Bd. 10 – Das Liebespaar und die Greisin

Erzählungen 1937 – 1940

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Inhaltsverzeichnis

Der törichte Knecht
Das Fliederbäumchen
Das Liebespaar und die Greisin
Ulrich unter der Weide
Die Totenfeier
Der Berg Thaneller
Der Bock
Beim lautlosen Krähen des Messinghahns
Der nackte Shakespeare
Der Gang durchs Gewitter
Editionsnotiz
Drucknachweise und Anmerkungen

Der törichte Knecht

Bramsach, ein Dorf im oberbayerischen Land, hat für viele Fremde einen Anziehungspunkt mehr als die umliegenden Ortschaften. Nicht nur Berg und Wald und See hat es zu bieten, blutrote Sonnenuntergänge nach stahlblauen Tagen, stäubende Wasserfälle und einen gewaltigen gelben Mond über Almwiesen und Erdbeerschluchten – an jedem Sonntagabend spielen dort die Bauersleute Komödie in einer leeren Scheune. Es ist nicht wie in Schliersee oder Tegernsee, wo die bäuerischen Spieler sich schon längst nicht mehr unterscheiden von denen in der Stadt, ein festes, und oft nicht geringes Monatsgehalt beziehen und geschminkt und gepudert in einem eigens für sie gebauten Bühnenhaus auftreten: die Bramsacher legen die Mistgabel hin, die Hacke oder den Rechen, und steigen auf die knarrenden Bretter, um sich in Könige, in Fürstinnen und Hofdamen zu verwandeln. Sie scheuen sich nicht, das Schwert über die lederne Stallhose zu gürten, und das Edelfräulein, wenn es Abschied nimmt von dem zu den Türken fahrenden Kreuzritter, trägt das bunte Kopftuch, wie die Mägde es tragen, wenn sie zur Messe gehen. Und wenn sie unter langsamen und feierlichen Gebärden schöne und lange und schnörkelig gedrechselte Sätze zueinander sagen, beseelt sie ein schier heiliger Eifer. Und den Bramsacher Sommergästen, die auf den harten Holzbänken im Zuschauerraum sitzen, ist es manchmal wunderlich zumut, und ihrer Ergriffenheit will sich oft ein Lächeln unter Tränen gesellen, wenn in der rauhen Mundart der Spielenden Leidenschaftsausbrüche und süß schmelzende Liebeserklärungen ungewohnt und rührend erklingen.

Zu den regelmäßigen Besucherinnen der Sonntagsaufführung gehörte vor einigen Jahren eine junge Dame aus Norddeutschland, die mit ihrer Tante nun schon den zweiten Sommer in Bramsach verbrachte. Seit kurzem sah man sie oft in Begleitung eines hochgewachsenen, glattrasierten Herrn, der seinen schon ergrauten Schläfen zum Trotz jugendlich frisch und kühn blickend, in der knappen Joppe der Einheimischen einherschritt, den federgeschmückten grünen Jägerhut weit aus der Stirn geschoben. Als die beiden einmal, an einem heißen Juliabend, nach dem Theaterbesuch, zu dem sie verabredet gewesen waren, im kühlen Wirtshausgarten am See noch ein Glas Wein tranken, mußte der Herr merken, daß seine Begleiterin es nicht lassen konnte, das Gespräch schnell und immer wieder auf den Darsteller zu bringen, der heute die tragende Rolle in dem Stück gespielt hatte. Der hieß Michael Sennebogen, hatte eine Brust wie eine Tonne und ein derbes, braunes Gesicht, mit einer angreiferischen Adlernase über vollen, fast noch kindlich gewölbten Lippen. Er hatte einen Feldhauptmann vorgestellt, in schwarzes, rasselndes Eisen gehüllt, und Hedwig, die junge Dame, konnte sich nicht genug tun, zu rühmen, wie der einfache Bauernbursche, der er doch nur war, mit soviel echter Empfindung und edler Kraft seine Aufgabe gemeistert hatte, den begeisterten Beifall verdienend, der ihm gespendet worden war. Nun war der Herr an ihrer Seite, Paul D., und das wußte sie, selber Schauspieler, Mitglied einer großen Bühne im Rheinland, ein auch im übrigen Deutschland nicht unbekannter Künstler. Es verdroß ihn, daß die junge Dame Hedwig den theaterspielenden Knecht gar so übertreibend mit Lob überschüttete, besonders, weil er zu spüren vermeinte, daß ihre Bewunderung des gliedergewaltigen Michael einer ihr selbst vielleicht noch nicht ganz bewußten Zuneigung entsproß, die dem Menschen und nicht dem Heldendarsteller galt. Und weil er selber das reizvolle Geschöpf mit verliebten Augen betrachtete, ärgerte es ihn um so mehr, daß sie, und das schien ihm ihrer nicht würdig, in Gefahr war, sich in den Bauernlümmel zu vergaffen. Aber das verbarg er natürlich, kennerhaft und ein wenig von oben herab redete er von der erstaunlichen Naturbegabung des jungen Menschen, und entnahm dem Gespräch, daß Hedwig schon dieses und jenes Mal den Knecht auf der Straße, vor der Kirche, beim Krämer getroffen hatte. Aus einer lustigen Andeutung, die sie machte, war zu schließen, daß Michael gar nicht so schüchtern war, und der schönen Städterin unverhüllt zu erkennen gegeben hatte, daß sie ihm gut gefiel.

Sie saßen noch eine Stunde am See, der Mond stieg herauf, die Bäume rauschten, und von einem entfernten Boot scholl Ruderschlag und trunkenes Gelächter. Paul D. und Hedwig sahen zu dem gelben Burschen hinauf, der eben über einen zackigen Kamm sich schwang. Das derbe Antlitz des himmlischen Bergkletterers erinnerte Hedwig an Michaels schönes Bauerngesicht. Paul D. schien zu ahnen, woran sie dachte, er preßte die Lippen zornig aufeinander, und eine große Erdbeere, die, von den still wirkenden Kräften des Weins bewegt, in seinem Glas taumelnd und tauchend schwamm, nahm, sich verwandelnd, für ihn des Nebenbuhlers Züge an. Da fischte er die Frucht heraus, zerdrückte sie, aber der Mond stieg nur immer höher und höher, und Hedwig seufzte.

Michael Sennebogen, der Knecht, hatte wohl gemerkt, daß die Dame aus der Stadt ihm Beachtung schenkte. Seine Eitelkeit hatte schon manchmal Lobsprüche und Schmeicheleien weiblicher Sommergäste mit Gefallen entgegengenommen. Es waren meist nicht mehr junge und magere Wesen, und wenn er den Honig ihres Lobes geschleckt hatte, lüstete es ihn keineswegs nach mehr. Er schüttelte den Zudringlichen mit Treuherzigkeit die Hand, sah sie an mit strahlenden Unschuldsaugen, tat, als verstehe er nicht, und entwischte, innerlich lachend, den Verfolgerinnen. Schließlich hatte er den ganzen Tag im Bretterlager genug zu tun, und wenn er abends nicht Probe hatte, gab es Gespielinnen seiner Jugend, schenkelkräftig und großäugig, die ihn hinter Hecken oder am Fenster erwarteten. Mit Hedwig erging es ihm anders. Sie hatte ein feines, weißes Gesicht und so kleine Hände, und es war ihm eine köstliche Vorstellung, daß diese Hände, an denen die zierlichsten Finger mit rotgemalten Nägeln saßen, ihn streicheln sollten. Aus der Bluse lugte ihr ein winziges, zart rosafarbenes Hemddreieck, und zu denken, fast schämte er sich, was unter Hemd und Bluse sich bergen mochte! Noch wußte er nicht, wie weit die Teilnahme ging, die Hedwig für ihn hegte. Bis jetzt hatte sie immer nur von seinem Spiel gesprochen, aber er fühlte, daß der Mut und die edle Gesinnung der Ritter und Wildschützen, die er darstellte, ihm angerechnet wurden, als blühten sie in seiner Brust. Und wenn er in schönen Versen um die Liebe einer Bühnenfrau warb, nahm sie ihm unversehens die Gestalt und die Züge Hedwigs an, und dann geriet er in solches Feuer, daß er sich selbst überbot, alles mit seiner Glut ansteckte, auch Hedwig, die unten saß, im verdunkelten Zuschauerraum, die Hände fest aneinandergepreßt, das Gesicht gierig zu ihm gehoben, seine heißen Sätze auf sich bezog – sie mochte süß ahnen, mit wievielem Recht – und von der wilden Kraft des Bauern angepackt, erbebte.

Paul D., der große Schauspieler aus dem Rheinland, an Jahren nicht mehr der jüngste, spielte den Faust und Othello und Macbeth in einer auch schon ein wenig veralteten Weise. Er spottete gern über die Jugend, die stürmisch nachdrängende Jugend, die mit gewalttätiger Frechheit nach Kränzen griff, die ihr unerreichbar bleiben mußten, weil es ihr an Schule und Beherrschung der Mittel fehlte, und die es wagte, sich lustig über ihn zu machen, und über seine geträllerten Sterbeseufzer zu höhnen, die er gezirkelt und gemessen sang, wie der Kanarienvogel sein Käfiglied. Wohl, ein wenig war an dem dran, was man ihm vorwarf, er war klug genug, das selber zu spüren, und mit Klugheit versuchte er es, auch Feuer und Schwung zu zeigen, und bemühte sich, mit Lallen und Stammeln den Eindruck von Taumel und Hingerissenheit zu erwecken, aber sein Schwung blieb glatt und ölig und sein Feuer kalt, ohne recht zu zünden. Nun sollte er, so schien es, auch im Leben zurücktreten müssen hinter so einem, der mit ungezügelter, roher Kraft daher kam, aber er war entschlossen, den Kampf aufzunehmen. Gegen die Ungehobeltheit wollte er seinen Schliff ins Feld führen, und was er zu tun beabsichtigte, war von einer so unangreifbaren Anständigkeit, daß niemand ihn würde tadeln können, er sagte es sich mit Lächeln.

Er wartete eines Abends, bis Michael von der Arbeit kam, und sprach ihn auf der Straße an, und sagte ihm, sich vorstellend, er sei selber ein Mann der Bühne, und er habe Michael ein paarmal spielen sehen in der letzten Zeit, und er habe seine Begabung erkannt, die groß und ungewöhnlich sei, aber der rechten Ausbildung natürlich noch ermangle, er wolle ihm aber gern und umsonst, um der gemeinsamen Kunst willen, der sie beide dienten, Unterricht geben. Michael betrachtete zuerst ein wenig mißtrauisch den Herrn mit dem vornehmen Gesicht. Aber dann bedachte er, daß er mit Hilfe des Lehrers, der sich ihm da unerwartet und wie vom Himmel geschickt anbot, solche Fortschritte machen konnte, daß alle ihn staunend bewundern würden, die Nachbarn und die Fremden, und unter ihnen war, errötend glaubte er es zu sehen, Hedwig, das Fräulein aus der Stadt, mit den kleinen, weißen Händen, und wandte das Gesicht demütig und voll Liebe zu ihm, und das gab den Ausschlag. In der Brusttasche trug er seine neue Rolle, den jungen Jäger eines Stückes, das für den übernächsten Sonntag angesetzt war, und so folgte er auf der Stelle, ein wenig verlegen zwar, aber doch auch stolz, dem Schauspieler in dessen Zimmer. Dort begann, was dort auch enden sollte.

Paul D. salbte ihn mit allen Fetten und Ölen des erfahrenen Haarkünstlers. Er goß ihm wohlriechende Flüssigkeiten auf das struppige Haupt, setzte Kamm und Bürste an und zog einen schnurgeraden, weiß schimmernden Scheitel. Er legte Schminke auf die naturroten Lippen und krümmte die buschigen Augenbrauen zu einem geschmeidigen Bogen, er machte, alles bildlich gesprochen, denn er war Schauspieler und kein Barbier,
aus dem holzgeschnitzten Bauernschädel den lächerlich frisierten Kopf einer Schaufensterpuppe. Und das alles mit der hinterlistigen Schlauheit, die sich sagen durfte: Ich lehre ihn nichts Schlechtes, ich tu ihm nichts Übles an, ich bring ihm das nur bei, umsonst und ohne jede Bezahlung, was ich meine Schüler in der Stadt nur gegen bares Geld lehre. Der Bauernlümmel kann sich freuen! Und der freute sich.

Auf Paul D., der den schurkischen Nebenbuhler des neuen Stückes mit Stichworten andeutete, drang Michael mit erhobenen Fäusten ein, rief schäumend »Bube!«, schallend stieß er Verwünschungen und Beschimpfungen aus, schrie, daß die Spiegel klirrten und das Stubenmädchen bestürzt die Tür aufriß, aber die Hand vom Hals des Lehrers nicht lösend, wandte Michael nur den Kopf und sagte streng verweisend: »Wir spielen«. Da ging das Mädchen wieder, sich entschuldigend und kopfschüttelnd und lächelnd, und kümmerte sich um den Lärm aus Zimmer 23 nicht mehr hinfort, weil sie wußte: Die spielen nur!

Zwei- oder dreimal noch in dieser Zeit des Unterrichts hatte Michael mit Hedwig gesprochen. Wenn er im Holzlager Bretter trug und zählte und schichtete, stand auf einmal die schöne Städterin am Zaun, der braun und glühheiß war von der Sonne, und unterhielt sich mit ihm eine Viertelstunde, und betrachtete verstohlen seinen Mund, einen geschwungenen Jünglingsmund mit vollen Lippen. Tiefschwarz hob sich die Gestalt des Knechtes ab vom blauen Himmel, nur seine Brust war vom Licht umronnen, daß er seinem Schutzheiligen glich, dem schwertgegürteten Erzengel Michael. Und dann kam der Abend, an dem das neue Stück aufgeführt wurde, und unter den Zuschauern saßen erwartungsvoll nebeneinander Hedwig und ihre Tante und Paul D. Ein Paukenschlag verkündete den Beginn des Spiels. Nach dem ersten Akt konnte Hedwig eine geheime Unruhe nur schwer verbergen, und als ihr Begleiter sie fragte, wie ihr heut Michael gefiele, gab sie nur eine ausweichende Antwort. Dann hob sich der Vorhang wieder, Michael rückte nun in den Vordergrund des Geschehens auf der Bühne, und schon fingen einige unter den Sommergästen an zu witzeln und zu kichern über den närrisch sich spreizenden Kerl da oben, der, weil er sich bemühte zu zeigen, was er an Atemführung und Sprechkunst und Gebärdenspiel gelernt hatte in den anstrengenden vierzehn Tagen des Unterrichts, in ein unnatürliches, schrecklich gequältes Gehabe verfiel. Die Spieler neben ihm waren unbefangen und kunstlos wie immer, ehrlich ihrem Gefühl hingegeben, und wirkten in aller Unbeholfenheit noch rührend treuherzig, in dem Schmunzeln über den sich zierenden Michael aber lag offener Hohn. Im dritten Akt hatte er seinen großen, oft geprobten Auftritt mit dem Nebenbuhler. Da ließ er alle seine neuen Künste springen, wie der eitle Pfau die grelle Pracht seiner Federn hebt, und als er, dem Gegner die Hand um den Hals gelegt, rollenden Auges sein »Bube!« erschallen ließ, konnte der größere Teil der städtischen Zuschauer laut prustendes Gelächter nicht mehr ersticken, und auch die bäuerlichen Besucher sahen verstört und unbegreifend auf den in eine Zappelpuppe verwandelten Michael. Die edler Empfindenden erröteten über den jämmerlichen Anblick, daß ein junger, gesunder Mann, prangend in Fülle, den, im täglichen Leben, bei seiner Arbeit, inmitten seiner Freunde zu betrachten eine Freude war, sich hier so beschämend aufführte, und in allgemeiner Verwirrung nahm das Stück sein Ende.

Die Tante war müde, sie hatten sie heim begleitet, und nun saßen sie, Hedwig und Paul D., wieder bei einem Glas Wein im Garten am See. Der Mond war groß und gelb wie damals, vom Lichte triefend, aber sah er nicht aus, als sei er in einen gelben Schnaps getaucht gewesen, in einen süßen, gelben Schnaps? Sein Ebenbild schwamm klebrig im Wasser, und Hedwig hätte nicht trinken mögen davon, weil es einen faden und widrigen Geschmack haben mußte. Sie war in einer sonderbar geteilten Stimmung, fühlte Mitleid mit Michael und seiner Niederlage, und empfand es zugleich wie eine ihr zugefügte Beleidigung, daß er so kläglich hatte versagen können. Was war nur in den Burschen gefahren, ihn unbegreiflich verändernd, dessen natürlicher Adel sie entzückt hatte, oder hatte sie nur früher keine Augen dafür gehabt, wie gewöhnlich er im Grunde war, im Grunde sein mußte, wenn er heute so schmachvoll sich zu enthüllen gezwungen gewesen war? Paul D., der kluge und verschwiegene, der ihr nicht verriet, daß er Michael Unterricht gegeben hatte, und dazu war er ja auch nicht befugt, redete er sich ein, versuchte es vorsichtig, mit gütig abwägenden Worten ihn zu verteidigen. Aber sie ließ es nicht zu, daß er so schlimm es nicht fand, und sie übertrieb im Tadel, wie sie früher im Lob übertrieben hatte, und in einem längeren Hin und Her überzeugte ihn die Zornige davon, und ihre Augen flammten, daß dieses Engelshaupt des Bauern nur eine schöne Maske war, hinter der Niedrigkeit sich barg. Paul D. war ein gescheiter und gebildeter Mann. Er war Hedwig ein großes Stück nähergekommen, das spürte er, wenn es auch noch nicht entschieden war, daß es ihm gelingen würde, sich ihrer ganz zu bemächtigen. Aber jedenfalls, und das war wichtig, Michael schien ganz und gar und für immer bei ihr ausgespielt zu haben, und das genügte vorläufig.

Im Bretterlager arbeitete schwitzend Michael. Was wußte er? Nichts. Er schämte sich und fand doch keinen rechten Grund dafür. Er blieb stehen, das Brett, das er trug, scheuerte schmerzhaft seine Schulter, daß er unwillig ruckte, und dachte nach, aber er kam nicht weit mit dem Denken. Er sah, wie die gebogene Nase des Berges gegen den blauen Himmel stieß, und eine weiße Wolke war über der Nase, wie von einem Stier schnaubend emporgeblasen. Heute früh war Hedwig vorbeigekommen und hatte ihn angesprochen wie sonst auch. Aber auf einmal war wieder die Kluft dagewesen zwischen dem Bauernknecht und der Städterin, die schon ausgefüllt und geebnet erschienen war. Von der Aufführung hatte sie nichts gesagt und von seinem Spiel, und er wußte auch so: das war der Grund der Entfremdung! Sie hatte gelächelt wie immer, als sie dann ging, und er hatte gespürt: es ist aus und zu Ende. Immer noch hörte er das Lachen, das aus dem dunklen Zuschauerraum zu ihm auf die Bühne gestiegen war – und er hatte es doch besser gemacht als sonst! Wie hatte er geübt und die Weisungen des Hofschauspielers befolgt, in allem und jedem, und dann war es so gekommen! Er kannte sich nicht mehr aus, es war nicht zu fassen und zu verstehen. Es war ihm, es in einem ein wenig lächerlichen Vergleich zu sagen, es war ihm vielleicht zumut wie einem Mädchen, dem man im tiefen Schlaf Gewalt angetan hat, und das sich nach dem Erwachen geschändet fühlt und doch keinen rechten und beweiskräftigen Grund hat, so zu fühlen. Man hatte ihm seine Unschuld geraubt, so war es, aber das wußte er nicht, und es wäre auch keine Möglichkeit gewesen, ihm das klarzumachen. Aber die dumpfe Unruhe war da und der Drang, sinnlos zu fluchen, und in den Augen saßen ihm zwecklose und unbegründete Tränen, die sich aber nicht trauten zu fließen, so ohne Anlaß. Er setzte das Brett ab, da sah er draußen Hedwig und Paul D. vorübergehen. Sie lachten, und jetzt sahen sie Michael, und Hedwig nickte herüber, und der Hofschauspieler winkte freundschaftlich mit der Hand, und dann waren sie hinter der Kirche verschwunden. Michael atmete tief, daß sich das Hemd über seiner Brust spannte. Da ging er draußen mit dem schönen Fräulein, der große Schauspieler aus der Stadt, sein vornehmer Freund und Lehrer und Meister, dem er dankbar zu sein hatte. In einem Anfall von verzweifelt Komödiespielenmüssen fiel Michael auf die Knie, als sei er auf der Bühne, und hob die Hände, und sagte: meinen Dank! Und wie sollte er seinen Dank ausdrücken? Hätte er die Gabe gehabt, sich selbst zu beobachten, so hätte er bemerkt, daß dieses Bohren und Winden in ihm, das er Dank nannte, eine schwarzschillernde Raupe war, die, wenn sie sich krümmte, eine grellrote Bauchseite herzeigte, eine blendende, knallige Färbung, die nichts Gutes verhieß, daß dieses nagende Gefühl unversehens umkippen konnte, und dann war es Haß. Aber er war ein grober Bauernlümmel, konnte nicht oder nur schief denken, und wie beschämt und ertappt erhob er sich wieder von den Knien. Fröhlich rochen die Bretter nach Harz, und der Bergstier ließ nicht ab zu schnauben, man sahs an der weißen Wolke, die noch größer geworden war. Eine dicke braune Hummel prallte klatschend gegen Michaels Stirn, zurück und wieder gegen seine Stirn, und wieder und wieder, wie ein Hammer.

Hedwig und Paul D. gingen langsam den Bach entlang, der gischtend und strudelnd und sich überschlagend über die weißen Steine dahin sich seinen Weg suchte. Der Schauspieler hatte die Absicht, heute zu etwas Entscheidendem vorzustoßen, aber so oft er ansetzte zu einem kühnen Wort, so oft setzte er auch wieder ab, weil seine Begleiterin ein gar zu undurchdringliches Gesicht machte, ein ganz und gar abwesendes Gesicht, denn während sie die Sonne warm im Nacken spürte, dachte sie an diesen dummen, braunen Michael im Bretterlager, und ihr Zorn über ihn war schon wieder im Schwinden. Jetzt tat sich vor ihnen eine Schlucht auf, zu deren beiden Seiten grüne Haselnußsträucher wehten. Hoch über der Schlucht, auf einem vorspringenden Felsbuckel, stand ein mächtiger Baum mit kleinen, unzählig vielen kleinen Blättern, die in wispernder und quirlender unaufhörlicher Bewegung waren, als würden sie von einem Blasbalg angefaucht. Aber hier unten rührte sich kein Wind, und sie schritten, immer den Bach zur Seite, in die Schlucht hinein. Da war es kühler, das Wasser wurde dunkelgrün und schwärzlich, und Hedwig meinte manchmal eine Forelle schießen und schimmern zu sehen. Ein Steinblock stemmte sich wie eine Faust dem jagenden Wasser entgegen. Jede Welle zerschlug sich daran und spritzte, zerflatternd, eine Tropfenschnur ans
Ufer. Das ging so gleichmäßig, als seis ein künstliches Wasserspiel, und in Pausen von vier, fünf Atemzügen sauste der Glitzerfaden im Bogen auf den Weg. Wer soll sich in dem Michael auskennen? dachte Hedwig traurig, und sie sah nachdenklich ihren Begleiter an. Was wußte sie von dem? Stolpernd und grell kam eine besonders stürmische Welle, zersplitterte, und der Strahl traf Hedwig zerstäubend an Brust und Hüfte. Verlegen, scherzend, doch auch bebend, schnippte ihr der Hofschauspieler mit den Fingern ein paar der Tropfen weg. Da merkte sie, daß ihr seine Berührung unangenehm war, wieder dachte sie an Michael, und ob es da anders wäre, und lachte ärgerlich über sich und über beide Männer, und schlug vor, wieder ins Dorf zurückzugehen.

Der Fisch ist auf den Sand geworfen, sagte sich Paul D., und mit dem Fisch meinte er Michael. Da liegt er und kann nicht mehr schnaufen, aber was nützt es mir? Es nützt mir anscheinend nichts. Übrigens kann ich ein reines Gewissen haben. Habe ichs nicht? Ich habs. Das sagte er sich vor und glaubte es fast. Krieg ist Krieg! sagte er sich, und seinen braunen Knien und der Tonnenbrust setzte ich entgegen, was ich hatte.

Mit diesen braunen Knien und der Tonnenbrust und dem kleinen Kopf handelte nun Michael so gut und richtig, wie er gut und richtig gespielt hatte ehedem. Abends klopfte er an die Tür des Zimmers 23, es rief: Herein! und er trat ein.

Er ging auf den unschuldigen Hofschauspieler los, wartete sein Stichwort nicht ab, packte ihn am Halse und sagte nichts, und würgte ihn. Paul D. konnte noch einen Hilferuf ausstoßen, und mit den Füßen warf er krachend einen Stuhl um. Das Zimmermädchen hörte das Gepolter, legte das Ohr an die Tür, hörte des Überfallenen Todesschrei und dachte: die spielen! »Bube!« sagte Michael, und ihm war, er stehe auf der Bühne, und diesmal spielte er sehr gut und niemand hätte gelacht. Das hochmütige Gesicht des Gewürgten lief rot an, bis unter die Haare hinauf, seine Augen bekamen einen erstaunten und starren und dann auch bittenden Ausdruck, aber Michael dachte wohl auch: Krieg ist Krieg! und lockerte den Griff nicht und zog den Widerstrebenden so dicht an sich heran, daß sie Brust an Brust waren, wie Freunde. Als er dann, sich besinnend, von seinem Lehrer abließ, war es zu spät. Paul D. lag lang ausgestreckt und regungslos am Boden, mit weit geöffneten Armen, ohne zu atmen, und es war seltsam, wie klein nun auf einmal das Zimmer aussah.

Wer kann mit einiger Wahrscheinlichkeit ermessen, ob über den entsetzten Aufruhr, der in Paul D. losbrach, als er in Michael Sennebogens Hand war, ob da über die Hundertschar von wirbelnden und sich bekämpfenden Gefühlen, ob da über Angst, Wut und Haß und Todesfurcht nicht auch einer Leuchtkugel gleich der Gedanke in ihm aufstieg, einen Augenblick lang blitzartig das Schlachtfeld seines Herzens erhellend, daß da nicht etwa nur ein Bauernbursch sich bösartig und verbrecherisch rächte? Ist es anzunehmen, daß er erkannte, eine leichtsinnig in Bewegung gesetzte Lawine begrabe ihn, und daß, um zu immer kühneren Vergleichen zu gelangen, er einsah, zu spät einsah: Wer einen Löwen kitzelt, darf sich nicht wundern, wenn der ihn zerreißt, weil da nicht gilt Zahn um Zahn, und nur wer getötet hat, darf wieder getötet werden? Soll man hoffen, um es kurz zu machen, daß der Sterbende noch die Belehrung erfuhr, nach menschlichem Gesetz zwar keineswegs den Tod verdient zu haben, aber daß ihm nur Unrecht geschah von der Art, wie es dem zugefügt wird, der einem Baum mit dem Beil ans Mark geht, und der stürzende erschlägt ihn?

Michael bekam sechs Jahre Zuchthaus für seine Tat. Es war ihm nicht nachzuweisen, daß er, als er zu dem Schauspieler ging, die Absicht ihn zu töten hatte, und wahrscheinlich hatte er sie gar nicht gehabt, und der Gerichtsarzt war der Meinung, daß nicht die würgende Hand Michaels, sondern ein durch den Schrecken herbeigeführter Herzschlag dem Leben des Überfallenen ein Ende gesetzt habe. lm Dunkel tappend, fand das Gericht keine ausreichende Begründung für das, was geschehen war, und ärgerte sich über den Angeklagten, der, allem Zureden taub, verstockt und trotzig jegliche Aussage verweigerte: aber wie hätte er auch den strengen Herren erklären können, was er selber nicht verstand, und was die Zeitungen, geschwätzig und voreilig, eine ländliche Eifersuchtstragödie nannten?

Manchmal sah nachts der Mond in Michaels Zelle und war rot und gedunsen wie damals das Gesicht des ausgestreckt am Boden Liegenden, und manchmal, wenn der Mond gelb und blaß war, erinnerte er ihn an das schöne Fräulein Hedwig, und er sah es wieder am Bretterzaun stehen, ihm zulächelnd. Michael begriff nie, auch in den langen Nächten des Nachdenkens nicht, warum er einen Mord begangen hatte, niemand sagte es ihm, niemand wohl auch wußte es, aber da er ihn nie und zu keiner Stunde bereute, mußte der Grund wohl ein gültiger und endgültiger gewesen sein.

Vom Waldrand löst sich ein Reh, trippelnd, witternd, gefallsüchtig hüpfend und von der grünen Wiese naschend, während hinter den kupferfarbenen Föhrenstämmen die Rittertiere mit Mordstangen turnieren, sich um das zartgelenkige, sanftschnäuzige Wesen streiten – so sah Hedwig sich und die kämpfenden Männer, und grollte beiden unter Tränen, daß sie es gewagt hatten, die Überheblichkeit, ihre freie Entscheidung zu mißachten, und sie fühlte sieh, ganz ihrer Zeit gehörig, im Wert herabgesetzt, daß man um sie sich gerauft hatte, wie um ein Stück Vieh, so sagte sie zornig, und einen geheimen Stolz darüber, der zu ihrer Bestürzung in ihr sich regen wollte, versuchte sie vor sich selber zu verleugnen. Daß Michael von dem Schauspieler Unterricht bekommen hatte, war ihr gesagt worden, und sie zerbrach sich noch nachträglich den Kopf, warum Paul D. vor ihr so heimlich damit getan, als habe er Böses zu verstecken gehabt. Dabei konnte sie so wenig wie der törichte Knecht den im Tiefsten sich verbergenden Grund ausspüren für das, was sich ereignet hatte. Nur der Tote wäre dazu imstande gewesen und hätte den wissenden Blick gehabt für Zusammenhänge, die, in Worten ans Licht gehoben, zerronnen wären, wie die Tiere der Meertiefe zerfallen, wenn die Sonne sie trifft. Sein Schliff und seine Glätte hatten schon in den Bühnenschlachten sich nicht mehr als siegreiches Schwert erwiesen, im Kampf gegen Michael hatten sie ihm nach einem Teilerfolg die unanzweifelbarste Niederlage beigebracht.

Nach Bramsach jedenfalls ging Hedwig nicht wieder, und auch Michael, so nahm man allgemein an, würde nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus nicht mehr in seine Heimat zurückkehren – Arbeit und Brot und ein langes, bitteres Leben gab es für ihn auch, wo nicht scheele Blicke und Geflüster der Gerechten auf ihn warteten. Um Bramsach aber stehen die Berge, der Himmel ist blau, und die Wälder rauschen, und Knechte und Mägde spielen Komödie und schlagen sich tot auf den Brettern. Aber wenn die Klatschenden den Vorhang in die Höhe treiben, stehen sie wieder auf, verneigen sich und singen und tanzen bis tief in die Nacht.

Das Fliederbäumchen

Es war schon den ganzen Tag sommerlich heiß gewesen; drückend wie im Juli. Die Schwalben schossen auf der Jagd dicht über dem Fluß hin und her, warfen sich hoch, und wendeten schnell dann, jäh niederfallend, daß ihre blauen Brüste blitzten. Die Mücken hatten sich unbändig frech gezeigt, und das Strafgericht, das mit den gierigen Raubzügen der Schwalben über sie hereinbrach, gönnte ihnen jeder, und wer etwas vom Wetter verstand, und alle, die am Fluß wohnten, verstanden etwas vom Wetter, die hatten schon am Vormittag ein Gewitter vorausgesagt, das nun am späten Nachmittag sich auch entladen sollte.

Rasch und erschreckend war es finster geworden. Überm Fluß drüben begann es. Schwarz zogs herauf hinterm Dreifaltigkeitsberg, daß die kleine, weiße Wallfahrtskirche, die droben stand, auf einmal fahl glänzte wie Totenbein. Und ein Wind kam, der fuhr in alle Bäume und wühlte im jungen Laub und wendete alle Blätter, daß ihre helle Unterseite schamlos hersah. Die Fische sprangen aus dem Wasser und schnappten nach den Mücken, die hatten Feinde nun oben und unten, und vielleicht sprangen die Geschuppten vor Lust so hoch, daß man ihre silbergekrümmten, tropfenden Leiber sah, oder auch sie sprangen vor Angst, weil die allgemeine Bangigkeit sie erfaßt hatte, mit der die Schwüle jedem das Herz bedrückte.

Und die Dunkelheit nahm immer noch zu. Von seinem Fenster aus sah Ludwig zur Linken den Fluß, der grün sonst war, aber jetzt grau war wie geschmolzenes Blei, und sah die Ziegeldächer der Stadt vor sich liegen, und die Häuser duckten sich, schien ihm, und die Büsche in den kleinen Vorgärten waren, vom Wind gepeitscht, in wilder Bewegung. Klappernd schloß die Magd im Nebenhaus die Fenster, und ihr rotes Kopftuch leuchtete mohnfeurig in dem Schwarzblau, das die Luft fast körperlich füllte. Als jetzt ein großer, verästelter Blitz aufzuckte und sein schwefliges Licht in Wellen zitternd über den Himmel lief, schlug die Magd erschrocken das Kreuz und verschwand im Innern des Hauses, auf der Flucht vor dem Donner, der sie dort nur gedämpft erreichen konnte.

Dann brach endlich der Regen los, mit voller Gewalt auf einmal, in silbernen Bächen niederstürzend, herabrauschend gleich Wasserfällen, deren Weg man hoch hinauf sehen kann, der Donner schallte darein, und auf dem Fluß, wenn Ludwig jetzt hinsah, waren die Schwalben verschwunden, aber er war bedeckt über und über mit kleinen, weißen, unermüdlich steigenden Wassersäulen.

Das währte so, mit Tosen und Strudeln und Donnerschlägen, und Ludwig blieb am offenen Fenster, und die Kühle hauchte in sein Zimmer, und mancher Blitz erhellte es und verwehte Tropfen netzten sein Gesicht. Drüben der Berghang, als das Gewitter nachließ, erhielt das erste Licht, dunstig schimmerte ein
Viereck zarten, blassen Glanzes her, da kam schon wieder Sonne hin, schon fiel ein heller Streifen auch auf den Fluß, und als Ludwig zum Himmel aufsah, wirbelten droben die Wolken in kreisender Bewegung und zogen nach Süden ab.

Es litt ihn nicht mehr im Zimmer, er nahm den Hut und ging. Es hatte aufgehört zu regnen, das Straßenpflaster glänzte, Wasserpfützen hatten sich angesammelt und spiegelten das Blau des Himmels, das war von so funkelnder Art, daß es den Blick blendete. In den Anlagen knirschte der nasse, bräunliche Kies unter seinen Füßen, das Gras war von einem metallischen Grün, als wäre Gold darein gemischt, Tropfen hingen an den Zweigen der Sträucher, glänzend in silbernen Schnüren, und eine Amsel, mit nassem Gefieder, hackte unter einem verkrüppelten Holunderbusch auf einen roten Regenwurm los, der sich zu seinem Verderben aus dem feuchten Grund empor gewühlt hatte.

Vor dem Tor der Michaelskirche stand, wie im Mai allabendlich zu dieser Stunde, eine kleine Gruppe von Leuten, die zu spät gekommen waren, oder von solchen, die gern und mit Willen unter den Büschen, die hier wuchsen, der Maiandacht beiwohnten und denen es genügte, durch das offne Tor die Kerzen flimmern zu sehen, und die Gebete und Gesänge zu hören, auch mitzubeten und mitzusingen, wie sie es halten wollten. Ludwig gesellte sich der Gruppe, wie er es gestern und vorgestern getan hatte, und mit einem raschen Blick hatte er erspäht, daß auch die schöne Fremde im grünen Kleid wieder da war.

Es wurde ihm eng um die Brust und das Blut schoß ihm verräterisch ins Gesicht, und obwohl sie, die das bewirkt hatte, vor ihm stand und also nicht merken konnte, wie ihm geworden war, hielt er es für geboten, gleichgültig und unaufmerksam zu tun, gelangweilt zum Himmel aufzusehen, der in reiner Bläue jetzt ganz und gar wieder strahlte, kein Wölkchen trübte sie mehr, und es trieb ihn, die kleinen Häuser auf der anderen Seite des Michaelsplatzes angestrengt zu betrachten, als habe er sie mit den niedrigen Türen und den grüngestrichenen Läden und den Blumenkästen vor den Fenstern zum erstenmal vor den Augen. Jetzt rumpelte ein schweres Brauereifuhrwerk um die Ecke, mit zwei mächtigen Schimmeln bespannt, und er freute sich über die Schimmel, denn die bedeuteten Glück, und das Räderknarren mischte sich in die frommen Klänge, die aus der Kirche drangen.

Der Fliederbusch, unter dem Ludwig stand, ein Fliederbäumchen war es, denn es breitete seine Krone über einen einzigen schmalen Stamm, trug nicht sehr viele, aber große und üppige Blütentrauben, die noch feucht waren von dem Gewitterregen, der sie erquickt hatte. Die jungen Mädchen, die sich eingefunden hatten, große Schleifen im Haar und in hellen Kleidern, und die jungen Männer, die gingen gern zur Maiandacht, weil das eine willkommene Begründung gab, abends noch einmal das Haus zu verlassen, statt hinter den Schulaufgaben sitzen zu bleiben; und dem frommen Wunsch, die Andacht zu besuchen, konnten sich auch die strengsten Eltern nicht leicht verschließen. Die fröhliche Gesellschaft benahm sich zuweilen nicht recht so, wie es der Ort und die Stunde erforderten, und manchmal kicherte eins der Mädchen mit hochrotem Kopf, weil der Ritter, der hinter ihm stand, es wie unbeabsichtigt angestoßen hatte, oder zweie begannen ein kurzes Schwatzen, und dann zischten die gesetzten älteren Leute, die es mit dem Beten ernst nahmen, und sahen sich unwillig und verwarnend um, zur Ordnung und frommen Sammlung mahnend.

Eben trat neben Ludwig ein weißbärtiger, alter Mann, der bekreuzigte sich auf die einfältige Weise, die aus der Übung gekommen ist, wie es fast nur die Kinder noch tun, er zeichnete sich langsam und sorgfältig und mit schwerem Finger ein kleines Kreuz auf die Stirn, auf den Mund, auf die Brust, und dann sprach er ein kurzes Gebet, unhörbar zwar, aber seine Lippen bewegten sich, und sein langer, weißer Bart bewegte sich mit. Dann ging er wieder weiter, der es wie ein Wanderer gemacht hatte, der auf seinem Weg eine Quelle rauschen hörte, herzutrat, einen stärkenden Trunk nahm, und seinem Ziele wieder zustrebt, während in seinem Rücken die Quelle unermüdlich weitersprudelt.

Von der Fremden im hellgrünen Kleid sah Ludwig nur den Nacken und den bräunlichen Haaransatz und das dunkelgrüne Hütchen. Sie stand in gesammelter Haltung, sah nicht ein einziges Mal sich um und schien aufmerksam in die Kirche hineinzulauschen. »Du elfenbeinerner Turm!« klang es heraus, und »Bitt für uns!« antwortete es schallend. »Du Morgenstern!« sprach drinnen der Priester, und »Bitt für uns!« fielen die Betenden rauschend ein. Und weiter ging es mit den süßen und fremdartig üppigen Anrufungen, und auf dem Altar drinnen stand, Ludwig hatte es oft gesehen, von Kerzen umfunkelt, wie in einer Goldwolke, die blumengeschmückte Maienkönigin Maria, die Gottesmutter, und blickte mit frommem Lächeln auf die Flehenden hinab. Nun schwang sich ein Lied auf, ein Orgelschwall tönte darein, das war das Zeichen, daß die Andacht zu Ende ging. Schon bröckelten vom Rand der Gruppe die ersten ab, die es eilig hatten, wegzukommen, die jungen Mädchen mit heißen Gesichtern, und die Schüler setzten ihre bunten Mützen auf, feurigen Auges.

Als sie an ihm vorbeiging, sah die schöne, grüngewandete Fremde mit einem gelassenen Blick Ludwig an, und ob ein kleines Lächeln dabei ihre Mundwinkel hob, dessen war er nicht sicher, und er folgte ihr, wie er ihr schon an den letzten Abenden gefolgt war, und sie tat, als merke sie es nicht. Sie hatte nicht weit zu gehen, dann war sie daheim. Sie öffnete die niedere Eisenpforte, durchschritt eilig den schmalen, gepflasterten Gang des Vorgärtchens, und verschwand im Haus, ohne daß sie sich noch einmal umgeblickt hätte. Daß sie hier zu Besuch war, bei Verwandten, in der Wohnung zur ebenen Erde, hatte Ludwig schon ausgekundschaftet, und das Fenster, das offen stand, war das Fenster ihres Zimmers, und er glaubte auch jetzt zu sehen, daß im verschwimmenden Dämmer des Hintergrundes eine Gestalt sich bewege, die der ihren glich.

Aber bald rührte sich nichts mehr in der Stube, und nach kurzem Zögern, und einem letzten, langen Blick auf das kleine Haus, ging Ludwig durch den warmen Maiabend heim. Auf dem Tisch hatte ihm seine Zimmerwirtin das kalte Abendessen bereitgestellt, das er rasch verzehrte. Ein paar Schulhefte lagen auf dem Pult, die französische Hausaufgabe war noch zu machen, seufzend dachte er daran. Aber der Abend war ja noch lang, tröstete er sich, das hat noch Zeit, redete er sich ein, und weil er keinerlei Lust verspürte, sich jetzt und sofort mit den fremden Worten herumzuschlagen und weil der Anblick der Hefte ihn ärgerte, trat er zum Fenster, lehnte sich mit den Armen breit aufs Fensterbrett und sah in den Abend hinaus. Drüben überm Berg war der Mond aufgegangen, der im Zunehmen war, und in einigen Tagen seine volle Größe erreicht haben würde. Der Fluß blitzte unruhig herauf, und ein leiser Windhauch rührte sich in den Bäumen.

Ludwigs Gedanken waren schon längst wieder bei der schönen Unbekannten. Sie saß jetzt wohl am Tisch, und überm Tisch brannte die Lampe und warf einen runden, gelben, warmen Schein auf die Tischplatte. Er ertappte sich dabei, daß er den runden, traulichen Schein von einer altväterischen Petroleumlampe kommen ließ, obwohl er doch wußte, daß längst in allen Häusern der Stadt das elektrische Licht eingerichtet war. Aber er verharrte trotzig bei der Vorstellung der Hängelampe. Vielleicht las sie in einem Buch, träumte er weiter, vielleicht machte sie Handarbeiten, über einen runden Rahmen gebückt, wie er oft so seine Schwester gesehen hatte.

Drüben, jenseits des Flusses, bellte ein Hund, und ein anderer gab ihm Antwort, zweimal, dreimal, und verstummten dann beide. Der Mond schien in das Zimmer jetzt, so hoch war er gestiegen, daß er das vermochte. Ludwig drehte das Licht ab und nun füllte ein gelber zauberhafter Schein den Raum. Die schöne Unbekannte! dachte er, und jetzt, im Mondschein, traute er es sich einzugestehen, daß er sie liebe. »Ich liebe sie«, sprach er vor sich hin, und seine Lippen bebten, als er diese Worte sagte, »ja, ich liebe sie«, sprach er noch einmal, und eine Wallung von Stolz und Zärtlichkeit hob ihm die Brust.

Ich liebe sie, träumte er im Monde weiter, und er würde es ihr nächstens auch sagen, bei der ersten Gelegenheit, die sich schon finden würde. Und einen Heiratsantrag wollte er ihr machen, das war auf einmal sein feuriger Entschluß. »Heiratsantrag«, sagte er laut, und erschrak nun doch über das feierliche und große Wort, das ihm da auf die Lippen gekommen war, und er ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. Zum Heiraten war er ja wohl noch zu jung, erwog er mit gefurchter Stirn, aber verloben doch wenigstens konnte er sich mit ihr, ihr ein für die Zukunft bindendes Versprechen geben, das konnte er, bedachte er aufatmend, dafür war er alt genug mit seinen siebzehn Jahren.

Ja, dafür war er alt genug, und, überlegte er, wenn er nicht auf der Schule blieb bis zur obersten Klasse, wie er das mußte, wenn er Arzt werden wollte, wie er es bisher vorgehabt hatte, wenn er schon nach Schluß der sechsten Klasse, die er jetzt besuchte, abging von der Schule, wie das auch manche der Kameraden machten, um Bankbeamte zu werden, oder Kaufleute oder Techniker, wenn er das tat, dann war es gar nicht mehr so weit hin, bis er ein freier Mann war, der unabhängig im Leben stand, ein Mann, der Geld verdiente, dann konnte er wohl schon in drei Jahren, in vier Jahren eine Frau heimführen. Und so lang würde das schöne Mädchen schon warten, das fühlte er, wenn es ihn nur ein wenig liebte, und das tat es, daran wollte er nicht zweifeln, und bereit war zu einem bescheidenen Leben an seiner Seite und zu einem großen Glück.

Ihm war heiß geworden bei dem Gedanken, so bald schon eine schöne Frau zu gewinnen und der Schule den Rücken kehren
zu können, und sein Vater war vielleicht froh, redete er sich ein, der auf dem Land als Lehrer saß, wenn er das teure Schulgeld für ihn sparte.

Im gelben Mondlicht schwamm das Zimmer, der steifbeinige Stuhl warf einen tiefschwarzen, scharf gekanteten Schatten und das weiße Bett in der Ecke, das schon aufgeschlagen war, dämmerte verlockend und schwül her. So ein weißes Bett stand auch im Zimmer der schönen Fremden und vielleicht hatte sie sich eben jetzt angeschickt, sich zu entkleiden, um sich schlafen zu legen, und hatte, von der Gewalt verführt, die durch das Fenster fordernd drängte, das Licht gelöscht, und der Mond schien jetzt in ihr Zimmer, wie er in seins schien, und sie war im weißen Leibchen und im weißen Unterrock ans Fenster getreten und schaute wie er in die Nacht hinaus und zum Mond hinauf. Und wie er sie so vor sich sah, im weißen, knappen Mieder, wie sie stand, und keusch lagen ihre Schultern bloß, jagte ihm, beklemmend und beseligend, eine Glut durch den Leib, und sein Herz zuckte, daß er danach griff, als müsse er das hüpfende halten, und eine Röte stieg ihm im Gesicht auf und ab, heiß und wallend, und er wäre fast getaumelt, und die Knie wurden ihm schwer und schwach zugleich, und er legte den Kopf auf die Arme, und begriff nicht, warum er weinte, obwohl er doch so glücklich war, warum ihn ein mächtiges Schluchzen stieß und schüttelte, daß er zu vergehen vermeinte.

Als er am andern Abend, der Tag war schön und wolkenlos gewesen, und auch in der Schule war alles gut gegangen, selbst die französische Stunde war ohne ihn zu gefährden verstrichen, als Ludwig am andern Abend wieder vor der Michaelskirche stand, bei den Büschen, war die schöne Fremde noch nicht da, und auch als die Andacht ihren Anfang genommen hatte, fehlte sie noch. fünf Minuten verstrichen, zehn Minuten, sie kam nicht, und er spähte immer wieder nach ihr aus, quälend vergeblich. Und als ihn eben ein kalter Schauer überrann bei dem Gedanken, daß sie vielleicht abgereist sei und er sie nie mehr im Leben wiedersehen würde, als ihn das große Grauen der Welt faßte, daß so etwas überhaupt möglich sein sollte, daß ein unbegreiflich waltendes Schicksal es teilnahmslos zuließe, daß etwas, das im ersten Beginnen war, noch gar nicht begonnen hatte, schon wieder sollte beendet sein, da eben, als er sich aufgeregt zum hundertstenmal umblickte, sah er sie über den Platz herkommen, in ihrem grünen Kleid, mit ihrem freien und leicht wiegenden Schritt, und neben ihr ging, und ihm verschlug es den Atem, und seine Haut überlief ein eisiges, prickelndes Stechen vor Schrecken und Scham und Verlegenheit, und neben ihr schritt ein junger Mann in einem schön geschnittenen, grauen Anzug, einen flachen Strohhut auf dem Kopf, und sprach vertraulich auf sie ein, und ihr Gesicht glänzte, schien ihm, wie er es noch nie hatte glänzen sehen.

Nun waren die beiden dicht hinter ihm, er hörte ihr Kleid rauschen, dann schoben sie sich an ihm vorbei, weiter nach vorn, und sie blickte ihn dabei so gleichgültig an, als habe sie ihn im Leben noch nicht gesehen, und dann stand sie auf ihrem gewöhnlichen Platz unter dem kleinen Fliederbaum, und eine große blaue Blütentraube hing so, daß sie ihr fast die Stirn streifte. Ludwig flimmerte es vor den Augen. Da war sie vor ihm, die Abtrünnige, die Treulose, und während die frommen Gebete aus der Kirche schollen, an- und abschwellend, stand sie neben dem fröhlichen Gutgekleideten, dem Mann im grauen Anzug, und sie standen so eng, daß ihre Schultern sich berührten, absichtlich standen sie so eng, schien es ihm, und jetzt eben drehte sie dem siegreichen Verführer, der größer war als sie, das Gesicht zu und lächelte zu ihm auf. Lange währte das, endlos lang, schamlos lang, und Ludwig umklammerte den schmalen Stamm des Bäumchens und ruckte leise daran, daß die Blütentraube über ihrer Stirn sich senkte, ihr einen kleinen, schwankenden Schlag ins Gesicht versetzte, und dann wieder hochstieg. Sie achtete des Schlags nicht, meinte wohl, der Wind habe die Blüte bewegt, aber als Ludwig ihr jetzt zum zweiten- und drittenmal, am Stamm rüttelnd, die Blüte ins Gesicht peitschte, er war wie rasend vor Wut, und fühlte nur: sie gehört gezüchtigt, ausgepeitscht gehört sie, hier vor allem Volk gehört sie bestraft, als die Schläge sich wiederholten, konnte sie nicht mehr an den Wind glauben und sah sich um mit einem flammenden Blick, und wußte gleich, daß er der Täter war, sah wieder nach vorn, durch die offne Tür in die Kirche hinein und griff nach oben und riß rasch und gewandt die Blüte ab und warf sie zu Boden. Ludwig konnte, als er nach unten spähte, die Blüte auf der Erde liegen sehen, und sehen, wie sie zornig mit dem Fuß drauftrat und fest drauf stehen blieb.

Endlich war die Andacht, wie lang dauerte sie heute, zu Ende, und das verliebte Paar, und daß es das war, daran zweifelte Ludwig nun nicht mehr im geringsten, mußte wieder an ihm vorbei. Der glückliche Nebenbuhler hatte nichts bemerkt von dem Vorfall, schien es, er sah Ludwig nicht einmal an, sie hatte es nicht einmal der Mühe wert gehalten, ihm etwas davon zu sagen, so wenig galt er ihr, so wenig kam er in Betracht. Aus zusammengekniffenen Augen streifte die Fremde Ludwig mit einem hochmütigen und verächtlichen Blick und legte ihre Hand auf den Arm ihres Begleiters und lachte silbern auf, und dann gingen die Strahlenden ihres Wegs. Vor Ludwig lag im Sand die jämmerlich zertretene Blüte, zerquetscht und besudelt und elend, ein Sinnbild seiner selbst und seiner schmählich verratenen Liebe.

Den Rucksack, der ihm schon bei manchem Ausflug gedient hatte, zusammengefaltet unterm Arm, stand Ludwig unter der Haustüre. Es war nach elf Uhr abends, als er sich auf den Weg machte. Die Straßen waren leer, es hallte sein Schritt auf dem Pflaster. Er hielt sich im Schatten der Häuser, der ihn verbergen sollte, denn nach den Vorschriften der Schule durfte er um diese Stunde nicht mehr außer Haus angetroffen werden, ohne schwere Strafe fürchten zu müssen. Den Rockkragen hatte er hochgeschlagen und trug einen alten, grünen Jägerhut auf dem Kopf, der seinem Zimmerwirt gehörte und den er im Flur verstohlen vom Haken genommen hatte. Der Hut war ihm viel zu groß und saß ihm tief in den Augen, und so konnte er sich davor gesichert fühlen, von einem Lehrer, der ihm etwa begegnen mochte, erkannt zu werden. Der Mond stand am Himmel, aber noch stand er hinterm Turm der Michaelskirche, und so lag der Platz vor der Kirche und die kleine Sträuchergruppe vorm Kirchentor im tiefen Schatten. Dunkel glühten die schweren Dolden des Fliederbäumchens. Unverweilt begann der Zornige sein Werk. Blütentraube nach Blütentraube riß er ab und warf sie auf den Boden zu einem Haufen zusammen. Manche Zweige leisteten zähen Widerstand und gaben die Blüte nicht her, ohne einen Streifen Haut zu opfern und weißliche Wunden dann zu zeigen. Um die Blüten zu erreichen, die an der Spitze des Bäumchens saßen; mußte er den zierlichen Stamm herabbiegen, und die Blüte zu alleroberst, die wie ein Wedel auf dem Turban eines Türkenpaschas schwankte, entzog sich seinem Griff immer wieder, bis er sie doch zu fassen bekam und mit einem Stöhnen der Lust und der befriedigten Rachsucht abriß. Der Platz lag leer und wie ausgestorben, während er so sich mühte. Jetzt schlug es oben vom Turm der Kirche zwölf Uhr, zwölf hallende Schläge, und er unterbrach seinen Eifer und lauschte den Schlägen und zählte mit, bis endlich der zwölfte Schlag dröhnend verklungen war. Er riß dann die letzten Blüten noch ab, die sich im dunklen Laub verborgen gehalten bis jetzt, durch listiges Verstecken seiner Hand zu entkommen getrachtet hatten, er aber wollte ganze Arbeit tun und ruhte nicht, bis der Baum blütenlos stand. Die abgerissenen Trauben dufteten stark und süß. Er füllte sie in den Rucksack, stopfte und preßte und schob, bis sie alle drin waren, und schulterte den Sack dann, warf einen zufriedenen Blick noch auf den geplünderten Baum und machte sich fort.

Es war nicht weit zu dem Hause der schönen Ungetreuen. Vor einem Mann, der ihm begegnet war, summend und singend an ihm vorbei auf der anderen Straßenseite, strömend seliger Laune, er kam von einem späten Trunk wohl, hatte Ludwig sich in das Dunkel einer Toreinfahrt gedrückt und war mit dem Rücken in den Blütensack wie in ein Polster weich und nachgiebig gesunken. Dann war er weitergegangen, und da lag nun ihr Haus im hellen Mondschein. Ihr Fenster stand offen und ein weißer Vorhang war nur halb zugezogen. Er klinkte die kleine eiserne Vorgartentür auf, sie war nicht versperrt, das hatte er erwartet, niemand verriegelte die Gartentüren, es genügte, wenn die Haustür verschlossen war. Er hob den Sack hoch und schüttelte seinen Inhalt auf den Boden, verstreute die Blüten sorgsam, daß der schmale gepflasterte Gang, der von der Eisentür zur Haustür führte, mit den großen, bläulich schimmernden Trauben ganz bedeckt war. Morgen, wenn sie das Haus verließ, mit ihrem wiegenden Schritt, sollte sie wieder die unschuldigen Blüten zertreten müssen, grausam, wie sie heute an der Blüte vor der Kirche getan hatte. Dann schlich er sich vorsichtig an das offene Fenster heran und lauschte. Nichts war zu hören, kein Atemzug oder das Geräusch eines Schlafenden, der sich im Bett umdreht. Ein großer Schmerz ergriff ihn bei dem Gedanken an die schöne Schläferin, die mit gelösten Gliedern auf ihrem Lager ruhte, schlummerheiß, eine bräunliche Locke geringelt auf den weißen Kissen. Er hob eine Blüte vom Boden auf und warf sie durchs Fenster in das Zimmer. Die mochte sie morgen beim Erwachen vor ihrem Bett finden.

Er nahm den Rucksack unter den Arm, niemand hatte ihn beobachtet, der Mond strahlte gelb vom Himmel und in seinem Licht lag der mit Blumen bestreute Pfad. Die Eisenpforte klinkte er leise wieder ein, und ging nach Haus, und das letzte Stück lief er. Unbemerkt kam er in sein Zimmer und zog sich
aus und ging zu Bett, und er lag noch kaum lang ausgestreckt, so spürte er, daß er wie von einer Last befreit war, und daß er fest und tief und sanft schlafen würde, bis in den hellen Morgen, so erlöst war ihm zumut, wie nach einer guten Tat.

Das gerupfte Fliederbäumchen sah nicht einmal so schlimm aus, wie Ludwig es gefürchtet hatte, als er klopfenden Herzens am andern Tag zur Maiandacht ging. Es waren ihm ja nur die Blüten genommen worden, es trug ja noch sein volles, flatterndes Laub, und es schien ihm, daß die meisten der Beter, die sich vorm Tor eingefunden nicht einmal merkten, was die vergangene Nacht geschehen war. Aber dann schüttelte doch mancher mißbilligend den Kopf über den frechen Blumenräuber, dessen Tat doppelt abscheulich war, weil der geplünderte Baum vor der Kirche stand, zu ihr gehörig, ein Stück ihrer Einrichtung fast, und geheiligt wie sie.

Und dann sah er sie daherkommen, im grünen Kleid mit ihrem ausgreifenden, ein wenig wiegenden Schritt, allein wieder, er stellte es tief atmend fest. Sie beachtete ihn nicht, trat vor ihn auf ihren gewohnten Platz unter dem Fliederbaum. Sie kam neben einer alten Frau zu stehen, deren Scheitel weiß leuchtete. Die Frau neigte sich zu ihr, flüsterte ihr etwas ins Ohr, und die schöne Fremde warf einen raschen Blick in das Laubwerk hinauf, und dann nickte sie wie zustimmend und ein wenig zerstreut und sah wieder geradeaus, in die Kirche hinein, als habe ihr das keinen Eindruck gemacht, was die alte Frau ihr gesagt hatte, als kümmere sie das wenig, was böse Hände da verbrochen hatten, als lausche sie fromm und andächtig und hingegeben dem Lobgesang, der aus der Kirche süß herausdrang in die Maienluft. Aber das Rot, das über ihren Nacken lief, ein tiefes, dunkles Rot, das wie eine brennende Woge aufflammte, verriet Ludwig, und das war ihm eine tiefe und strahlende Genugtuung, daß sie jetzt wußte, wer der Fliederräuber war, und daß sie jetzt auch wußte, wenn sie es auch schon geahnt haben mochte, wer den Fliederüberfluß vor ihre Tür geschüttet hatte heute Nacht und die Blüte in ihr Zimmer geworfen. Das Rot verlief sich dann wieder, weiß glänzte ihr Nacken, bräunlich schimmerte ihr Haaransatz, und sie sah sich nicht ein einziges Mal nach ihm um, stand wie ins Gebet versenkt.

Die Beter gingen dann und sie wandte sich auch, zu gehen, und griff in das Laub des Fliederbäumchens, nahm ein paar Äste zusammen und drückte sie an die Brust und strich zärtlich und wie voll Mitleid darüber hin und ließ sie wieder los, die zurücksprangen und leise schaukelten. Dabei hatte sie Ludwig, den Kopf ein wenig schüttelnd, wie fragend angesehen.

Der Rucksack strömte einen leichten Fliederduft aus, als Ludwig ihn aus dem Kasten holte. Es war schon dämmerig, Feierabend war, und alle Läden längst geschlossen, aber in der kleinen Gärtnerei würde man es wohl so genau nicht nehmen. Die Gärtnersfrau verkaufte ihm auch wirklich noch für wenig Geld einen mächtigen Strauß Flieder. Er brachte ihn im Rucksack unter, zum Erstaunen der Frau, aber weil er es nun einmal so haben wollte, half sie ihm dabei, und weil sie sehr sorgsam verfuhren und der Flieder ja geduldig ist und sich krümmt und alles mit sich geschehen läßt, so erlitten die schönen rotbläulichen Trauben keinen merklichen Schaden.

Dann trug er die leichte Last auf sein Zimmer. In der Schublade hatte er immer einen Schnurvorrat, weil er alle vierzehn Tage seine Wäsche in einer Pappschachtel verpackte und nach Hause schickte, in die mütterliche Obhut, zur Säuberung und Instandsetzung. Die Schnur zerschnitt er in handlange Stücke. Dann schüttete er den Flieder auf den Tisch und knüpfte an die Stiele der Blüten die Schnüre. Aber es waren viele Blüten, und die Schnüre reichten nicht, und so entnahm er seinen neuen, braunen Sonntagsschuhen die Bänder und zerschnitt sie, und dann war es so weit, daß jede Blüte unten einen Faden baumeln hatte. Es war eine heimliche und schöne Arbeit, wie man sie zur Weihnachtszeit tut, an Glaskugeln und Äpfeln. Die Blüten packte er dann wieder in den Rucksack.

Gegen Mitternacht, den Jägerhut seines Zimmerwirts auf dem Kopf, den Rucksack geschultert, machte sich Ludwig auf den Weg zur Michaelskirche. Es war Vollmond jetzt geworden, gelb glänzte die mächtige Scheibe am Himmel. Am Fliederbäumchen begann er seine Arbeit, band Blüte nach Blüte an die Zweige, und das war mühevoller, als die Nacht vorher das Abrupfen gewesen war, und es erforderte mehr Zeit und Geschicklichkeit, aber es ging gut, und niemand störte ihn bei seinem sonderbaren Treiben. Er unterbrach seine Tätigkeit nicht einmal, als drüben über den Platz ein Paar Arm in Arm ging, das ihm aber keinen Blick schenkte, mit sich selber zu tun hatte, ihn auch schwerlich hätte entdecken können, weil ihn das Strauchzeug barg. Dann war er fertig, und musterte sein Werk, und fand es gut.

Er war nicht sehr aufmerksam am andern Tag beim Unterricht, er mußte immer daran denken, ob man wohl seinen geschmückten Fliederbaum in Ruhe gelassen hatte, ob nicht der Kirchendiener vielleicht, oder ein Schutzmann, oder irgendein übereifriger Spaziergänger die Blüten wieder abgerissen hatte. Er hätte ja in der Mittagspause nachsehen können, aber er nahm sich zusammen und tat es nicht. Und wahrhaftig, zur Stunde der Maiandacht, da hingen sie noch an dem Bäumchen, und man mußte schon genau hinsehen, um zu erkennen, daß sie nur angebunden waren, so tüchtig hatte er seine Sache gemacht. Und es ist ja auch der Menschen Art nicht, so scharf zu spähen, und wenn etwas nur halbwegs sitzt, so nehmen sie es für gelungen.

Das geliebte Mädchen kam, die schöne Unbekannte, in einem weißen Kleid, und wieder allein, wie früher auch immer, und er zweifelte nicht mehr, daß er ihr Unrecht getan hatte mit seinem Verdacht, daß der Graugekleidete ihr etwas bedeute. Ludwig duckte sich, um nicht gleich von ihr gesehen zu werden. Sie stellte sich an ihren gewohnten Platz, an der Mauer, unter dem Bäumchen, und sah auf, und sah, daß der Baum seine Blüten wieder bekommen hatte und schüttelte den Kopf und sah sich lachend nach ihm um, der ihr rot und verlegen und glücklich ein Lächeln zurückgab. Nie, so war es ihm, hatten die Sängerknaben so schön gesungen, so himmlisch schön. »Maria zu lieben ist all mein Begehr«, sangen sie, und das Wort: lieben! das klang ihm so süß, und er sang mit, und es war wohl sündhaft, woran er dachte, nicht fromm an Maria dachte er, an seine schöne Geliebte vielmehr, die weißgekleidete.

Sie holte sich eine der Blüten vom Baum, als die Andacht zu Ende war, und das ging nicht so leicht, sah er, fest geknüpft hatte er, aber es gelang ihr, und die Blüte trug sie in der Hand und kam auf ihn zu. Ihm war, sie wolle ihn ansprechen, und er zitterte vor Verwirrung, aber da schob sich ein Rudel lärmender Kinder dazwischen, der sie abdrängte, und da nickte sie ihm bloß zu, nickte ihm bloß zu mit ihrem schönen Gesicht, und er sah, daß sie viel älter war als er, Ende der Zwanzig wohl schon, eine ganz erwachsene Frau, nickte ihm bloß zu ohne etwas zu sagen, und so kam es, daß er nie den Klang ihrer Stimme hören sollte.

Am andern Abend erschien sie nicht zur Andacht. Unruhig stand Ludwig auf seinem Platz und spähte und spähte, aber sie kam nicht. Ein Gang zur Schneiderin hat sie abgehalten, redete er sich ein, oder ein Besuch, den sie nicht losbrachte, des zudringlichen Graugekleideten mußte sie sich vielleicht erwehren, so versuchte er sich zu trösten, oder vielleicht hatte sie Kopfweh und lag im verdunkelten Zimmer, und morgen würde sie wieder da sein, sagte er sich, ganz bestimmt würde da sein, sagte er sich, ganz bestimmt würde sie morgen wieder da sein, aber tief im Herzen saß ihm die würgende Gewißheit, daß er sie gestern abend zum letztenmal gesehen hatte.

Er ging dann zu ihrem Haus. Das Fenster ihres Zimmers war geschlossen. Er strich um das Haus herum, ließ die Tür nicht aus den Augen, bis ein vielleicht zehnjähriger Bub aus ihr heraustrat, der einen Krug in der Hand trug, das Abendbier zu holen. Er sprach ihn an und fragte ihn aus, und Ja! sagte er, sie sei abgereist, heute morgen, nach M., wo sie wohne, bei ihren Eltern. Ihr Urlaub sei aus, sagte er, den sie hier bei ihnen, ihren Verwandten, verbracht habe, und sie heirate bald, sagte er, im Sommer, und er sei eingeladen zur Hochzeit, ihr Verlobter habe ihn eingeladen dazu, der neulich hier gewesen sei, und er freue sich darauf, und er bekomme einen schwarzen Anzug, sagte er, und er dürfe der Braut die Schleppe tragen in der Kirche, das habe sie ihm versprochen, und das würde ein schönes Fest werden.

Diese Nacht kam Ludwig erst spät nach Haus. Er war flußaufwärts gerannt, wo sich ein Weidendickicht hinzog, das durchstreifte er kreuz und quer, und die Schläge, die ihm die Ruten ins Gesicht versetzten, empfand er als angenehm. Einmal war er in einen Tümpel geraten, in ein schlammiges Loch, daß ihm das Wasser in die Schuhe lief, und mit knatschenden Schuhen ging er weiter. Auf einem Stein am Ufer saß er lang und sah in das Ziehen des Wassers hinein. Der volle Mond schien und spiegelte sich in der schwärzlich strömenden Flut. Die Nacht rückte vor, der Mond ging seinen langsamen Weg. Überm Fluß drüben lag ein Dorf und jede Viertelstunde hörte er vom Turm die Zeit schlagen. Um Mitternacht beschloß er zu schwimmen. Er entkleidete sich und nackt stand er fröstelnd eine Weile. Dann stieg er ins Wasser. Das war eiskalt und schaurig. Es war nicht sehr tief an dieser Stelle, bis ans Knie ging ihm das Wasser, und er blieb frierend stehen und spürte den Sand unter den Zehen und spürte, wie die Flut an ihm riß und ihn mitzerren wollte. Ein Nachtvogel schrie aus den Uferweiden, daß er sich erschreckt umsah. Wenn er sich vorbeugte, sah er sich im Wasser wieder, sah einen bleichen Leib, durch den ein unablässiges Zittern rann. Da ging er weiter in den Fluß hinaus, mühsam sich stemmend,
aber dann verlor sich der Grund, er sank rauschend unter, schwarz strudelte es vor seinen Augen, es sauste und brauste um ihn, und er ließ sich sinken.

Der Fluß nahm ihn mit, mit stiller Gewalt, mit mächtigen und zärtlichen Armen trug er ihn. Dann stieß etwas an ihn, einmal, zweimal, Bisse waren es, ein neugieriger Fisch hatte nach ihm geschnappt, als sei er schon tot, schon eine weißliche, aufgeschwemmte Wasserleiche, und davor ekelte ihn unsäglich, und die Bisse fürchtete er mehr als den Tod, und er schlug mit Armen und Beinen wild um sich und war wieder an der Oberfläche des Flusses, schnaubend, und sah den Mond über sich und schwamm ans Ufer und zog sich an und ging nach Haus.

Drei Tage lang ging Ludwig nicht mehr zur Maiandacht. Als er es am vierten wieder tat, nahm er nicht seinen gewöhnlichen Weg, trat durch eine kleine Seitentüre in die Michaelskirche. Er setzte sich, und an das uralte Holz eng und tröstlich geschmiegt, kühl geborgen im Dunkel des schweigenden Gestühls, ließ er den Goldjubel der Andacht vorüberrauschen. Er blieb sitzen, bis die Kirche sich leerte und der Kirchendiener die Kerzen gelöscht hatte. Durch den dämmernden Raum leuchtete der blaue Mantel der Maria her, und die Krone blitzte über ihrem runden, kindlichmütterlichen Gesicht.

Als er dann auch ging, durch das große Tor diesmal, blieb er vor dem Fliederbäumchen stehen. Es trug noch die Blüten, aber die waren welk geworden, eingeschrumpft, bräunlich und matt hingen sie.

Der alte Kirchendiener war eben unter das Tor getreten, über seinem schwarzen, priesterlichen Gewand die blaue Arbeitsschürze, und war wie ein rechtlicher Hausvater, der das Seine betreut. Ob man die welken und abscheulich anzusehenden Blüten nicht abschneiden solle, fragte Ludwig, und deutete auf den Baum, und seine Stimme zitterte. Der Alte sah ihn ruhig an und betrachtete den Baum dann, und lächelte, und sagte gelassen: »Was die törichten Buben nicht alles treiben!« Dann holten sie beide ihre Taschenmesser heraus und zerschnitten die Schnüre, und es lag dann ein Haufen verwelkter Blütentrauben vor ihnen auf dem Boden. Der Alte bückte sich, raffte das Modernde hoch und trug es zu einem Busch, der über und über mit großen, flammend roten Kelchen bedeckt war. Er bog den Busch auseinander und stopfte die welken Blüten hinein, und der Busch schloß sich wieder, blühend und jung stand er, und wucherte und schwoll und prangte, und niemand konnte sehen, was zu seinen Füßen lag an Verwesendem, aus dem er sich nur neue Kraft holen würde.

Das Liebespaar und die Greisin

Der Wind wehte, es war Januar, Schnee fiel, es war Abend, es war schon Nacht, Schnee fiel schon seit Stunden, dicht und unaufhörlich, so war es ein lautloses Gehen. Es waren ihnen Leute begegnet, die schwarze Larven vorm Gesicht trugen, Fasching war ja, die Menschen erbebten vor Lust des verliebten Mummenschanzes, und es war jetzt in jeder Nacht ein großes Fest, heute wie morgen, so war es alljährlich um diese Zeit in dieser Stadt. Ein Mann hatte vor ihnen die Straße gekreuzt, der eilig dahinstrebte, ein großer dürrer Mann, dem die rotweißgewürfelten Hosen unten aus dem zu kurzen braunen Mantel lustig hervorsahen. Seine runden, schwarzen Augen im weißbemalten Gesicht unter dem schief gesetzten Hut hatten sie im Licht der Bogenlampe frech und verwegen angeglotzt, dann wallte der Vorhang aus drehenden Flocken und der stangendünne Mensch war schon wieder vorbei. Eine Zigeunerin war aufgetaucht, mitten im Schneewirbel, große, gelbe, schaukelnde Ringe in den Ohren, hatte ihnen etwas zugerufen, etwas Zigeunerisches, und hatte Karl eine Kußhand zugeworfen, und im Wirbel war sie mit dem Schnee um eine Ecke entschwunden.

Karl sah Maria an, Maria sah Karl an, beide lachten, und warum sollten sie nicht lachen, laut und schallend? Es war ihnen warm, es war ihnen sogar heiß, sie gingen ja Arm in Arm, daher kam es. Maria errötete, sie tat, als merke sie es nicht, daß Karl ihren Arm drückte, sie tat, als sei das ganz und gar zufällig geschehen, und auch Karl tat scheinheilig so, der schlaue Verliebte. Wie sollte ihnen da nicht heiß sein, wie sollten sie da nicht glühen und feuerrot brennen, die beiden?

Karl und Maria kannten sich erst seit gestern. War es wirklich erst seit gestern? Karl sah sie an. Er kannte jeden Zug ihres Gesichtes, das Kinn, fest und rund, die Stirn, fest und nicht hoch, die Lippen, die er noch nicht geküßt hatte und wie trieb es ihn, es zu tun, und er hatte einen süßen Schauder zugleich vor seiner vermessenen Begier. Wie waren ihm ihre Augen bekannt, und wie vertraut die kleine Nase, nicht zu klein, gerade so war sie schön, fand er, unruhig verlangend wie sie war im Schatten des schwarzen Hutes!

Sie bogen wieder um eine Ecke, um wieviele Ecken waren sie heut schon gebogen! Überall sah die Welt gleich aus, überall waren Häuser, nur bis zum ersten Stock zu erkennen im Licht der Bogenlampen, überall wirbelte der Schnee, waren ihre Schritte lautlos, immer hatten sie ihre Arme ineinander, und ihre Schultern berührten sich, da waren sie überall glücklich, in jeder hellen Straße, in jeder dunklen Gasse, bei Windpfiff und schwirrendem Flockengedreh. Der Wind war nicht kalt, so schien es ihnen, es war wohl gar Föhn, so katzenpfotig war er, der aus dem Süden kam, meinten sie, aber er kam aus dem Norden, eisnadelbewehrt, sie merkten es nur nicht, er kühlte sie nicht, sie glühten, und sie gingen rascher, als hätten sie ein Ziel, das sie aber nicht hatten, und bogen nur wieder um eine Ecke und wieder in eine Straße voll Schneegestöber.

In der gleichen Hochschule saßen sie auf den gleichen Bänken, Karl und Maria, seit Wochen schon, aber sie hatten sich nie gesehen, unbegreiflich fanden sie das jetzt. Und erst gestern abend hatten sie sich kennengelernt, waren nebeneinander zu sitzen gekommen in einer Vorlesung, und waren miteinander ins Gespräch geraten, und erst nach langem Zögern hatte Karl es gewagt, das Wort an sie zu richten, und nur einsilbig hatte sie geantwortet zuerst, fast abweisenden Gesichts. Dann waren sie zusammen weggegangen, und er hatte gebeten, sie heimbegleiten zu dürfen, und sie hatte es erlaubt, und sie hatte ihm unter der Türe, als er anders sich nicht verabschieden wollte, für morgen, also für heute, einen abendlichen Spaziergang zugesagt, und er hatte nicht gewußt, wie er die Zeit hinbringen sollte, die ewig lange Zeit, bis es so weit sein würde. Und nun war es so weit, und nun machten sie ihren Spaziergang im wirbelnden Schnee, bei Wind, durch viele Straßen, im Licht der Bogenlampen.

Da standen die Häuser, hohe und niedere, und aus manchen Fenstern schimmerte Licht, und die meisten der Fenster waren dunkel, und an den Häusern der Vornehmen und Reichen kamen sie vorbei und an den Häusern der Armen und Gedrückten, aber der Schnee fiel gleich wirbelnd über sie alle her. Und auch an den Häusern kamen sie vorbei, in denen die Feste gefeiert wurden, und viele Wagen standen davor, und alle Fenster waren erleuchtet in diesen Häusern, und Schatten drehten sich an den erleuchteten Fenstern, wirbelnd und schwankend wie der wirbelnde und schwankende Schnee, und Musik wehte aus diesen Häusern her zu ihnen, und sie blieben stehen und drückten sich gegeneinander und schauten hinauf zu den Schatten der Glücklichen, aber wer war so glücklich wie sie selber?

Und sie lachten und gingen weiter und wieder durch stillere Gassen, aber Häuser waren überall um sie, und Treppen liefen innen in den Häusern empor, mit vielen Windungen, wie eilige, hölzerne Schlangen, und die Schlangentreppen stießen mit neugierigen Köpfen immer wieder gegen Türen. Die waren die Eingänge in die Wohnungen der Menschen, in große und kleine Zimmer, in Stuben und Kammern: Denn so ist es im Innern der Häuser, jeder weiß es, und über jedem Haus ist ein Dach aufgerichtet, dem Regen zu wehren und dem Schnee, so leben die Menschen im schützenden Bau, ameisengleich im künstlich erleuchteten Finstern, aber Leid und Lust und Tod, die finden überall hin, so verborgen ist nicht das verborgenste Gemach. Und es stand in dieser Stadt, in der Stube eines Hauses, und in einer Ecke dieser Stube ein großes, schweres, hölzernes Bett, und in den Kissen des Bettes lag eine alte Frau, im Halbschlaf, im Halbtraum.

Es war eine weißhaarige Frau, eine kranke, sehr kranke Frau, es war eine Frau, die schon weit weg war vom Leben, die schon auf einen Ruf von drüben horchte, von droben, von drunten, von weither, von weit woanders her. Sie war schwach, sie war müde, sie dämmerte dahin und horchte ins dunkle Zimmer, dessen Beleuchtung abgedreht war, in dem nur ein wenig Licht war von draußen, von der Bogenlampe über der Straße. Sie war allein, schon seit vielen Jahren allein, ihr Mann war tot, ein Sohn war ihr irgendwo, in einer andern Stadt, eine Tochter war ihr irgendwo, weit in der Welt. Sie hatte gelebt, und hatte das getan und dies, hatte dies versäumt und sich zu jenem gedrängt, und hatte gelacht und geweint, und hatte seit langem schon zu beidem nicht mehr Ursache, weder zu lachen noch zu weinen, hatte nun nichts mehr zu tun als zu warten und zu horchen.

So lag sie und lauschte mit bleichem Gesicht. Eine Frau war sie, aber wie ein Mann sah sie aus, wie ein alter Soldat, das Kinn vorgeschoben, tiefliegend die Augen, die welken Lippen fest geschlossen über den zahnlosen Kiefern. Sie horchte, wie ein Soldat horcht auf einsamem Posten, der zurückgelassen worden ist, als Nachhut, und weit voraus sind die Kameraden, und ihren Marschtritt hört er nicht mehr. Sie lauschte, auf einen Befehl vielleicht sich aufzumachen, sich in Bewegung zu setzen, irgendwohin vorzurücken, wartete auf einen Trommelwirbel etwa oder einen Trompetenstoß, so war ihr, der Alten.

Es wirbelte der Schnee, unaufhörlich, immer noch, und es ging das Paar durch die Straßen,
immer noch, Karl und Maria, die Häuser entlang im Licht der Bogenlampen. Sie kamen an ein Haus, über dessen Tür war ein Dach, darunter traten sie, und standen nun im Trockenen, und sie schüttelten sich, und klopften sich den Schnee von Schultern und Ärmeln, und lachten, und der Schnee draußen wirbelte nur immer heftiger. Karl sah von der Seite, er war ein wenig größer als Maria, auf sie hin, sah auf ihren Mund, der rot und feucht war von der Frische, und wußte, daß er ihn nun bald küssen würde. Seit einer Stunde wußte er das schon, und sie wußte es wohl auch schon ebensolang, aber es zu tun, war nicht so leicht. Doch jetzt, unter dem Türdach, es war klar, daran zweifelten sie nun nicht mehr, daß es hier geschehen würde, wovor sie sich fürchteten und wonach sie sich sehnten.

Maria sah noch immer in das Schneetreiben hinaus. Bebten nicht ihre Lippen? Wurde ihr Gesicht jetzt nicht dunkler und nun wieder blasser? Karl nahm seinen Arm aus dem ihren, und beide Arme ließ sie nun wie hilflos hängen, und er legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie leicht an sich, und das Mädchen gab dem Druck nach, neigte sich zu ihm, und so nun standen sie also eine Weile, aber sich zu küssen, fanden sie immer noch nicht den Mut.

Es war so schwer es zu tun, fast unmöglich schien es. Der Schnee wirbelte, Maria sah ihm zu, mit andächtiger Aufmerksamkeit, wie einem Schauspiel, das ihr neu war, als habe es eben erst begonnen zu schneien, aber ihr Gesicht war nun näher bei ihm, ihren Atem spürte er, warm und süß, und das leise Zittern ihrer Schultern.

Aber nun mußte es sein, und: Feigling! schalt er sich, nun mußte er es tun, und die Augen schloß er, sonst hätte ers nicht gewagt, aber mit geschlossenen Augen, da ging es vielleicht. Er zog sie dicht an sich jetzt, die sich nicht sträubte, sie taumelte ein wenig, dann lag sie an seiner Brust, lag ihr Kopf an seiner Schulter, und die Augen schloß auch sie nun, und daß sie ihm ihr Gesicht ein wenig entgegenhob, konnte er nicht sehen, weil er die Augen nicht auftat, der törichte Mensch.

Da legte er, im Finstern, auch den andern Arm um sie, und nahm sie ganz zu sich her, und schwankte, und sank mit ihr gegen die Mauer, und fühlte den kalten, rauhen Stein am Rücken, und gab Maria den ersten Kuß! Sie riß sich zurück, wie erschrocken fliehend, riß ihn mit, sein Rücken verließ den kalten Stein, dann ließ er sich wieder gegen die Wand fallen und nahm das Mädchen mit, und hob es dabei ein wenig, und küßte es zum zweitenmal, und heftiger diesmal. Und zum drittenmal geschah es, daß er mit dem Rücken Halt suchte an der Wand, das Mädchen leidenschaftlich an sich pressend, und diesmal war es willig ihm hingegeben, auf den Fußspitzen sich hebend drängte es zu ihm, und zum drittenmal küßte er Maria. Sie hatten nichts gesprochen, während sie, sich küssend, so hin und her schwankten, hatten kein Wort geredet, wie auf einer Schaukel stehend war ihnen, als hätten sie keinen festen Boden mehr unter den Füßen, so schwangen sie hin und her, hoch in Lüften, meinten sie, in einer zauberischen Liebesschaukel, hatten die Augen geschlossen, vor denen es ihnen purpurn wogte, wußten nichts von der Welt, wußten nur von ihrem Kuß.

In ihren Polstern die Greisin, bleich in dem weißen Federbett, das sich vor ihr türmte wie ein Gebirge im schwachen Licht, das von der Bogenlampe draußen kam, wie ein Gebirge, das sie zu durchwandern hatte, Hügel hinauf, Hügel hinab, sie wanderte nun schon nächtelang, in ihren Kissen die Greisin hörte den schrillen Ruf, die Klingel tönte kurz und scharf. Man rief sie schon? Man rief sie endlich? Sie hob den Kopf, mühsam, und sah zum Fenster hin, aber da war nichts zu sehen, und sah zur Decke hinauf dann, als erwarte sie, daß die sich auftue. War es das Zeichen gewesen, das lang erhoffte, auf das sie wartete, seit Wochen schon, der Trompetenstoß, der ihr zu kommen befahl? Da klingelte es zum zweitenmal, und länger diesmal, viel länger. »Ja«, murmelte sie, und versuchte sich aufzurichten, »ja, ja, ist schon recht«, und sie stützte sich mit zitternden Armen hoch und sah über das Bettgebirge hin, wo ein Paß sei, ein Höhenweg oder ein Hirtensteig, es zu überschreiten, und drüben, jenseits der Berge, war das gelobte Land. Und zum drittenmal schrillte durch die Stube der Klingelruf, fordernd und mächtig. Nun war es ihr gelungen sich aufzustemmen, der Alten, und sie saß nun im Bett, nach oben den Blick, und die weiß gekalkte Stubendecke schien sich nun wirklich aufzutun, und die Arme streckte sie hinauf zu ihr und sagte gehorsam: »Ja, ja, ich komme ja schon, brauchst nicht noch einmal zu blasen, Erzengel, schimmernder!« Und nun kam viel Licht von oben, und sie deckte die Augen mit der Hand, das viele Licht war nicht zu ertragen, und: »Ich komme ja«, sagte sie, »ungeduldiger, himmlischer Bote!« und lächelte mit trockenen Lippen und die Hand noch vor den Augen sank sie zurück.

Gebe Gott jedem von uns einen so sanften Tod!

Durch den Schneewirbel, Arm in Arm, liefen Karl und Maria, die der Alten das Zeichen gegeben hatten, von unten, von unten unter dem Türdach, im Kuß sich dreimal gegen den Klingelknopf drückend. Lief ins Leben, das himmlische Botenpaar, das Mörderpaar, ins wirbelnde, aus dem die Greisin sanft und ruhig herausgetreten war, dem Rufe von oben gehorsam. Und er muß nicht, der Ruf, oder was sich so deuten läßt, und es hört ihn und deutet ihn immer nur der, dessen Herz schon bereitet ist, er muß nicht aus Wolken gewaltig tönen oder sprechen mit dem Krächzen von Raben ums Haupt des Gezeichneten. Es kann, was sich ankündigen soll, sich auch des Drahts und des eiligen Funken bedienen, unserem Tage gemäß, und er ist doch der uralte und selbe.

Und der Schnee fiel weiter, unaufhörlich, und Karl hatte Maria nach Hause begleitet, und von ihrem Fenster aus hatte sie ihm noch einmal zugewinkt, hatte das Fenster aufgestoßen, daß die kühle Nachtluft in ihr Zimmer drang, und hatte sich weit aus dem Fenster gebeugt und ihm abschiednehmend zugewinkt, und hatte das Fenster geschlossen dann und die Vorhänge zugezogen, damit er nicht stehen bliebe noch länger unten und endlich ginge, der Unersättliche, es war doch schon fast Mitternacht.

Er hatte sich auf den Heimweg gemacht, und als er in die kleine Seitengasse einbog, in der er wohnte, glänzte ihm der Schnee weiß und unberührt entgegen, als sei niemals hier jemand gegangen. Er hatte die Haustüre schon aufgesperrt, als er sich nochmals umwandte. Er sah, wie die Spur seiner Schritte auf ihn zulief, und er sah aber auch, wie die wirbelnden Flocken sich mühten seine Spuren einzuebnen und daß sie es bald so weit gebracht haben würden. Da trat er nochmals auf die Straße zurück und trappelte und stampfte im Schnee herum, in einem weiten Kreis, daß es war, als hätten spielende Kinder hier sich gebalgt, und die Spuren dieser Verwüstung zuzudecken, würde dem Schnee sobald nicht gelingen. Das befriedigte ihn auf eine seltsame Weise, und er ging ins Haus und sagte: »Morgen! Morgen!« vor sich hin und stieg die Treppen zu seinem Zimmer empor.

Und der Schnee fiel weiter, die ganze Nacht hindurch, sanft wirbelnd über die Dächer her, aus unendlichen Räumen kommend, und häufte sich hoch in den Straßen, und als die letzten Gäste die Festsäle verließen, schwankend und von Tanz und Wein erhitzt, gegen den Morgen schon zu, schrien sie verzückt, da sie das viele Weiße sahen, und immer noch von oben kam neues Weißes nach, unermeßlich. Vor dem Fenster der Greisin aber hatte sich der Schnee, vom Wind gegen die Scheiben geblasen, so getürmt, daß es das Morgenlicht schwer hatte, in die Stube zu dringen, und die Aufwärterin, die wie jeden Morgen kam, im Dämmer als erstes das Fenster vom Schnee säuberte. Dann sah sie erst, daß die alte Frau tot war, und bekreuzte sich erschrocken, obwohl da nichts zu erschrecken war, denn der Arzt hatte sie oft beiseite genommen und ihr gesagt, daß sie darauf jeden Tag gefaßt sein müsse.

Ulrich unter der Weide

Ulrich, unser Mann, der Mann dieser Geschichte, fünfunddreißig Jahre alt und unverheiratet, konnte auch sonst frei und unabhängig sich nennen, weil er, unverletzt aus den Schützengräben des Weltkriegs zurückgekommen, mit seiner zeichnerischen Tätigkeit mühelos so viel verdiente, daß es zu einem einfachen Dasein in zwei Zimmern eines großstädtischen Mietshauses reichte, und er, in Unterständen und Betonklötzen zu hausen jahrelang gewohnt, vorläufig mehr auch nicht begehrte an Wohlstand und Behaglichkeit und festem Lebensglück. Dieser Mann Ulrich also saß an einem klaren Januarvormittag am abgeräumten Frühstückstisch, über dem eine weiße, frisch gewaschene Decke lag, und sah durchs Fenster die beschneiten Dächer, und die Arbeit wartete auf ihn, aber er war ganz und gar unlustig jetzt, mit Schnörkeln und schwarzem Rankenwerk sich zu beschäftigen.

Er hatte schon die ganze Zeit her sich vorgenommen gehabt, für eine Woche oder auch zwei zur Erholung in das nahe Gebirge zu fahren, und hatte es zögernd immer wieder hinausgeschoben. Aber nun, in dieser Stunde, vor der schneeweißen Decke, die wie ein winterliches Feld sich vor ihm breitete, war ihm auf einmal, am besten sei es, morgen zu der kleinen Unternehmung aufzubrechen. Während er die geringen Vorbereitungen bedachte, die er zu treffen hatte, zog er die Tischschublade auf, seinen dort verwahrten Geldvorrat zu überprüfen, und sah eine Orange, die er gestern in die Schublade getan hatte, holte sie heraus und legte sie auf den Tisch. Spielend, und in Gedanken schon unterwegs in die Berge, stieß er mit dem kleinen Finger gegen die Frucht, und sie rollte dahin, und ihr Schatten war wie eine blasse, rötliche Scheibe auf dem Tuch. Ulrich ließ die glänzende Kugel zwischen seinen beiden Händen hin und her wandern. Weich prallte sie gegen seinen Handteller, sprang, als sei sie lebendig, davon ab,
lief die Bahn zurück, und hin und her, bis er, des dummen Spiels müde, plötzlich eine Hand hochhob, daß die Genarrte unter ihr wegglitt, weiter lief, das Tischende erreichte und abstürzte, mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fiel, dort weiter rollte, und erst an der Zimmerwand haltmachte. Da hob Ulrich die Frucht auf und legte sie achtlos wieder in die Schublade, und begann sein Geld nachzuzählen.

Am andern Tag saß er im Zug, und sah, wie die Berge immer näher heranrückten und wie sie immer größer wurden, und die Häuser immer kleiner, und wie der Schnee sich immer höher häufte neben den Bahngeleisen, und nach zwei Stunden schon war er in Eichhausen am Aprersee. In dem Wirtshaus, das ihm von Bekannten empfohlen worden war, nahm er ein Zimmer im ersten Stock, das zwar klein war, aber desto besser zu heizen, wie ihm die Wirtin versicherte, und dessen Fenster überdies den Blick über den See und zu den Bergen freigab. Er räumte seine Wäsche ein und ein paar Bücher, und weil es inzwischen schon fast fünf Uhr geworden war und es bald dunkeln würde, wollte er, sich noch bei Tageslicht etwas vertraut zu machen mit der neuen Umgebung, durchs Dorf gehen und hinunter zum See.

Das Wirtshaus hieß »Zum Florian« und hatte seinen Namen davon, daß auf der Stirnwand in bunten Farben ein Bild des Heiligen gemalt war, der in Feuer und Feuersnot sich oft schon gnädig bewährte. Er war wie ein Kriegsmann dargestellt, mit Brustpanzer und Beinschienen, und um die Hüften trug er ein kurzes Gewand, das wie ein Kinderröckchen aussah, und auf dem Kopf einen großen Helm mit wallendem Federbusch. Aus einer Schöpfkelle goß er einen Wasserstrahl auf ein Haus, das klein zu seinen Füßen war und aus dessen Dach blutrote Flammen züngelten, während die aufgescheuchten Bewohner es jammernd umstanden. Auf seinem Gang durch das Dorf sah Ulrich noch mehr Häuser, die mit buntfarbigen Schilderungen kräftig ausgeschmückt waren, Gottvater im Bart zeigend, und die himmlische Taube, und Engel und Blutzeugen. Der Tag war nicht sehr kalt, und als Ulrich vorm See stand, war der auch gar nicht gefroren, schwarzblau war das Wasser und ohne Bewegung, groß und traurig glänzend lag die weite Fläche vor ihm, und dicht vor ihm stieg trockenes Schilf aus der Flut, gelblichbraun und stachlig.

So stand er, und langsam kam der Abend über den See, mit leichten Nebeln, es wurde kälter, und Ulrich ging ins Dorf zurück, wo die ersten Lichter dumpfrötlich durch die kleinen Scheiben auf die Straße sahen, und ging ins Wirtshaus und in die dämmrige Wirtsstube, und setzte sich in die Ecke neben den großen, grünen Ofen, und legte die Hände an die gebuckelten, warmen Kacheln. Es war still in der Stube, und er der einzige Gast, und eine Kuckucksuhr tickte im braun verräucherten Holzgehäus. Es trat jemand ein, durch die Tür hinter dem Schanktisch, und eine Stimme sagte: Guten Abend! und fragte, was er bestellen wolle, und er bestellte roten Wein. Den brachte das Mädchen und wünschte: Zum Wohlsein! und drehte das Licht an. Das Mädchen trug die dunklen Haare in einem Knoten im Nacken und hatte einen gelassenen Blick, mit dem sie ihn jetzt unbefangen musterte, und fragte, ohne Neugierde, aber mit einer ruhigen Höflichkeit, wie lange er bleiben wolle? und riet ihm, wohin von Eichhausen aus sich schöne Ausflüge machen ließen, und ließ ihn dann allein, weil andere Gäste eingetreten waren, Leute aus dem Dorf, die sie zu bedienen hatte.

Ulrich, mit dem Rücken am warmen Ofen, trank von seinem Wein und genoß das Behagen der Stunde. Die Männer drüben spielten Karten, und das klatschende Geräusch, mit dem sie das As und den König auf den blank gescheuerten Tisch warfen, und das Klingeln der Münzen in den kleinen Blechtellern drang friedlich zu ihm. Anna, so sagten die Spieler zu dem Mädchen, ging ab und zu, ihre Arbeit zu verrichten. Sie mochte Mitte der Zwanzig sein und trug nach Landessitte das helle, gewürfelte Miederkleid, das den Frauen so gut ansteht, mit der weißen Zierschürze darüber, und auch weiße Strümpfe zu den schwarzen, festen Schuhen. Später verlangte Ulrich zu essen, und es schmeckte ihm wie schon lange nicht mehr, und auch der rote Wein gefiel ihm, und er bestellte ein zweites Glas und ein drittes. Es hätte langweilig sein können für ihn, so allein in der Ofenecke, aber so war es gar nicht. Er sah Anna zu, wie sie kam und ging mit rauschendem Rock, und sie hatte es wohl bemerkt, daß er sie nicht aus den Augen ließ, und auch sie sah ihn manchmal an, aber es war gar nicht leichtfertig, wie sie das taten, und sie wurden auch gar nicht verlegen dabei. Und auch als er zahlte, versuchte er es nicht mit einem scherzenden Wort, und sie schien auch keins zu erwarten, mit Gewissenhaftigkeit rechnete sie mit ihm ab, und ohne den Kopf dabei zu erheben, und dann ging er auf sein Zimmer.

Oben trat er ans Fenster. Der See blinkte dunkel her, und der fast schon volle Mond war da und gab sein Licht, aber die entfernten Berge waren nicht zu sehen, weil weiter hinaus der Himmel mit weißlich schimmerndem Gewölk bedeckt war. Als er ausgestreckt im Bett lag und sich wohlig dehnte, und das glatte Leinen angenehm empfand, war ihm frei und heiter zumut, wie einem Kind wohl, dem Feiertage bevorstehen, und so schlief er ein.

Als er erwachte am andern Morgen, und nicht gleich wußte, wo er sich befand, aber dann Zimmer und Schrank erkannte, und ihm die Erinnerung zurückkehrte, setzte er sich glücklich im Bett auf. Es schneite, er sah es durchs Fenster, nicht in dicken, großen Flocken, ein schöner frostiger Schnee war es, einer der liegen bleiben und nicht am Boden gleich zu Wasser zergehen würde, das sah man ihm an. Ulrich zog sich eilig an, obwohl er es doch gar nicht eilig hatte, und er blieb ja auch noch eine Weile stehen am Fenster. Der See war nicht zu sehen, und nicht die Berge, vom wehenden Schnee eingehüllt, aber eine große Helligkeit lag draußen, die anzeigte, daß der Schneefall bald aufhören würde.

Dann ging er in die Wirtsstube hinab. Die sah freundlich und aufgeräumt her, und er setzte sich an seinen Platz am grünen Ofen, und Anna brachte ihm das Frühstück. Es hielt ihn nicht lang, mächtig trieb es ihn in den Winter hinaus. Wirklich hatte es fast aufgehört zu schneien, nur vereinzelt noch und wie verflogen legten sich ihm zarte Flöckchen ins Gesicht. Der Himmel war grau, aber er hatte schon Stellen, wo ein hell glänzendes Blau durchbrach. Ulrich ging durch das Dorf, aber nicht zum See hinab diesmal, er ging landeinwärts, den Bergen entgegen, die sich mächtig vor ihm aufstellten.

Er war noch keine Stunde gegangen, zuerst noch zwischen Plankenzäunen dahin, dann auf der freien Straße, die in vielen Windungen sich krümmte, und der Schnee knirschte lustig unter seinen Schuhen, als er an ein einsames Haus kam, das hinter einem festen, hölzernen Zaun an der Straße stand. Es war kein Bauernhaus, wenn es auch mit geschindeltem Dach und einem eisernen Wetterhahn darauf und kleinen Fenstern so tat, es war ein Landhaus, wie Städter es sich bauen lassen, zu kurzem Aufenthalt dann und wann, und es war nicht zu erkennen, ob es jetzt bewohnt war. Zwar an den Fenstern waren Vorhänge angebracht, sauber gefältelt, und die Scheiben blitzten frisch geputzt, aber aus dem Kamin stieg kein Rauch, still und frierend lag das Haus da. Ulrich war vor dem Haus stehen geblieben, und obwohl es peinlich für ihn sein mußte, wenn daraufhin sich jemand zeigte, klatschte er schallend in die Hände, daß er selbst erschrak über den frechen Lärm. Aber nichts rührte sich in dem Haus, der Wetterhahn flog nicht auf, und niemand trat neugierig ans Fenster, nach dem Störenfried Ausschau zu halten, der nun schnell und beschämt weiterging. Nach einiger Zeit verließ er die Straße, die ihn an die Berge herangebracht hätte, wohin er nicht wollte, die Riesen nur von fern zu schauen war er diesmal gekommen, und ein Nebenweg führte ihn auf einem Steg über einen tief verschneiten Bach und in einem großen Bogen hinunter zum See, der in der prallen Sonne glänzte, und dem Seeufer entlang wieder ins Dorf zurück und ins Wirtshaus.

Auf dem Tisch vorm grünen Ofen war gedeckt, für ihn gedeckt, er sah es gleich, als er in die Wirtsstube eintrat. Und kaum saß er, brachte Anna den dampfenden Suppenteller und Fleisch und Gemüse, und er aß, und es war ihm zumut, als sei er schon oft, schon seit Tagen, hier essend gesessen, und er war doch gestern erst angekommen. Anna bediente ihn mit unaufdringlicher Sorgfalt. Sie erriet an seinem suchenden Blick, daß er Salz wolle, und brachte es herbei, und in das Brotkörbchen hatte sie Scheiben schwarzen Brotes gelegt, und weiße Hörnchen und Kipfeln und Brezeln zur Auswahl, und im Glas funkelte ihm der rote Wein. Am abgeräumten Tisch blieb er noch ein wenig sitzen und ließ sich von Anna erzählen, daß der Wirt, ihr Onkel, vor einem halben Jahr gestorben sei, und sie nun hier, der Tante beizustehen in der ersten schweren Zeit, und dabei zu lernen, sich in Haus und Küche umzutun, und das sei nützlich für sie und sie würde das Gelernte auch anwenden können, weil ihre Eltern selber einen Gasthof besäßen in einer benachbarten Ortschaft. So schwatzte sie, und der Kuckuck fuhr aus der Uhr heraus und schrie gellend die Zeit.

Als Ulrich zu zahlen verlangte, und sie, neben ihm sitzend, auf einem Zettel mit ihm abrechnete, kamen ihrer beiden Hände aneinander zu liegen, und eine Röte stieg in ihr Gesicht, aber ihre Hand zog sie nicht zurück, und er seine auch nicht. Und sie blieb sitzen am Tisch, als er aufstand und ging, und als er unter der Türe sich umblickte, sah er mit Verwunderung, daß sie ihre Hand auf dem Zettel hatte liegen lassen, als scheue sie sich, ihre Lage zu verändern, und mit großen Augen sie betrachtete, ihre feste Mädchenhand.

Später, nach einem kurzen Schlaf, machte Ulrich sich auf zu einem Spaziergang, und er schlug den Weg ein, den er heut schon einmal
gegangen war. Es war ein strahlender Wintertag nun geworden, mit einem blauen Himmel ohne jede Wolke, und der Schnee ringsum blendete die Augen. Er kam an das einsame Landhaus wieder, und blieb stehen am Zaun, gerade vor der Tür, und kein Täfelchen daran zeigte den Namen des Besitzers an, und er sah auf das Haus hin, das stumm da lag. Lange blieb er so stehen, in der Sonne, und spürte ihre Wärme, und sah zu dem Wetterhahn auf dem Dach hinauf, der in der Sonne blitzte, und sah von Fenster zu Fenster, und dann drückte er mit einem festen Ruck die Klinke an der Tür nieder. Das gab einen kreischenden Ton, aber die Tür war versperrt und ließ sich nicht öffnen. Dem das Haus gehört, der ist in der Stadt, sagte er sich, aber er sagte es sich ein wenig ungläubig, und voll Mißtrauen war ihm, er würde beobachtet, was er denn da triebe, wo er doch nichts zu suchen hatte, und die Fenster schienen ihm wie Augen zu sein, die ihn belustigt betrachteten. So wandte er den Blick von ihnen und sah den Wetterhahn an, der den Schnabel keck in die Lüfte hielt, als wolle er gleich zu krähen beginnen, und ärgerlich über sich setzte er seinen Weg fort, zum See hinunter.

Auf einem dürren Baum am Ufer saßen ein paar Krähen, die aufflogen, als er ihnen zu nahe kam, und sie waren das einzige Lebendige weit und breit, wenn man nicht den See als etwas Lebendiges nehmen wollte, der spielend kleine Wellen ans Land warf. Ulrich ging den schmalen Uferweg dahin, und ließ sich Zeit dazu, und er blieb stehen, und bückte sich, und begann aus dem Schnee eine Kugel zu formen, und dabei kniete er nieder im Eifer der Arbeit. Der Schnee ließ sich willig kneten und pressen, und wurde zu einem Menschenkopf, und der nahm die Züge des Mädchens Anna an, und das Gesicht war zuletzt sogar sehr ähnlich geraten. Aber Ulrich brauchte nur die Nase ein wenig spitzer zu machen, und den Mund voller, und da einen Griff zu tun und hier einen, und schon war es eine fremde Frau, die ihn ansah, und daß es so leicht war, ein Gesicht in ein anderes zu verwandeln, das verdroß ihn wie oft schon. Aber ebenso rasch, und er lachte, war ja das frühere Gesicht wieder hergestellt! Er machte eine Grube in den Schnee, und legte den Kopf hinein, und schaufelte mit den Händen die Grube wieder zu, und es freute ihn, daß, von niemand zu sehen, Annas Bild da unten nun war, wie ein verlorenes Goldstück im Schnee. Er erhob sich wieder, und ging ins Dorf zurück, wo die bemalten Häuser standen, und ging in den »Florian« und in sein Zimmer. Er las ein wenig, aber ohne Aufmerksamkeit, und es begann zu dämmern, und er drehte das Licht nicht an, und blieb im Dämmern sitzen, und sah durchs Fenster die schwarze Nacht kommen. Und als in der schwarzen Nacht der Mond herauf kam, und viele Sterne herauf kamen, verließ er das Zimmer, und ging hinunter in die Wirtsstube, den nun schon gewohnten Gang, zu der gewohnten Stunde.

Die spielenden Männer saßen schon auf ihrem Platz, und hoben die Köpfe von den Karten, als Ulrich eintrat, und grüßten ihn vertraulich. Und Anna brachte ihm das Essen, und das Essen war gut, und der rote Wein schmeckte ihm, und er brachte es auf vier Gläser im Laufe des Abends. Und der dehnte sich lange, aber ihm schien er kurz, Ulrich in seiner Ecke am grünen Ofen, obwohl er nichts tat als sitzen und schauen und trinken, und sich des stillen Einverständnisses freuen, das zwischen ihm und Anna war. Die war geschäftig in ihrem Dienst, heiter jeden Zurufs gewärtig der Gäste, und Scherz mit Scherz schlagfertig erwidernd, fröhlicher, als er sie je gesehen, und es wohl auch ihre Art war sonst. Und auch der Wirtin hinter dem Schanktisch fiel das veränderte Wesen der Nichte auf, und als sie fragte, was ihr denn geschehen, und ob sie das große Los gewonnen habe vielleicht, fuhr das Mädchen zusammen, und warf einen schnellen Blick auf Ulrich, ob er die Frage wohl vernommen, aber der tat, als habe er nichts gehört, und trank andächtig von seinem Wein.

Plötzlich war es finster in der Stube, das Licht war ausgegangen, und aus dem Dunkel schrie einer, das Kraftwerk habe wieder einmal eine schwache Stunde, wie oft in der letzten Zeit. Es kamen die Wirtin und Anna mit brennenden Kerzen, die sie auf die Tische stellten, und weil es schon auf Mitternacht ging, begann ein allgemeiner Aufbruch, und bald saß Ulrich allein noch in der Stube, und war der letzte, der zahlte.

Und dann stand Anna vor ihm, in jeder Hand einen Leuchter, und sagte, sie wolle ihn auf sein Zimmer geleiten, über die dunkle Treppe. Sie ging ihm voran, und ihre schwarzen Schatten gingen an der weiß gekalkten Wand mit. In seinem Zimmer blieb sie stehen und sah sich um, die still brennenden Lichter in den Händen, und ihr beleuchtetes Gesicht trug einen solchen Ausdruck reiner Empfindung, daß er erschrak. Sie stellte einen der Leuchter auf den Tisch, und gab ihm die Hand, und ging, und ließ ihn allein im Zimmer, das nun, im gelben Kerzenschein, das alle Ecken im Dämmern verschwimmen ließ, größer aussah als sonst. Als er im Bett lag, und im Entschlummern schon, war ihm, die Leuchterträgerin stünde noch vor ihm, und ihr Gesicht war traurig jetzt, und sie hob die eine Kerze an den Mund, und blies sie aus, und die andere, und nun versank ihr Gesicht im Schwarzen, und er schlief ein.

Am andern Morgen, nach dem Frühstück, das ihm die Wirtin gebracht hatte, und Anna war nicht zu sehen gewesen, trat er ins Freie. Nachts mußte es wieder geschneit haben, man sah es, und er ging langsam durchs Dorf, und überlegte am Dorfausgang, ob er nicht einen andern Weg nehmen sollte als gestern. Aber die Wiederkehr alles dessen, was er tat, hatte ihm so wohl getan bisher, und dabei sollte es auch bleiben, und so schlug er die alte Richtung ein, den Bergen zu, und zu dem Landhaus. Friedlich lag es da, die Fenster spiegelten in der Sonne, das schillerte und glänzte wie närrisch, und der Wetterhahn auf dem Dach krähte sein stummes Lied. Ulrich blieb diesmal nicht stehen vor dem Haus, obwohl ihm das schwer fiel, er ging seinen Weg weiter, und schneller, und sah sich nicht um, obwohl er das gern getan hätte, und ging wieder hinab zum See, wo die Krähen schrien und die Wellen zu tun hatten, den Schnee am Ufer in Eis zu verwandeln. Hoch am Himmel stand die Sonne, und er versuchte sie anzusehen und hielt die Hand vor die Augen, und spähte durch die geöffneten Finger hindurch, wie ein Kind durchs Schlüsselloch nach Verbotenem. Ein Strudel von Gold und Feuer kochte da oben, steigend und fallend, und spritzte Funken um sich, und die tropften herab auf den See, ein glühender Regen, daß er meinte das Zischen zu hören, mit dem das Wasser den feindlichen Bruder empfing. Er mußte die Augen schließen, so taten sie ihm weh, und ein Stück des Weges im Dunkeln tappen, bis er sie wieder brauchen konnte, die beleidigten, zu ihrem gewöhnlichen Dienst.

Und als er zu Mittag in der Wirtsstube sich einfand und auf seinen Ofenplatz sich setzte, kam Anna aus der Schenke eilig auf ihn zu, und daß sie heute früh von der Tante zu Besorgungen in den Ort geschickt worden sei, erklärte sie ihm eifrig, und ihm deshalb das Frühstück nicht habe bringen können wie sonst, und ob es denn die Tante an nichts habe fehlen lassen? Aber was sie denn da alles zusammen rede! sagte sie und lachte, und als ob die Tante das Geschäft nicht ebenso gut und besser verstünde, und gleich hole sie ihm jetzt die Suppe statt zu schwatzen! Und sie lief in die Küche, und nach der Suppe brachte sie ihm einen Schweinebraten, der war braun und knusprig, und Ulrich trank einen Roten dazu, und war vergnügt, und als er nach dem Essen in sein Zimmer hinauf ging, ein wenig zu schlafen, nahm er seine gute Laune noch in den Schlaf hinein mit, und so schlief es sich gut.

Am Nachmittag, das war nun schon nicht anders, ging er den gewohnten Weg, durchs Dorf hindurch, und die Sonne blitzte am blauen Himmel, und das war nun also erst der dritte Tag, daß er hier in Eichhausen war, und er freute sich auf die kommenden, und er schritt rascher aus, als ginge er ihnen entgegen, und so sah er bald das Landhaus vor sich liegen, und vor der Tür im Gartenzaun blieb er stehen. Er legte die Hand auf die Klinke, und drückte die Klinke nieder, und die Tür ließ sich öffnen diesmal, und erschrocken sah er zu dem Wetterhahn hinauf. Kurz entschlossen ging er durch den Vorgarten auf das Haus zu, und versuchte die Haustüre zu öffnen, aber sie war versperrt. Er bog um die Hausecke, und an der Rückseite des Hauses war wieder eine Tür, und die tat sich auf, als er die Klinke niederdrückte. Er trat in einen halbdunklen Flur, und sah wieder eine Tür vor sich, und während er schon die Hand hob, zu versuchen, ob sie sich öffnen ließe, sagte er sich, daß er, wenn er jemanden anträfe in dem Haus, sagen könne, daß er ein Zimmer zu mieten suche.

So drückte er den Türgriff nieder, und stand in einem Zimmer, das hell von der Sonne beleuchtet war. Eine junge Frau saß auf einem Stuhl vor einem Tisch, und auf dem Tisch war Teegeschirr, Kanne und Zuckerschale und Tasse, und die Tasse war gefüllt mit dem goldgelben Getränk, das dampfte und duftete, und ein Löffel war in der Tasse, und die junge Frau hielt einen Hund am Halsband fest, und der Hund knurrte leise, aber die Frauenhand drückte seinen Kopf beschwichtigend gegen den Boden. Die junge Frau war zierlich gewachsen, sie hatte helle Augen, mit Brauen darüber, die sich nur wenig abhoben von der weißen Haut des Gesichtes und ihm so etwas Flaches gaben, wie es Masken haben. Mit diesen hellen Augen sah die Frau Ulrich entgegen, gar nicht überrascht, gar nicht erschreckt, die Augen sahen so, als seien sie eben in einem Gebiet der Einbildungskraft geschweift, wo nichts unmöglich ist, da konnten sie nicht erschrecken vor dem Anblick eines gewöhnlichen Mannes, wenn der auch etwas unerwartet gekommen war, und mit einer hohen, singenden Stimme sagte sie jetzt: »Bitte?« Der Hund knurrte,
und Ulrich stand verlegen an der Tür, und die Frau hatte: »Bitte?« gesagt, und so nahm er sich zusammen und fragte, was zu fragen er sich vorgenommen für den Fall, daß er das Haus bewohnt fände, und fragte also, ob hier nicht ein Zimmer zu vermieten sei? »Das ganze Haus«, schrie aber die junge Frau, »das ganze Haus, vom Keller bis zum Dachboden!« und sie lachte laut, und hörte auch nicht auf zu lachen, als ihr schon die Tränen übers Gesicht liefen. Sie schob Kanne und Tasse zurück, und legte das Gesicht auf die Tischplatte, daß man die Tränen nicht mehr sehen konnte, und war ganz still nun, nur die Hand zitterte, die immer noch dem Hund den Kopf gegen den Boden drückte, aber das wäre nicht mehr notwendig gewesen, denn der Hund knurrte nicht mehr.

An den Wetterhahn auf dem Dach, an ihn mußte Ulrich jetzt denken, der frei und allein in den Lüften war, weit spähend über den Schnee hin, und er wäre am liebsten gleich wieder gegangen, um draußen zu sein, noch ehe die Frau den Kopf wieder hob, aber da richtete sie sich schon wieder auf, und sie weinte nun schon nicht mehr, als sie sagte: »Nun müssen Sie schon bleiben!« Und sie ließ den Hund los, der Ulrichs Schuhe beschnupperte, und zum Ofen trottete und dort sich niederlagerte in der Wärme.

Daß sie ein schönes Zimmer frei habe, sagte die Frau dann ganz ruhig, im ersten Stock, auch mehrere, und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und er könne sich eines aussuchen davon, ganz nach seiner Wahl. Da drin, und sie nahm ein Glasröhrchen auf, das neben der Teekanne lag, und wies es ihm auf der flachen Hand vor, da drin sei genug von dem weißen Zeug, das rasch und schmerzlos aus dem Leben forthelfe, mehr als genug, und wenn er nur etwas später gekommen wäre, sie sagte es mit einer schrecklichen Vertraulichkeit, und der Ausdruck ihres Gesichtes veränderte sich nicht dabei, so hätte er wohl einen lebenden Hund hier im Zimmer vorgefunden, aber eine tote Frau. Sie schwieg, und die Stille war drückend, und wie im Märchen gelüstete es Ulrich, sich an der Nase zu zupfen, ob er auch wache, und nicht schliefe und träume. Nun, es habe sich anders gefügt, fuhr die Helläugige fort zu reden, und sie sagte es kopfschüttelnd, und als könne sie es noch nicht recht glauben, und wog das Röhrchen in der Hand, und schwer war es nicht, das todbergende, denn es drehte sich beweglich hin und her. Und nun sei er wohl selber der Meinung, sprach sie, daß es kein Zufall gewesen sein könne, der ihn zu ihr geführt, und daß er nun auch bleiben müsse. Sie sagte es mit einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch duldete, und wo er seine Sachen habe, im Dorf oder noch auf der Bahn? – bald käme ihre Zugehfrau, die Kreszenz, und die werde gern vor Nacht noch sein Gepäck holen.

Die Sonne schien in das Zimmer, die weißen Bodenbretter glänzten, und der Hund vorm Ofen legte sich, behaglich schnaufend, auf die andere Seite. Die Frau vor ihm war nicht aufgestanden und saß immer noch auf dem Stuhl vorm Tisch, das Glasröhrchen nun fest in der Faust, auf seine Antwort wartend und zuversichtlich zu ihm aufblickend, als habe sie ihm den alltäglichsten Vorschlag von der Welt gemacht, und er stand immer noch an der Tür, die er nicht hinter sich geschlossen hatte, aber nun tat er es. Er wußte nicht, was er denken sollte von dem allen, und noch weniger, was er nun sagen sollte. Denn daß hier nicht frech gescherzt wurde mit ihm, das fühlte er, und daß, wenn er nun schon gekommen war, wie vom Himmel gefallen, und gerade zu dieser Stunde, er nicht einfach wieder gehen konnte, mit ein paar tröstenden und aufrichtenden Worten vielleicht, billig dargereicht, und sie nicht allein lassen durfte jetzt, und vielleicht blieb ihm wirklich nichts übrig, als vorläufig gute Miene zu machen zu dem absonderlichen Spiel, das doch keins war, sondern bitterer Ernst, für sie wenigstens.

Die Frau war aufgestanden, und als habe sie in seinem Gesicht gelesen, sagte sie mit erlöster Stimme, und deutete auf den Schreibtisch, der am Fenster stand, er möge doch gleich das Nötige veranlassen, daß man der Kreszenz sein Gepäck übergebe. Es sei im »Florian«, sagte Ulrich, und setzte sich, und sah sich undeutlich gespiegelt auf der glänzenden Tischplatte, und tauchte die Feder ins Tintenfaß, eine gläserne Kugel war es. Er habe ein anderes Zimmer gemietet, schrieb er gehorsam, dessen Aussicht zu zeichnen oder mit Wasserfarben zu malen ihm am Herzen liege, so log er, und nach Beendigung dieser Arbeit, in zwei oder drei Tagen vielleicht schon, werde er wieder in den »Floriane« zurückkehren, wo er zu seiner größten Zufriedenheit untergebracht gewesen sei, und der beiliegende Geldschein sei für die Begleichung seiner Zimmerschuld.

Die Kreszenz war gekommen, eine stämmige Frau von fünfzig Jahren, mit einem roten Gesicht, und hatte erfahren, daß der Herr hier ein Zimmer im ersten Stock gemietet habe, und nachdem sie den Ofen angeheizt im Zimmer des Gastes und ihre Einkäufe in der Küche verwahrt, war sie gleich wieder aufgebrochen, ins Dorf, um nicht allzu spät wieder zurück zu sein, vor Einbruch der Dunkelheit noch, wenn es möglich war. Und wirklich, und sie mußte rasch ausgeschritten sein – als es dämmerte, war sie schon wieder da, die Rüstige, und Ulrichs kleiner Koffer war ja auch nicht allzu mühsam zu tragen gewesen.

Ulrich, allein in seinem neuen Zimmer, das größer war als seines im »Florian«, drehte am Schalter, und das Licht ging an, und die Leitung war also wieder in Ordnung, und er packte seine Sachen aus, und der Ofen gab eine angenehme Wärme, und er rückte sich einen Stuhl in die Nähe des Ofens und überlegte. Sie mußte doch Angehörige haben, die Frau da unten, die ihn so überrumpelt, Verwandte oder nahe Freunde, und heute abend würde er versuchen, das Gespräch so zu drehen, daß sie von ihrem Leben berichtete, um zu erfahren, wen er verständigen könne, die Schwermütige in sichere Obhut zu nehmen. Denn daß gerade er es tun solle, war doch ein wenig abgeschmackt, dachte er unmutig, und horchte auf das Feuer, das im Ofen rüttelte und brummte, und sich lustig machte über ihn.

Er war noch nicht lange gesessen, als es an seiner Tür klopfte, und die Bedienerin ihn nach unten zu kommen bat, zum Abendessen. Der Hund, ein grauhaariger, struppiger Schnauzer, kam wedelnd vom Ofen herbei, ihn zu begrüßen, und wollte gestreichelt sein, und die helläugige Gastgeberin tat ganz unbefangen, während sie ihm vorlegte, und nur, daß ihre Hand dabei zitterte, strafte sie Lügen. Dann war es für die Kreszenz an der Zeit, nach Hause zu gehen, die nicht in Eichhausen wohnte, in einer kleinen Ortschaft in der Nähe, um morgen wieder zu kommen, wie allabendlich.

Und nun waren die beiden allein, Ulrich und die junge Frau. Rotwein stand auf dem Tisch, aber sie trank fast nicht und er desto mehr, und sie sprachen von Gott und der Welt und allen auf ihr möglichen Dingen, nur nicht davon, warum sie wohl zu dem blitzenden Glasröhrchen gegriffen. Und wenn es nur von fern den Anschein hatte, als wolle er davon wissen, sah sie ihn mit ihren hellen Augen traurig und abweisend an, als empfinde sie es ungehörig, daß er in ein Geheimnis eindringen wolle, und so mußte er es vorläufig aufgeben.

Es war noch nicht sehr spät, als sie aufstand, und ihm die Hand reichte mit einem: »Auf Wiedersehen morgen früh!«, und plötzlich sich bückte auf seine Hand, und sie küßte, und: »Danke!« sagte, und ging, und ihn verwirrt zurückließ. Und er blieb noch beim Wein, und redete noch ein weniges mit dem Hund am Ofen, und was er denn meine, und wie er, Ulrich, sich verhalten solle, der Eindringling und Gast wider Willen, dem man die Hand geküßt hatte eben. Aber der Hund rührte sich nicht. »Schweig du nur!« sagte da Ulrich zornig zu ihm, »bist stumm wie der Eisenvogel auf dem Dach! Aber das sag ich dir, ich tu, was ich kann, möglichst bald wieder fortzukommen von hier!« Und jetzt sah ihn der Hund an, und klopfte mit dem Schwanz zustimmend auf den Boden, Ulrich wenigstens nahm es als Zustimmung, und so hob er sein Glas und trank ihm zu, und dann ging er auch schlafen, zum erstenmal in diesem Hause, aber nicht zum letztenmal, fürchtete er.

Als er gefrühstückt hatte am andern Morgen, mit der Gastgeberin im Wohnzimmer, und ihm jetzt, am nüchternen Tag, seine Lage abenteuerlicher schien und auch lächerlicher als je, war er entschlossen, keine Zeit zu verlieren und gleich nach Eichhausen zu gehen, um dort beim Bürgermeister oder auf der Post durch unauffälliges, oder seinetwegen auch auffälliges Fragen herauszubringen, wen er, durch einen Fernspruch vielleicht, eilig herbeirufen könne, ihn abzulösen in seinem unfreiwilligen Wächteramt.

Als er aber vom Tisch aufstand und so nebenhin sagte, er wolle nun ein wenig in die frische Winterluft hinaus, und vielleicht hinunter zum See, wurde das blasse Gesicht der fremden Frau noch einen Schein blasser, und ihre Lippen zuckten, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie stellte sich vor die Tür mit ausgebreiteten Armen, und tat es wie im Spiel, ein wenig übertreibend, aber dahinter verbarg sich der schrecklichste Ernst. Hilflos lächelnd stand sie, wie ein Kind, das man ins Dunkel schicken will, davor es sich fürchtet, und nun fand sie auch Worte, und flehte ihn an, sie nicht zu verlassen. Und sie ließ die Arme sinken und trat auf ihn zu, ganz nahe, und sagte mit leiser Stimme, als dürfe nur er es hören, und es war doch sonst niemand im Zimmer, er sei ihr geschickt worden, als ein Zeichen, noch auszuharren, so nehme sie es, und es stünde fest für sie, gleich zu tun, was zu tun sie vorgehabt, sobald er nur einen Fuß vor die Tür des Hauses setze. Seit vierzehn Tagen sei sie geschieden, nach einer fünfjährigen Ehe, und vielleicht liebe sie den ungetreuen Mann noch, das wisse sie nicht, und ein Schauder lief über ihre Gestalt. Er, Ulrich, habe ihr eine Gnadenfrist verschafft, und sie wolle weiter leben, so lang und
so kurz er bliebe, und so sei sie ganz in seiner Gewalt, und er solle es halten ganz wie er wolle, und damit ging sie aus dem Zimmer, und ließ ihn allein, den Ratlosen.

Und nun brachen die Tage der Gefangenschaft für ihn an. Er saß am Fenster im Wohnzimmer und betrachtete die Hirschgeweihe, die an den Wänden hingen, und den großen, ausgestopften Auerhahn, und sah draußen den Zaun, wie ein schwarzes Käfiggitter, und sah die Gartentür, an der er gerüttelt, und sie war verschlossen gewesen zuerst und hatte sich dann aufgetan vor ihm, und er war durch sie hindurch und hinein in das Haus, wie die Maus in die Falle. Und der Vormittag lief hin mit Nichtstun und Aus-dem-Fenster-Schauen, und zu Mittag gab es ein kaltes Essen, und dem folgte ein kurzer Schlaf und dann spielte er mit dem Hund und begann später zu zeichnen, die Aussicht von seinem Fenster im ersten Stock, mit den beschneiten Berghäuptern im Hintergrund, die Lüge, die er den Leuten im »Florian« geschrieben, in Wahrheit verwandelnd. Und als er, gegen den Abend schon, sein Zimmer wieder verließ, in den Wohnraum hinab zu gehen, trat eben die rotgesichtige Kreszenz, die inzwischen gekommen sein mußte, aus dem Zimmer seiner Gastgeberin, und durch den Türspalt konnte er sehen, daß die auf dem Tisch, vor dem sie saß, und über dem die Lampe hell brannte, im Halbkreis viele Bilder vor sich aufgebaut hatte, große und kleine, in einem silbernen Rahmen alle und hinter Glas, und sie stellten alle den gleichen Mann dar, glaubte er zu erkennen, aber da schloß die Kreszenz die Tür. Beim Abendessen, das die Kreszenz gekocht hatte, saß er der Helläugigen dann wieder gegenüber, und sie redeten miteinander und waren wie Reiter, die bei einem Hindernisrennen Hürden nehmen und Gräben, so übersprangen sie Heikles und was allzu vertraulich gewesen wäre. Und die Kreszenz ging wieder, für heute, und morgen würde sie wieder kommen, und die Helläugige ging schlafen, oder vielleicht saß sie vor den Bildern des Ungetreuen noch eine Weile vorher, und später ging auch er schlafen und wußte nicht, wie lang das sollte so währen, und ob er lachen sollte, oder sich ärgern, oder stolz sein wie auf eine gute Tat, oder einfach davonlaufen?

Und der andere Tag verging nicht viel anders. Ulrich sah in den Winter hinaus, und weil er nicht hinaus durfte, machte er sich wieder an seine Zeichnung, ihn wenigstens auf dem Papier zu haben, und machte die Zeichnung fertig. Und nach einem langen Nachmittag, der sich unerträglich dehnte, und es hatte stundenlang geschneit draußen, und in ihrem Zimmer mochte die Helläugige sitzen, die Bilder des Geliebten vor sich, kam mit dem Abend die Kreszenz, die rotgesichtige Helferin, aber da schneite es schon wieder nicht mehr. Und während sie kochte und aus der Küche die Deckel klapperten, deckte die Frau, deren Namen er nicht einmal wußte, und sie nicht den seinen, den Tisch im Wohnzimmer mit schönerem Geschirr als gewöhnlich, das sie aus einem Glasschrank nahm. Und zum Abendessen erschien sie in einem Kleid, das ihren weißen Hals und ihre Arme freigab, und wie zu einem Fest saßen sie am Tisch, die beiden, die Frau und ihr Gefangener, und es war doch gar kein Grund zu irgendeinem Fest, fand er erbittert, und daß nun einmal Schluß gemacht werden mußte mit ihrem unnatürlichen Zusammensein. Denn wenn einer, in den Bergen, im Fels, einen Verstiegenen getroffen hat, der nicht mehr weiter kann, und er hat ihm Griff und Tritt gezeigt, und ihn gestützt, und ihm hinweg geholfen über die halsbrecherische Stelle, so kommt auch die Zeit, wo der wieder allein muß weiter seinen Weg, wie alle andern, denen auch niemand hilft auf die Dauer. Und bei dem Wort »verstiegen« fiel ihm der Doppelsinn dieses Ausdrucks ein, mit dem man wohl auch jemand bezeichnet, der über das allen gesetzte Maß hinaus seinen Gefühlen nachgibt, bis sie zum Lächerlichen umschlagen, und so eine Verstiegene schien sie ihm nun zu sein, die ihm hier gegenüber saß und von ihm Hilfe verlangte auch jetzt noch, da es an ihr war, sich selbst nun zu helfen, wenn ihr noch irgend zu helfen war, und er hatte genug getan und übergenug.

Und auch dieser Abend ging vorbei, und die helläugige Frau hatte sich wieder früh zurückgezogen, wie jeden Abend noch, das wenigstens, Gott sei Dank, und er war auch auf sein Zimmer gegangen, voller Mißmut und ohne schon schläfrig zu sein und darüber grübelnd, wie er am raschesten nun ausbrechen könne aus seinem Gefängnis. Als er das Licht andrehte, sah er auf dem Tisch einen Brief liegen mit dem Aufdruck »Gasthof zum Florian«, und den mußte die Kreszenz ihm hingelegt haben. Er betrachtete die klaren Züge, mit denen sein Name hingeschrieben war, die genau gesetzten U-Häubchen und I-Punkte, und erwartete, als er den Umschlag aufriß, ein paar seine Zahlung bestätigende Worte zu finden. Aber was er in der Hand hielt, war der Wunsch Annas nach einem Stelldichein, die Bitte, sich heute noch, um zwölf Uhr, mit ihr zu treffen, unten am See, da, wo die Straße vom »Florian« her auf ihn stieß, und kein Wort der Begründung war hinzugefügt.

Ulrich sah auf die Uhr: es war eine Viertelstunde vor elf, und er las den Brief noch einmal. Es waren nur ein paar Zeilen, die ihm das Mädchen schrieb, aber eine unterdrückte Wildheit spürte er darin, heftig fordernd, die im Gegensatz stand zu der ordentlichen, kindlich sauberen Schrift. Und eine dunkle Drohung las er heraus, aber da spielte ihm wohl nur seine gereizte Einbildungskraft einen Streich, und er sah Gespenster, und es war eine Nachwirkung dessen, was er hier im Hause erlebt hatte, daß, weil sie am See ihn treffen wollte, ihm der Gedanke durch den Kopf schoß, das hieße, und das solle er wissen: Du oder das schwarze Wasser!

Ärgerlich verwarf er den Gedanken gleich wieder, und: Unter Narren wird man närrisch! dachte er, da sieht man es. Und der Esel zwischen beiden Heubündeln fiel ihm ein, der sich nicht hatte entscheiden können, welches er fressen sollte, und so fast verhungert wäre im süßen Überfluß. Aber war er in einer solchen Lage auch, spann er den Vergleich fort, so war es anders doch bei ihm, als bei jenem Langohr, denn ihn gelüstete es zu wenig danach, meinte er, darin er die Wahl hatte – und seine zwei schönen, stillen Zimmer hoch über der Stadt standen auf einmal vor seinen Augen, und sein verlassener Arbeitstisch, und schon holte er seinen Koffer hervor, ihn zu packen. Und während er in wilder Hast seine paar Sachen hineinwarf und dabei leise vor sich hinfluchte, spürte er, wie es ihm doch auch wohl tat, daß Anna sich nun so preisgegeben hatte mit ihrem Verlangen nach einem Stelldichein, wie es, das wußte er nun plötzlich, ihm auch geschmeichelt hatte, daß die Helläugige in ihm einen vom Himmel geschickten Boten gesehen – er müßte kein Mann gewesen sein, wenn er anders gefühlt hätte, tief noch unter seinem Zorn. Der Koffer war voll, und die Zeichnung legte er noch sorgsam oben auf die Unordnung, und er schloß den Deckel und war fertig zum Gehen.

Wie ein Dieb schlich er die Treppe hinab und streichelte den Hund, der im Flur in seinem Korb lag und behaglich schnaufte, als er die freundliche Hand spürte, und öffnete die Haustür, und ging durch den Vorgarten, und durch die Gartentür trat er auf die Straße. Der Mond, nun schon im Abnehmen, aber noch groß und glänzend, stand hoch am Himmel und warf sein Licht herab, und der Wetterhahn auf dem Dache reckte stolz den Kopf. Es war kalt, das helle Singen des Schnees unter seinen Schuhen zeigte es Ulrich an, der nun rasch auf der Straße nach Eichhausen dahin ging. Die scharfe Winterluft tat ihm wohl, nach den Tagen der Gefangenschaft, und die war nun zu Ende, und er würde sich so bald nicht wieder einkerkern lassen, dachte er belustigt, von niemand, und auch nicht von der Unbesonnenen, zu der er jetzt auf dem Weg war, um ihr zu sagen, daß er abreisen müsse, morgen schon, nach einer letzten Nacht noch im »Florian«. Er hatte keine Lust, mit ihr zu spielen, dafür taugte sie nicht. Und vielleicht war es gut, so schwer es ihm auch fallen mochte, der anders fühlte ihr gegenüber, kalt und erstaunt abweisend sich zu zeigen, und wie der behelmte Heilige an der Hauswand zu tun, und Wasser auf einen Brand zu schütten, der im Erglimmen war, und es zu einem halben Zank kommen zu lassen und zu einer raschen Trennung von der Erzürnten und Beschämten, sofort, noch unten am Seeufer, und bevor er wieder wankend wurde, das konnte ihm geschehen, und ihr Zorn war ein Panzer, der am besten sie schützte. Dann sollte es ihm auch nichts ausmachen, eine Nacht einmal nicht zu schlafen und ein paar Stunden durch die Mondhelle zu gehen, bis er an irgendeiner Ortschaft an der Straße einen Frühzug erreichte, der ihn nach Hause brachte, endlich.

Er war noch keine Viertelstunde gegangen, seines guten Vorsatzes sich freuend, und zweifelnd doch auch an seiner Kraft ihn durchzuführen, als er zögerte und stehen blieb, und zum Mond hinauf sah, der bleich und weiß auf ihn herabblickte mit grämlichem Gesicht. Noch war es Zeit, umzukehren, und wieder in dem Landhaus zu sein, ehe die Helläugige, vielleicht emporgetrieben von einem ahnungsvollen Traum, sich erhoben hatte, an seine Tür zu klopfen, ob er noch da war, in dessen Händen ihr Leben lag, und wenn sie es auch nur so meinte. Er setzte den Koffer ab und stellte ihn auf die Schmalseite und setzte sich darauf, und als höre er das schreckliche Pochen, und der Schall käme zürnend und an seinem Gewissen rüttelnd, zu ihm durch die Winternacht, steckte er die Finger abwehrend in die Ohren. So saß er eine Weile, unentschlossen vor sich hin brütend, und dann stand er müde auf, den Weg zurück zu gehen, als ein Besiegter. Aber nach wenigen Schritten schon hielt er wieder an. Er sah Anna, das Mädchen, frierend am See und wartend auf ihn, unter den Sternen. Da strömte das Blut ihm zum Herzen, mit einem jähen Stoß, der ihm weh tat und ihm sagte, wie es ihn zu ihr drängte,
mehr, als er es sich eingestanden hatte bisher. Er sah auf die Uhr, und der Mond schien hell genug, daß er die Zeit ablesen konnte, und er mußte länger dort auf der Straße gesessen haben, als es ihm bewußt geworden war, denn es war nur noch eine halbe Stunde bis Mitternacht, und er mußte sich beeilen, wenn er noch rechtzeitig unten am See sein wollte, und das wollte er jetzt wieder, mit einer heftigen Begierde sogar.

So kehrte er abermals um und beschleunigte seine Schritte, der Mann im Mondschein, auf seinem Weg von einer Frau zur andern, und jede glaubte, ihn zu brauchen, und der Schnee sang unter seinen Füßen, und sein Schatten wanderte mit ihm, und die Sterne blitzten herab vom schwarzblauen Himmel. Er hatte den Hut fest in die Stirn gerückt, und den Koffer wechselte er von Hand zu Hand, aber so rasch er auch ging, er würde doch zu spät kommen, sagte ihm die Uhr – die Straße lief allmählich dahin in vielen Windungen. Zwar sah er nun schon das Dorf vor sich liegen, dunkel zusammengedrängt im Mondlicht, und sah den spitzen Kirchturm in den Himmel ragen, schwarz und scharf wie ein Storchenschnabel, aber da schlug es auch schon Mitternacht, und die zwölf Schläge dröhnten gewaltig her zu ihm, und jetzt glaubte er auch schon den See zu erkennen, eine matt schimmernde Fläche.

Da ging er, die letzte große Wegschleife sich zu ersparen und den Gang durch das Dorf, querfeldein auf ihn zu. Der Schnee war nicht sehr hoch, er lag auf einer tieferen Schicht, die gefroren war, aber bei jedem Schritt sank Ulrich doch bis zu den Knöcheln ein, und es kamen auch Stellen, wo der Wind den Schnee zusammengeweht hatte und es schwierig war, voranzukommen. Und dann stürzte er. Er war mit dem Fuß in einem vereisten Loch hängen geblieben, und, den Koffer fest in der Hand behaltend, war er vornüber auf das Gesicht gefallen. Als er aufzustehen versuchte, spürte er einen scharfen Stich im linken Knöchel. Es gelang ihm aber doch, wieder in die Höhe zu kommen, als er aber den schmerzenden Fuß aufsetzen wollte, trug ihn der nicht. So blieb ihm nichts übrig, als sich wieder in den Schnee zu legen, und kriechend und mit den Armen sich vorwärts stemmend zu einer alten Weide sich zu schleppen, die mit gespreizten Ästen in seiner Nähe stand. Mit dem Rücken an ihrem Stamm saß er, und hatte den Koffer neben sich gestellt, und verschnaufte sich, und betastete den verletzten Fuß, und, wenn er ihn zu bewegen versuchte, ließ er es gleich wieder, so weh tat es. Und als er, nach einer Viertelstunde etwa, sich doch noch einmal aufrichten wollte, indem er, einen niederen Ast der Weide fassend, sich an ihm hochzuziehen bemühte, wurde es ihm schwarz vor den Augen, und er mußte sich erschöpft wieder in die sitzende Stellung zurücksinken lassen.

Er schlug den Kragen seiner kurzen, dick gefütterten Überjacke hoch, steckte die Hände in die Taschen, und es wurde ihm langsam bewußt, daß es nun hieß, die Winternacht im Freien zu verbringen. Noch spürte er die Kälte nicht, aber das würde sich ändern, wenn die Stunden vergingen. Und daß er nicht einschlafen durfte, nur das nicht, das wußte er, und daß es galt, wach und munter zu bleiben, aber es war ihm auch nicht im geringsten schläfrig zumut bis jetzt. Zur Straße mochte es nicht weit sein, er war ja gestürzt, kaum daß er sie verlassen hatte, aber er konnte im ungewissen Mondlicht doch nicht erkennen, wo sie lief. Und wer sollte auch jetzt mitten in der Nacht unterwegs sein, der ihm hätte helfen können? Da mußte er schon bis zum Morgen warten, und da war lang hin, und da hatte es jetzt wohl auch keinen Sinn, zu rufen. Aber er tat es doch, schrie »Hallo!« und »Wer da?« und legte dabei die Hände um den Mund, aber der Schall verlor sich in der Weite, und so gab er es bald wieder auf.

Als es vom Kirchturm ein Uhr schlug, war er freudig erstaunt, daß schon eine Stunde vergangen war, seit er hier im Schnee unter dem Baum saß. Er hatte die Schnürbänder seines linken Schuhs aufgeknüpft, und das tat dem geschwollenen Fuß gut, und er schmerzte ihn auch nicht mehr so sehr, nur rühren durfte er ihn nicht. Die warmen Handschuhe hatte er angezogen und sah zum Mond hinauf und zu den Sternen, und sah den Sternenwagen fahren, mit vorgereckter Deichsel, und sah den Orion, den großen Jäger, dessen Wehrgehänge unruhig blitzte. Tief und von finsterer Bläue war der Himmel, und wolkenlos, und das Dorf lag schlafend, und nur die Turmuhr wachte und schlug die Zeit an, und hatte es eben wieder getan. Ulrich faßte mit beiden Händen hinter sich und spürte die harte, zersprungene Rinde der Weide, die ihre dünnen Äste wie Hexenhaar sträubte, und wenn er um sich blickte, war der Schatten der Äste wie ein schwarzes Netz auf dem Schnee ausgespannt – aber wer sollte sich drin fangen?

Und die Kälte bekam er nun allmählich doch zu fühlen. Sie griff durch seine Kleider, mit eisiger Faust, und schüttelte ihn, und um sich zu erwärmen schlug er die Arme im Takt kreuzweise über der Brust zusammen, wie es Kinder tun bei kaltem Schulweg oder beim Eislauf, und ein wenig nützte es auch, oder er bildete es sich wenigstens ein.

Später einmal, es war schon nach zwei Uhr, kam über den Schnee her etwas Schwarzes gegen den langsam Erstarrenden, und es sah aus, als hinke das fremde Wesen, und es war aber nur ein Hase. Und der machte ein Männchen und rührte die Ohren wie überlegend, und sein Schatten stand schräg und komisch. Das Tier kam noch näher herangehumpelt, und verhielt in geduckter Stellung, und wagte noch einen Satz, und war ihm nun zum Greifen nahe. Er sah die runden Augen des Hasen neugierig auf sich gerichtet, und sah die langen Ohren, wie sie spielten, auf und ab, und sah das braungelbe, wollige Fell, und den helleren Bauch, und sah den Bauch atmend sich regen. Dann verschwand die Neugier aus den Augen des nächtlichen Besuchers, und Furcht war statt dessen in ihnen zu lesen, und Furcht drückte auf einmal der ganze, weggekrümmte Körper des Tieres aus, und die Furcht ward zum Entsetzen, und der Hase warf sich mit einem Ruck herum, daß der Schnee stäubte, und raste wild zurück, dahin, woher er gekommen, auf das Dorf zu, und sein Schatten hinter ihm drein, hoppelnd wie er, und als jage er das Lebendige. Und Ulrich war wieder allein in der Schneenacht.

Er holte den Koffer zu sich heran, und mit steif gefrorenen Fingern, und ohne die Handschuhe abzustreifen, drückte und schob er an dem Schloß herum, bis es nachgab und der Kofferdeckel aufsprang. Die Zeichnung, die obenan lag, betrachtete er lange, und sie gefiel ihm, und er nickte befriedigt. Er legte sie neben sich in den Schnee und begann in den Wäschestücken zu wühlen, die im Koffer waren. Er nahm ein Hemd heraus und faltete es zusammen und schlang es sich um den Hals, als sei es ein Halstuch. Er umwickelte mit Hemden sich Beine und Füße und Knie, und das war eine mühsame Arbeit, und als er es bei dem verletzten Fuß tat, stöhnte er vor Schmerz. Er stopfte, was er an Wäsche fand, Hosen und Strümpfe und Taschentücher, unter seine Oberjakke, über Brust und Bauch, daß er gepolstert und wie aufgeplustert war, und den leeren Koffer verschloß er wieder und schob ihn unter sich, um nicht auf dem eisigen Schnee sitzen zu müssen.

Viel später, und nur langsam verging die Nacht, und kalt und schweigsam und von grausamen Lichtern erhellt war der Himmel, und der Mond hatte seinen Platz gewechselt und stand nun tiefer, bekam Ulrich den Besuch von drei Krähen. Schleppenden Fluges waren sie vom See herauf herangekommen, und waren im Schnee gelandet, nebeneinander, dreißig Schritte vor ihm, und blieben im Schnee sitzen, unbeweglich, die schwarzen Vögel. Daß sie lange so bleiben möchten, bis zum Morgen, wünschte er, als sie nach einer Viertelstunde noch da waren. Ihnen konnte es doch gleichgültig sein, wo sie die Nacht zubrachten, auf einem krummen Ast oder einem Scheunendach oder hier, und sie froren nicht, die düsteren Gestalten, und mochten ihm Kameradschaft halten unter dem weißen Mond. Und was sollte es ihnen ausmachen, daß er unförmig und lächerlich aussah, er hier, unter dem Baum, mit Hemden umwickelt, und vermummt wie ein altes Weib? Alte Weiber, Reisig sammelnd und Beeren, waren ihre Gesellschaft doch oft auf den Feldern und Wegen und am Dorfrand. Kommt näher! sagte er leise und zärtlich und winkte ihnen mit dem Arm. Aber sie verstanden ihn nicht, oder dachten, die Mißtrauischen und Vielverfolgten, er wolle sie verscheuchen, und schon flog eine der Krähen krächzend auf, schwarz dahin, zum See hinunter. Noch schien es, als wollten die zwei anderen bleiben, aber sie machten sich auch auf, noch näher an ihn heran zuerst, und schwenkten ein und folgten der ersten.

Und dann mußte er doch sterben, so tapfer er sich gewehrt hatte bisher, Ulrich; unser Mann, unter der hexenhaarigen Weide. Auf den Morgen mochte es schon zugehen, fünfmal hatte die Dorfuhr eben angeschlagen, oder auch sechsmal, aber er hatte gar nicht mehr recht hingehört, mochte sie schlagen, was sie wollte, ihn kümmerte es nicht mehr. Er hatte auf einmal keinen Mut mehr zum Leben, keinen Widerstand mehr gegen den Tod, Begierde nur mehr nach Schlaf und Schwärze und Schweigen. Er ließ sich vom Koffer herabgleiten und legte sich lang ausgestreckt in den Schnee, dessen Kälte er nicht mehr spürte, und den Koffer nahm er als Kopfkissen. Die Sterne waren hell über ihm, aber sie flackerten jetzt, wie Kerzenlichter im Wind, und mit brennenden Kerzen in den Händen stand Anna am See und bückte sich nieder zum Wasser, und die Fische schwammen herbei, die Lichter zu sehen, und stumm zu reden mit der Wartenden. Und die Helläugige lag neben ihm am Boden, im Zimmer mit den Hirschgeweihen, und der Mond schien in das Zimmer, und das Schulterband des Kleides war verrutscht und ließ die weiße Haut sehen, lockend, aber das verzerrte, blasse Gesicht war gar nicht mehr lockend. Sollte sie also doch Ernst gemacht haben und davongegangen
sein, und wollte ihn jetzt holen, dahin, wo sie nun war? – und daß sie das könnte, daran hatte er nicht gedacht, als er heimlich das Haus mit dem Wetterhahn auf dem Dach verlassen hatte. Aber es sollte ihm auch recht sein, es erschreckte ihn nicht, gar nicht, und fast war es, als ob es ihn freute. Der Mond wurde groß und hell nun, wie eine Feuerkugel, daß er die Augen schließen mußte vor dem unerträglichen Licht. Da ward ihm wohler, und es mußte schön sein, ewig so liegen zu bleiben, mit geschlossenen Augen, und den Wetterhahn hörte er noch leise krähen, und er atmete tief, und streckte sich seufzend und ohne Furcht, und noch einmal krähte der Hahn, und dann starb er, Ulrich, der Mann unter dem Baum, und einverstanden mit seinem Tod, wie jeder mit ihm einverstanden ist, der ihn ganz nah spürt.

Aber in einem Krankenhausbett erwachte er wieder. Bauersleute, mit ihrem Fuhrwerk auf dem Wege zur Bahn, um den ersten Zug zu erreichen, hatten im Frühlicht, neben einer struppigen Weide, nicht weit von der Straße, eine regungslose Gestalt liegen sehen. Sie hatten den Bewußtlosen aufgehoben, der mit bunten Hemden um Hals und Bein befremdlich genug sich ausnahm, und hatten ihn zum Wagen getragen, und weil es in Eichhausen keinen Arzt gab, es für das beste gehalten, den Halberfrorenen gleich, und so wie er war, in seiner aufgeputzten Tracht, mit dem Frühzug zur Stadt zu schaffen, und dort in ein Krankenhaus, und auch seinen Koffer hatten sie ihm mitgegeben, und sogar die Zeichnung hineingelegt.

Und vierzehn Tage später war Ulrich wieder zu Hause, in seinen zwei Zimmern hoch über den Dächern der Stadt. Seine Wirtin hatte ihn mit einem Blumenstrauß begrüßt, freudestrahlend, als er auf einen Stock gestützt und noch humpelnd zurückgekehrt war. Lange würde er den Stock nicht mehr brauchen, hatte ihm der Arzt gesagt, denn der gebrochene Fuß heile rasch und wie sich das gehöre, und keine Behinderung werde zurückbleiben, und auch sonst hatte Ulrich die Schneenacht unter der Weide gut und ohne Schaden zu nehmen überstanden. Und nun saß er wieder an seinem Tisch, und die weiße Decke lag darüber, und er zog die Schublade auf, und da lag noch die Orange, ein wenig verschrumpft, und an einer Stelle war sie angefault, und klebriger Saft war an der Wunde. Er holte die Frucht heraus und wog sie in der Hand. Von den beiden Frauen hatte er nichts mehr erfahren, es auch unterlassen, sich nach ihnen zu erkundigen vom Krankenhaus aus, es verlangte ihn auch jetzt nicht, es zu tun, und auch später nicht, und nie würde es ihn danach verlangen. Und daß sie lebten und atmeten, im himmlischen Licht, wie auch er, das wußte er fest, und woher nur?

Er legte die Orange auf den Tisch und ließ sie laufen, hin und her, und sie tat es gehorsam, und ließ gelbrote Tupfen auf der weißen Decke zurück, so blutete sie. Aber sie war noch da, vom Baum gepflückt, von einer gleichgültigen Hand, aus dem grünen Laub geholt, im Garten am südlichen Meer, und hier lag draußen der Schnee, und eine andere Hand nun ließ sie wandern, immer des Wegs, wie sie es wollte, die fremde Hand, aber sie war noch da, die rötliche Frucht, mit einer Wunde allerdings, aber sie hielt noch zusammen und glänzte, wie im Laub einst.

Er humpelte zum Koffer und holte die Zeichnung heraus, und wieder gefiel sie ihm, und schien ihm ein gutes Stück Arbeit, wie es ihm noch selten gelungen, und er befestigte das Blatt mit Reißnägeln an der Wand.

Der Winter war eingefangen darauf, und noch etwas mehr, das sich nicht sagen ließ, aber man sah es.

Die Totenfeier

Der Tisch summte, der Tisch brummte, man war schon ziemlich erregt heute am Tisch, es war schon gegen Mitternacht, vier, fünf Gläser Wein hatte jeder schon getrunken, doch war es nicht der Wein, der die Trinker lebhaft machte, denn an anderen Abenden, da jeder schon ebensoviel und mehr getrunken hatte, wars oft still und langweilig.

Am Morgen hatte man in allen Zeitungen lesen können, daß der Schauspieler Doktor Ruscher gestorben sei, ziemlich unerwartet, etwas über fünfzig Jahre erst alt, an einem Herzleiden. Der Schauspieler war oft Gast in der kleinen Weinstube gewesen, in der sie jetzt saßen und lärmend die Gläser schwangen, aber am Tisch hatte er sich nur selten eingefunden, obwohl er sie alle gut kannte, die unermüdlichen Zecher. Er war ein scheuer Mann gewesen, der sich am liebsten allein hielt, nur manchmal spät, wenn in der schon fast leeren Stube nur einer am Stammtisch noch tiefsinnig in sein Glas sah, war es geschehen, daß er sich zu dem still Ausharrenden gesetzt hatte, quer durch die Stube zu ihm gekommen war, das Weinglas in der Hand, mit schlürfendem Gang, den Kopf schief auf den Schultern.

Und nun war er also tot, und nun sprach man über ihn, und es war wohl so, weil er tot war, zeigte sich der Tisch noch einmal so lebendig. Es war, wenn man so sagen will, als habe sich eine Schar von Krähen um die Beute gesammelt, schnabeleifrig, aber das ist ein wenig freundlicher Vergleich für die gutmütig Geschwätzigen, und auch unziemlich und unehrerbietig gegen den Toten, es genügt zu erzählen, daß heut am Tisch ausschließlich von ihm die Rede war. Sie alle wußten, daß sie morgen nicht zur Beerdigung gehen würden, die Gier, mit der sie von dem Toten sprachen und dabei tranken und sich immer wieder einschenken ließen, war ihre Art, die Leichenfeier zu begehen, und das war nicht einmal eine böse Art, und sie waren keine bösen Leute, die Leute des Tisches.

Der Doktor Ruscher, davon sprach man und lachte darüber, und immer mehr verdichtete sich die Rauchwolke, die über dem Tisch schwebte, hatte es nicht mit der neuzeitlichen, übertriebenen Reinlichkeit gehalten, das ganz gewiß nicht, wenn sicher auch die übertrieben, die da sagten, er habe sich tagelang überhaupt nicht gewaschen. Er hatte auch nicht viel auf Kleider gegeben, eine Hose mit Bügelfalten hatte noch niemand an ihm gesehen, und er hatte auch nie ein Hehl daraus gemacht, daß er seine Anzüge vom Althändler kaufte, und so waren seine Rockärmel einmal zu lang und einmal zu kurz, aber das kümmerte ihn wenig, und daß er keine Kleiderbürste besaß, war leicht zu erkennen.

Und auch davon sprach man, und sie tadelten es die Trinker, die selber jeder Lust hold waren, daß er, der Schauspieler, der seinen gelehrten Rang mit Würde trug, ein mächtiger Esser gewesen sei, still genießend, ein Mann fürs Schlaraffenland, der nie weniger als mindestens zweimal am Abend speiste. Er galt als ein guter Darsteller, als eine Besonderheit in kleinen Rollen, und so bezog er ein ansehnliches Gehalt, und davon zahlte er ein Geringes für sein kleines Zimmer, und das Wenige für seine Kleidung, den größten Teil seines Geldes aber gab er in Weinstuben aus. Er, der sonst so scheue, wagte sich in die besten und feinsten der Stadt, es hinderte ihn nicht sein alter, flattriger Anzug und sein zerknüllter, unsauberer Hemdkragen und seine ungewichsten Stiefel, sich an einen blendend weiß gedeckten Tisch zu setzen und ein auserlesenes Mahl einzunehmen, mancher hatte ihn so gesehen. Hatte er sich gelabt, so suchte er ein anderes Weinhaus auf, der ewige Wanderer, und aß dort noch einmal, und manchmal noch in einem dritten. Wenn sein Geld weniger wurde, beschied er sich in seinen Ansprüchen, aß dann in einfachen Kneipen, es gab wohl keine, die er nicht kannte und wäre es die versteckteste gewesen, aber zum mindesten zweimal am Abend zu essen, davon ging er nicht ab.Hatte er sich gesättigt und saß er dann allein und verloren in einer Ecke, den Wein vor sich und die Zigarre im Mund, und die übrigen Gäste waren wie nicht da für ihn, so träumte er, träumte dann stundenlang.

Aber er träumte nicht nur so in rosigen Wolken dahin, wie andere Menschen das tun, er war schon weit fortgeschritten in der Kunst zu träumen, er träumte mit dem Papier vor sich und den Bleistift in der Hand. Er baute Luftschlösser, er entwarf Pläne für ein Haus und überlegte hin und überlegte her, wie das am zweckmäßigsten zu erstellen sei. Es kam natürlich nie ernsthaft in Frage, daß es je fest auf dem Boden stehen würde, und, sollte man meinen, da hätte er nun also können lustig darauf los bauen, aber dem war nicht so. Das Haus sollte nur eine genau bestimmte, nicht allzu hohe Summe kosten, und da hieß es zu rechnen und zu sparen. Er hatte da wunderbare Entwürfe, mit Wendeltreppen, um von ebener Erde zum ersten Stock und von dort auf den Dachgarten zu kommen, denn einen Dachgarten mußte das Haus haben, lieber ein Zimmer weniger und lieber die Mauern weniger dick! Wenn sich dann auf seinem Tisch Kostenvoranschläge von Maurer- und Dachziegelgeschäften häuften, und solche von Glasern und Spenglern, und er hie und da von seinem grünlichen Pfälzer trank und eine neue Möglichkeit fand, ein Fenster wegzulassen und dafür die Diele größer zu machen, so war er in diesen Stunden wohl glücklich zu preisen. Und wer weiß, ob er sich allein träumte in seinem Haus, ob er sich nicht eine schöne Frau herzuträumte, mit ihm zu wohnen in dem Haus, und Kinder von ihr, in der Diele zu spielen? Im Leben sah man ihn nie mit einer Frau, Frauen lieben anderes an Männern, als er zu bieten hatte. Aber wenn er sich schon ein Haus träumte, das nie in Stein und Eisen, mit Dachgarten und Wendeltreppe sich erheben würde, was sollte ihn davon abhalten, sich auch sie herbeizuzaubern, weißhäutig und großäugig, die er nie besessen hatte und nie würde besitzen, und Kinder, die sie ihm schenken sollte, die Traumfrau?

Einer am Tisch legte die Hände um sein Glas, den Rotwein darin zu wärmen, und verweilte länger dabei, von dem einsiedlerischen und frauenlosen Leben des Schauspielers zu sprechen und auch davon, daß ihm Frauen doch auch nicht ganz gleichgültig gewesen seien, wie er doch manchmal die Kellnerin verliebt angesehen und ihr wohl auch die Hand getätschelt habe, auf eine zugleich verlegene
und zutrauliche Weise, daß es fast rührend gewesen sei, es zu beobachten.

Und der so sprach, der Rotweintrinker, der erzählte auch, daß er einmal, ein einziges Mal nur, mit dem Schauspieler in dessen Zimmer gewesen sei. Er hatte gemeint, der eitle Doktor Ruscher, seinem nächtlichen Begleiter, als sie gemeinsam vom Trunke kamen, noch die zwei Sätze vorlesen zu müssen, die vorgestern im Abendblatt über ihn zu finden gewesen waren, über eine kleine Rolle, die er gespielt und für die er ein großes Lob erhalten hatte. Das war ihm sehr wichtig, auch wenn es so scheinen mochte, das einzig Wichtige im Leben wären ihm der Wein und ein gutes Essen und die Pläne für sein Traumhaus. Auf der Bühne zu stehen, war ihm noch wichtiger, Maske zu machen und zu spielen, vor allem Maske zu machen, und darin war er ein Künstler hohen Grades, und er hatte eine Gabe sich hexenartig zu verzaubern, die erschrecken konnte. Und da waren nun in dem engen Zimmer, es sah nicht sehr sauber und auch nicht sehr ordentlich darin aus, da waren an den Wänden staubbedeckte Hefte aufgeschichtet, turmhohe Stöße von Bücherverzeichnissen. Er hatte eine wilde Lust daran, der sonderbare Mensch, über irgendein Gebiet, das ihm ganz fern lag, über die Entwicklung der Handfeuerwaffen im Abendland zum Beispiel, Aufzeichnungen zu machen, in langen Listen niederzuschreiben, was darüber an Büchern erschienen war, ohne daß er aber die Bücher selber je gelesen hätte, das kam ihm gar nicht in den Sinn, ihm, der außer auf der Bühne, nie mit Flinte und knallendem Pulver zu tun gehabt hatte.

Die Kellnerin brachte volle Gläser an den Tisch, und einer hob jetzt seins und sagte zu ihr, die schon seit Jahren in der Weinstube bediente: »Dich hat er gern getätschelt, der Doktor Ruscher, und nun ist die Hand kalt, mit der er es getan hat. Fürchtest du dich da nicht?« Und sie fürchtete sich, wahrhaftig, sie verurteilte es, daß man so unpassend spaßen konnte, und vielleicht war ihr, als habe der tote Mann sie eben jetzt mit der grabeskühlen Hand berührt, sie wehrte erregt und fast weinend ab, mit hochrotem Kopf, und ein wenig fürchteten sich nun alle, die so tapfer gewesen waren bis jetzt, die Spötter, und so war die kalte Hand des Toten aufgerichtet über dem betrunkenen Tisch.

Und wie sein Ende war, sagte einer, und fröstelte, und trank schnell, das Frösteln zu vertreiben, fast wars wie ein Witz des Schicksals. Der Arzt habe ihn in eine Anstalt verwiesen, in der man alles und jegliches Gebresten mit Wasser bekämpft, mit kalten Güssen und eisigen Waschungen und nassen Packungen. Der Kranke habe sich geduldig gefügt, und da sei über seinen gepeinigten Leib in wenigen Tagen so viel Wasser gekommen wie sonst in Jahren nicht. Das vertrug er nicht, das Wasser war von je sein Feind gewesen, und so habe man ihn mit sprudelnden, peitschenden, wirbelnden Fluten aus dem Leben hinweggeschwemmt, den armen, wasserscheuen Mann.

Schwerer Tabaksqualm wölkte über dem Tisch. Das Gespräch über den Toten hatte eine sonderbare Wirkung auf die Trinkenden. Ihre Reden verwirrten sich, sie trockneten sich die Stirnen und lachten laut und ohne Grund, und als einer zögernd fragte, den das bedrückte, ob man denn recht tue, in dieser Art von dem Verstorbenen zu reden, vertraten die andern alle in trunkener Heftigkeit, sich selbst verteidigend, die Meinung, daß es doch auch, wenn man es so nehmen wolle, sehr schön sei, daß nun den ganzen Abend die Unterhaltung ging nur über den abgeschiedenen Freund. Was solle man den Tod so ernst nehmen, schrien sie, sterben müßten sie doch alle, warum da nicht lachen über ihn, wie sie es taten, und das Glas dabei heben, und scherzen über ihn, der sie doch alle ereilen würde, der blasse Sensenreiter, früher oder später?

Und einer stand auf, der ein Bildhauer war, und sagte, er bringe jetzt etwas aus seiner nebenan gelegenen Werkstatt. Er ging und kam gleich darauf wieder, und hatte einen weißen Kopf unter dem Arm, und stellte ihn mitten auf den Tisch zwischen die Weingläser, und es war der Kopf des toten Schauspielers.

Der Bildhauer tauchte den Finger in seinen Wein und berührte damit die Schläfe des Toten und die Stirn und auch den Mund, er tats mit großer, stiller Feierlichkeit. Dann tauchte jeder den Finger in sein Glas und tats dem Bildhauer nach, und es war auf einmal sehr ruhig geworden, und so ward der Schauspieler gesalbt mit Wein, mit weißem und rotem.

Und dann saß auch ein Kranz um die Stirn des Toten. Aus den Sträußen, die auf den Tischen standen, hatte einer rasch einen Kranz gewunden, einen dünnen, grünen Blätterkranz, blasse Wiesenblumen dazwischen, und der Bekränzte wars zufrieden, und sah wie zustimmend lächelnd in die Runde.

Hinaus in die Nacht!« schrie einer, »und den Ruscher nehmen wir mit!« sagte ein anderer, und sie zahlten und brachen auf. Einer trug die Büste, und der Bildhauer, der sich aus seiner Werkstatt nebenan eine Ziehharmonika geholt hatte, setzte sich an die Spitze des kleinen Zuges. Er konnte nicht recht spielen, es waren nur immer die wenigen gleichen Klänge, die er dem Quetschbalg entlockte, und so gingen sie und bogen dann in den großen öffentlichen Garten ein.

Es war nach Mitternacht, Ende August, der Mond stand groß und gelb am Himmel, und die Wiesen schäumten in seinem Licht. Der Bildhauer an der Spitze schwankte in seltsamen Verrenkungen, beugte sich zurück, wenn er den schwarzen Balg auseinanderzog, und beugte sich vor, wenn er ihn wieder zusammenpreßte. So schritt der kleine Zug dahin, und der die Büste trug, setzte sie sich nun auf den Kopf, hielt sie dort mit beiden Händen fest, hoch glänzte der Schauspieler nun über der trunkenen Schar.

Auf einem niederen Hügel erhob sich der kleine, runde Säulentempel, zu ihm schritten sie empor. Nun lag der Garten unter ihnen, mit Wiesen und Hecken und Bäumen, und der Bach blitzte herauf, und ungeheuer blau schimmerte das besternte Himmelsgewölbe. Auf den Steintisch, der in der Mitte des Tempels stand, stellten sie den Kopf. Klagend und langgezogen spielte der Bildhauer, er hatte nun schon eine Art von schwebendem Lied gefunden, mit steigenden und fallenden Tönen, und die Schar der Männer setzte sich zu Füßen der Säulen auf die Steinplatten, und die vorher so lärmend gewesen waren, die Zecher, nun schwiegen sie und lauschten.

Da kam quer über die Wiese daher eine weiße Gestalt. Sie ging nicht auf dem Weg, sie ging mitten durch das hohe Gras, wunderbar angezogen von dem Klagelied. Es war eine Frau in einem weißen Sommerkleid, und sie stieg jetzt den Hügel herauf. Sie erblickte den bekränzten Kopf und blieb vor ihm stehen. Sie sah ihn lange und wie gebannt an, den der Mond beschien, dann stellte sie sich auf die Zehen, hob die Hände und legte sie zart auf die kalten Wangen des Schauspielers und küßte ihn auf den Mund. Und während der Bildhauer weiter und unaufhörlich sein eintöniges Lied spielte, stieg sie den Hügel auf der anderen Seite wieder hinab und verschwand in den Büschen, die hinter ihr zusammenschlugen.

Es folgte ihr aber einer, der verwunderter noch als die andern den zauberhaften Vorgang beobachtet hatte. Die Frau trat jetzt von der Wiese auf einen Weg, hielt sich aber nicht stadtwärts, hielt tiefer in den Garten hinein. Und so wenig sie die Musik im Tempel und die neugierige Schar der Männer gescheut und sich zu dem wunderlichen Kuß ohne Scham hatte hinreißen lassen, so wenig erschrak sie, als der Mann, der hinter ihr war, nun neben sie trat und zu sprechen begann. Sie wendete ihm flüchtig ihr Gesicht zu, sah ihn kaum an, erwiderte ihm nichts, und ließ ihn, der nun auch verstummte, neben sich her gehen. Im Dunkel eines Baumes stand eine Bank, und sie ließ sich auf ihr nieder, und der Mann setzte sich neben sie. Er streckte auf der Lehne den Arm aus, und als die Frau sich bewegte, stieß sie daran, blieb aber so, und ihm war, als ströme und zucke flüssige, spritzende Glut in ihn über. Dann hörte er sie fragen: »Wer war der Mann, den ich küßte? »Er antwortete: »Ein toter Freund.« Sie hob das Gesicht dahin, woher die trauernden Klänge durch die Nacht kamen, und sagte traurig: »Ein Toter also.« Und es klang gar nicht lustig, wie sie dann zu lachen versuchte und mit einer Stimme, die rauh und gebrochen klang, leise sagte: »Es mag manchmal besser sein, einen Mann aus Stein lieb zu haben, als einen lebendigen.« Dann stampfte sie mit dem Fuß auf, daß der Kies bös knirschte, und sie zitterte, als sie sagte: »Der Stein ist wohl treu«, und den überraschten Mann küßte, der still hielt, mit wild schlagendem Herzen, und dann die Arme fest um sie schloß, die an den Toten dachte.

Wer weiß, was die Frau in die Sommernacht hinausgetrieben hatte, vom einsamen Lager empor vielleicht, das der Mann mied, untreu, oder dem Wein ergeben, oder dem Spiel, vom einsamen Lager empor vielleicht, auf dem sie nur der Mond besucht hatte diese Nacht? Ob sie sich hatte rächen wollen und Gleiches mit Gleichem vergelten, ob sie leichten Blutes war und wahllos freigebig, ob sie diese Stunde später verfluchen würde und zerrütteten Haares beweinen, oder an sie zurückdenken würde wie an etwas, das ihr wehrlos wie im Traum geschah, ob sie später würde Schuld suchen, da und dort, bei sich nur nicht, wie das Frauenart ist – gleichviel, sie ließ geschehen, was der Unbekannte mit ihr tat, vergehend in den fremden Armen.

Sie richtete sich wieder auf dann, und sah ihn nicht an, und sagte »Lebe wohl!«, und sagte zornig, als er sie halten wollte, »Bleib!« und als seien in dieser Nacht Wege nicht da, ging sie wieder quer über die Wiese und verschwand im Dunkel, aus dem sie gekommen war.

Der Mann saß noch auf der Bank und faßte noch nicht, wie das alles hatte sein können, und schauerte in der Erinnerung, und dann erschrak er, daß er sie hatte gehen lassen, und lief ihr nach und fand im Gras ihre Spur, aber die Spur mündete in einen Weg, und der Weg
lief zu vielen anderen Wegen, und welchen sie genommen hatte, war nicht herauszufinden, und so stand er mit hängenden Armen still. Daß sie morgen vielleicht wieder zum Tempel käme, versuchte er sich zu trösten, oder übermorgen, und verwirrt machte er sich auf den Heimweg. Er sah noch einmal zu den Gestalten der Freunde empor, die schwarz vor dem Weiß der Säulen standen und saßen, und immer noch scholl die Musik, aber er ging nicht wieder hinauf zu ihnen, ging heim in die große Stadt und in sein kleines Zimmer, und sein Herz glühte vor dem Unbegreiflichen.

Gegen vier Uhr am Morgen sah ein Schutzmann, den sein Dienstweg durch den Garten führte, mitten durch die Wiesen jemanden zur Stadt gehen, der in der einen Hand etwas Weißes trug, in der andern Hand einen schwarzen Kasten, aber weil der Schutzmann guter Laune war und weil der eine Mann dem Gras doch nicht viel schaden konnte, ließ er ihn unbehelligt das Verbotene tun.

An dem Tag, der dieser Nacht und diesem Morgen folgte, wurde auf dem Friedhof der Stadt ein schwarzer Sarg in die Erde gesenkt. In dem Sarg liege, sagte der Geistliche, und sagte viel Schönes und Gutes noch, in dem Sarg liege, fünfzig Jahre alt und unverheiratet geblieben, der tote Schauspieler Doktor Ruscher. Aber der, mit dem Kranz des Siegers schief und verwegen geschmückt, lächelte zur selben Stunde, zwischen anderen Köpfen auf einem Wandbrett, gelassen in die Werkstatt hinein, wo der junge Bildhauer, in den Kleidern noch der durchzechten Nacht, auf seinem Ruhebett in der Ecke schlief, zu Füßen des Ruhebetts den in sich zusammengesunkenen schwarzen Quetschbalg.

Und eben zu dieser Stunde, da die Trauernden versammelt waren um das offene Grab eines Schauspielers, der immer allein gewesen war im Leben, der nur in Träumen Frau und Haus und Kind besessen hatte, zu der nämlichen Stunde saß in ihrem Zimmer eine junge Frau, hielt die Hände gefaltet über dem Leib, und als sie der vergangenen Nacht gedachte, errötete sie tief, während ein kalter Schauer ihr über den Rücken wirbelte. Es war ganz ruhig in dem kleinen Haus, das zwischen Gärten am Rande der Stadt lag, der Herr des Hauses, der Ehemann, war an seinem Arbeitsplatz, und kein Kindergeschrei erscholl in dem Haus, kinderlos war die Ehe geblieben der beiden. Und doch schien die Frau jetzt auf einmal aufzuhorchen, sie drehte den Kopf lauschend zum Nebenzimmer und hielt sich, zusammenzuckend, plötzlich die Ohren zu: Hatte sie nicht, eben jetzt, deutlich das zarte Geplärr eines strampelnden, nackten Kindes vernommen? Nein! schrie es in ihr, und Ja! flüsterte etwas unter dem lauten Nein! und mit lähmendem Entsetzen sah die Frau den fremden Mann auf der Bank vor sich, nur sein Gesicht konnte sie nicht mehr erkennen, im Dunkel unter dem Baum war es wie verschattet geblieben, und sie hatte es ja auch vermieden, es genau zu betrachten, und dann wurde es gänzlich umrißlos und sank ins Finstere hinab, und klar und strahlend und mondweiß erhob sich der bekränzte Kopf, den sie mitten auf den kalten Mund geküßt hatte. In ihr wechselte schamvoller Schmerz zu einer unerklärlichen Freude, und die Freude ließ sich nicht verjagen, die sie verjagen wollte, und vielleicht schien ihr, was sie mit sich hatte geschehen lassen, leichter zu ertragen, wenn ein Lebender Stellvertreter nur gewesen war eines Toten, und hilflos tröstend sagte etwas in ihr, es brauche ja nicht zu kommen, was sie gleichzeitig fürchtete und hoffte, aber eine lustvolle Erwartung war stärker als Scham und Angst und Selbstvorwurf, und in ihr Geheimnis versunken verharrte die Sünderin ruhigen Atems.

Der Mann aber, der damals der Frau gefolgt war, als sie den Tempelhügel hinabstieg, ging in den nächsten Wochen fast täglich, und zu den verschiedensten Stunden, meist aber spät abends, in den großen Garten und zu der Bank im großen Garten, und setzte sich nieder auf das harte Holz, und wartete auf sie, die aber nie mehr wiederkam. Und zuletzt, als er sich zu dem immer vergeblichen Weg nur mehr selten und dann gar nicht mehr aufmachte, zuletzt war ihm fast, er habe wohl nur geträumt: wie sollte der es auch auseinanderhalten können, dem solches geschehen war, was Traum war und was Wirklichkeit, wenn wir alle auch sonst, und schon im alltäglichsten Leben, dazu nie recht imstande sind?

Der Berg Thaneller

Bayerische Vorkriegsinfanterie, blau und rot, mit blauem Rock und rotem Kragen, aber weißen Hosen, langen, weißen, flatternden Paradehosen, und mit roten Gesichtern und roten glänzenden Specknacken marschiert auf dem Platz vor dem steinernen Säulentempel auf. Die blau und rot und weiß schimmernden Rechtecke sind wie Zündholzschachteln, die spielend hin und her geschoben werden, und wenn ein Leutnantsdegen blitzt, oder eine Bajonettspitze da und dort, so ists, als würde ein Schwefelholz entflammt. Von oben, wo ich stehe, zwischen den Säulen des Tempels, und an eine der Säulen gelehnt, die heiß ist und körnig wie frischgebackenes Brot, schau ich das Wirken einer unsichtbaren Macht, die Längs- und Querstäbe zusammenzwingt, und als Ruhe in die Kolonnen gekommen ist, eine grelle Stimme wie eine Feuerlerche hoch über die Truppen und in den Himmel steigt, und dann alles unbeweglich verharrt, nur mein Auge sich dreht: da ist das riesige M einer schönen Antiqua auf den Platz hingeschrieben. Wie aus einem Kasten der Setzer hat ein greiser, ordenklirrender Helmträger das M genommen, und da steht es nun. Es ist ein kriegerisches M, eine lebendige Letter, und keine könnte eroberischer und waghalsiger und frecher und räuberischer sein, als das große lebende M auf dem Platz vor dem Säulentempel.

In den Sockel der Trajanssäule in Rom ist dieses M eingegraben, dieses kampflustige Eroberer-M, aus dem Geist eines kriegerischen Volkes geboren, und in jedem starken Buch marschiert es, und das A und das O und das Z marschieren mit, in vorwärtsdrängenden, schwarzen Buchstabenkolonnen, wild beflügelt, als stünde hinter der letzten Buchseite der Dichter und trommelte einen heftigen Wirbel, einen ins Blut gehenden Wirbel, daß die Lettern eilen und stürmen müssen zum Ziel.

Der General mit dem weißen Schnurrbart öffnet wieder den Mund. Das Schnurrbartgebüsch rauscht und wogt, das ist das Nest der Feuerlerche, die nun wieder grell aufsteigt und singt. Die Balken und Beine des M lösen sich voneinander, schieben sich hintereinander, zu einem dicken Strich, zu einer Raupe, zu einem Tausendfüßler, der nun über den heißen Platz kriecht und durchs Tor hindurch und hinweg.

Drei Schritte, und da bin ich im Bauch des Tempels; in dem aber kein sanfter Christengott verehrt wird, und kein heidnisch nackter und wilder der Vorzeit, nur Bilder und wieder Bilder hängen hier, goldgerahmt, und blau und rot strahlt es auch hier von den Wänden, und der Blutwurm, der noch eben draußen durchs heiße Tor rasselte, ist auf einen andern Wurm gestoßen, blutrot und blau wie er, und dampfend haben sie sich nun ineinander verbissen und verknäuelt, zur Alexanderschlacht, wie sie der große bayerische Mann und Künstler Altdorfer gemalt hat. Und über den Kämpfenden, über einer phantastischen Landschaft unter einer prangenden Sonne, über Qualm und Schrei schwebt eine gelassene epische Tafel und sagt in einer harten und straffen Schrift – Antiqua nennt sie der Buchdrucker –, daß Alexander, der raublustige Mazedone, und Darius, der Perserkönig, mit ihren Heeren da unten, tief da unten, in der tiefen Ebene des Geschehens, gegeneinanderstürmen.

Der sonnenflirrende Platz ist leer, und der General reitet über den leeren Platz, und sein weißer Schnauzbart ist ein Schnauzbart und kein Lerchennest, und er wackelt mit dem Greisenkopf, und als er sieht, wie ich, in einem Buche lesend, ihm entgegenkomme und fast zu spät ausweiche und fast überritten werde, zieht er eine höhnische Fratze, und ist erbost über den Bücherleser und denkt: seine Zeit mit Lesen zu vertrödeln! Das denkt er, dieser alte Mann, und ist doch nur der Befehlshaber eines einzigen Buchstabens, des Buchstabens M. Aber in meinem schönen Buche, und das ist alt und uralt und älter als der alte General, sind tausend Buchstaben, und das Buch ist kriegerischer und eroberungssüchtiger, und tausendmal frecher und lebendiger ist seine sprungbereite Antiqua als dieser wackelnde Soldatenführer auf seinem Gaul.

Er reitet vorbei, und hinter ihm wende ich mich und klappe schmetternd das Buch zu, hinter dem Gaul drein, daß es ihm wie ein scharfer Wind zwischen die Hinterbacken fährt und er einen kriegerischen Sprung nach vorn tut, so saust ihm die Musik des Buches ins Gebein.

Das braune Holz der Tiroler Bauernwirtshausveranda raucht in der Sonne. Eisgrün fließt unten der Lech. In einem zerlesenen Dorfkalender, der vor mir auf dem Tisch liegt, ein flügelschlagender Hahn ist auf dem Umschlag, sah ich, grau und schäbig gedruckt, das Bild der Parade, den Stechschritt der Infanteristen, den krummen Rücken des Generals. In die Sonne blinzelnd, Purpur vor den Augen, habe ich die magische Wandlung in die feierlich kühne Antiqua herbeigeführt.

Ein Heuwagen fährt vorbei, die Zugochsen schlagen mit den Schwänzen nach den großen Fliegen. Die schartige Messerklinge des Gebirges schneidet ein gezacktes Stück blauen Tuches aus dem Himmel, blau wie das bayerische Infanterieblau, und die Wolke über dem Berg Thaneller ist ein wattebuschiges Lerchennest wie der Generalsschnauzbart.

Morgen mit der geliebten Frau, mit der braunen Frau, aufwärts durch das Kellergrün und Kellerfeucht der Wälder, über den hölzernen Wildbachsteg, während aus der Blattwirrnis die Augen der Erdbeeren funkeln! Und wo bei der Biegung der Weg lanzengerade in den Äther hinaus will, glimmert vor uns der urgraue Stein der Felswand betäubend und rauchend. Morgen!

Auf einem Papierfetzen, den der Wind hierher auf die Veranda geweht haben mag, dem abgerissenen
Stück einer Großstadtzeitung, ist unter den vermischten Nachrichten eine zu lesen, die ich zweimal und dreimal lese, mit Lächeln und einem froschkalten Schauer über Brust und Rücken. Auf dem schon vergilbenden Holzpapier melden Schriftzeichen, verwischt, farbverschmiert, aus dem Maul der unermüdlich Lettern spuckenden Setzmaschine, das Ende eines Liebespaares. Die vierzigjährige Frau eines Angestellten fand man tot in der Küche, während das Leuchtgas still und giftig noch strömte. Sie war nackt, und im Haar trug sie Blumen. Neben ihr war der tote Geliebte und Ehebrecher, nackt, in einen roten Mantel gehüllt. Und während das Leuchtgas still und giftig sich ergoß, lag der junge Mensch mit zuckendem Mund bei der Frau, und wie er sie umarmte und ihre Beine spürte, nickte und schwankte vor seinen Lippen eine der roten Rosen. Sie schwankte, die Rose, weil die nackte Frau den Kopf bacchantisch warf, oder vielleicht, weil das Gas sie traf. Sind die beiden mehr wert als ein Gelächter, diese beiden Schauspieler im Leben und im Tode, die in der Küche, wo die Bratpfannen und Kochtöpfe über ihnen glänzten wie Wappenschilder, in Schönheit und mit Blumen im Haar im Strom des Leuchtgases starben?

Ich lache laut, aber der Wattepfropfen über dem Thaneller scheint mir im Schlund zu sitzen, und während ich den Zeitungspapierfetzen drehe und die verblaßten, unscharfen Schriftzeichen anstarre, die diesen lächerlichen Tod der beiden Gimpel melden, dieser blöden Vögel, die sich im Netz würgten, aber dann singend starben, blickt mich der Uhu des Grauens groß und eiskalt an.

Ich schlage den Kalender zu, und das Blatt mit den vermischten Nachrichten lege ich dazwischen, da hinein, wo die Paradeinfanterie marschiert. Ich habe mir das militärische Schauspiel, grau auf der graufaserigen Kalenderseite, in tiefschwarze Antiqua auf Bütten übersetzt. Aber ich kann nicht, homerisch und heroisch, die Todesfeier der beiden Küchenvögel in ein strahlendes Licht heben, aus den Blumen im Haar der welkenden Frau kann ich keine starrende Königinnenkrone machen, und aus dem roten, seidengefütterten Schlafrock des Ehebrechers keinen cäsarischen Purpurmantel. Diese Sperlinge der vermischten Nachrichten, mit den gefärbten roten Flügeln, mit dem verlogenen Kopfputz, mit der Pfaufeder der Eitelkeit in den wächsernen Todeshänden, ich kann sie nicht zu Adlern aufblasen, und ich mag nicht mit tuschschwarzen Antiqualettern ein Hohelied schreiben, wenn für das Schnaderhüpfel die Setzmaschine erfunden wurde.

Der Thaneller sieht lockend und steingrau her. Morgen mit der braunen Frau durchs Kellerfeucht der schwarzen Wälder empor zu ihm, und hoch über den Lech empor, und über die Theatertragik der lahmen Küchenvögel ins bayerische Infanterieblau des Himmels.

Der Bock

Esau kam den Zickzack des Gebirgsweges herab. Manchmal traf ein Stein das Leder der Sandale. »Au!« schrie er dann und krümmte die Fußsohle. Es ging gegen Mittag. Bei Tau war er aufgebrochen, den Felsbock zu jagen, aber er hatte nur einmal die spitzen Hörner von weitem gesehen: ehe er den Bogen zu spannen vermochte, war das Tier in einer Steinlawine abgefahren. Also morgen! dachte er. Die Sonne stand lotrecht über ihm, er hatte Durst und Hunger. Das Tal sah er schon liegen, und die Hütten, nah dem Aug, aber zu gehn wars noch ein gutes Stück. Nun sang er: »Mit dem Pfeil, dem Bogen – durch Gebirg und Tal – kommt der Schütz gezogen – früh beim Morgenstrahl.« Dort gleich, wo der Wald eine spitze Zunge vorstreckte, gabs Wasser. Er kniete schon neben dem Quell, schöpfte mit der Hand. Der Durst war gelöscht, nun wurde der Hunger vernehmlicher. Er legte sich die gespreizten Finger auf den Bauch, es knurrte darin. Er lachte. »Bald«, sagte er beruhigend, »bald!« Knurrte der Magen nicht schon versöhnlicher?

Die ersten bebauten Felder kamen, Männer und Frauen, gebückt, gruben mit Hacken. Der Rauch des Hauses stieg. Esau lief. In der Halle war es kühl. Es war niemand zu sehen, alles war auf den Feldern, und er hatte Hunger. Da knarrte eine Tür, sein Bruder kam herein; er trug eine dampfende Schüssel, stellte sie vor sich auf den Tisch, grüßte Esau kaum. Und ging wieder, sich einen Krug Weines zu holen.

Das roch gut, es waren Linsen, Esaus Lieblingsgericht. Die Mutter war nicht da, seufzend setzte er sich auf die Bank. Er hatte Hunger, aber zu faul war er doch, sich ein Mahl zu bereiten. Grad kam der Bruder mit dem Wein. Er setzte sich breit an den Tisch und begann zu essen. Esau pfiff, sich zu trösten, aber das half dem Magen nicht, der wieder knurrte. So sagte er höflich zu seinem Bruder: »Gib mir doch auch was ab!«

Erstaunt sah der Bruder ihn an. »Koch dir selber was!« sagte er kurz.

Esau schlug die Knie unwillig gegeneinander. »Kochen! Kochen! Ich mag nicht! Wo ist die Mutter?«

»Sie gräbt Rüben«, murmelte der Bruder mit vollem Munde und nahm dann einen neuen Schluck Wein. Dann schrie er plötzlich: »Ich hab mir auch selber gekocht! Du bist wohl zu fein, dir selber was zu kochen? Seht den Herrn! Den ganzen Morgen herumstrolchen und dann zu warten, bis man ihm die Schüssel vor den Mund rückt. Ich habe fünf Furchen gezogen im Acker. Ich hab mein Essen verdient und es mir selbst gekocht. Du hast den Wolken nachgesehen.« Er spuckte wütend aus. »Brauchst auch nicht zu essen!«

Esau sah neugierig zu ihm hinüber. »Ärgerst dich wieder? Brüderlein, laß! Der Bock hatte solche Hörner!« Er beschrieb sie genau. »Das verstehst du nicht«, sagte er, als er merkte, daß der Bruder gar nicht zuhörte, nur den Mundwinkel hob, höhnisch.

»Du bist der Erstgeborene und Erbe«, sagte der Bruder plötzlich. »Haus und Feld und Vieh bekommst du.« Er schrie zornig: »Was wirst du damit tun? Das Vieh wird verhungern, auf den Feldern wird Mohn wachsen und das Haus zerfallen. Warum bist du der Erstgeborene?«

Esau lachte laut. »Bins, Brüderlein, bins!« Er schlug gegen die Mauer: »Mein!«

Er rüttelte am Tisch: »Mein!«

Dann spürte er wieder seinen hungrigen Magen. »Bruder, gib mir was ab! Mich hungert!«

»Alles dein«, sagte der, »alles dein, und hast nichts zu essen! Nichts zu fressen, Erstgeborener! Meine Linsen sind mir lieber.« Er hatte ein Viertel der Schüssel schon leergegessen. »Gute Linsen«, sagte er. »Die Erstgeburt kannst du nicht essen.« Plötzlich lachte er. »Tritt sie mir ab, und du kannst die Schüssel Linsen haben.«

Saß schon Esau neben ihm. »Her damit!« Aber der Bruder legte den Arm über die Schüssel. »Trittst sie mir ab, die Erstgeburt?« »Ja«, sagte Esau, »trete sie ab.«

Schnell hielt ihm der Bruder die Hand hin, Esau schlug ein.

»Gib die Linsen her, du hast schon zu viel gehabt!«

Es schmeckte. Er trank den Wein und aß die Linsen, und der Bruder lehnte am Türpfosten. Als die Schüssel leer war, schleckte Esau mit der Zunge sauber die letzten Reste ab. Er sah vergnügt umher, die Mutter trat ein. Schon erzählte ihr der Bruder den Handel.

»Esau«, rief sie, »Esau, Kind!« Und dann zum Bruder: »Das ist doch nicht ernst zu nehmen, um eine Schüssel Linsen! Das nimmst du nicht an!«

»Ich nehme es an, es ist abgemacht, und es war ein ehrlicher Handel!«

»Daß du dich so freust?« fragte Esau. »Warum freust du dich so?«

Nun zürnte ihm auch die Mutter. »Dummes Kind, weißt jetzt noch nicht, was du getan hast!«

Er erzählte: »Mutter, ich sah einen Bock. Nie gab es solche Hörner, groß und krumm.«

»Die Hörner!« sagte traurig die Mutter.

Mit einem Sprung stand der Bruder vor Esau. »Ich bin der Erstgeborene jetzt! Mein ist einmal alles!«

Esau erzählte noch von den Wunderhörnern. »Ich muß die Hörner haben!« Er reckte sich. »Ich bin satt. Müde bin ich nicht. Ich will heute abend noch ins Gebirg. Daß ich ihn in der Morgendämmerung erlauere.«

Der Bruder stand noch immer vor ihm. »Ich bin der Erstgeborene jetzt«, krähte er und wollte Esau den Weg vertreten.

»Ja, du bist der König jetzt im Haus«, sagte Esau ruhig. »Ich will dich krönen!«

Er nahm die Schüssel vom Tisch, schlug sie dem Bruder auf den Kopf daß die Scherben splitterten und der Schüsselrand ihm über die Ohren glitt und wie ein gezackter Ring um den Hals schaukelte. Die Mutter schrie auf, aber von draußen lachte Esau. »Nie saht ihr Hörner, so groß und krumm!«

Und am Abend ging der Mond auf, und der Bruder, der König jetzt im Haus, der Erstgeborene jetzt, der stand im Garten und sah zum Mond hinauf, hinauf zu dem gelben Gestirn, und als er länger hinsah, bemerkte er, daß der Mond einem gelben Bogen glich, einem gelben, gespannten Bogen, und den Pfeil, der auf dem Bogen lag, den sah er nicht, aber er fühlte, daß er auf sein Herz gerichtet war, der unsichtbare Pfeil mit der ganz und gar unsichtbaren Spitze, und so sprang er schnell hinter einen Baum, sich zu schützen und fluchte: »Dieser Esau! Dieser Lümmel!«

Da stampfte es hinter ihm wild, es keuchte, er sah um, da war der Bock, den zu jagen Esau gegangen war. Da war er, da waren die riesigen Hörner, krumm, gebogen, geschweift, gedreht, drohend die Spitzen nach vorn gestellt, und die Augen des Bocks glühten, und sein langer Bocksbart flatterte. Und da war der Esau, der Dummkopf, ins Gebirge gestiegen und hatte seine Erstgeburt verkauft, um sich neue Kraft zu holen für die Jagd, und das alles hätte er gar nicht gebraucht, denn da war er ja, da, im Garten hier, der Krummbock, der riesige, und keuchte.

Er rannte, der Bruder, der Erstgeborene jetzt, er rannte davon vor dem stampfenden Tier, und das kinnbartflatternde Vieh hinter ihm drein, und nun hatte er doch den schützenden Baum verlassen müssen und da zielte der Pfeil auf dem Bogen des gelben Mondes schon wieder auf ihn!

Und wenn er nun schnell beiseite sprang, überlegte er, dann mußte der unsichtbare Pfeil (aber er war da!), dann mußte der unsichtbare Pfeil des gelben Mondbogens nicht
sein Herz treffen, mußte das Bocksherz treffen, dann war der Bock erlegt, dann war nicht nur die Erstgeburt sein mit allen süßen Rechten, auch der Bock war sein, der gewaltige Krummhörnerbock, und er warf sich mitten im Sprung auf die Seite und fiel auf Händen und Füßen ins Strauchwerk, in die Brennesseln, die ihm das Gesicht verbrannten, aber er achtete es nicht, er blieb in den Nesseln liegen – der Wein, der Freudenwein, hatte ihn doch müd gemacht und schlief ein.

Er lag, der Mond schien und beleuchtete ihn und bewachte ihn, und der Ziegenbock aus dem Stall graste ruhig neben ihm die ganze Nacht.

Beim lautlosen Krähen des Messinghahns

In einem niederen Sessel zu sitzen, in einem niederen, schwarzen Ledersessel, und Kaffee zu trinken, und ein Buch in der Hand zu halten, ein aufreizendes, begehrlich machendes, ein verwegenes Buch, und an den Wänden, ringsherum an den Wänden Bücher, Bücher, Bücher, braune, rote und gelbe Bücherrücken, zusammengewachsen zu einem großen Tier, das dampfend lauert und gestreift ist wie ein Tigertier! Der Kaffee rinnt wie Gift in die Fingerspitzen, daß sie beben, und mir ist, ich dürfte kein glattes, hautweißes Blatt Papier damit betupfen, es gäbe braune Flecken, runde, pestfarbene Flecken! Aber das Buch, das ich lese, das hitzige, brandrote, schwelende Buch wird von dem Gift nicht gefärbt. Ich darf einen wilden Wirbel auf dem Deckel schlagen, einen Fingerspitzentriller, einen rasenden Nägelparademarsch, es färbt nicht ab. Oft klappe ich das Buch schnell und schnappend zu, daß eine grelle Lohe, die zwischen zwei Seiten herausfahren will, erstickt, bevor sie mich und das Zimmer und das große Büchertigertier versengt und verascht.

Auf dem Messingaschenbecher aber schlägt ein Hahn die Flügel, kräht mit krummem Schnabel lautlos, und das Tigertier faucht ihn an, den Vogel mit den Messingfedern. Der flattert und flügelt und sperrt den Schnabel drachengroß auf zu einem lautlosen Gekräh. Ich habe kein Gewicht mehr, ich schwebe. Der Hahn ist auf den Schrank geflogen, hoch hinauf, und wie eine stumme Trompete schmettert er sein Kikeriki. Ich will dir die schönen, langen Federn ausreißen, eine nach der andern, schön der Reihe nach, und will dir mit deinen eigenen Federn, mit einer Handvoll deiner eigenen Federn den Schnabel stopfen, und dem Tiger will ich mit der längsten und buntesten der Federn den blutroten Rachen kitzeln, daß er seine Katzenaugen rollt und mit dem Schwanze schlägt, das komische Vieh ? und wie ich lachend zwischen dem gerupften, armseligen Messinghahn und dem gereizten Fauchtiger inmitten und in der blauen Luft schwebe, glüht tief unter mir wie ein Vulkan die atmende Zigarre.

Das Buch liegt aufgeschlagen vor mir wie vor dem Mönch das große, steinbesetzte Buch. Ein Satz daraus sticht mich ins Gehirn wie eine brennende Nadel, und dem Nadelstich folgt ein Pfeilschuß, und noch ein Pfeil schwirrt und noch einer, und mit zitternden Schäften stecken sie mir im Kopf, daß mir das Blut das Haar feuchtet, warm und klebrig. Und der Gockelhahn kräht wieder lautlos, und der Tiger funkelt, und auf einmal ist mein Herz aus Glas, und alles an mir ist aus Glas, und die Pfeile können mir nicht mehr weh tun, prallen ab von mir, klirrend, scheppernd, und mit den Füßen werfe ich sie raschelnd durcheinander, wie Schilfstreu, scharf knackend wie Schilfstreu, und gellend darüber kräht flügelschlagend der betrunkene Messinghahn.

Hier, hier oben, auf der linken Seite des Buches, beginnt ein neuer Abschnitt, und das erste Wort des ersten Satzes fängt mit dem Buchstaben O an, und der Buchstabe O ist groß und rund und mächtig, wie ein Krug, wie ein Faß, wie eine Tonne, gewölbt und gebläht, und aus dem O heraus, wie Diogenes aus seiner Tonne, kommt nicht ein bärtiger, glatzköpfiger Mann im schmutzigen Rock des Weisen, kommt eine Frau im gelben Gewand und steht an der Schwelle der O-Tonne, mit weißen Blumen in der Faust, mit einem Strauß weißer Blumen in beiden Fäusten, und ich rufe ihr zu: Dringeblieben, du Tote! Siehst du nicht, daß dir hier die weißen Blumen gelb werden wie dein gelbes Gewand? Nun wird die Frau traurig, aber das mag ich nun gar nicht, und mit einem Sprung sitze ich neben dem Hahn auf dem Kasten, schlage mit den Flügeln wie er und krähe unaufhörlich: Marsch! Marsch! Zurück!

Die Frau hebt mir die Blumen entgegen, bittend, aber dann läßt sie die Arme sinken, ergeben, und eine Träne rinnt ihr übers Gesicht, und dann wendet sie sich, und zieht frierend die schmalen Schultern zusammen, und durch das Buchstabenportal des O weht sie zurück in ihr papierenes Totenreich und geht und geht und wird kleiner und kleiner und verdämmert im rötlichen Dunkel.

Hinunter auf die Straße, hinab die knarrende Treppe, durch die schlagende Tür ins Freie! Wie donnert die Stadt! Wie sich die Isar grünschäumend an der Brücke bricht: Sie kommt vom Gebirge und haut mit patschenden Händen, mit derben Gebirglerpratzen an die Pfeiler. Das spritzt bis zu mir herauf, frisch wie Eis, und der Kaffeedunst steigt aus meinem Kopf und kräuselt sich zu kleinen Wolken, und die heben sich, und die Vögel, die durch dies seltsame Abendgewölk streifen, taumeln, und verfehlen die Brummfliege. Aus den Anlagen kommt die Lebendige, und ihr gelbes Kleid flattert. Tief in das Grün der Sträucher und wippenden Büsche dringen wir, und wie ihre Lippen einen Seufzer formen, schau ich auf das kreisrunde Rot ihres Mundes, rund wie das Buschrund, das hinter uns zusammenschlägt, während wir atmend und liegend und liebend verdämmern wie im bergenden O.

Der nackte Shakespeare

Es ist ein braunes Buche, schön und schmal, so lang wie eine gute Männerhand, so breit wie eine, flohbraun ist das Buch, nein, dunkler: kaffeebraun. Aus Leder ist der Einband, und auf dem Rücken trägt er ein verschlungenes Muster in Gold. Das Buch ist alt, das sieht man an dem Braun – kein junger Einband ist so getönt. Und das Gold steht matt darauf, müde, altersmüde, zart verwischt, und schlägst du das Buch auf, so siehst du gelbe Seiten, wachskerzengelbe Seiten – hast du weiße erwartet? Auf den gelben, auf den weizenfarbenen Seiten stehen zierliche, schwarze, verblaßte Lettern, wie Perlen aufgereiht an einer Schnur, Zeile unter Zeile. Ein zärtliches, ein schwermütiges, ein spinnwebschwankendes Lied zu hören, darauf warst du gefaßt, aber da schlägt dir ein Tubaton entgegen, ein wilder, Trompeten schmettern, Schwerter fahren gegen eiserne Strickhemden, ah, Shakespeare! Es ist ein Band einer alten Shakespeare Ausgabe, es ist Othello, der Mohr von Venedig, und der König Lear, und der finstere Macbeth. Und doch dieser Einband, überlegst du, dieser allzu schöne Einband! Ein Liederbuch sollte er umschließen, süße Gesänge für lämmerweidende Hirten und sanfte, traurige Liebende. Aber dieser Einband, fluchst du, ein Blumenzaun um eine Büffelherde, auf seidenen Kissen ein blutendes Schwert! Und jetzt liest du eine Seite aus dem Othello, und noch eine, und das Feuergesicht des Mohren glüht dich an, und jetzt fangen deine Finger zu zittern an, und sie greifen fest in den Deckel, sie zerren, sie reißen, und der Einband, der edle Einband in Braun und Gold, flattert, braust schnatternd in eine Ecke, und du hältst den nackten Shakespeare in der Hand, und freust dich, und schreist, schämst dich nicht und schreist, du mußt schreien, mußt laut und barbarisch und zimbrisch schreien über deinen entkleideten, abgehäuteten, entschuppten Mann, größer nun und gewaltig erst ganz in seiner schaudernden Blöße. Bis die Frau kommt und sich weinend bei dem Einband in der Ecke nieder hockt, und ihre Augen voll Wasser auf dich richtet, ihre Rehaugen, ihre vorwurfsvollen, ihre Rotkäppchenaugen, die tropfenden. Tuts dir jetzt nicht auch leid, du Urmensch, du Waldmensch, du Vieh? Und da hockst du dich jetzt auch nieder, vor das Rotkäppchen hin, Aug in Aug. und jetzt Mund auf Mund: wie glänzen die Tränen! Deine linke Hand auf dem Rücken aber hält den nackten Engländer, und schwingt ihn, und dein Herz innen, tief innen, kicherts nicht?

Der Gang durchs Gewitter

Als Barbara, Lehrerin an der Volksschule einer abgelegenen niederbayerischen Landstadt, nach halbstündiger Fahrt nachmittags um drei Uhr den kleinen, verstaubten Bahnhof verließ, der trostlos allein neben der Straße stand, kein Haus sonst weit und breit, und sich anschickte, nach Plenning zu gehen, hing dort, wo es lag, und das von hier aus nicht zu sehen war, eine düstere schwarze Rabenwolke am Himmel, die ein Gewitter anzeigte.

Sie mochte hoffen, noch vor Ausbruch des Unwetters das Dorf zu erreichen, und sie war durchaus in der Stimmung, auch einen Gang durchs Gewitter nicht zu scheuen. Mitten auf der Straße, in der prallen Sonne, ging sie festen Schrittes, und als sei sie ihr Ziel, der großen schwarzen Wolke entgegen. Der Wolkenvogel wurde größer, seine Flügel, gelb und weißlich gerändert, schwangen immer breiter am Himmel: bald mußte seine tiefschwarze, ungeheure Kehle über ihr sein. Und weiter und weiter würde der Vogel fliegen, über sie hinweg, dorthin, woher sie kam, ins Sonnige, ins Blaue, und wer weiß wohin rauschend und dunkel drohend zu fliegen der Wind ihm befahl.

Barbara ging einen Weg, den sie in der letzten Zeit oft gegangen war, zu dem Lehrer von Plenning, dem Mann, den sie liebte, und der sie wieder liebte – so hatte sie geglaubt, bis vor kurzem noch, aber jetzt wußte sie es anders. Eifersucht zerriß ihr Herz, wenn sie daran dachte, wie er es getrieben hatte, auf dem Kellerfest neulich, mit jener andern, um sie werbend und girrend und sich spreizend, daß sie sich hatte schämen müssen. Zwar hatte er alles bestritten nachher, oder doch das meiste, mit lahmen Ausflüchten, als sie ihn zitternd zur Rede stellte, aber sie hatte ihm
kein Wort geglaubt. Zwei Wochen lang hatten sie nun nichts von einander gehört, zwei bittere Wochen, für sie wenigstens und er hatte sie vielleicht vergessen. Da hatte sie es nicht lassen können, wie auch ihr Stolz dagegen war, ihn brieflich um eine letzte Aussprache zu bitten, und er hatte zurückgeschrieben: er erwarte sie – ganz kurz und kalt und nur dies! Und wenn sie sich fragte, was sie ihm sagen wollte, so fiel ihr in der Unbedingtheit ihres ersten großen Schmerzes nichts weiter ein als: ich möchte sterben! Ach, sie war jung, und da sagt sich das so leicht!

Die Landschaft lag jetzt im Wolkenschatten, nur über einem fernen Wald war noch ein unwirkliches, gläsernes Licht. In die Bäume an der Straße war der Wind eingefallen, er rührte Barbara mit eisigen Händen an, und der Straßenstaub drehte sich wirbelnd. Dann fielen die ersten, schweren Tropfen, und aus der Wolke über ihr zuckte es schwefelgelb. Der Regen wurde stärker, ein Knurren lief über den Himmel, Donnerschläge schallten, nun rauschte es in Fluten herab, und des Regens nicht achtend, ja, im Trotz seiner sich freuend, ging sie dahin.

Der Lehrer von Plenning, der unruhig am offenen Fenster das heraufziehende Gewitter beobachtet hatte, schloß es, als die ersten stürmischen Tropfen ins Zimmer sprangen. Er war Barbara nicht bis zum Bahnhof entgegengegangen, wie sonst immer, wenn sie zu ihm kam, diesmal nicht, um sie zu bestrafen für die ungerechten Vorwürfe, die sie ihm gemacht hatte: den Bußgang, und als solchen sah er ihn an, sollte sie allein tun! Denn er war Lehrer und hielt viel von Erziehung. Nun reute es ihn. Er holte den Schirm aus dem Schrank und trat wieder zum Fenster, an dem die Tropfen herabrannen, wie Tränen. Sich so anzustellen! schalt er sie aus, als stünde sie vor ihm, und er sah ihre Augen vor sich, und wie sie ihn aus schmerzverzerrtem Gesicht angeblickt hatten auf jenem unglückseligen Kellerfest.

Aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen! Wieder stieg der Zorn in ihm hoch, und lehnte den unzutreffenden Vergleich ab, denn nicht einmal die Mücke war dagewesen, sozusagen, so unschuldig fühlte er sich. Und hörte aber eine verborgene Stimme, die ihm widersprach. Sie muß lernen sich zu beherrschen! sagte er, und sagte es laut, und lauschte mißtrauisch, was die Stimme sagen würde. Diesmal schwieg sie. Wohl war ihm nicht ums Herz, das nach Aussöhnung verlangte und lächelndem Verstehen. Aber sein bubenhafter Trotz siegte, und so stellte er den Schirm wieder in die Ecke, und machte sich nicht auf den Weg ihr entgegen, weil sie vielleicht doch klug genug gewesen war, im Bahnhof, unter Dach und Fach, das Ende des Unwetters abzuwarten.

Sie war nicht klug gewesen, Barbara, die Lehrerin, zu tief gekränkt sich fühlend, um noch das Wort der Klugheit zu hören, und war nun schon eine Viertelstunde unterwegs, mitten auf der Straße, durchnäßt bis auf die Haut. Auch wenn sie am Straßenrand unter den Bäumen gegangen wäre, hätte das wenig genützt, so dick troff das Wasser von den Blättern. So ging sie, im Schwarzen und Wehenden und Nassen, die Blitze fuhren glühend herab, und das Wasser schwamm ihr übers Gesicht, es waren auch Tränen dabei. Und wenn es die Wahrheit war, was sie, und sonst nichts, dem Mann in Plenning sagen wollte: daß sie zu sterben begehre! – nun, der Tod war über ihr, in Feuergestalt, und vielleicht kam er, wenn man ihn rief, und sie rief ihn, freventlich.

Sie schloß die Augen, faltete die Hände vor der Brust, ging wie eine Blinde, mit den suchenden Tritten einer Blinden, und noch durch die herabgelassenen Lider drang das Feuer der Blitze. Sie war fromm, und dem Glauben ihrer Kindheit treu geblieben, und nun war ihr, sie sei auf einer Wallfahrt, wie schon manchmal, um Erhörung zu erflehen. Laut begann sie zu beten, in einem eintönigen Singsang, in dem Ton, wie Wallfahrer beten, die immer gleichen Worte wiederholend, eine lästerliche Litanei: Komm, Blitz! Komm, Tod! Komm, Sarg! In einer Verzweiflung, in die sich süße, einschläfernde Lust mischte, betete sie so. Kindisch wars, fühlte sie, was sie tat, und fühlte, daß sie sich in ein Spiel geflüchtet hatte, das sie so ernst nahm, wie Kinder es ernst nehmen, wenn sie Taufe oder Begräbnis spielen, und Schein und Wirklichkeit nicht mehr auseinander zu halten wissen.

Komm, Sarg! sagte sie eben wieder, da brach, von einem nahen Blitz ein Schmettern nieder, daß sie wankte. Sie öffnete die Augen. Vor ihr, am Straßenrand, lag ein weißer Holzsarg, und das Wasser rann an ihm herab. Der Zufall, der alte Possenreißer, hatte sich wieder einmal einen guten Spaß ausgedacht, nicht minder lehrhaft er, als der Mann in Plenning und mit ihm im Bunde. Jetzt verschob sich der Sargdeckel, und ein Gesicht hob sich über den Sarg: der darin lag, hatte sich aufgerichtet. Er rührte die Lippen, sie sah es, aber was er ihr zurief, verstand sie nicht – vielleicht, daß er ihr seinen Platz abtreten wolle um selber ins Leben zurück zu gehen, mit ihr zu tauschen, und gerne! Und wie Kinder nicht allzu erstaunt wären, wenn der Täufling, die Puppe, sich regte, über die sie das Taufwasser gießen, oder die tote Puppe sich leichenkalt anfühlte, die sie ins Heugrab legen, so wunderte sich Barbara nicht über den Sarg, den sie herbeigefleht hatte. Ein Lächeln war um ihren Mund, als sie ihr Herz aussetzen fühlte, und sie auf die Straße niedersank, zu sterben, wie sie meinte, um das Spiel ganz so zu Ende zu spielen, wie sie es begonnen.

Der Schreiner von Plenning, der den von ihm gehobelten Sarg zur Bahn hatte bringen wollen, und vor dem Regen Schutz in dem Holzgehäuse gesucht hatte, und erschrocken war von dem gewaltig nahen Donnerschlag, hatte den Deckel gehoben und ihr zugerufen: der Blitz muß aber ganz nah eingeschlagen haben! Nun stieg er vollends aus dem Sarg und stand im schon nachlassenden Regen. Er blickte zum Himmel auf, wo die Wolken durcheinander drängten und schon wieder Blaues sehen ließen, sah von dem Sarg, der neben dem Schubkarren lag, verständnislos und furchtsam hin zu der im Straßenschmutz hingestreckten Frau, und sah von Plenning her einen Mann mit aufgespanntem Schirm schnell sich nähern, und war seinem Schicksal nun doch nicht entkommen, das es gewollt hatte, daß er an diesem Sommernachmittag vom Gewitterregen durchnäßt werde.

Der Mann mit dem Schirm fing zu laufen an, als er die Gruppe auf der Straße sah. Er warf den Schirm von sich, aufgespannt, wie er war, und der Wind trug ihn ein paar Meter in das Feld hinein. Dann kniete der Lehrer von Plenning neben der bewußtlosen Frau, und sah, daß sie atmete, und es war ihm auf einmal, daß, wer recht und wer unrecht habe in ihrem ersten Liebeszank, nicht so leicht und so scharf auseinanderzuhalten war, wie er sichs eilig gedacht. Er schob den Arm unter Barbaras Nacken und richtete sie halb hoch, und als sie die Augen öffnete, sah sie ein geliebtes Gesicht, da schloß sie die Augen gleich wieder.

Der Schreiner half mit, so hoben sie die Liegende, daß sie stand. »Der Blitz hat sie nicht getroffen. Es war nur der Schrecken«, sagte der Schreiner. »Das Gewitter ist vorüber«, sagte er, und sagte: »Ich hole Ihren Schirm«, und ging, es zu tun, und ließ die Frau allein im Arm des Mannes. Und dann sagte Barbara dem Mann etwas, aber es war nicht das, was ihm zu sagen sie gekommen war.

 

Editionsnotiz

für die Prosabände 7 bis 16.

Als Druckvorlage diente diesen Bänden die Ausgabe »Georg Britting – Gesamtausgabe in Einzelbänden« der Nymphenburger Verlagshandlung, München.

Zu den Bänden 13, 14 und 16:

Diese Bände enthalten die Beiträge des Bandes „Anfang und Ende“ der zuvor genannten Ausgabe, der nach dem Tod von Britting im Jahr 1964 erschien und folgende Nachbemerkung enthält: Mit diesem Band ist die Gesamtausgabe der Werke Brittings abgeschlossen.

Sechs Bände sind vom Dichter in den Jahren 1957 bis 1961 noch selbst redigiert worden, sozusagen als Ausgabe letzter Hand. 1965 erschienen und dem Titel »Der unverstörte Kalender« [Band 6 unserer Ausgabe] zunächst die Gedichte aus dem Nachlaß. Nunmehr wird der erzählerische und dramatische Nachlaß Brittings in Buchform zusammengefaßt. Wie schon der letzte Gedichtband, enthält er Werke aus allen Schaffensperioden: zunächst Erzählungen, sodann Bilder, Skizzen und Feuilletons, [unser Band 13] die Britting bisher in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hatte, das Fragment eines größeren erzählerischen Werkes aus der Spätzeit, »Eglseder« [unser Band 16] und schließlich drei dramatische Arbeiten aus den zwanziger Jahren. [Unser geplanter Band 14] Das dichterische Werk Georg Brittings liegt damit, abgesehen von einigen wenigen peripheren Arbeiten, in acht Bänden vollständig vor.

Ausführlichere Informationen unter: www.britting.de

 

Impressum

Band 10
Hrsg. von Ingeborg Schuldt-Britting

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Informationen über den Dichter und sein Werk in www.britting.de.

Alle Rechte vorbehalten
© 2012 Georg-Britting-Stiftung
83101 Höhenmoos
Wendelsteinstraße 3
Satz u. Layout: Hans-Joachim Schuldt
Made in Germany
Gedruckte Taschenbuchausgabe:
ISBN 978-3-9812360-0-2 (Sämtliche Werke – Prosa)
ISBN 978-3-9812360-4-0 (Das Liebespaar und die Greisin)