnerte an den Mäusegesang. Aber gegen Mittag
waren sie geschmolzen und glänzten veilchenblau, und die Weiden hatten
silberne Kätzchen. Die Nächte waren noch schlimm, es regnete
viel, aber man war jung, die Tage wurden jeden Tag länger, ein Hagel
fiel dazwischen, die Sonne kam wieder und wärmte - so war es damals.
Und solche Morgenröten habe er nicht wieder gesehen. Einmal bei Parma
sei es gewesen, als quetsche ein Engel am Himmel eine Blutorange aus, so
rann es auf die Stadt hernieder. Man hätte sich einbilden können,
es zu riechen! Er müsse eben früher aufstehen, sagten wir, die
Morgenröten hätten sich nicht viel verändert. Er sei ein
rechter Nachtvogel geworden, gestand er. Aber die Abendröten wenigstens,
sagten wir, stünden zu seiner Verfügung, und rot sei rot! »Aber
nicht das Rot von Parma«, sagte er und seufzte.
Eglseder schneiderte sich
seine Anzüge selber, auch noch als er Schriftleiter geworden war an
der Arbeiterzeitung. Man sah ihn nie anders als schwarz gekleidet, immer
passend angezogen zu sein für eine Beerdigung oder eine Ratsversammlung,
darüber zu berichten. Der Anzug, der einzige, den er besaß,
nur teilweise immer erneuert, einmal die Joppe, einmal die Hose, war von
vollendetem Geschmack. »Er hat so was«, sagten wir. Das Lob
schmeckte ihm.
Oft sagte er, er habe
zu seiner Zeit auch Gehröcke zu machen gehabt und Havelocks und seidengefütterte
Fräcke aus englischem Tuch. Dann tadelte er uns und zupfte uns an
der Schulter: »Wie sitzt denn das? Das ist Pfuscherarbeit!«
Womit er durchaus recht habe, sagten wir, aber wir hätten nicht das
Geld für einen erstklassigen Schneider, wie er es sei, er möge
es gnädig verzeihen! Unter buschigen Brauen lachten seine Augen uns
an. Die Schmetterlingsschleife, die er immer trug, gab ihm etwas jugendlich
Verwegenes.
Ein flachkrempiger, runder
Künstlerhut saß auf seinem Kopf; man hätte ihn für
einen Kapellmeister halten können. Ein solcher wär er gern geworden.
Musik hatte er im Blute, vielleicht von seinem böhmischen Vater her,
meinte er selber, der doch wohl kein Mausefallenhändler gewesen sei.
»Ein Drehorgelspieler!« schrien wir. Er wehrte ab. »Ein
Harfenist! « Ein bißchen Ahnenstolz hatte er also doch! Er
hatte ein hochempfindliches Ohr, und keine Oper versäumte er, und
kein Konzert, vorn an der Brüstung stehend, mit glühenden Blicken
jede Bewegung des Stabmeisters verfolgend, ein schmerzverzerrtes Gesicht
zeigend, wenn eine Stelle unrein kam, und empört stampfte er dann
wie ein zorniges Roß mit dem Fuß auf und sagte: »Die
patzen heut wieder!« Was wir waren, wir nahmen es nicht so genau,
wie auch mit den Anzügen nicht, Egidi ausgenommen, was die Anzüge
betrifft, wenigstens.
Im Kaffeehaus hatte ich
Eglseder kennengelernt. Da saß er vorm Marmortisch, betrachtete sorgenvoll
seine Hand, wendete sie hin und her, und forderte uns auf ihm zu sagen,
wie sie uns heut gefiele. Er glaubte an ihrem Aussehen ablesen zu können,
wie es mit seiner Gesundheit stehe. Es stand nicht gut mit ihr, davon war
er überzeugt. Aber nie ging er zu einem Arzt. Sein Magen, sagte er,
sei seine Achillesferse. So gebildet konnte er daherreden.. Er bestellte
drei Eier im Glas und zog aus der Westentasche ein Fläschchen, das
verdünnte Salzsäure enthielt: die allein helfe ihm! Er träufelte
genau abgezählte Tropfen davon in den Handteller und leckte sie auf
wie ein Kätzchen die süße Milch. Gleich war ihm wohler.
Eglseder ist dann weit
über siebzig Jahre alt geworden, behend und geschmeidig bis zuletzt,
überdauerte zwei Weltkriege, nur zahnlos war er geworden, aber er
trug kein künstliches Gebiß, und wenn er nicht die Treppe eines
Lichtspielhauses hinabgestürzt wäre, schriebe er heute noch an
seinen Berichten. Der Sturz war an der unzuverlässigen Hand nicht
abzulesen gewesen. Er liebte Damengesellschaft und war zu jeglichem weiblichen
Wesen, niederen oder gehobenen Standes, und jeden Alters von sich gleichbleibender
Ritterlichkeit. Nur den gnädigen Frauen die Hand zu küssen, lehnte
er ab. Das sei slawisch und sklavisch, sagte er, und er sei ein freier
Mann! »Im Rahmen des Möglichen«! sagte Egidi, der Volkswirt.
Die sogenannte große
Liebe, von der in den Büchern so viel geredet wird, sagte mir Eglseder
einmal, die sei ihm nie begegnet. »Da wird ja wohl auch viel geflunkert«,
sagte er, »was meinen Sie?« Es klang ein wenig verzagt. »Auf
der Bühne ist das ja ganz schön«, sagte er, »so Tristan
und Isolde! « Es ging gerade, es war ein Sonntagnachmittag, ein Reiterunteroffizier
vorbei, mit goldenen Borten am Kragen des grünen Waffenrocks, den
Schleppsäbel auf dem Pflaster scheppern lassend. Das war zwar verboten,
aber es machte sich vornehm. In seinen Arm gehängt war ein Fräulein
mit strohblondem Haar. Der Sommerhut, aufgeputzt mit künstlichen Blumen,
nickte und wippte auf ihrem Haupte, und der Mohn wippte, und die Gänseblümchen
schwankten bei jedem Schritt mit. Das Fräulein sah den klirrenden
Reiter verzehrend an. Der zwirbelte seinen Schnurrbart. »Gänserich
und Gans«, sagte Eglseder, »haben auch ihre Lust aneinander.«
Er streckte sich. »Ein paarmal hats mich auch recht geschüttelt«,
sagte er. Es war, als ob seine Augenbrauen sich sträubten. »Bei
der Lucia«, sagte er, »wars arg. Wenn die lachte und ihre goldenen
Ohrringe schaukelten, tat mir das Herz weh. Ich bin auch nur ein Gänserich.
Aber es ging vorüber, alles geht vorüber.«
Weil er von seiner Zeitung
Freikarten hatte, ließ er sich selten einen Film entgehen. Damen
nahm er dann meist mit. Auch bei seinem letzten Kinobesuch war er nicht
allein gewesen, und als er, nach Schluß der Vorstellung, die Treppe
hinabstieg, und um seine Begleiterin herumtänzelte und scharwenzelte,
und sie beflissen zu führen bemüht war, verfehlte er eine Stufe,
und fiel. Ohne das Bewußtsein wieder zu erlangen, starb er zwei Tage
später im Krankenhaus. Es war eine Kellnerin des Kaffeehauses, in
dem er seine drei Eier im Glas zu essen pflegte, die ihn stürzen sah,
ihr unvergeßlich, und oft von ihr geschildert, und ausgeschmückt
mit allen Einzelheiten. So ein Gesprächsstoff ist selten und verdient
es, ausgemünzt zu werden. Sie münzte ihn aus.
Egidi war es, der Eglseder
an unsern Tisch gebracht hatte. Egidi war ein angehender Volkswirt und
gedachte später eine Stellung an einer Zeitung zu finden. Dazu kam
es aber nicht, weil ihn vorher, im ersten Weltkrieg, in Flandern, bei Ypern
die Kugel eines Gurkhas ins nasse Rübenfeld warf, und er stand nicht
mehr auf. Ich war dabei und mußte es mit ansehen. Es kann auch ein
Sikh gewesen sein, weiße Turbane trugen sie ja alle.
Egidi war der einzige
Sohn eines Metzgermeisters, und sein Mütterchen, wie er von ihr nur
sprach, betrieb nach dem Hinscheiden ihres Mannes, unterstützt von
einem hinkenden Gesellen, das gutgehend«, blutige Geschäft.
Er war, Egidi, man maß es sagen, ein rechter und ausgemachter Geck,
aber auch ein blitzgescheiter Mensch, immer angezogen wie ein Lord. Selbst
Eglseder wußte an seinen Anzügen nichts auszusetzen. Eglseder
sah verlegen zur Seite, wenn der Lord sich über die Hand einer Dame
neigte, sie zu küssen. Großartig machte er das – wir waren die
reinen Tölpel gegen ihn. Die Gläser seines randlosen Zwikkers
blitzten mit den lackierten Kappen seiner Schuhe um die Wette. Seine seidenen
Socken waren zwetschgenblau und grasgrün und in allen Regenbogenfarben.
Später, als der Turbanträger ihn niederschoß, hatte er
die seidenen Socken mit dicken, grauwollenen vertauscht gehabt, die ihm
seine unauffällige Braut geschickt hatte, und den Zwicker mit einer
mächtigen, schwarzen Hornbrille. »Eulenauge!« sagte ich
zu ihm. Mit einem Zwicker in die Schlacht zu gehen, war nicht erlaubt.
Egidi war Angehöriger
einer schlagenden Verbindung, und wie er uns sagte, hervorragend, ja fast
schon eine Berühmtheit, die ausgeliehen wurde, als Unparteiischer
bei Säbelzweikämpfen. Manchmal spielte er uns vor, wie er das
machte, mit scharfem Wort und Halt! und Säbel dazwischen! mit Adlerblick,
ein unbestechlicher Richter! So war er der Stolz seiner Verbindung und
hatte selber einen fingerbreiten, tiefen Schmiß auf der linken Backe,
einen Durchzieher. Als Volkswirt hatte er natürlich auch Karl Marx
gelesen, über den wir ja wohl kein zureichendes Urteil hätten,
sagte er herablassend. Lassalle, der Sozialist, sei bekanntlich im Zweikampf
gefallen, einer Gräfin wegen. Man dürfe sich diese Männer
nicht wie Kleinbürger vorstellen, sagte er, und der Durchzieher auf
seiner Backe glühte hochmütig.
Seit kurzem war Egidi
verlobt mit der unauffälligen Tochter eines Notars. Mit vergißmeinnichtblauen
Augen sah sie ins Leben und sah ihren Verlobten an. Sie hatte vortreffliche
Zähne und große Füße. Ihre Lippen waren blaß
und dünn, und immer war es, als habe sie eben geweint. Beim allabendlichen
Bummel auf dem Altpfarrplatz grüßte er, und grüßten
wir mit ihm, hinauf zu dem mit Blumenkästen gesäumten Balkon,
auf dem seine Braut saß und die Brauteltern unter dem großen,
roten, weißgetüpfelten Sonnenschirm – wie ein ungeheurer Fliegenpilz
leuchtete der herab. Dort oben erwartete ihn ein gedeckter Tisch, ein Abendessen
auf weißem Linnen, und ein erlaubter Willkommenskuß, bei nickenden
Blumenhäuptern, im Familienkreis. Der Wein stand schon im Kühler
bereit. Meistens ein Mosel, sagte Egidi. Die Blumen waren Geranien. Egidi
mußte sich dann immer bald von uns trennen.
Wir Ungebundenen blieben
beisammen. »Fliegenpilze sind giftig«, sagte Eglseder. »Und
ein wenig«, sagte er, »habe sie einen Buckel, die bleiche Braut.
Buckel«, sagte er, »ist zuviel gesagt, eine hohe Schulter.«
Wir gingen zu einem Biergarten, an grün gestrichenen Tischen, unter
grünen Bäumen, zu Abend zu essen; einen Emmenthaler oder eine
Knöcherlsulz und einen Rettich. Der Kies knirschte, wenn man den Stuhl
rückte. Die dicken Kellnerinnen schwitzten, die Steinkrüge schleppend,
hoch vor die Brust gestemmt.
In dem Wirtsgarten war
oft auch Romuald Gschrey, der Tenor, der Großherzoglich Mecklenburgische
Kammersänger, ein Lehrerssohn aus der Umgebung, aus Kareth. So weit
hatte der es gebracht! Bei ihm waren fast immer der Vorstand der städtischen
Sparkasse mit kahlem Kopf und seine Frau, die den Sänger mit halboffenem
Mund anstaunte. Nicht aus Bewunderung allein brachte sie den Mund nicht
zu, auch sonst im Leben vermochte sie die Lippen nicht aufeinander zu legen,
so war ihr Antlitz gebaut. Gschrey erzählte von häßlichen
Prinzessinnen und schönbeinigen Tänzerinnen, und seine Stimme
war so tragend, daß man ihn auch an den Nebentischen verstand, was
ihn nicht zu stören schien, im Gegenteil. Blondlockig war er, und
in seinem Schlips steckte eine Nadel, auf der eine kleine, goldene Krone
glänzte. Die Nadel hatte er von dem Großherzog geschenkt bekommen,
das war stadtbekannt. Aus der Brusttasche seiner hellen Sommerjacke lugte
ein rosiges Tuch. In das schneuzte er sich nicht, dazu holte er ein anderes,
ein weißes Tuch aus der Hosentasche. Er verließe jetzt Schwerin,
sprach er, er habe gekündigt, sprach er, und sah sich um, ob ihn auch
jeder höre ringsum, und ginge nach Darmstadt. Heute habe es sich entschieden.
In Darmstadt gäbe es auch einen Großherzog, sprach er. Offenen
Mundes vernahm es seine Anbeterin. Ihr Gemahl lächelte und glättete
die Haare auf seinem Kopf, die nicht da waren.
Die Spatzen holten sich
Wursthäute und Käserinden, die unter den Tischen lagen. Die getigerte
Wirtskatze jagte die Vögel, daß sie schimpfend aufflogen. Aber
bald waren sie wieder da. Die Donau rauschte herauf, die Krugdeckel klapperten,
der Kammersänger schneuzte sich; so war mancher Sommerabend.
Und Egidi, der Metzgerssohn,
der schon Tierblut hatte rinnen sehen und Menschenblut, saß derweil
unter dem Fliegenpilzschirm und trank Moselwein. Er hatte sich nie darüber
ausgelassen, wie es zu der Verlobung mit dem unauffälligen Fräulein
gekommen war. Geld hatte er selber. Eine Ehe wurde nicht daraus, der Turbanträger
verhinderte es, der zu dieser Zeit ein englisches Gewehr zu bedienen geschult
wurde. Der indische Mann wohl nährte sich sittsam und fleischlos.
Die Kühe sind heilig in seinem Lande, man schlachtet sie dort nicht,
so müssen sie am Ende Hungers sterben. Der Unterschied ist nicht gar
groß.
Egidis Mütterchen,
ich kannte es, war eine vierschrötige, breithüftige Frau mit
gewaltigem Busen und rotem Gesicht, und ihrer Zunge wegen, die nicht weniger
scharf war als ihre Messer, gefürchtet rundherum in der ganzen Nachbarschaft.
Egidi hing mit kindlich-frommer Verehrung an ihr und ließ nichts
auf sie kommen; ihm schien sie trotz der schwarzen Stirnfransen, die bis
zu ihren Augenbrauen herabreichten, ein goldhaariger Engel zu sein, dem
nur die Flügel fehlten, zart und liebreich, und zu ihm war sie es
auch. Die Leute sagten, so sei sie manchmal auch zu dem Gesellen, in stiller
Nacht – aber was reden die Leute nicht alles? Im Laden jedenfalls ließ
sie sich von ihrer Neigung nichts anmerken. Ich war Zeuge, wie grob sie
mit dem Gesellen umsprang, weil er, so schrie sie, seinen Kopf nicht zusammenhalten
könne; er hatte einen Ochsenschwanz in einer Wirtshausküche abzuliefern
vergessen. Er verteidigte sich nicht, ließ nur traurig die dicke
Unterlippe hängen, daß man seine schiefstehenden, gelben Zähne
sah. Und daran soll sie, dachte ich, nächtlicherweile ihr Ergötzen
haben? Es war verwirrend sich auszumalen, wie er über die knarrende
Treppe zu ihrer Schlafstube hinkte – oder vielleicht wars umgekehrt, und
sie kam zu ihm, auf nackten Füßen.
Eines Tages, ich hatte
Egidi seit einer Woche nicht mehr getroffen, stand im »Volksboten«,
der Zeitung, an der
Eglseder beschäftigt war,
eine schwarzumränderte Anzeige: der Studierende der Volkswirtschaft,
Florian Egidi, gebe bekannt, daß sein geliebtes Mütterchen,
wortwörtlich so, und rührend-peinlich schwarz auf weiß
war es zu lesen, nach kurzem Krankenlager, versehen mit den Tröstungen
ihres Glaubens, sanft im Herrn entschlafen sei. Und, fuhr die Todesanzeige
fort, er, Florian Egidi, triebe die Metzgerei weiter, und bitte die verehrte
Kundschaft, auf ihn das Vertrauen zu übertragen, das sie der edlen
Verstorbenen stets entgegengebracht hätte. Er werde es nicht enttäuschen.
Zur Beerdigung war ich
nicht gegangen, aber ein paar Tage später machte ich mich auf zu dem
Laden des Freundes. Der lag jenseits der Donau, es war ein blauer Sommertag,
weiße Wolken segelten am Himmel dahin, oder auch, sie waren weiße
Lämmer, die auf der blauen Himmelswiese unschuldig weideten. An der
Stirnwand des Metzgerhauses kletterten Rosen bis zum ersten Stock empor,
und Rosenblätter lagen vor der Ladentür. Rosen also, dachte ich,
rote Rosen waren vor dem Fenster der Schlafstube, aus der Meisterin und
Geselle ein Liebesnest sich gemacht hatten. Wie mochte es da geduftet haben
in schwüler Sommernacht!
Wahrhaftig, hinter der
Fleischbank stand er, Egidi, angetan mit einer weißen, blutbefleckten
Schürze, und sein Zwicker blitzte. Er zog gerade ein Messer am Wetzstein
ab und schnitt dann ein Stück Ochsenfleisch von einer Rippe, warf
es in die Waage, warf einen Knochen dazu: »Ein Pfund und dreiviertel
ist es geworden«, sagte er zu der Kundin, »darf es so viel
sein?« Es durfte so viel sein. Er wickelte das Fleisch in ein schwefelfarbenes,
grobes Papier, die Frau zahlte, ging, die Ladenglocke schrillte hinter
ihr drein, nur langsam verzitterte der Ton.
Ich war allein mit dem
Volkswirt. Der Boden war mit Steinplatten belegt. In der Ecke stand ein
Kühlschrank mit
grünen Fliegengittern.
Beile verschiedener Größe, riesige und zwergische, lagen bereit,
und Ketten und Stricke, und viele Messer. Eines hatte eine Klinge dünn
wie ein Efeublatt und nadelspitz zulaufend, so war es zusammengeschliffen.
An eisernen Haken hing hinter Egidi das Fleisch, ein rotes Ochsenviertel,
Speckseiten mit rußiger Schwarte, hingen Blut- und Leberwürste,
in einer Holzschüssel waren Schweinegrieben aufgehäuft, die wie
aus Silber schimmerten. Auch ein halbes Kalb war da, dessen Haut bläulichviolett
und unangenehm glänzte, der Kopf war noch dran, mit glasig glotzenden
Augen.
Ganz still war es im Laden.
Es roch nach Blut und Tierhäuten, jägerisch. Das Schweigen dehnte
sich aus. Möglich, wir dachten beide jetzt an seine vergißmeinnichtäugige
Braut. »Mein Beileid«, sagte ich, und gab ihm die Hand. »Danke
dir!« sagte er und sagte: »Schön, daß du gekommen
bist!« Ein Lächeln ging über sein Gesicht. Er nahm ein
Beil und zerteilte auf dem Hackstock mit sicherem Schlag einen großen
Markknochen, daß die gelben Splitter spritzten. Mit einem Strohbesen
dann kehrte er den Hackstock sauber. So amtete er, es war eine Lust ihm
zuzuschauen. Und das Kalb glotzte unvernünftig.
Ein paar schwarze Fliegen
saßen an der weißgekachelten Wand. Egidi hatte ein hübsches,
bräunliches Gesicht – er hätte ein Spanier sein können.
Wie Schönheitspflästerchen hatte er zwei schwarze, kreisrunde
Muttermale, am Kinn und unter dem linken Auge. Ich mußte an einen
Stierkämpfer denken.
Am Abend darauf, an unserm
Stammtisch im Kaffeehaus, blätterte ich im »Berliner Tageblatt«.
Ich war noch allein. Das Blatt berichtete von einem Studenten in einer
kleinen bayerischen Stadt, der das durch den Tod seiner Mutter verwaiste
Metzgergeschäft übernommen habe, Beil und Messer und Wetzstein
handhabe, und die Kunden bediene, ohne jede bürgerliche Hemmung, der
Sohn einer neuen, vorurteilsfreien Zeit, in der Klassenunterschiede ihre
Bedeutung verloren hätten. Ich hatte die Zeitung noch in der Hand,
da kam Eglseder, eiligen Schrittes wie immer, und setzte sich zu mir, und
bestellte drei Eier im Glas. Ich zeigte ihm den Bericht, und er war nicht
erstaunt. »Der ist von mir«, sagte er, »ich habe ihn
an noch ein paar Blätter geschickt.« Er besah seine Hand und
war zufrieden mit ihr. Als dann zum erstenmal wieder Egidi erschien, sagte
der: »Das gibt heut noch ein Gewitter!« und wischte sich mit
dem Taschentuch die Stirn. Um den linken Arm trug er einen schwarzen Trauerflor.
Die Sätze über sich las er, zog die Augenbrauen hoch und sagte
zu Eglseder: »Das ist von dir! Da zahlst du jetzt drei doppelte Steinhäger!«
Er duzte Eglseder, ich sagte Sie zu ihm. Die Kellnerin brachte den Schnaps,
in Gläsern, die überschwappten, und wir tranken ihn auf das Wohl
des ehrbaren Metzgerhandwerks.
Es donnerte schon, und
Gäste, die eintraten, hatten nasse Flecken auf dem Anzug. Es regnete
draußen, man hörte es jetzt auch. Als wir aufbrachen, hatte
sich das Gewitter schon wieder verzogen, es war kühler geworden. Sterne
waren zu sehen, und über dem Rathausturm stand zwischen den Wolken
groß und gelb der Mond. Er glotzt wie ein Kalb, dachte ich, sagte
es aber nicht. Da fuhr noch einmal ein verspäteter Blitz über
die Stadt hin, von grünlicher Farbe wie das Licht der Leuchtkäfer,
daß die Hausdächer moosig erglänzten.
Egidi hatte sich an der
Brücke von uns verabschiedet, und ich begleitete Eglseder noch auf
seinem Heimweg. Die Gassen waren menschenleer, und unsere Schritte hallten
auf dem Pflaster, Eglseder, schweigsam zuerst, begann plötzlich von
seinen Waisenhausjahren zu erzählen.
Im Schlafsaal neben im
sei der Xaver gelegen, sagte er. Und er beschrieb den Schlafsaal, wie da
Eisenbett neben Eisenbett war, schnurgerade ausgerichtet, wie in einer
preußischen Kaserne; ich habe zwar nie eine gesehen, bekannte er,
aber so müssen die preußischen Kasernen sein, nach Schilderungen,
die ich las. Zwischen Bett und Bett war der immer genau gleiche Zwischenraum,
darauf wurde streng geachtet, obwohl es bei uns keine Unteroffiziere gab,
nur Schwestern in weißen Hauben. Die hatten es aber auch in sich,
es genügte uns. Sieben Betten waren in unserm Saal, und der war noch
einer der kleineren! Die Betten hatten weißblau-gewürfelte Überzüge,
auch die Kopfkissen, und standen schwarz und spinnenbeinig da. »Den
Weberknecht«, fragte er, »diese Spinnenart kennen Sie? Wie
Weberknechte sahen die Betten aus, grauslich, und zum Fürchten. Wir
schliefen auf ihnen.«
Die Zöglinge hatten
die Köpfe glatt geschoren, wie Zuchthäusler – aber so waren sie
am besten rein zu halten. Und reinlich wars im Waisenhaus, reinlich und
kalt, das Gefühl von erkältender Reinlichkeit hatten wir Buben
auch im heißesten Sommer. So recht ins Herz hinein fror es uns oft
trotz der Julisonne. Die Hitze blieb draußen vor dem Haus.
Der Xaver war erst vor
kurzem gekommen und wollte sich gar nicht eingewöhnen bei uns. Er
war ein wenig wehleidig, wie es Bauernbuben gerne sind. Stadtkinder sind
härter, das hat sich immer gezeigt. Ich hatte kein Heimweh, sagte
Eglseder, ich war ja nie daheim. Der Xaver aber hatte Heimweh, und wie,
wie! Nach dem schwarzgeschindelten Zwiebelturm seiner Kirche verlangte
es ihn, nach den Kühen auf der Dorfwiese, er glaube, sagte Eglseder,
nach den rauchenden Kuhfladen sogar, nach den Heckenrosen und den Brennesseln
am Grabenrand hatte er Sehnsucht, obwohl die so feurig stachen, daß
man weiße Blasen an der Hand bekam und im Gesicht, wenn man beim
Spielen hineinfiel oder hineingeworfen wurde. Dem kleinen Xaver geschah
das oft, er mußte es leiden.
Einmal erwachte Eglseder,
mitten in der Nacht, ohne Grund, oder wenigstens wußte er keinen.
Mondschein war, und da sah er den Xaver vor dem Bett knien, barfüßig,
im Hemd, und sein geschorener Kopf glänzte. Jede Laus darauf wäre
zu erkennen gewesen, wenn er welche gehabt hätte, aber Ungeziefer
wurde nicht geduldet in der sauberen Anstalt. Wenn je eine Laus sich zeigte
auf einem Kopf, wurde er mit Petroleum gewaschen, das mögen die Läuse
nicht. Insoweit war gesorgt für uns, das muß man zugeben. Der
Xaver kniete, als bete er, aber wer betet schon mitten in der Nacht. Nur
Heilige tun es und Büßer. Der Xaver betete auch nicht, ganz
im Gegenteil, sozusagen! Er hatte sich einen Strick um den Hals geschlungen,
und der Strick war am andern Ende an seinem Bettgestell befestigt; der
Xaver wollte sich erhängen!
Wo er den Strick nur her
hat? verwunderte sich Eglseder, das war sein erster Gedanke, und wie der
Blitz dann fuhr er aus den Polstern, und kniete sich neben dem Xaver hin,
auf dem kalten Steinboden, so waren sie nebeneinander, die zwei Hemdenmätze.
Eglseder, selber klein, aber größer als der Xaver und zwei Jahre
älter, riß ihm den Strick von dem dünnen Kinderhals, und
der Xaver ließ es sich gefallen und sagte kein einziges Wort und
sah ihn nur mit traurigen Augen an, aber schon ganz erbärmlich.
Was er da vor habe sei
eine schwere Sünde, eine Todsünde, eine himmelschreiende Sünde,
sagte Eglseder, und der Xaver käme in die glühbrennrote Hölle,
wenn er sich selber umbringe, in siedendes Pech käme er, das die Teufel
kochten und das gräßlicher brenne als die Brennesseln, und mit
ein paar Brandblasen an den Händen und im Gesicht sei es da nicht
abgetan. Denn sie waren zwei fromme Buben und glaubten daran, damals.
Eglseder schüttelte
den Xaver, aber tüchtig, und gab ihm einen groben Puff vor die Brust
und befahl dem Sünder, gleich wieder ins Bett zu gehen, aber schnell,
aber sofort, marsch, marsch! Er befahl es mit Flüsterstimme.
Eglseder mußte flüstern,
daß die anderen Schläfer nicht auch wach wurden, das durfte
nicht sein. Aber die schnarchten wie die Ratten, so sagt man, aber weiß
denn einer, ob die Ratten überhaupt schnarchen? Sie tun es nicht,
sagte Eglseder. Der Xaver zitterte am ganzen Leib und bekreuzigte sich
ein paarmal hintereinander, aber seine Zähne klapperten nicht, wie
sich das gehört hätte, und verkroch sich gehorsam wieder ins
Bett. Eglseder nahm sich noch die Zeit, die Finger in den Weihwasserkessel
zu tauchen, der neben der Tür an der Wand hing, und dem Xaver mit
dem heiligen Wasser die Stirn zu betupfen, und sich selber auch: Dann knöpfte
er den Strick vom Bettgestell, was eine Weile dauerte, so fest war der
Knoten gebunden, und wahrscheinlich auch bebten seine Finger vor Aufregung.
Den Strick nahm er mit unter die Decke.
Der Xaver schluchzte noch
heftig, eine Zeitlang, dann wurde er leiser, und dann ganz still – er hatte
sich in den Schlaf geweint, nach der Kinder Weise. Der Mond sah zum Fenster
herein, er hatte alles mit angeschaut, aber niemand hatte was gehört,
Gott sei Preis und Dank! Und der Mond ist ja verschwiegen, man weiß
es!
Eglseder hatte eine unruhige
Nacht. Einmal war eine Schlange in seinem Bett und wickelte sich ihm um
die Beine und um die Hüften und um die Brust und dann um den Hals,
daß er keine Luft mehr bekam: das Schlangenvieh wollte ihn erdrosseln,
doch noch eine Beute zu haben. Eglseder griff tapfer nach der Schlange
und erwachte, da hatte er einen Strick in der Hand. Den Strick schob er
unter sein Kopfkissen, da konnte er nicht von ihm gebissen werden. Am Morgen
dann bündelte er ihn, versenkte ihn in die Hosentasche, darin er kaum
Platz hatte, und schlich sich in den Hof hinunter, zur Mülltonne.
Zu oberst in der Tonne waren Heringsbüchsen und goldschuppige Heringsköpfe,
vom Freitagabendessen her noch. Die Büchsen schepperten laut, die
Heringsköpfe schwiegen still, als er sie aufhob, die Schlange unter
ihnen zu begraben. Es habe ihm leid getan um den schönen Strick, sagte
der Totengräber, aber ein Mann der Tonnenabfuhr werde ihn schon herausgeklaubt
haben aus dem Unflat, ihn nützlich zu verwenden.
So erzählte es mir
Eglseder, so ungefähr, als ich ihn nachhaus begleitete durch die mondhellen
Gassen. »Übrigens«, sprach er, »bilde ich mir nicht
ein, dem Xaver das Leben gerettet zu haben. Die Schlinge um den Hals lautlos
zu sterben, hätte er das vermocht? Lärmend um sich geschlagen
hätte der Hirtenknabe, ganz sicherlich, und die erwachenden Buben
hätten ihn befreit.«
»Der Xaver lebt
heut noch, er ist Maurer geworden, ist wie üblich harmlos und in Ehren
verheiratet, hat drei Kinder und einen deutschen Schäferhund aus einem
berühmten Zwinger. Der Hund war nicht billig, er muß kostbar
und vorsichtig gespeist werden, das vornehme Tier. Und auch heut scheint
der Mond.«
Wir blickten hinauf zu
ihm, der zwischen fliehendem Gewölk herab glänzte, stumm, wie
ein Apfel aus Gold.
Wir waren vor Eglseders
Haustür angelangt, eine Gaslaterne brannte daneben, und ein bißchen
Wind, vom Gewitter übriggeblieben, brachte die Gläser der Laterne
zum Zirpen. »Servus!« sagte der kleine Mann, und ich sagte:
»Servus!« Und er ging ins Haus. Kurz darauf sah ich die Fenster
im zweiten Stock sich erhellen. Er war daheim, in seinem einzigen Zimmer,
ich kannte es, wo eine hölzerne Bettlade seiner harrte, und darin
ein einsames weißbezogenes Bett.
Nur kurz, einen Sommer lang,
betrieben Portugiesen, zwei Brüder aus Lissabon, einen Handel mit
Südweinen in der Altstadt in einer finsteren und engen Gasse, die
sich zum »Roten Herzfleck« senkt, einem mit Kopfsteinen gepflasterten,
fast kreisrunden Platz. Am Schaufenster ihres Ladens war mit Ölfarbe
aufgemalt, bunt und prächtig, das Wappen Portugals, und hoch über
der Ladentür hing an einem Messingnagel eine riesige Weintraube aus
Glas. Die Beeren waren durch einen goldenen Draht miteinander verbunden,
ein meisterliches, handwerkliches Stück, fremd und kostbar, das sie
aus ihrer Heimat mitgebracht hatten. Am Tag nur funkelte die gläserne
Frucht über der Tür, des Nachts wurde sie im Laden verwahrt,
vor Dieben sie zu schützen oder Betrunkenen, die es gelüsten
konnte, mit Steinen nach ihr zu werfen.
Die Portugiesen waren
magere, hakennasige Männer mit hellrötlichen Ziegenbärten
am Kinn. Sie hatten auch Ziegenaugen, leicht vorgewölbt, starren Blicks.
Weite, ungebügelte Hosen flatterten um ihre Beine, sie trugen absatzlose,
weiße Leinenschuhe, grell gemusterte Hemden aus Baumwolle und nie
einen Hut. Auch ihre dünnen, in die Stirn gekämmten Haare waren
hell rötlich, von der Farbe verblühender Heckenrosen. Sie sahen
einander zum Verwechseln ähnlich, Zwillinge waren sie. Und immer hatten
sie es eilig, rannten nebeneinander her, im Geschwindschritt, im Trab,
der oft in einen Galopp überzugehen sich anschickte, es war beängstigend
und lächerlich. Und immer, ja immer, schleppten sie eine großmächtige,
mit Stroh umflochtene Flasche mit sich, eine Zwanzig-Liter Flasche, oder
eine noch größere, schleppten sie irgendwohin, auf die Bahn,
auf die Post, zu einem Wirt. Ich kann mir sie nicht in die Erinnerung zurückrufen,
ohne auch die Korbflasche zu sehen, schwer schwankend zwischen ihnen. Ihr
Geschäft ginge gut, sagte Eglseder, ihr Wein sei nicht geschmiert
und sein Geld wert.
Im Laden brachten sie
ihren Wein auch zum Ausschank, ihn im Stehen zu trinken oder auf Fässern
sitzend – Stühle und Tische gab es in dem Laden nicht. Auch am Tag
war es dämmrig dort. Mit Eglseder und Egidi ging ich ein paarmal hin.
Ein Mädchen bediente die Gäste, keine Portugiesin. Sie sei aus
einem Dorf aus der Umgebung, hörte ich sie einem dicken Mann am Nebenfaß
sagen, sie sah aber gar nicht ländlich aus. Ein wenig stieß
sie mit der Zunge an beim Sprechen. Egidi schenkte dem Mädchen keine
Beachtung, mir gefiel sie. Er war seit kurzem verlobt, deswegen wohl sein
zurückhaltendes Benehmen, erklärte ich es mir.
Waren die Portugiesen
wie jagende, schnappende Windhunde, war sie wie eine träge Hauskatze
– so ziehen die Gegensätze sich an, dachte ich. Sie trug hochschäftige,
geknöpfte Stiefel, das war eben Brauch geworden, die Knöpfe waren
grau wie Perlen, wie gefrorene Tränen, kam es mir, ich weiß
nicht, warum, in den Sinn: daran war wohl der Wein schuld! Es roch aufregend
in dem Laden, nach dem Holz der Fässer, nach Orangen, nach Zwiebeln,
nach Knoblauch und scharfem Gewürz.
Einmal wagte ich mich
allein in den Laden, ein Glas roten Weines zu trinken. Hinter einer Wand
von Flaschen meinte ich es brutzeln zu hören, es zischte und schnalzte,
als briete man ein Stück Fleisch in der Pfanne. Dann war es gewiß
Hammelfleisch! Die Brüder werden es sein, dachte ich, die sich ein
lissabonisches Mahl bereiten, und dachte, sie verwenden sicher duftendes
Olivenöl statt der langweiligen Butter! Das Mädchen lächelte
unergründlich, als ich zahlte – es machte mich verlegen, und ich gab
ihr mehr Trinkgeld, als meine Zeche es erforderte, sie schien es nicht
zu bemerken. Ihre Brust bewegte sich bei jedem Atemzug, ihre Lippen waren
blaß, aber ihr rotes Kleid glühte. Wie ein Schuß knallte
es hinter der Flaschenwand.
Die Portugiesen sprachen
ein gebrochenes, kehliges Deutsch, aber sie sprachen nicht viel. Man wußte
wenig von ihnen, sie waren ungesellig, hatten keine Freunde, suchten auch
keine, lebten nur ihrem Geschäft, so schien es, von früh bis
spät auf den Beinen. Sie hausten in einem kleinen Raum hinter der
Flaschenwand, empfingen keine Besuche, saßen bei ihren Geschäftsbüchern
und Rechnungen, hatten für nichts sonst Zeit und Lust – in ihre Brust
konnte ja niemand schauen! Gesang doch hörte man manchmal des Nachts
aus dem Laden dringen, wo sie die gläserne Traube bewachten.
An jeder Kirche, an der
sie vorbeikamen, und es gibt deren viele in der kleinen Stadt, setzten
sie die Flasche zu Boden, schlugen fromm und ausdrucksvoll das Kreuz über
Brust und Stirn, und weiter ging es in hitziger Hast. Niemand wunderte
sich noch über dieses Benehmen, das man zuerst als übertrieben
empfand und es komödiantisch schalt – man hatte sich daran gewöhnt,
und selbst die Gassenbuben lachten nicht mehr über sie und ahmten
sie nach – die Portugiesen würdigten sie nicht einmal eines Blickes!
Aber eines Nachmittags,
erzählte mir Egidi, sei er über den Domplatz gegangen und habe
es erlebt, wie die Händler auf einen sie verhöhnenden Buben losgestürzt
seien, ihn hochgehoben hätten, als wollten sie ihn auf dem Pflaster
zerschmettern, in einem furchtbaren Wutausbruch, und der kleine Missetäter
habe entsetzt aufgeschrien, als sei sein letztes Stündlein gekommen.
Da wieder nun hätten die Portugiesen gelacht, und das zitternde Kind
sanft auf die Beine gestellt, hätten ihm ein Geldstück in die
Hand gedrückt, und es sei laut heulend davon gesaust, wie dem Tode
gerade noch einmal entronnen, das Geld in der Faust, das ließ das
Kind nicht fallen! Er selber, sagte Egidi, habe es allen Ernstes für
möglich gehalten, mitten am hellen Tag, vor den Domtüren, Zeuge
eines Mordes sein zu müssen.
Traurig war es, die Portugiesen
bei Regenwetter zu betrachten, die rosenroten Haare in die Stirn geklatscht,
in durchnäßten Leinenschuhen – Lederschuhe zu tragen verschmähten
sie, auch wenn es in Strömen herniedergoß über ihnen wölbte
sich wohl immer der Himmel Portugals, in strahlender Bläue!
Und dann verließen
sie unsere Stadt, Spätherbst war es geworden, gingen, ohne Aufhebens
davon zu machen,
hatten in der Stille alles Geschäftliche
abgewickelt, genau und ordentlich, so rühmte man es, fort waren sie,
wie vom Winde verweht, vom selben vielleicht, der sie hergeweht hatte.
In ihrem Vaterlande hatte sich Schreckliches ereignet, Umsturz und Gewalttat,
alle Zeitungen wußten davon zu melden, und die veränderten Umstände
hatten sie heimgetrieben: das waren aber nur Vermutungen! Man zerbrach
sich auch nicht lange den Kopf über das Wie und Was und Warum ihres
Verschwindens, aus den Augen, aus dem Sinn! und bald waren sie vergessen.
Von mir nicht!
Das Wappen Portugals an
ihrem Schaufenster wurde entfernt, die Traube aus Glas funkelte nicht mehr
über der Tür, noch dunkler war die Gasse jetzt. Ein Schuster
hatte seine Werkstatt in dem Laden, man sah ihn klopfen mit dem Hammer
und nähen mit der Ahle, und seinen Gesellen und den Lehrling. Ein
Farbfleck fehlte fortan auf dem Bilde der Stadt. Gonzales hießen
sie.
Auch das schwarzhaarige
Mädchen sah ich nie wieder, nur manchmal noch erschien es mir im Traum.
Einmal hatte sie die Glastraube in der Hand, hielt sie sich an den Mund
und naschte daran, Beere nach Beere mit den blassen Lippen pflückend.
Die gläsernen Kugeln knirschten unter ihrem Biß, und ich wunderte
mich, daß sie Glas zu essen vermochte. Dann, und da träumte
ich zum letztenmal von ihr, stand Egidi lachend an ihrer Seite, hatte den
Arm um ihre Hüfte, und ich wußte plötzlich, daß er
es gewesen war, der hinter der Flaschenwand ein Stück Hammelfleisch
gebraten hatte, uneingedenk seiner Braut!
Der Waller oder Wels ist ein
Fisch, der nur mit einem Walfisch zu vergleichen ist – so riesig kann er
sein, wenn er seine volle Größe erreicht hat. Der Donauwaller
wird bis zu einem Meter lang und darüber und wiegt bis zu zwei Zentnern,
und sein festes, grätenloses Fleisch schmeckt dann immer noch gut.
Größere noch gibt es in den östlichen Seen und Flüssen,
dort jagt man ihn um Mitternacht bei Fackellicht mit dem Wurfspeer.
So wild und verwegen geht
es bei uns nicht zu – man fängt ihn mit der Angel und dem Netz am
hellen Tag. Wenn es geschah, daß so ein Ungeheuer erbeutet wurde,
stand es in der Zeitung zu lesen, unter der Überschrift »Petri
Heil!«, und der Name des glücklichen Anglers war rühmlich
genannt, und daß es beim Fischhändler Nunner zu besichtigen
sei. Der mächtige Glasbehälter im Schaufenster des Geschäfts,
in dem sonst Aale sich ringelten und wie die Barben und Hechte unwissend
und gelangweilt den Tod erwarteten, war dann für den Waller allein
da, der kaum Platz darin hatte.
Zusammen mit Eglseder
besah ich einen erst gestern gefangenen Herrn der Donautiefe. Das schwarzglänzende,
breitschädlige, specknackige Ungetüm sah aus kleinen Augen still
vor sich hin, und seine bleichen, fleischernen Bartfäden spielten
in der grünen Flut. Vom Boden des Glaskastens stieg, Perlen werfend,
aus einem metallenen Rohrstück ein steter Strahl frisch zuströmenden
Wassers.
»So ein Vieh«,
sagte Eglseder, »soll sich selbst über Gänse und Enten
hermachen, und eines soll bei Maria-Berg sogar einen Schwan beim Hals gekriegt
haben und verschwand damit.« Auf der Donau gibt es sonst keine Schwäne.
Der von Maria-Berg war von einem nahen Schloßweiher herüber
geflogen gekommen, und mit Wallern hatte er nicht gerechnet, der nur Karpfen
kannte und sanfte Goldfische. Ich sah den Strudel vor mir, der sich aufbäumte,
als der schwarze Räuber den weißen Vogel, der vergeblich mit
den Fittichen um sich schlug, mit sich in sein Reich nahm.
Bei Maria-Berg steht eine
schön gekuppelte Wallfahrtskirche, die hat fünf Türme mit
Zwiebelhauben. Die große Zwiebelhaube inmitten der vier kleinen ist
wie eine Gluckhenne anzuschauen, umgeben von vier Küken. Beim Gebetläuten
tönen dort fünf erzene Stimmen – die weithin schallende des Mittelturms
und die schmächtigen der kleinen Türme. Vielleicht läuteten
gerade alle fünf Glocken, als das Entsetzliche geschah.
Was mag der Kerl da vor
uns schon alles gefressen haben in seinem Leben«, sagte Eglseder,
»und nun kommt er selbst auf die Speisenkarte! Ob er auch den Schwan
von Maria-Berg auf dem Gewissen hat? Wahrscheinlich nicht, das heißt,
wer weiß das?« Ich klopfte an die Glaswand, der Waller war
schwerhörig oder tat wenigstens so und kümmerte sich nicht um
mein Geklopf, wie er sich auch um die fünf Glockenstimmen nicht gekümmert
haben mochte, und hing seinen Gedanken nach.
»Ja, wie sieht er
denn aus?« jubelte Eglseder plötzlich,
jetzt habe ichs: wie der Martin
von der Schwedenkugel!«
Nun sah ich die Ähnlichkeit
auch. Der Martin, ein riesen
haftes Mannsbild, war ein Schenkkellner
und warf die
schwersten Bierfässer spielend
auf den Schragen, daß es wie
Donner krachte. Er hatte die
kleinen Augen des Wallers
und einen hängenden Schnauzbart,
der aber nicht fleischern
war, aus Haaren wie jeder Menschenbart.
Auch der Speck
nacken war da. »Im ›Volksboten‹
dürfen Sie aber nichts
schreiben von der Ähnlichkeit!«
sagte ich. »Ei, wie werd
ich denn«, verwahrte sich
Eglseder und lachte, »der Martin
schlüg mich ja mit dem
Bierschlegel tot.« »Oder er wär
noch stolz darauf und freute
sich. Das ist ihm zuzutrauen.
Eitel ist er!« Eglseder
sagte: »Fast tut er mir ein wenig leid,
obwohl ers nicht verdient, der
Räuberkerl, in seinem engen
Gefängnis. Wie mag ihm
zumute sein?«
Als hab ers vernommen,
blickte der Fisch her zu uns und rührte ein wenig die Schwanzflosse,
mehr an Bewegung war ihm nicht verstattet. Ganz taub war er also doch nicht.
Übermorgen, am Freitag, gab es ihn in den Wirtshäusern, als Fastenspeise,
gewiß auch in der »Schwedenkugel«. Der Waller ist kein
billiges Essen. »Wollen wir uns ein Schnitzel von ihm leisten?«
fragte Eglseder und sah das Opfer unbarmherzig an, »ich lade Sie
ein dazu. Ihr Bier müssen Sie selber zahlen.« Ich sagte: »Einverstanden!«
und sagte: »Vielen Dank auch, wenn Sie schon so protzig sind.«
Eglseder verdiente gut. Eifriger stiegen die weißen Wasserperlen.
An einem trüben Nachmittag
besuchte ich Eglseder in seiner Schriftleitung. Das war ein nüchterner
Raum, weiß gekalkt, ein großer Tisch war da und zwei oder drei
Stühle und ein halb leeres Büchergestell. Hoch an der Zimmerdecke
war ein Spinnennetz. Ich sah hinauf zu ihm. »Diese Putzfrauen«,
zürnte Eglseder, »müssen blind sein!« Er saß
vor dem Tisch, der mit Stößen von alten Zeitungen bedeckt war,
und schrieb mit seiner großen, kindhaften Schrift an einem Bericht.
Als es klopfte, rief er Herein! Herein! und es kam eine Frau, auf dem Arm
ein Bündel, in Papier eingeschlagen. Das Papier war durch Stecknadeln
zusammengehalten, »Ah! die Wäsche! Pünktlich wie immer«,
sagte Eglseder zufrieden, nahm der Frau das Papierbündel ab und verschwand
damit hinter dem Büchergestell. Wie es ihrem Mann gehe, fragte Eglseder
aus seinem Versteck heraus. Es gehe ihm gut, sagte die Wäscherin.
Ich hörte ein Rascheln und Knistern hinter dem Büchergestell,
ein behagliches Seufzen, dann erschien Eglseder wieder, gab der Frau das
Bündel zurück, zählte ihr Geld in die Hand und sagte: »Grüß
mir auch den Xaver! « Das werde sie tun, sagte die Frau und ging.
Der Xaver, ihr Mann, sei ein Maurer, und ein alter Freund von ihm, sagte
Eglseder, noch vom Waisenhaus her. Dann fiel es ihm ein: »Ich habe
Ihnen die Geschichte schon erzählt. Sie weiß nichts davon. «
»Das habe ich so
eingeführt«,fuhr er fort, »jeden Samstag bringt sie mir
die frische Wäsche, ich ziehe sie an, und die getragene nimmt sie
gleich wieder mit. Sie ist tüchtig, und flickt mir die Wäsche
auch. « - »Ja«, sagte er, nicht ohne Stolz, »ein
alter Junggeselle weiß sich eben zu helfen!« Ich unterdrückte
meine Verwunderung über dieses Verfahren. Er war ein einfacher Mann
geblieben. Blühweiß strahlte das neue Hemd, und im Spinnennetz
rührte sich die Spinne. Es hatte sich eine Fliege zu ihr gewagt, zu
ihrem Verderben. »Es wird eine Kreuzspinne sein«, meinte ich,
in meiner Verlegenheit, um nur irgend etwas zu sagen. »Wahrscheinlich!
« stimmte mir Eglseder zu.
Es regnete, als ich ihn
verließ, in langen, dünnen Fäden fiel das Wasser vom Himmel.
Eine schwarze Lache hatte sich vor der Haustüre gebildet: die alte,
enge Gasse war schlecht gepflastert. Zwei Rotschimmel im baumelnden Messing-Geschirr
zogen einen mit Teerfässern beladenen Wagen. Der gutmütige Blick
der Gäule bekam etwas schräg Tückisches, wie sie durch das
weißblonde Stirnhaar herlugten, das ihnen über die Augen nieder
hing. Ich drückte mich an die Hauswand vor dem Gefährt, aber
es trafen mich doch ein paar Spritzer von der Wasserlache ins Gesicht.
Wie Tränen wischte ich sie ab. Den finsteren, gotischen Häusern
war der Regen gerade recht, der grau war wie sie, und so war es schon in
ihrer Jugendzeit gewesen. Die Kreuzspinne, dachte ich, war vielleicht keine,
sondern ein Weberknecht. Von Fliegen nähren sich beide. Die eisernen
Weberknechte in Eglseders Waisenhaus kamen mir in den Sinn.
Aus einem Obstladen drang
ein Geruch von Äpfeln. Es lagen auch Birnen bei den Äpfeln, aber
der Apfelgeruch war stärker. Um die Domtürme flogen Dohlen, boshaft
kreischend, und zankten sich, auch der Regen konnte sie nicht besänftigen.
Beter nahten sich, alte Frauen zumeist, und Kinder, zur Vesperandacht,
unter schwarzen Schirmen. Ungeschützt ging ich nachhaus.
Oft machten wir drei uns,
bei schönem Wetter, auf den Weg, vor die Stadt hinaus, durch die Maulbeerbaum
Allee nach Ziegetsberg und weiter. Dann hatte der kleine Eglseder es nicht
leicht. Seine Schulbildung war gering, nur das Leben hatte ihn gebildet,
und was er an Kenntnissen besaß, verdankte er dem fleißigen
Lesen von Zeitungen – ein Buch sah man nur selten in seiner Hand. Aber
er war von gutem Verstande, witzig und geistesgegenwärtig und wußte
sich verblüffend zu halten. Wir waren oft so taktlos, um nicht zu
sagen gemein und niederträchtig, Prüfungen mit ihm anzustellen,
mit Fragen aus unserm Schulsack. »Wer war Spinoza?« erkundigte
sich Egidi. »Ein jüdischer Philosoph«, antwortete Eglseder,
wie aus der Pistole geschossen. Nun, Genaueres wußte ich auch nicht
von dem Manne, vielleicht Egidi. »Und Euripides?« drängte
der Volkswirt, mit drohend erhobener Stimme. Das war viel verlangt. Eglseder
sah ihn mißtrauisch an, wie ein Fuchs, der eine Falle wittert, und
sagte stotternd: »Ein . . . ein . . . Dichter!« Wir konnten
ihm nicht widersprechen, wußten aber, daß er es nur erraten
hatte. Eglseder blähte sich. »Ihr Siebengescheiten«, sagte
er. Ein Vogel stieg tirilierend ins Blau, und er sagte: »Eine Lerche!«
So wollte er uns ablenken. Wenn er nach einem Namen gefragt wurde, von
dem er nur eine dämmernde Ahnung hatte, pflegte er in letzter Not
zu sagen: »Ein Astronom!« So machte er aus Grimmelshausen einen
Sterngucker. Wir lachten und hatten ihn gern, und er uns, auch wenn wir
ihn quälten. Und die Lerche sang.
Egidi hatte die Metzgerei
im Rosenhaus verpachtet, an den schiefzahnigen, hinkenden Gesellen, und
lebte jetzt bei seiner Tante, einer Schwester seines Mütterchens.
Wenn uns der Prälat Stoiber begegnete, der einen langen, wallenden
Bart trug – das ist einem Priester sonst nicht erlaubt, er durfte es, eines
Kehlkopfleidens wegen – grüßte ihn Eglseder tief und ehrerbietig.
Der Prälat grüßte lustig zurück, seinen grauen, eingerollten
Regenschirm hebend wie einen Feldherrnstab. Sein schwarzer Bart flatterte
im Wind. »Sei nicht so unterwürfig«, grollte Egidi, »du
Pfaffenknecht!« Eglseder ereiferte sich: »Was wißt ihr
denn?« sagte er, »der Mann hat auch was erlebt! Er war in China
als Missionar. Er hat auch faule Eier gegessen.« Egidi sah einem
Ladenmädchen nach, das auf hohen Beinen vorüber ging, und ihre
Röcke rauschten. Auch Eglseder wandte keinen Blick von der jungen
Dame. »Faule Eier wären nicht gerade mein Gusto!« sagte
Egidi. »Was der Bauer nicht kennt«, sagte Eglseder, »das
frißt er nicht! In China mag der Landmann keine Leberwürste.«
Das Ladenfräulein war in die Nebengasse eingebogen. Egidi fragte:
»Hat der Prälat viele Chinesen bekehrt?« Das wußte
Eglseder auch nicht.
Er stand auf vertrautem
Fuß mit allen wichtigen Männern der Stadt, selbst mit dem Bürgermeister,
auch mit der hohen und niedrigen Geistlichkeit, mit Mönchen und jeglichem
Kuttenvolk, er, der scharfe Freidenker! Oft war er zu Gast bei dem Leiter
der Kirchenmusikschule. Der wandelte fett und schwer und Virginias rauchend
durchs Leben. Eine weiße Weste umspannte seinen Bauch, eine goldene
Uhrkette schmückte ihn, und die Hosen hatte er so hoch gezogen, daß
man seine Gummistiefel sah. Er selber sah niemand, er war sehr kurzsichtig
und tappte bärenhaft dahin. Er sei ein bedeutender Tonsetzer, belehrte
uns Eglseder, habe wunderbare Sachen geschrieben, ein zweiter Orlando di
Lasso. »Wer war Orlando di Lasso?« drehte er den Spieß
um. »Ein Astronom«, hohnlachte Egidi. Eglseder würdigte
ihn keiner Antwort. Von Musik verstand er mehr als wir, darüber war
nicht zu streiten, und das stellte das Gleichgewicht wieder her.
Auf einem der kleinen
Ausflüge, die wir drei fast täglich machten, waren wir in die
Nähe der Kreisirrenanstalt geraten, die nicht weit von der Stadt auf
einer Anhöhe lag. Das Gebäude war ein ehemaliges Benediktinerkloster
und nannte sich jetzt mit sanft-zurückhaltendem Namen: Heil und Pflegeanstalt.
Fromm und geistlich wirkte es noch immer. Das große Tor stand weit
offen und gab den Blick frei auf einen mit Kies bestreuten Hof, in dessen
Mitte ein Kastanienbaum einen kreisrunden Schatten warf. Seine schon abgeblühten
Kerzen trugen kleine, grüne, gestachelte Kugeln, deren viele sich
zu Füßen des Baums gesammelt hatten, vom Wind herabgeschüttelt.
Heut ging kein Wind, und nicht das leiseste Lüftchen regte sich.
Gegenüber dem offenen
Tor, unter dem wir standen, war ein kleines, geschlossenes, mit Eisenbändern
festverriegeltes, zu dem ein paar Stufen führten. Dort war der Eingang
zu einem Bau aus roten Ziegeln, der aus neuerer Zeit stammte. An seinen
Fenstern waren gelbe, leinene Vorhänge herabgelassen, die Fensterstöcke
freundlich mit kurz gehaltenem Efeu bewachsen. Das Ziegelhaus diente amtlichen
Zwecken, hatte man den Eindruck, es war ein Verwaltungsgebäude wahrscheinlich.
Links und rechts davon schlossen sich Gärten an, einige höhere
Baumwipfel sah man.
Auch die alte Klosterkirche
stand noch im Hof, klein, mehr eine Kapelle, und ein niedriger, stumpfer
Turm aus grob gehauenen Quadern überragte sie nur wenig. Ein Röhrenbrunnen
daneben goß sein Wasser in einen länglichen Steintrog. Grünes
Algenzeug hatte sich darin angesiedelt, Entengrütze, und sonst Wasserpflanzen.
Das schwankte und wogte, von dem steten Wasserstrahl bewegt, unaufhörlich,
und plätscherte und plapperte, redselig und vertraulich. Mit wem sprach
der Brunnen? Niemand war zu erblicken, menschenleer war der Hof. Von dem
Blitzableiter auf dem Dach des Ziegelhauses fuhr ein Sonnenblitz herab,
funkelte durch die Zweige der Kastanie und verlosch gleich wieder.
Wir gingen dann weiter,
auf der Landstraße dahin, die endlos und staubig sich dehnte, von
hohen Pappeln gesäumt. Brennesseln und Disteln wuchsen üppig
im Straßengraben, und gelbe Königskerzen, gar nicht sehr königlich
mehr anzuschauen, halb verdorrt schon, zerzaust und zerschlissen, vom Staub
dick gepudert. Von schmalen Pfaden, die von der Straße wegführten,
ließen wir uns verloccken, stolpernd und rutschend und ziellos unsern
Weg auf ihnen zu nehmen, über Maulwurfshügel hinweg, zwischen
Getreidefeldern dahin, zwischen Roggen und Weizen, in denen der Mohn rot
leuchtete. Voll Bienengesumm war die Luft, voll unbestimmbaren Sommergeräusches,
an dem auch die Hummeln ihren brummenden Anteil hatten, und mit einem hohen,
gläsernen, gefährlichen Ton surrten die Stechmücken. Sie
nahmen uns kein Blut ab, sie hatten keinen Durst heut oder sich schon sattgetrunken,
anderswo. Die Kornblumen in dem Halmgestänge waren wie züchtige
Jungfern, die ein blaues Strahlenkrönchen tragen, auch Kornraden waren
da, diese seltener, hellviolett sie, in der Farbe an kirchliche Gewänder
erinnernd.
Ein Hahn krähte von
einem Bauerngehöft herüber, zu sehen war es nicht, es lag wohl
in einer Mulde geborgen. Ich malte ihn mir, wie er auf einem morschen Lattenzaun
saß, bei einem honigbraunen Düngerhaufen, nachlässig und
prächtig die krummen, grüngoldenen Schwanzfedern hängen
lassend, und auch der Düngerhaufen schimmerte wie Gold, von goldenen
Fäden durchzogen. Riesig mußte der Hahn sein, so mächtig
war seine Trompetenstimme, frech und herausfordernd. ›Dieser Pascha‹, dachte
ich, ›dieser Weiberheld‹, und sah in Gedanken wie die Hühnerschar
ihn umwandelte, jederzeit seiner Huld gewärtig.
»Der blöde
Gockelhahn«, sagte Egidi, »hat keine richtiggehende Uhr.«
Er sah auf seine Armbanduhr, es war am frühen Nachmittag, bei gewaltiger
Sonne, blauschwärzlich war der Himmel, nackt und einsam. »Er
kann krähen, wann er will und mag«, antwortete ihm der kleine
Eglseder gereizt, »nicht nur bei Sonnenaufgang, wie es in deinem
Volksschul-Lesebuch stand. Und dich wird er vorher um Erlaubnis bitten!«
Eglseders Gesicht war
puterrot, die Hitze hatte ihm arg zugesetzt, wie uns auch. Egidi pflückte
sich eine Ähre aus dem Segen um uns, rieb sie zwischen den Händen,
daß die Körner sich lösten, steckte sich eins in den Mund
und biß darauf herum. »Noch nicht fertiggebacken«, sagte
er und spuckte es verächtlich wieder aus. »Der Backofen ist
aber gut geheizt«, stöhnte Eglseder und schob den Hut in den
Nacken. Sein Gesicht glänzte von Schweiß, seine Stimme knarrte,
trocken und böse.
Über den Kornfeldern
wogten die Schmetterlinge, ruhelos, aber still und friedlich, als gäbe
es keine Feinde für sie, die Unbewaffneten. Kohlweißlinge waren
es und Zitronenfalter, lauter gewöhnliches Volk, kein Trauermantel
war dabei oder Admiral oder sonst ein adliges Stück.
Ohne Absicht, blindlings
dahin auf den verschlungenen Pfaden, die sich trafen und wieder verließen,
und von der Sonne geblendet, hatten wir ohne es zu merken einen Bogen geschlagen
und waren nun auf der Rückseite der Anstalt, nahe schon einer hohen,
weiß gekalkten Mauer, die das Weitergehen verwehrte. Da sahen wir
hinter den eisernen Gitterstäben eines offenen Fensters im zweiten
Stock ein bleiches Frauengesicht auftauchen, von aufgelöst herabhängenden
Haaren umrahmt. Das Gesicht war in Schmerz verzerrt, und jetzt begann die
Frau an den Stäben zu rütteln, mit beiden Fäusten, als wolle
sie das Hindernis aus den Fugen reißen, mit aller Gewalt, und gellende
Rufe schickte sie zu uns herab. Wir verstanden nicht, was sie schrie, zornig
klang es und flehend zugleich, in Schmerzen nach Liebe verlangend. An einem
zweiten und dritten Fenster zeigen sich Frauen in blau und weiß gestreiften
Krankenhauskitteln und rissen an den eisernen Stangen, und schrien – ein
Schrei schien sich an dem andern zu entzünden, als brenne ein Feuerwerk
knatternd ab.
Die Kittelweiber, alte,
runzlige Gesichter hatten manche, mit Falten um den eingefallenen, zahnlos
gewordenen Mund, mit Gesichtern auch, jung und zart und lieblich gerundet
wie die Unschuld selbst, sie alle streckten die Arme aus den Fenstern,
nackt bis zum Ellbogen, weil die Ärmel sich an den Stäben verschoben,
und winkten uns zu kommen, zu ihnen hinaufzukommen! Und wenn wir ihre Worte
nicht verstanden, wir verstanden, was ihre Arme uns sagten, schauerlich
unmißverständlich. Es war, als wollten sie uns ergreifen und
zu sich hinaufheben, an ihre arme, entbehrende Brust uns zu drücken,
uns zu herzen und uns schön zu tun auf alle Weise. Sie warfen uns
Küsse zu mit den Händen, viele tausend, und preßten sich
gegen die eisernen Stäbe, aber die waren unbarmherzig und gaben nicht
nach.
Nur eine der Frauen verhielt
sich anders. Sie war jung und schlank, trug den Krankenhauskittel nicht,
war weiß gekleidet und hatte einen kleinen Kranz von weißen
Heckenrosen im schwarzen Haar. Sie stand mit den andern am Fenster, rührte
sich nicht und schrie auch nicht. Dreimal um den Hals geschlungen hatte
sie eine Kette schwarzer Perlen, schwarze Holzkugeln mochten es sein. Erstaunlich
war es, daß keine der Hexen sie von ihrem Platz zu verdrängen
suchte, daß keine ihr die Blumen vom Kopf zu reißen unternahm,
unberührbar schien die schöne weiße Gestalt, vornehm und
bevorrechtet. So verharrte sie stumm und reglos im Kreis ihrer aufgeregten
Schwestern, die achtungsvollen Abstand von ihr hielten. Sie sah auch nicht
zu uns herab, sah zum leeren, wolkenlosen Himmel hinauf, wo doch gar nichts
zu sehen war. Dann legte sie ihre Hände so aneinander, wie spielende
Kinder es tun, sich ein Fernrohr zu machen, und spähte eifrig hindurch,
das Himmelsgewölbe abzusuchen nach allen Richtungen, lange und genau
und mit Wichtigkeit. »Was sucht sie denn, was sieht sie denn?«
fragte mich flüsternd Eglseder. »Vielleicht Engel«, sagte
ich. »Es gibt aber doch gar keine Engel«, murrte der aufklärerisch
gesinnte Eglseder, zornig fast, und doch wie an sich selbst zweifelnd.
»Vielleicht aber Erzengel!« sagte wütend Egidi. Dunkelrot
waren seine Säbelnarben. Die bekränzte Frau am Fenster schüttelte
unwillig
den Kopf und ließ das
Fernrohr sinken, mit einer traurigverzichtenden Bewegung. Sie trat langsam
in den Hintergrund zurück und war nicht mehr zu erblicken. Desto lauter
zeterten jetzt, die an den Fenstern blieben, mit aller Stimmkraft, ein
satanischer Chor.
Wir fingen an uns zu fürchten
vor dem Aufruhr, den wir entfesselt hatten. Da war der still-fromme Klosterhof,
drüben, auf der anderen Seite, wo der Brunnen sein Wasser in den Steintrog
goß, kühl und rein war das, wie die gelehrten Mönche bei
ihren Büchern einst zu sein sich bezwangen, in deren verlassenen Zellen
jetzt die wilden Weiber tobten. »Ach, gehen wir!« sagte Eglseder,
und ich sah, daß er zitterte und meinen Blick vermied.
Wir drehten um und gingen
auf den Pfad zurück, auf dem wir gekommen waren. Der Mohn in den Ahren
glühte, lautlos schrie auch er, und die Stechmücken surrten,
und Bienen und Hummeln machten ihre eintönige Sommermusik. Daß
wir gingen, steigerte den Zorn der Verschmähten, ihr Kreischen wurde
zu einem heiseren Röcheln, und trauriges Gelächter mischte sich
darein. Die Schmetterlinge über den Feldern, als habe ein Windstoß
sie getroffen, wirbelten plötzlich durcheinander, einem neuen Gaukelspiel
hingegeben – aber kein Wind war zu spüren, wie heut den ganzen Tag
nicht, schwarz schwieg der Himmel. Dann vereinigten sie sich zu einer Wolke,
und die Wolke flog uns nach und blieb über unsern Häuptern, in
einem unaufhörlichen Auf und Nieder. Ein großer Zitronenfalter
flog vor Eglseders Gesicht und benahm sich, als gäb es dort Honig
zu kosten. Eglseder schlug nach ihm, der aber ließ sich nicht vertreiben,
ließ sich auf Eglseders entsetzt abwehrenden Mund nieder, immer wieder.
Mit einemmal dann stieg
die Schmetterlingswolke empor, hoch und höher, und flog auf die Getreidefelder
zurück, das Faltergeschwader, wie einem Befehl gehorchend, und zerstreute
sich zu gewöhnlichem Tun. Auch der Gelbgeflügelte ließ
von Eglseder ab, gehorsam dem Gesetz auch er, und folgte den luftigen Brüdern.
Immer noch drangen von der Anstalt her abgerissene Schreie zu uns, und
jetzt krähte auch wieder der Pascha, der Hahn, seinen mächtigen
Goldschrei, durchdringend und triumphierend.
Schneller schritten wir
aus, die Landstraße zu erreichen, und erreichten sie, und hatten
wieder festen, zuverlässigen Boden unter den Füßen, die
sichere Erde, sie war noch da und trug uns, fast verwunderte es uns. Eglseder
zumal, der sich mit dem Handrücken ein paarmal barsch über den
Mund fuhr, den Falterkuß wegzuwischen, wegzureiben er spürte
ihn, sagte er, immer noch, und lachte töricht.