Band 23 als PDF mit Lesezeichen
Band 23 als PDF in Druckversion
Band 23 als E-Book im epub-Format
Band 23 als E-Book im mobi-Format
Drucknachweise und Anmerkungen zur Prosa
Öffnen Sie den gesuchten Titel, dort sind sie unter „Anhang“ enthalten.
Inhaltsverzeichnis
Martin Greif
Peter Altenberg
Literatur als Ware
Die Kunst stirbt
Der Kondor
Josef Achmann
Zu: Josef Achmann, »Die kleine Stadt«
Josef Achmann
Der Maler und Graphiker Josef Achmann
Münchner Künstlerköpfe: Josef Achmann
Oskar Birkenbach
Der Angestellte Schardt unter dem Strich
Die Jungen Lieder im Selbstkostenverlag
An den Ufern des Lebens
Sonette
Die Himmelstiere
Marion
Kinonovelle
Der Name Für M. R.
Das Kind
Der Insektenstich
Die Glaswolke
Journalist Franz Bär
Schmaler Tag des Kommis
Katta Moll
Ariel
Das weiße Pferd
München
Passau und der alte und der junge Lautensack
Die verwegene Marion
Der Kolonialfeldwebel
Der trunkene Kutscher
Hol über!
Das Initial
Das stelzbeinige E
Der nackte Engländer
Der Parlamentarier
Völkische Bibliophilie
Begräbnis
Der Gerechte
Theater
Literatur
Lyrik
Der Georgsritter
27. Februar (Im Englischen Garten)
Indianischer Film
Regen
Salzburgiana
Ein bißchen Salzburg
Die Geschichte von der goldenen Frau im Lechtal
Winterlich
Zwölf Raben
Indianer
Tüchtige Diener
Anekdote [auch „Die Antwort“]
Anekdote vom Major Xanders
Erbse
Auf einem Hügel über Aichach
Der Ledergepanzerte
Hinterhauser und sein Fräulein
Ein Pferd überm Fluß
Über die Schelligkeit Zwei Erinnerungen
Sarganekdote
Kleines Tagebuch
Fahrt nach Skutari
Welcher ist’s?
Der Rabe von Elbigenalp
Die gepeitschte Sünderin
Die kluge Frau
Feuerwasser
Trinksitten
Der Nachtfalter
Der Gesang des Weckers (oder: Ein anderer König von Thule)
Der polnische Schmied
Entrückung in die Landschaft
Nachwort zu einer Mörike-Ausgabe
Der Kuß der Musen
Das alles ist Bayern …
Für Fontane
Der Vogel Bienenfresser
Martin Greif
Martin Greif ist tot. Mit ihm ging ein Dichter, der weltabgewandt, abseits von allen literarischen Fragen und Feind jedes Parteigezänks mit hoher Kraft und sicherem Formgefühl gestaltete, was sein schönheitsfrohes Auge sah und sein feingestimmtes Ohr erlauschte. Nie ist er in die weite Arena des Kampfes der widerstreitenden Ideen herabgestiegen, nie hat er es versucht, noch verstanden, die Aufmerksamkeit der großen Menge auf sich zu ziehen – immer ist er der stille, versonnene Sänger geblieben, der unbeirrt, ohne sich durch die wechselnden Strömungen und Richtungen des herrschenden Geschmackes aus seiner Bahn bringen zu lassen, seine eigenen Wege ging. Eben diese stolzbescheidene Zurückhaltung ist die Hauptursache neben seiner, dem Durchschnittsleser nicht mundenden Sprache, die ungezwungen und ungekünstelt, jedes leere Pathos und für den Augenblick verblüffende Bilderfülle verschmähend, in klarem, edlem Flusse dahinströmt.
Greif ist ein elementarer Lyriker. Die Knappheit und Prägnanz seines Ausdruckes läßt ihn immer rein, naiv und gesund wirken, weist auf das Volkslied und Goethe hin. Der bekannte Literaturhistoriker Bartels sagt von ihm: »Seinesgleichen werden wir nie entbehren können, wenn wir nach wie vor eine Dichtung wünschen, die auch dem Volke etwas sein kann, und er allein wiegt die ganze symbolische Lyrik unserer Tage auf« Seine Gedichte wirken wie ein frischer, klarer Quellbach, der durch rauschende Tannenwälder murmelt, ein gesunder, befreiender Hauch geht von ihnen aus, der in unserem überhastenden, hysterischen Zeitalter doppelt wohltuend wirkt. Eine Probe seiner Lyrik, die in sechs kurzen Zeilen die ganze Kunst des Dichters, seine scharfe Naturbeobachtung, das sichere Festhalten einer gewonnenen Stimmung, seine tiefe, innerliche Religiösität zeigt, ist die prächtige »Hochsommernacht«:
Stille ruht die weite Welt,
Schlummer füllt des Mondes Horn,
Das der Herr in Händen hält.
Nur am Berge rauscht der Born
Zu der Ernte Hut bestellt
Wallen Engel durch das Korn.
Greif, der Dramatiker, ist von weniger hervorragender Bedeutung. Zwar ist seinen zahlreichen Bühnenwerken (ich nenne als die hauptsächlichsten: Bayard, Prinz Eugen, Corfiz Ulfeldt, Agnes Bernauer, General York, Ludwig der Bayer usw.) objektive Gestaltungskraft und seelisches Erleben nicht abzusprechen, aber es fehlt ihnen der große Zug, der fortreißende dramatische Schwung. Nur vereinzelt kommen daher auch Stücke Greifs zur Aufführung. Der äußere Lebensgang des Dichters zeigt kein ungewöhnliches Menschenschicksal, sondern eine in ruhigen Bahnen fortschreitende Entwicklung. Martin Greif ist nur ein dichterischer Deckname, der Familienname ist Friedrich Hermann Frey. König Ludwig II. gestattete durch Kabinettsorder vom 18. Februar 1882, daß der Dichter den Namen Martin Greif, neben seinem bürgerlichen Namen führen dürfe. Geboren wurde Greif als Sohn katholischer Eltern am 18. Juni 1839 zu Speyer. Sein Vater war Regierungsdirektor in Bayreuth und besaß den persönlichen Adelstitel. 1857 trat der junge Frey ins bayerische Heer als Kadett ein und wurde zwei Jahre später zum Artillerieleutnant befördert. 1861 lernte er Frankreich und England kennen, 1867 schied er, da er seine dichterische Kraft, die er vorher verschiedentlich mit Erfolg erprobt hatte, wachsen spürte, aus dem Militärverbande aus. 1868 erschienen seine ersten Gedichte, ein schmales Bändchen von kaum 200 Seiten, die jetzt die siebente Auflage erreicht haben. 1902 gab er einen zweiten Gedichtband heraus: Neue Lieder und Mären. Greif lebte fast immer in München, wo auch die meisten Dramen entstanden. 1903 wurde er vom Prinzregenten zum Hofrat ernannt. Bis in die letzte Zeit hinein war der Dichter, abgesehen von den unvermeidlichen Schwächen seines Alters ganz wohl. Dann trat eine auffallende Verschlechterung ein und seit drei Wochen lag er im Spital zu Kufstein schwer krank darnieder. Sein Zustand machte eine Überführung nach München unmöglich. Er litt an einer Nierenaffektion, der sich Wassersucht zugesellt hat. Später trat Blutbrechen ein, das den Kranken noch mehr schwächte. Heute vormittag wurde er durch den Tod von seinem Leiden erlöst.
Greif hat verfügt, daß seine Leiche nach Zangberg bei Ampfing nächst Mühldorf überführt und dort bestattet werde.
Der Dichter hat einen langen und schönen Lebensabend gehabt, die allgemeine Anerkennung seiner Persönlichkeit war im beständigen Steigen begriffen, er genoß, was er in seinem »Dichterwunsch« ersehnte:
Nicht des Alters Last, Natur,
Sollst du deinem Freund ersparen,
Eine Gunst gewähr ihm nur,
Wenn er wert, sie zu erfahren.
Sorge, daß ein Liedertraum
Bis zuletzt sein Haupt umflieget;
Wenn im Mai der Fliederbaum
Sich verjüngt in Blüten wieget.
Regensburger Neueste Nachrichten Nr. 82, 1.4.1911
Peter Altenberg
Von Christoph von Schmid ist das Lehrgedicht »Das Glasgemälde«. Der bekannte Jugendschriftsteller läßt darin eingangs einen Wanderer ein Glasgemälde beschauen, das stumpf, in eintönig dunklen Farben, ein unentwirrbares, regelloses Durcheinander von Linien und Strichen zeigt und nicht erkennen läßt, welche Idee das Ganze beherrscht, was der rätselvolle Knäuel von Farbenflecken und sich kreuzenden und gleichlaufenden Fäden vorstellen soll. Als aber dann plötzlich eine breite, glänzende Lichtwelle sieghaft das Glas durchflutet, ersteht mit einem Male in wundervoller Klarheit und Reinheit das Bild, die durcheinanderschießenden Linien lösen sich in vollendeter Harmonie und Bogenschöne, das allgemeine schwärzlich braun des Tones wandelt sich zu einer leuchtend strömenden, überquellenden Farbensymphonie, in seiner erhabenen Einfachheit tritt die Idee, die der Schöpfer des Gemäldes verkörpern wollte, zu Tage. Und bewundernd, ergriffen läßt der Beschauer die lautere Schönheit des Werkes auf sich wirken und indem er willig seine ganze Seele dem überwältigenden Reichtum echtester Kunst weit öffnet, sieht und erkennt er die tieferen Absichten, die bei der Entstehung des Bildes bestimmend waren, und steht erschauernd still vor dem Geheimnis des gestaltenden, formenden Menschengeistes, der in der schöpferischen Kraft der Künstlerseele kristallisiert erscheint.
Wer zum erstenmal ein Buch von Peter Altenberg in die Hand nimmt, dem wird es ähnlich ergehen. Vor diesen kurzen Skizzen und impressionistischen Plaudereien mit dem fahrig und nervös wirkenden Stil und den scheinbar den logischen Zusammenhang vermissenlassenden, equilibristisch überpurzelnden Gedankensprüngen steht man zuerst kopfschüttelnd wie vor einem tollen, wüsten Hexensabbat grell aufblitzender Gedanken und genau malender Wort- und Satzprägungen, die auf den ersten Blick jeden Sinn vermissen lassen. Nur langsam liest man sich in die Manier Altenbergs hinein und erkennt allmählich, welch originelle Persönlichkeit, welch überraschend tief schürfender und sehender Geist sich in diesen zuckenden, abgerissenen Satzgefügen offenbart. Das Wesen des Wiener Poeten ist schwer in eine bestimmte, abgrenzende Formel zu pressen. Am besten ist es wohl, man nennt ihn einen Dichterphilosophen, der in prägnanten, erschöpfenden Worten, in einer Art Kurzschrift, seine Anschauungen niederlegt, der etwas zu sagen weiß und auch etwas zu sagen hat. In seinem jetzt neuerschienenen Werke »Bilderbögen des kleinen Lebens« (Verlag Erich Reiß, Berlin) ist Altenbergs Kunst so recht ausgeprägt und ausgereift. Die ihm eigene Form der kurzen, oft kaum seitenlangen Skizze, die er in seinen sämtlichen Werken beinahe ausschließlich verwendet, behält er auch hier bei. Mit Kraft und Behendigkeit bewegt sich der nun Fünfzigjährige in seinem Elemente, manche böse Wahrheit lacht er den Spießern ins Gesicht und hält seine Fackel in manches finstere, dunkle Eulennest im Reiche der Gedanken.
Altenberg ist noch viel zu wenig bekannt und noch viel weniger seinem wahren Wert entsprechend gewürdigt. Er ist ein tiefer und reicher Mensch, ein echter Dichter und wer den, allerdings mühseligen und steinigen Weg zu ihm findet, dem wird er ein innerliches Erlebnis bedeuten.
Regensburger Neueste Nachrichten Nr. 99, 24.4.1911
Literatur als Ware
»Wir wollen weniger erhoben und mehr gelesen sein.« Lessing war es, dem dieser bittere Stoßseufzer entschlüpfte. Lebte er in unserer Zeit, würde er wohl noch hinzusetzen: Und vor allem wollen wir auch besser bezahlt sein. Und sicher fände er damit die allseitige Zustimmung seiner Kollegen auf dem Parnaß. Gibt es doch kaum einen freien Beruf, bei dem die Erwerbsmöglichkeiten unsicherer, von den verschiedensten Umständen und Schwankungen mehr beeinflußt wären, als den des Schriftstellers. Sei es der freischaffende Dichter, der Journalist oder der in der Mitte zwischen beiden stehende Schriftsteller, der sowohl auf Buchabsatz als auf Abnahme seiner Arbeiten durch Zeitungen rechnet – er ist abhängig von nicht vorherzusehenden Geschmacksänderungen des großen Publikums, von der Aktualität seiner Erzeugnisse, von einer Reihe von Zufällen, die seine Arbeit zu einer nutzlosen machen können. Dazu kommt, daß in neuerer Zeit die Zahl derer, die von dem Ertrage ihrer Feder leben, gegen früher bedeutend gestiegen ist – weit bedeutender, als dies der natürlichen Vergrößerung des Absatzgebietes entspräche – und daß dadurch ebenfalls die Verhältnisse ungünstig verschoben worden sind. Es ist nur zu begreiflich und warm zu begrüßen, daß man deshalb in den beteiligten Kreisen darnach strebt, die Position des literarischen Arbeiters in materieller Beziehung auf eine höhere Stufe zu stellen. Die Zeit ist vorbei, da man es als ideale Forderung betrachtete, daß der Schriftsteller in Ruhm, Anerkennung, im Gefühle seiner fruchtbaren Tätigkeit so viel Lohn und Genugtuung finden müsse, daß es ihm auf ein paar Mark Honorar mehr oder weniger wahrhaftig nicht ankommen dürfe. Kein vernünftiger Mensch wird mehr diesen Standpunkt vertreten, der in seiner vollen Absurdität von den ausübenden Literaten geradezu als Hohn empfunden wird. Die »Bemerkungen über die Wertung schriftstellerischer Arbeit«, die W. Fred im Auftrage des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller soeben unter dem Titel »Literatur als Ware« im Verlage von Oesterheld u. Co. in Berlin hat erscheinen lassen, sind daher zur richtigen Zeit gekommen, Sie geben Anhaltspunkte, wie man der Angelegenheit energisch auf den Leib zu gehen habe. Fred setzt mit der Erkenntnis ein: In einem bestimmten Augenblick wird auch das persönlichste Kunstwerk, auch die aus dem triebhaften Empfinden geborene Dichtung Ware. An diesem Zeitpunkt gilt für sie wie für jeden Verkaufsartikel nur ein Gesetz: die Wirklichkeit. Kein Gefühl, keine Illusion, kein Wunsch kommt gegen die Realität auf. Ist das Werk Ware geworden, so unterliegt es den wirtschaftlichen Gesetzen. Und keine Stimmung, keine Poesie, keine Torheit, darf darin der materiellen Wertung, die auf offenem Markt geschieht, entgegenarbeiten. Wir müssen dafür sorgen, daß die Preisbildung der literarischen Ware nach gerechten ökonomischen und sozialpolitischen Leitsätzen geschehe.
Damit ist der Boden gelegt, zu der einzig richtigen Bewertung des Erzeugnisses des Literaten. Und auf diesem Boden stehend entwickelt Fred, nachdem er außerordentlich scharfsinnig und eingehend die Blößen dargelegt, die der heute geltenden Wertung schriftstellerischer Arbeit anhaften, eine Reihe von Leitsätzen, die eine Besserung dieser Verhältnisse herbeiführen sollen. Die wichtigsten dieser Minimalforderungen sind: Organisation mit gewerkschaftlichem Charakter, Angliederung einer Geschäftsstelle, die auch die Arbeit der Rechtsschutzkommission besorgen soll, Eingliederung des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in den Reichsverband der deutschen Presse.
Fred verlangt dann Mindesttarife für Beiträge an Tageszeitungen, die sich nach Auflagenzahl und Erscheinungsort der Blätter abstufen. Er will, daß die Redaktionen verpflichtet sind, aktuelle Beiträge, die verlangt worden sind, binnen einer Frist zurückzuschicken, die vor Entwertung der geistigen Arbeit schützt. Die Honorierung soll nach Annahme der Arbeit, nicht erst nach Abdruck erfolgen. Auch für den Verkehr mit Buchverlegern stellt Fred bestimmte Bedingungen wie: Kein Umsonstschreiben, kein Reinertragsvertrag, keine Zuschüsse der Autoren für Illustrationen, keine Auflagenverträge ohne Angabe der Höhe jeder Auflage, kein Übersatz oder Freiexemplardruck nach der ersten Auflage. Freiheit des Werkes, wenn der Verlag sich weigert, eine nötig gewordene neue Auflage zu drucken, oder die Propaganda in Katalogen einstellt etc.
Ob das warmherzig geschriebene Büchlein (der Reinertrag der Schrift fällt dem »Schutzverband deutscher Schriftsteller« zu) den Erfolg haben wird, den es erreichen will: ein Beitrag zu sein, der mithilft, der Bewegung zur materiellen Hebung des literarischen Arbeiters zu nützen! Zu wünschen wäre es!
Regensburger Neueste Nachrichten Nr. 144, 19.6.1911
Die Kunst stirbt
So behauptet wenigstens Viktor Auburtin in seiner gleichbetitelten Schrift, die im Verlage Albert Langen in München erschienen ist und die das Glaubensbekenntnis eines Pessimisten enthält, der die künstlerischen Verhältnisse unserer Tage schwarz in schwarz malt und der auch keinen tröstlichen Ausblick in die Zukunft, keine Hoffnung auf eine spätere Besserung gibt. Es ist noch nicht lange her, daß ein anderer Schriftsteller von Ruf und Bedeutung eindringlich auf die Verflachung unseres Kunstlebens hingewiesen hat: ich meine Herbert Eulenberg, der in seiner Trauerrede an die deutsche Nation »Die Kunst in unserer Zeit« mit tiefem Ernst und mit sicherem Blick für die wechselnden Strömungen auf künstlerischem Gebiete auf die Merkmale hingewiesen hat, die dem Kundigen anzeigen, daß unsere Zeitepoche bei den weitaus meisten Menschen ein auffallend großes Minus an Interesse und Anteilnahme an Dingen der Kunst aufzuweisen hat. Aber Eulenberg ist ein Optimist, er glaubt an eine Besserung dieser Verhältnisse, an ein neues goldenes Kunstzeitalter und er weiß Mittel und Wege zu nennen, die diesen Aufschwung herbeiführen sollen. Anders Auburtin. Er sieht die Dinge schwärzer, er formuliert den Satz, daß die ganze Kunst am Ende sei, und daß wir einer vollkommen kunstlosen Zukunft entgegen gehen. Die Kunst stirbt an der Industrialisierung der Welt, an der Nützlichkeit, an dem, was wir großmäulig »die Errungenschaften« nennen. Und sie stirbt daran, daß in der immer straffer angezogenen sozialen Organisation die Persönlichkeit und die Leidenschaft ausgemerzt werden, ohne die eine Kunst nicht möglich ist. Eine Kritik der modernen Technik wird in dem kleinen Werk nur angedeutet, nicht durchgeführt, und das muß Nationalökonomen überlassen werden. Aber deutlich wird es gesagt, daß der Fortschritt oder was wir so nennen, der Tod der Kunst sein wird. Die Kunst entspringt alle den dunklen Dämonien, die wir jetzt glücklich abzuschaffen im Begriffe sind, dem Haß und dem Frevel, den entfesselten Temperamenten und der Auflehnung verschrobener Individualitäten gegen die Macht der Masse. Sie muß sterben, wenn eine allgemeine Gerechtigkeit durchgeführt wird, wenn wir die sozialen Gegensätze ausgleichen, und in den wohlpolizierten Staaten der Zukunft muß sie ersticken. Dieser Gedanke, daß die Kunst am Sterben ist, wird in dem kleinen Werke eindringlich und leidenschaftlich vorgebracht.
Ob Auburtin nur übertreibt? Jedenfalls: Daß große Künste jetzt eine schwere Krisis durchmachen – so das Drama und die Malerei – muß auffallen. Alle Welt sieht, daß da wertvolle Kunstgüter verflachen oder durch schamlose Entrepreneure verpöbelt werden, aber allgemein tröstet man sich mit dem Gedanken, daß solche Verdunkelung schon oft dagewesen sei und auch diesmal wieder vorübergehen werde.
Qui vivra verra! Ob dieser Trost berechtigt ist, muß erst die Zukunft lehren. Jeder Kunstfreund kann es nur wünschen und hoffen.
Regensburger Neueste Nachrichten Nr. 192, 14.8.1911
Der Kondor
Verse von Ernst Blaß, Max Brod, Arthur Drey, S. Friedländer, Herbert Großberg, Ferd. Hardekopf, Georg Heym, Kurt Hiller, Arthur Kronfeld, Else Lasker-Schüler, Ludwig Rubiner, René Schickele, Franz Werfel und Paul Zech. – Verlag von Richard Weisbach in Heidelberg.
Zuerst eine geschraubte Vorrede mit viel tönenden Programmsätzen und Schlagwörtern wie: Eine rigorose Sammlung radikaler Strophen, ein Manifest, eine Dichtersezession. Darunter auch folgender Bescheidenheitsausbruch: Das Buch enthält die wertvollsten Verse, die seit Rilke in deutscher Sprache geschrieben wurden. jetzt beginnt man nach diesen wertvollen Versen zu suchen. Und nach fünf Minuten schon lächelt man verstehend: Aha, Oberdichter, die modernsten der Modernen, literarische Futuristen! Da ist der Name: Else Lasker-Schüler. Diese schöne Stelle ist von ihr:
O, du Süßgeliebter, dein Angesicht ist mein Palmengarten,
Deine Augen sind schimmernde Nile
Lässig um meinen Tanz.
Oder Rubiner phantasiert folgendermaßen: …
… zur Nacht hinauf krallen
Zwei Falten. Aber niemand bleibt stehn. Sie muß fallen.
Der helle Stern ihres Bauches zittert so sehr.
Die Häuser taumeln. Blaß steigt ein weißer Kreis
Von bleichen Mauern auf im grünlichen Schein.
Diese zwei Proben geben die Art des ganzen Buches wieder. Die Diagnose »pathologisch«, gegen die Hiller im Vorwort sich wehrt, drängt sich auf. Zu verwundern und zu bedauern ist es, daß sich zwei Talente wie Max Brod und der verstorbene Georg Heym unter den »Kondoristen« – so nennt sie ein Berliner Kritiker – befinden. Die Beiträge dieser beiden Dichter sind fast das einzig Genießbare an dem Band. Höchstens Werfel ist noch einigermaßen ernst zu nehmen. Sein »Gespräch« ist originell und keck zufassend, wenn auch bizarr. Ungeheuerlich ist es, wenn Herbert Großberg sich die – Exhibition zum Vorwurf eines Gedichtes nimmt. Höher gehts nimmer! Dieser Volks-Kraftausdruck könnte auch dem ganzen Buch vorgesetzt sein.
Regensburger Neueste Nachrichten Nr. 217, 27.8.1912
Josef Achmann
Es gibt ein Blatt von ihm, da ist ein Stück Himmel und ein Stück Wasser zu einer Landschaft geformt auf einem fremden Stern. Da tanzt eine Weiße Insel zu einem singenden Horizont. Da brennt ein Fluß wie Flamme, die aus dem Feuer blühender Blumen sich erhob. Da stürzt ein Licht herein, das in silbernen Strudeln das Schwarz aufwühlt zur Tiefe, in der große Fische mit runden Augen unbeweglich träumen. Fremde und ungeheure Berge tragen eine Sonne im Nacken, die wie das Nest weißklirrender Vögel ist. Das Blatt heißt: »Donau II«. Es ist von gemeisterter Größe. Von der klaren und starken Süße der Reife. Nicht alle Holzschnitte Achmanns sind wie der. (Fest und köstlich wie Fruchtfleisch des Apfels.) Manches von ihm ist kühn überstürzt, gewalttätig hergerissen. Er hat aus dem Holz eine Welt sich gewühlt, Tiere, Wolken und Gärten, Menschen, die wild verzerrt sind und Städte, die verwirrt taumeln. Aber ein Wille, der steil und rein in ihm steht, treibt zu einem Werk, das stark und feurig sich runden will. Werk: Welt, aus Sternen gebrochen, fremd, süß gewaltig, vertraut wie verlorenes Paradies.
(Regensburg, München, Mannheim, Paris und wieder Regensburg sind die äußeren Stationen dieses Lebens. Das sich noch wenig um »Erfolg« bemüht hat. Bilder waren in Münchener, Dresdner und Berliner Ausstellungen zu sehen. Haus Goltz in München liefert seine Graphik aus. Seit Juli leitet er mit mir die Zeitschrift »Die Sichel« in Regensburg).
In: Die Bücherkiste,
I. 1919
[Zu: Josef Achmann, »Die kleine Stadt«]
Die Graphikbücher der schwarze Turm
rufen, der Vergangenheit Kinder grüßend, Urmenschentum. Urfreude und Fühlen. Verloren ging das Ewige in Form und Zeit. Nun leuchten Gott und Menschengedanken neu aus eurer Hände Werk, zeigen wieder rechten Weg den Suchenden, Träumenden, Kindlichen, daß alle werden glatter Mache Feind, Kinder neuen Reiches Göttlichkeit.
Er hat, was heute nicht viele haben, Kultur. Niemand verstehe darunter: Glätte, Poliertsein, Blasiertheit, Müdigkeit. Er hat nichts akademisches, epigonisches, schwaches, formelhaftes, dagewesenes. Aber die süße Lind beschwingte Kraft – ich wage bewußt das Wort – der Meister. Wer lebte lange in einer alten Stadt wie Regensburg, sähe, in Kinder und Mannesjahren, Dorne, Kirchen, Wunderbauten, gespeicherte Kunst der Jahrhunderte, Glanz über Bogen und Gewölb, dem nicht das Blut sänge davon? Alles ist hier köstlich, ererbten Geschmacks. Noch das Geringe hat eine Geste, die bezwingt. – Was dieses Heft zeigt sind Spiele. Zwischenspiele. Rast zwischen großen Arbeiten. Ist Kraft erproben. Auch Training. In zehn Minuten zum Da-Sein gesticheltes. Rund, saftig, stark. Einfälle. Aber nicht literarisches, anekdotisches. Immer zu einem Ganzen geformt.
Es sind Spiele. (Aber sie haben nichts spielerisches.)
Eine Schaukel geht er zwischen Wolken und Erde.
Er singt jetzt mit Engeln. Reißt aus dem
Barte Gottes kühn ein Haar. Und steht
wieder auf Erden. Lachend.
Auf festen Füßen.
In: Der schwarze Turm, H. 7, 1920
Josef Achmann
Es gibt aus Achmanns früher, aus seiner Münchner Zeit, Radierungen, die in gehemmter, geballter Kraft zittern. Blätter, in denen übliche (längst schon nicht mehr impressionistische, niemals impressionistisch gewesene) Form nur mühsam (oft verzweifelt vergeblich) gehalten ist. Schon zucken Linien, zurückgedrückte stählerne Spiralen und möchten über Rand und Blatt ins Unausmeßbare springen. Aber er fesselt sich mit immer stärkeren Ketten, je ungestümer Drang sich hoch zu schleudern ihn quält. Er straft sich mit immer schrecklicherer Vereinfachung. In Paris werden seine Radierungen nur mehr letzte Andeutungen, haardünne fiebernde Umschreibungen. Nur mehr gleitende Kontur, Punkte, Striche, Kritzeln. Immer tödlicher wird die Weiße des Papiers. Wie rasend sausen hingetupfte Reihen von fliegenden Kommas, die eine Figur, eine Landschaft, verschwimmend, in letzter Angst, fast verfließend, vor der Auflösung in Nichts festhalten. Er taumelt an einem Abgrund, keine Planke hinüber. Da hält er inne. Und steht. Er horcht in sich. Er sieht in sich. Umwelt versinkt. Und zögernd, einsam, beginnt er neuen Weg. Rückweg nicht, nicht Umweg. Kurve nicht – Aufstieg und Flug! Er darf sich zum erstenmal ganz ausgeben. Er darf Wölbung zersprengen, die gräßlich bedrückte. Er darf Linien singen lassen, Bögen sich jubelnd schneiden. Er darf Menschen bilden, die groß aus sich erblühen, starker Geste, mit tiefen Augen. Er darf mit Sonne und Mond glühend spielen. Darf Pflanzen zeigen, die wie Schlangen sich um Häuser winden, Tiere riesig und fremd. Darf schwarz und weiß stürmisch gegeneinander sich stürzen lassen, tanzend und kreisend, himmliche Schaukel im ewigen Gleichgewicht …
Achmann drang rasch vor zu den Grenzpfählen, die herkömmlich heiligen Bezirk der Bildermalerei stachlich umhüten. Um 1912 stärkste Anregung Cézannes, ist er derb, streng, manchmal gewaltig in der Farbe, viel braun, lehmig, karg, stark. Der Krieg kommt. Entreißt ihm den Pinsel. Es entsteht nur, spärlich, Graphik: Vorposten, Vorläufer, Vorkämpfer des Einbruchs ins Neue. Bis er Herbst 1918, in unserem verschollenen Haus in Regensburg, am Königshof, in einem kleinen Atelier,‘ das nur wenig Tageshelle hat, nachts, beim Licht elektrischer Lampen, Bilder, Bilder, Bilder aus sich herauswirft. In atemversetzender Schnelligkeit. In vier, sechs, sieben Stunden werden metergroße Flächen lebendig. Pläne, Versuche, Theorien, Visionen und Ekstasen, vier Jahre im Gehirn sich austobend, dürfen sich entladen. In diesem Winter entstehen so an die fünfzehn Gemälde. Ungleichwertig. Die ersten ein Ausrasen des Pinsels. Ein barbarisches Bacchanal der Farben. Dann legen sich Wut und Krampf Er malt »Die Mansarde«. Wie ein riesiger Kristall ist das Bild, Kristall, der vom Boden des Flusses durch den silbrigen Spiegel glänzt. Alles ferne ist nah geworden und alles nahe wunderbar fern. Grüne, rote, blaue, violette Flächen schimmern perlmuttern. Tang, Tanz, versinkender Leib des Menschen. Glasgrüne Wellen zittern unter einer dumpfen und zauberhaften Sonne. Er malt »Das Fenster«. Eine farbige Melancholie in gelb, grün, weiß und rosa. Man ahnt einen kalten und nassen Frühwintertag. Leere strudelt und saugt nachstürzendes Zimmer in sich. Er malt das »Bild zweier Freunde«. Die Wände des Raums marschieren, bösartige Kulissen, und treiben die beiden Körper zuckend ineinander. Entsetzlich und hilflos starren verrenkte Glieder. Eisig schmilzt blau, grün, gelb über die Fläche. Dazwischen hinein, in Atempausen, viel Graphik, Zeichnungen, Lithographien, Holzschnitte, Radierungen. In immer stärkerer Konzentration. Mit einer erstaunlichen Disziplin der Mittel. Er hat ein Blatt geschnitten: »Donau II«. Da ist ein Stück Himmel und ein Stück Wasser zu einer Landschaft geformt auf einem fremden Stern. Da tanzt eine weiße Insel zu einem singenden Horizont. Da brennt ein Fluß wie Flamme, die aus dem Feuer blühender Blumen sich hob. Da stürzt ein Licht herein, das in Strudeln schwarzes aufwühlt zur Tiefe, in der große Fische unbeweglich träumen. Berge tragen eine Sonne im Nacken, die wie das Nest weißklirrender Vögel ist.
Er hat eine stählerne Männlichkeit. Von Femininem nur so viel, daß seine Herbheit nicht brutal wird. Kraft, die nicht ohne edle Süße ist.
Es leben Maler, die mehr als er das haben, was man so Einfälle nennt. Aber wenige sind wie er, der inbrünstig um die letzte Form ringt. Der sein riesiges formales Können in strengste Zucht nimmt. Der sein Herz immer tiefer und blutiger durchwühlt, das Bild auszugraben, das ihn verbrennt.
In: Jahrbuch für neue Kunst, 1921
Der Maler und Graphiker Josef Achmann
Manchmal, des Nachmittags, bummeln wir zum Hafen. Krane kreischen, Staub wirbelt und die Schleppschiffe riechen nach Teer. Aber dann kommen Wiesen und blaue Berge dahinter. Ober der Donau flitzen Möwen. Hört ihr den Schrei? Es ist ein Krächzen, mißtönig, aufstachelnd, Seeräuberruf. Das Schilf wackelt im Wind. Schöner Tag. Wir gehen in die Stadt zurück. Die alten Straßen Regensburgs sind kühl. Von jeder Ecke aus ist der Dom zu sehen. Wo drei Häuser zusammenkleben, steht er dahinter grau und kühn.
Nachtschwärmer, die wir sind, lieben wir den Mond. Der ist nirgends so schön wie in Regensburg. Groß und rund und rot, wenn er über den Scheuchenberg heraufrollt. (Im Osten, von der steinernen Brücke aus, sieht man den bewaldeten Rücken. Er liegt wie ein zufriedenes Tier. Wie ein Bär. Gar nicht gewalttätig. Aber doch mit Größe.) Wenn wir nachts um zwei oder auch um drei Uhr durch die brave, schlafende Stadt in unsere zwei Dachstuben am Königshof zurückkehren, setzt Achmann sich noch an den Tisch, raucht eine Zigarette und legt eine Holzplatte bereit. Dann knirscht auch schon der Stichel im Holz und fliegen schon die Späne. Die kräuseln sich oft lieblich, zu schönen Spiralen, wie die Streifen, die man aus der Apfelhaut schält. Manchmal prasseln sie ha rt und kurz zu Boden. 0, wie die Platte nun aussieht! Wie ein zerquältes, von Runzeln durchzogenes, zerschundenes Menschenangesicht. Dann schmiert die Walze Druckerschwärze drüberhin. Schwarz und Weiß stehen gegeneinander auf, Linien suchen, verschlingen und trennen sich und eine Straße, ein Strauch und ein hoher Himmel träumen. Zauberei.
Die beiden Zimmer, in denen wir leben, sind klein und niedrig. O, wir beklagen uns nicht! Die Wände sind bedeckt mit Achmanns Bildern und Schnitten und Zeichnungen.
Einen Ofen haben wir, der wärmt. Einen guten, alten, treuen Kachelofen, einen Sesselherd. (Achmanns Vater, dem das Haus gehört, ist Hafnermeister. Töpfer, wie man im Norden sagt.) Und dann haben wir eine Kaffeemaschine. Es ist uns schon schlecht gegangen, aber es ist uns noch nie so schlecht gegangen, daß sie uns nicht den schwarzen, schwerduftenden Saft gegeben hätte, den wir bis zur Verzückung lieben. Die zwei Zimmer sind sehr schön. Aber sie haben wenig Tageslicht. So muß Achmann seine Bilder beim Schein elektrischer Lampen malen. Blendendweiß sind die Stuben, wenn die drei großen Hundertkerzigen losknallen. Unter diesem Kranz von Sonnen malt Achmann seine Bilder. Er wirft sie manchmal aus sich heraus, wie ein Brunnen, dessen Schließplatte man entfernt, die Springflut aus sich herauswirft. Wie ein Wütender, ein Besessener stürzt er sich auf die Leinwand. In drei, vier Stunden entsteht so ein Ding. Fiebrig, eine fremde Gewalt im Nacken, malt er die Bilder herunter. Merkwürdig abgeschlossen, reif sind dann diese Gebilde. Kein Ringen um die Form. Als sei es vorbestimmt, daß das Bild so und so und nicht anders sich gestalte. Kein Schwanken. Kein Zögern. Er muß. Es gab eine Zeit, im Winter 1918 auf 1919, da hat er im Wirbel, in ein paar Wochen, an die zwanzig Bilder gemalt. Er hatte im Krieg fast nie einen Pinsel in die Hand bekommen. Das holte er nach. jetzt hat er sich beruhigt. Das stürmische Tempo hat nachgelassen. Er geht nun stiller, gesammelter, gelassener an die Leinwand heran. Er hat, sportsmäßig zu reden, wieder sein Stehvermögen gefunden.
Bilder aus der Zeit um 1912, da er in München lebte, stehen und hängen bei uns herum. Das ist jetzt acht Jahre her und die Zeit hat
sieben große Sprünge getan seitdem. Als ihm die Bilder aus München, wo sie den Krieg über lagerten, nachgeschickt wurden, öffneten wir die riesige Kiste mit der Furcht, was da herauskäme, werde nicht mehr zu sehen sein, werde nicht mehr standhalten einem geschärften Blick, einem strengeren Maßstab, einem neuen Gefühl, das kämpfend errungen ward. Wir Kleingläubigen! Das eine zwar und das andere war etwas staubig geworden, trocken. Aber das meiste hatte die alte Gewalt. Da war ein »Mädchenbildnis«, kräftig, von einer ungeschwätzigen Art. In der Farbe streng, nichts Blendendes. In der Ruhe, die von dem Bild ausgeht, groß. Gar nichts Süßes hat das Mädel, herb ist es und das Gesicht auf den ersten Blick das einer Dreißigerin. Bis man alle Lieblichkeit der Jugend, die drin ist und eine Jungfräulichkeit spürt, die nichts gemein hat mit Backfischzuckrigkeit.
Später übersiedelte Achmann nach Paris, wo er bis Kriegsausbruch blieb. Er liebt noch heute diese Stadt. Ich war nie dort. Er hat mir viel von ihr erzählt. Von den Menschen, von den Cafés, von den Straßen, von der Seine und ihren Brücken. Er hat sich heimisch dort gefühlt. Er hat mir von Tagen erzählt, wo die Sonne auf die Dächer drückte und die Luft war wie geschmolzenes Blei, daß die Beine kaum mehr zu heben waren in der flüssigen Masse. Und von Frühlingstagen, wo im Jardin de Luxembourg die Sträucher blühten und die Kinder spielten. Dann holten wir immer die große Mappe aus dem Schrank, wo an die zweihundert Zeichnungen, Holzschnitte und Radierungen aus seinem Pariser Aufenthalt zusammengepackt liegen. Da sind sie wieder, die Pont de Neuf und die Pont Sant Michel. Und die Straßen und die Häuser vor dem Fenster seiner Wohnung in der Rue Bruller. Was er an Radierungen in Paris geschaffen hat, ist von erstem Rang. Die Blätter sind von einer seltenen Köstlichkeit. Mit den sparsamsten Mitteln gestaltet. Hingestrichelt. Duft. Verhauchend. Nicht wie bei anderen, denen Radierung nichts anderes ist als Zeichnung, statt auf Papier auf die Platte gekritzelt. Im Material gefühlt und gestaltet. Zuletzt ist eine Leichtigkeit erreicht, die betört. Er fliegt. Nichts Schweres mehr, keine Hemmung. Tanz, beflügelter, beseelter. Es wird nicht viel geben an zeitgenössischer Radierung, was sich mit diesen Blätter“ messen kann. Deren Platten bei der Flucht im August 1914 in Paris blieben und verloren sind.
Ein Bild aus der Pariser Zeit: Die »Pariser Landschaft«. Ein verhängter Himmel schwelt über den Dächern. Als läge Feuer in der Luft, als sei irgendwo, hinter dem Horizont, eine brennende Wolke, die fern hereinschimmre. Grün, braun, rot. Die Häuser hinter einem Schleier. Quer über den Himmel fetzende Zungen, Dann das »Selbstbildnis«: Der Kopf vor dem Vorhang in grün und rot. Die Augen lassen einen nicht los.
Der Krieg warf ihn weit herum. In die Schützengräben in den Vogesen. Später in die Etappe, nach Gent, Brügge. Nach Oudenaarde, wo er ein Theater baute, es mit Fresken bernalte. Das Kriegsende sah ihn wieder in Regensburg. in seiner Soldatenzeit ist an Erwähnenswertem fast nur Graphik entstanden.
Jetzt muß ich von der »neuen Kunst« reden. Oder was sich so nennt. Um eine große Linie aufzuzeigen: Cézanne war die allgemeine Richtung, nach der Achmann orientiert war. Seine Graphik brachte die ersten Vorstöße ins Neuland. Seine Holzschnitte hatten wie unter einem Zwang gelitten an überkommener Form. In seinen Radierungen war er ihr fast entwischt. Nun riß er, krafterprobend, alle Zäune ein. Von einem unheimlich sicheren Gefühl für Schwarzweißverteilung getragen, schuf er Blätter, die nichts mehr »darstellen«, deren Kraft und Schönheit im Fluß der Linien, in einem harten Rhythmus liegen. In seinen Bildern um 1918 dringt er mit gleicher Entschlossenheit gegen das neue Ziel vor. Ich zitiere ihn selbst. In der Monatschrift »Die Sichel«, die er mit mir herausgibt, schreibt er: »Die Farbe ist wieder gefunden, die Gestaltung neu gefühlt, ihre Grenze unbegrenzt geworden. Brecht aus den Fesseln, die um euch gelegt werden sollen.« Dann: »War euch nicht der Zauber ansteigender Unendlichkeit der Ferne, die Innigkeit einkreisender Geborgenheit euerer Werkstatt, glücklich schauerndes Bedrücktsein der Dachkammer ungestaltbar geworden«. Und: »Warum laßt ihr euch nicht von eueren Gefühlen treiben, die euch in den Bann der Unendlichkeiten zwingen, die euch die Decke des Zimmers aufreißen, dessen Wände euch einkeilen und dessen Schnittpunkte euch teilen?« Das Bild »Am Fenster« ist in dieser Zeit geworden. Ein neues Raumgefühl wirkt sich in ihm aus. Wände, Baum und Haus und Straße sind nicht vor- und hinter- und nebeneinander, sie sind zu einem magischen Dasein gezwungen.
Was in der Wut des Ansturms grotesk sich überschlug, hat sich jetzt wieder besonnen. Achmann scheint nun in sein entscheidendes Stadium zu treten. Seine letzten Bilder sind von stärkster Geschlossenheit. Die Farbe ist ruhig, verhalten glühend, schön und innig. Das Neue ist noch da. Aber es ist nicht mehr freche Freude an sich aufbäumenden Gesten. Es ist eine innere Kraft. Durch einen Brennspiegel sammelnd, raffend, konzentrierend. Seine graphischen Blätter haben eine große Einfachheit erreicht. Mächtige, geschwungene Linien, breite strahlende Flächen von schwarz und weiß.
Er sagt oft in Gesprächen über das Ziel seiner Kunst, er erstrebe die Einfachheit und Klarheit der alten Meister. Er sei gesegnet mit ihr!
In: Jahrbuch für neue Kunst, 1921
Münchner Künstlerköpfe: Josef Achmann
Er ist so alt und so jung, wie es heute die Generation der Maler ist, die man die »junge« zu nennen pflegt, das heißt, er ist so im Anfang der Vierzig. Er ist mittelgroß, mager, mit dem Gesicht eines Bauern oder Mönches, mit einem bayerischen Gesicht, und das ist immer auch ein wenig ein römisches Gesicht, und er stammte auch aus Regensburg, das an der Donau liegt, wo der Limes lief und unsichtbar immer noch läuft. Er wuchs auf in dieser Stadt, und sollte Pfarrer werden, dachten die frommen Eltern, und er trug ein paar Jahre die schwarze Kutte des Mettener Klostergymnasiums (liegt auch an der Donau, das Kloster Metten!) – aber er trug die Kutte nicht lang, bis zu seinem dreizehnten Jahr, es war doch nicht ganz das Rechte für ihn, Pfarrer zu werden, und ging in die Profanschule wieder, und wurde dann Bankbeamter, zwei Jahre lang, das war noch weniger das Rechte, und ging mit einundzwanzig nach München auf die Akademie, und das war wohl wieder nicht das Rechte, denn er sprang auch da bald aus und ging dahin, wo damals viele hingingen und was vielen gut tat und noch mehreren schlecht bekam (eines schickt sich nicht für alle!): er ging nach Paris.
Das war alles vor dem großen und langen Krieg. Achmann war vor dem Krieg schon ein wenig »da«, ein bißchen kannte man ihn schon, damals, einige wenige kannten ihn, er hatte auch schon Bilder ausgestellt, in der alten Sezession, sehr farbig, von natürlicher Kraft und einem barocken, bayerischen Schwung im Umriß. Und vor allem, er radierte damals viel, und diese Blätter waren schon erstaunlich fertig, fertig und reif und gut, meisterlich fast, manche ein wenig zu meisterlich, zu dicht an dem großen Vorbild Rembrandt, aber einzelne Stücke frei und schön schwebend, zart und doch kräftig.
So weit also war er vor dem Krieg, er stand auf einem guten und schönen Platz, hatte festen Boden, so schien’s, unter den Füßen […] aber dann wurde plötzlich alles schwankend, wurde manchem manches schwankend damals. Zuerst mußte er Soldat sein, und als die Soldatenzeiten vorbei waren, kamen die tollen Zeiten nach dem Krieg, und er war wirr mit den wirren Zeiten und vergaß, daß er manches wußte, er gab vieles auf, war freiwillig arm mit Armen, die nichts herzuschenken hatten, er aber hatte was herzuschenken und schenkte was her, und quälte sich entsetzlich in dieser Zeit und trieb sonderbare Dinge in dieser Zeit und nannte es »malen«, und andere nannten es auch so, aber wer weiß, was das war. Spuk oder Verzweiflung oder Narretei, aber ein Charlatan war er nie, eher ein Windmühlenritter manchmal.
Aber dann fiel ihm etwas ein, es wurde ihm etwas klar, ein Licht ging ihm auf, es ordnete sich in ihm etwas, das ging nicht so einfach, wie das hier steht, es geht überhaupt nichts einfach, es fing bei ihm mit einer Donaulandschaft an, die war groß und klar, ganz frei noch nicht von Krampf, aber er hatte wieder Boden unter den Füßen – wie ist das schön, Boden unter den Füßen zu haben! Es entstanden dann, langsam und in Abständen, noch ein paar Bilder, und wenn er sich umsah, kam ihm der Platz, auf dem er stand, bekannt vor, war er hier nicht schon einmal gestanden? Aber der jetzt hier stand, war ein wenig ein anderer, stand ein wenig, stand viel höher, war freier und gebundener als damals.
Und darin malte er in den zwei letzten Jahren drei und vier Landschaften, Winterlandschaften, Frühlingslandschaften, eine italienische Landschaft, und die mußten es doch in sich haben, weil sie so viele ansprachen, weil auf einmal so viele merkten, daß da etwas war, und zuerst hatten nur wenige gemerkt, daß da etwas würde, daß sich da etwas versteckte, aber es ist nicht Sache der Vielen, sich mit Bildern in ein Such- und Versteckspiel einzulassen, und hier war nun auf einmal für alle etwas da, und die Vielen und die Wenigen merkten es, daß da auf einmal ein Maler der jungen Generation mit ein paar Schritten sich nach vorn geschoben hatte, sich in die erste Reihe geschoben hatte, und sich da gut machte, in der vordersten Reihe, sich sogar außerordentlich gut machte.
Und »Bravo!« und »Glückwunsch!« sagten da manche still, die es gut und am besten mit ihm meinten!
In: Münchner Neue Nachrichten , Nr. 343, 17.12.1929
Oskar Birkenbach
Dieser lange, schwere, schwerblütige
und schwerfällige Mensch kann den Stichel nicht spielerisch führen zu Arabesken, die das Leben zärtlich-tänzelnd umschreiben. Er nimmt sein Werkzeug fest in die große Hand und vergräbt sich mit verbißner Zähigkeit in das Holz, aus dem er die Bilder holt, die in seiner Brust schwerspiegelnd glänzen. Er hebt Menschen aus der schwarzen Tiefe und sieht mit schmerzlichem Lächeln, wie auf dem weißen Papier ihr Gesicht sich anders verzerrt. Sie sehen manchmal aus, als seien ihnen die Glieder hart verpanzert, als möchten sie die Arme runden zu hohen und schönen Gebärden und müssen sie doch eckig und unbeholfen verdrehen. Die Seele dieses Malers ist nicht so weitflügelig, daß sie die Welt, die große, rauschende und ferne Welt brüderlich umspannte. Sie kreist unermüdlich um ein starkes Gefühl: Um die Liebe zur Familie. Tief und gläubig (und hier den alten deutschen Meistern verwandt) versenkt sie sich ins Blut und geht den Kreis von Weib und Kind stark aus. Aus den Blättern der Holzschnittfolge »Die Familie« spricht eine klare und gütige Stimme, die man nicht überhören sollte.
(Oskar Birkenbach gehört zu den Stillen im Lande. Zu den Leuten, die warten können. Ein Dreißiger, ist er noch wenig an die Öffentlichkeit getreten. Auch ihm unterband der Krieg die Quellen seines Schaffens. Die strömen jetzt neu und frisch. »Aktion« und »Sichel« brachten letzthin seine Arbeiten.)
In: Die Bücherkiste, I, 1919
Der Angestellte Schardt unter dem Strich
In Nürnbergs konservativer Zeitung, dem Fränkischen Kurier, schreibt gegen Bezahlung Oskar Franz Schardt unter dem Strich. Unter dem Strich bespricht Oskar Franz Schardt auch Bücher. Das konservative Blatt läßt ihn gegen Bezahlung unter dem Strich schreiben, weil er zwei Vornamen besitzt. Oskar Franz Schardt besitzt zwei Vornamen und eine ältere Literaturgeschichte, die er selten benützt. Dagegen benützt er stets die zwei Vornamen Oskar Franz. Oskar Franz Schardt hat Berührungspunkte mit Kokoschka. Wie dieser heißt er (zur besseren Hälfte) Oskar. Aber Oskar Franz Schardt ist unabhängiger Journalist gegen Bezahlung. Er bespricht Kokoschka und kommt zu einem abfälligen Urteil über seinen Vornamensvetter. Oskar Franz Schardt bewegt sich unter dem Strich. Er nimmt es seinem Namensvetter übel, daß er den »Gipfel des Blödsinns« erklommen hat. Oskar Franz Schardt erklimmt keine Gipfel. Er war früher über dem Strich der konservativen Zeitung. Seit er unter deren Strich gerutscht ist, hat er nichts übrig für Gipfel. Ihn schwindelt, sieht er seinen Vornamensvetter auf Gipfeln stehen. Drum reißt er ihn herunter. Albert Ehrenstein reißt er gleich mit. Er reißt diesen Autor mit einem Vornamen herunter, weil diesem gestern ein Schuhschnürl gerissen ist. Oskar Franz Schardt ist da schon gerissener. Er schnürt seine Schuhe mit Lederriemen. Die halten besser auf dem Weg, den er geht. Und den der Inselverlag nicht geht. Warum geht er auch nicht den Weg, den Oskar Franz Schardt geht? Dieser Inselverlag! Ihm wird noch manches Schuhschnürl reißen. Auch dieser Georg Müller Verlag in München geht auf Abwegen. Oskar Franz Schardt mußte leider erst unlängst Curt Corrinth entsprechend kritisieren. Nun muß er sich über Alfred Neumann hermachen. Die Dirnengestalten dieses neuen Mannes machen Anspruch als Engel betrachtet zu werden. Das kann Oskar Franz Schardt unter dem Strich nicht billigen. Er schreibt für ein konservatives Blatt und ist für strenge Ständeordnung. Dirnen sind keine Engel. Engel sind keine Dirnen. Unter dem Strich ist nicht ober dem Strich. Dirnen gehen auf den Strich. Gegen Bezahlung. Oskar Franz Schardt geht unter den Strich. Gegen Bezahlung. Ordnung muß sein. In einem konservativen Blatt. In den Himmel die Engel und auf die Straße die Dirnen! Ordnung muß sein auch unter den Autoren. … Da kommt ja Freksa in schlechte Gesellschaft. In Gesellschaft dieses Dirnenneumann. Dieser Freksa, der einen künstlerisch gestalteten »Unterhaltungsroman« demnächst bei Georg Müller herausbringt. Wie Oskar Franz Schardt jetzt schon weiß. Oskar Franz Schardt ist eben unter dem Strich auf dem laufenden. Warum liest man nicht Kotzde? Für Kotzde tritt Oskar Franz Schardt warm ein. Kotzde ist der Mann. Kotzde ist der Mann Oskar Franz Schardts. Lest Kotzde! (Es – ist – zum – kotzen!) Oskar Franz Schardt ist auf der Höhe. Unter dem Strich.
In: Die Sichel 2, 1920
Die Jungen Lieder im Selbstkostenverlag
Di-Di-Dichter Willy Meyer legt aus verschiedenen, besonders aber künstlerischen Gründen Wert darauf festzustellen, daß er dem »jungen Franken« nicht angehört. Das »junge Franken« legt aus verschiedenen, besonders aber künstlerischen Gründen Wert darauf, festzustellen, daß es den Di-Di-Dichter Willy Meyer niemals aufgenommen hätte. Das »junge Franken« ist eine Vereinigung von Schaffenden. In ihr hat der Di-Di-Dichter Willy Meyer aus Nürnberg nichts zu suchen. Vielleicht verrät uns der Di-Di-Dichter Willy Meyer aus Nürnberg, wieviel er dem Verlag Bruno Volger in Leipzig bezahlen mußte, daß der seine Di-Di-Dichtungen druckte. Das interessiert uns. Aus verschiedenen, besonders aber künstlerischen Gründen.
In: Die Sichel, 2, Januar 1920
An den Ufern des Lebens
Diese unbedeutende Schwester eines bedeutenden Bruders (lest Maximilian Dauthendey!) hat hier einen »Künstlerroman« geschrieben, wie es deren zu Dutzenden gibt. Der Roman ist nicht schlecht. Der Roman ist nicht gut. Weil das Bessere der Feind des Guten ist, soll man sich dieses Buch nicht kaufen. Sondern man soll sich etwa kaufen die Bücher von Thomas Mann, von Karl Hauptmann (auch die von seinem Bruder Gerhart). Wenn man aber schon ein Buch besitzen will, das auf der Titelseite den Namen Dauthendey trägt, so bestelle man die Werke von Maximilian.
In: NDP, Nr. 10, 14.1.1920
Sonette
Von Fritz Usinger
Irdisches Gedicht
Von demselben. Mit vier Radierungen von Karl Gunschmann
Diese beiden schmalen Versbände wurden in einer Auflage von nur je 150 Exemplaren gedruckt. Man nimmt sie in die Hand und wiegt sie prüfend und hat das Gefühl, daß es Bücher, so richtige Bücher, eigentlich nicht sind. Und man erkennt sie wieder, gerührt, diese Nachläufer aus der wilden Zeit von 1918 bis 1923, wo diese Art von bibliophilen Kleindrucken gang und gäbe war, der »Expressionismus« in Schwang und Überschwang sich überschlug. Und daß der eine Band mit Originalradierungen von Karl Gunschmann geschmückt ist, auch das ist in Ordnung, auch das gehört dazu, kein Buch, kein Büchelchen damals, das nicht mit originaler Graphik versehen war. (Die Radierungen von Gunschmann übrigens sind nicht schlimmer als hundert andere!)
Schlägt man die beiden Bücher auf und liest, so begegne t einem namentlich im »irdischen Gedicht« vieles, das genau dem entspricht, was das Äußere zu bringen droht: rauschhafte Gebärden, große, unklare Worte, Vergleiche unerhört. Gott oft und allzu oft bemüht! In den Sonetten doch ist manches schon in Klarheit gestrafft, zur Sachlichkeit gezwungen, da runden sich auf den zweiunddreißig Seiten vier oder fünf der Versgebilde zu einem wirklichen Gedicht, wie es »Die Flöte« ist, wie es »Der Fisch« ist, und wie es, mit Auszeichnung zu nennen, das Sonett »Böses Gesicht« ist, das so schließt:
Hilf, Freund, o hilf? Komm, blauer Hahnenschrei!
Du Erstgeborener des Tags! Du Gott im Stall!
Trostschnabel du, o sing und mach mich frei!
Wach auf! Wach auf? Jag die Dämonen all!
Freund, goldgepanzert, unerschütterlich.
Stahlkralle, Hornmund; Treuer, rette mich!
In: Darmstädter Verlag, 1927
Die Himmelstiere
Vorgeschichte eines Bildhauers. Roman.
Von Curt Wesse
Curt Wesse erhielt den Lyrikpreis des Jahres 1927 – für seine Gedichte, die ich nicht kenne, für seine Lyrik, die ich jetzt ein wenig kenne, seit ich seinen Roman gelesen habe. Nein, ein Roman ist das nicht: es ist auch nicht eine zur Romanlänge gedehnte Novelle; nicht einmal das. Es ist, wie sage ich’s?, eine formlose, verwischte und verträumte lyrische Skizze auf 216 Seiten, pathetisch »gehobener« Sprache immerfort, geschwellt (geschwollen) in der Diktion und daher sehr langweilig. Aber nicht einmal so langweilig (und das spricht trotzalledem für den Autor), als es unter diesen Umständen hätte werden können. Was wohl die Mitglieder der »Deutschen Buchgemeinschaft« zu diesem Buche sagten, zu diesem trübseligen, lähmenden Wortwasserfall, zu diesen schattenhaften Figuren, die blaß und verblasen dahindämmern? Viele, die meisten werden es ungelesen weggestellt haben – um Rad zu fahren oder Fußball zu spielen oder ein Glas Wein zu trinken mit einem Mädchen. Tja … die farbige, bunte Welt, das Leben draußen … und das!
In: Deutsche Buchgemeinschaft, 1925
Marion
Die Wasenmeisterei lag auf einem Hügel vor der Stadt, dem Galgenberg. Die Straße, die beim Tor den schweren Panzer des Pflasters abwarf, erklomm in kurzen Sprüngen die runde Kuppe, wo ein schwarzer Zaun aus Eisenlanzen das Gehöft feindselig verstachelte. Verwachsene Bäume und von ekelhafter Blattkrankheit zernagte, niedere Büsche umkreisten wie lauernde Hunde das Haus. Marion ging fast täglich diesen Weg. Nie waren die kleinen Fenster geöffnet und als sich einmal die dunkle Tür knarrend drehte, schnell schloß sie sich wieder mit dem Geräusch eines zuspringenden Taschenmessers hinter der Frau, die ein Kind (oder war es irgend ein Tier?) an die Brust drückte. Marion konnte nicht an dem Haus vorübergehen, ohne daß eine fremde Hand sie in die Kniekehlen schlug. Der Versuch mißlang, dem Abendspaziergang eine Richtung zu geben, daß er sie
nicht vorbeiführe an dem verpesteten Garten. Ein dunkler Wille, dem sie sich mit geringem Sträuben unterwarf, trieb sie verschlungene Wege, die alle wieder einbogen in die große Straße. Dann legte sie die Stirn an die kalten Eisenstangen, klammerte sich mit kleinen Händen fest und roch lange den süßen und faden Geruch, vor dem sie sich ekelte.
Otmar küßte ihr die Hand. »Wie befindest du dich, Marion?« Sie schlug die großen Augen zu ihm auf. »Recht gut!« In die Tasse schenkte sie ihm Tee, der wolkig durch die dünne Wand schimmerte. Auf dem weißen Tischtuch lag seine Hand, regungslos wie ein häßliches Tier. Er spreizte die Finger und sie erschrak, als er sie zur Faust schloß. Sie hatte das bestimmte Gefühl, eine Fliege oder blauglänzende Mücke säße gefangen im Innern des fleischweißen Klumpens. Spielend entknüpfte sie seine Fingergelenke und war fast betrübt, als surrend kein Insekt aufflog und die Fläche seines Handtellers sie ausah wie rosige Gummiplatte. Otmar glättete sich den Schnurrbart. Komisch runzelte er dabei die Augenbrauen, daß sie auflachte. »Mein Liebling!« Sie fiel ihm um den Hals und küßte ihn stürmisch. Die Mutter raschelte betont mit der Zeitung, vertieft und taktvoll.
Der Herbstabend stand breitbeinig am Horizont, ballspielend mit den runden weißen Federwolken. An einem Baum gelehnt träumte Marion in die Landschaft. Die versank um sie und nur die Wasenmeisterei blieb, ein riesiges Schiff mit schwarzen Wänden, Arche, auf nacktem Felsen gestrandet. Ein Schrei, dünn wie siebenmal geschärftes Messer, sprang wütend empor und pfeilte steil gegen die Himmel, die unter seinem Anprall leise erbebten. Der Schrei des guten Tieres, vom Metzger blind gemeuchelt, raste um die Erde. Alles, was in Ketten lag, spürte Verzweiflung, jeder Halm neigte sich zitternd und die Sichel des jungen Mondes blutete auf im Rot des Rubins. Marion, süß gepeinigt von dem Schrei, warf die Arme in die Luft und hetzte hinunter in die Stadt, die sich schon im Dunkel verkroch.
Die Rechnungsrätin im ersten Stock will den kranken Spitz weggeben« und sie erzählte, daß die weißhaarige Dame sie gebeten habe, das Tier zur Wasenmeisterei zu bringen. Marion wand die Finger ineinander, daß sie schmerzten. Ihre Fußsohlen brannten und im Nacken spürte sie einen scharfen Dorn. Otmar zögerte. »Es paßt mir nicht.« Steil schob sie das Kinn vor. »Warum nicht?« Und an seinem Hals: »Das arme Tier!«
Mit verschrumpften Händen zerrten die aussätzigen Büsche Marions Haar. Die blecherne Glocke grölte versoffen. Der Kerl blitzte mit einem lilienweißen Gesicht, das wie ein Löschblatt war, leicht aufgefasert. Den Hund hob er hoch am Genick. Der hing wie ein leerer Sack, zusammengetröpfelt im lächerlichen Zipfel der Rest der Körner. Marion fühlte ihr Blut in Stößen durch den Körper jagen. In das Taschentuch preßt sie die Finger, aus denen Blut spritzen wollte. Der Hund hatte schläfrige Augen, als ihn der Henker wie einen nassen Lappen schwang. Die Tür zur Mörderstube war nur angelehnt. Eine Faust dröhnte. Ein Winseln kroch durch die Spalte. Marion schloß die Augen. Auf feuerfarbenem Grund sah sie schwarzen Stern aufblühen, der silbern verbrannte. Der Wasenmeister riß die Tür auf. Der Hund lag am Boden wie trübe Lache, die versickern will.
Marion saß zwischen blitzenden Spiegeln und bürstete ihr Haar. Auf Fußspitzen trippelte sie zur Kommode, hob Otmars Bild und küßte es. Zärtlich betrachtete sie seinen schönen, weichen Mund. Dann schlüpfte sie ins Bett. »Gute Nacht, Schatz!«
Der Hundehändler bestand auf seinem Preis: »Dreißig Mark, Fräulein.« Er schwor: »Er ist gut gezogen und sehr wachsam.« An der Leine riß, mißtrauisch, das Tier. Die Glocke schrie. Ein milchweißes Gesicht glänzte madig. Hände waren ganz weiß, nur die Nägel gelb wie getrübte Opale. Mit einer tiefen, schwingenden Stimme: »Er ist krank?« Marion nickte und wie er sich bückend den Hund am Halsband faßte, rührte sie an seinen schmierigen Rock mit der Neugier des Kindes und mit der bösen Lust des ungehorsamen Fleisches. Sie zitterte und ihr Wille war ein Raubvogel, der frei jagte. Sie trat schmal aus sich heraus. Er schlug die Tür auseinander. Ihre Spiegelung trat neben ihn. Ein Messer flog in seine Hand und blitzte in den Hals des Tieres. Ein Schrei stieg aus der zerfleischten Kehle, donnernd gegen die Wände. Blutgefüllter, platzender Ball, hin und her, im taumelnden Spiel, bis er in einer Ecke zerknallte. Wie eine Schweinsblase unter dem Tritt des Knaben. Marion hielt die Kniee stramm durchgedrückt. Sie legte Markstücke in die Hand des Wasenmeisters. Auf der Straße lief auf einmal der Hund neben ihr, mit kurzen hastigen Sprüngen. Sie stieß mit dem Schirm nach ihm.
Die Katze sträubte sich unter ihrem Griff. Marion sah sich um. Niemand hatte den Diebstahl bemerkt. Sie streichelte den grauen Rücken. Argwohn verging unter der sanften Hand. Einen tiefen, summenden Ton geigte das zärtliche Herz. Der Wasenmeister funkelte mit entblößter Brust, auf der dünne Haare sich krümmten wie schwarze Sicheln. Marions Hand hob sich in seine, während sie sich mühte die Achsel mit Gewalt zurückzudrehen. Die Wachsmaske seines Gesichts verzerrte sich nicht, als er dem Tier mit einer fürchterlichen Bewegung das Rückgrat zerbrach. Marions Augen flatterten wie Vögel vor dem heißen Wind. Die Wände standen plötzlich schief. Die Decke wölbte sich wie ein Palmblatt. Als sie, liegend, seine Hände an ihren Schenkeln spürte, schlug sie ihm die Zähne in den Hals, bis sie Blut schmeckte, süß. Später gab sie ihm Geld und ging.
Die Türe schnappte nach ihr. Die Büsche bogen die Arme zu schamlosen Gebärden. Die Straße lief, flog und schwang sich sausend in die Stadt. Wirbelnd wurde Marion mitgerissen.
Otmar hatte schon auf sie gewartet. Mit strahlender Stimme: »Die Papiere sind da!« Er legte den Arm um sie: »In vier Wochen, Marion …«
Erstdruck in »Die Sichel« 1, 1919, S. 39-40 [September]
Vergl. „Die verwegene Marion“ oder „Mohn“.
Kinonovelle
Das Mädchen erblühte vor der Tapete zu einer seltsamen Blume. Der große Mund zerfiel zu rundgeschwungenen üppigen Blättern. Tiefe Augen schwankten darüber wie giftige Beeren. Arme wanden sich wie Schlingfäden und umstrickten den Mann, der, blaß, Haarlocke blau in der Stirn, vor Ilsa sich krümmte. Die Vase stand schief und Vorhänge wehten schwer herein. Die Tür sprang auseinander und schleuderte eine ältere Dame ins Zimmer. Ilsa wandelte sich zum arglosen Backfisch. Der Mann zitterte immer noch. Seine Hände rissen an den Frackknöpfen. Sein Schnurrbart flog. Seine Augen verkrochen sich schmal. Emma starrte unverwandt in das weiße Flimmern. Licht zog in Streifen durch die dunkle Muschel des Raums. Vieler Atem brauste. Die beiden waren jetzt wieder allein. Ilsa lächelte verrucht dünn. Dann schlug sie ein-, zwei-, dreimal scharf auf den vor ihr Kauernden ein. Der krümmte sich wollüstig. Ein Diener rief ihn ab. Er umwedelte noch einmal das Mädchen, läppisch, und schlich zermorscht weg. Ilsa malte auf einen grünen Bogen Verrat. Sie leckte den Leim des Kuverts, genäschig, als sei er süß. Ah, das hatte er nicht in Betracht gezogen. Man konnte dem andern schreiben. Er nahm sich vor ihre Briefbögen zu zählen. Einen Augenblick wurde es hell. Emma sah träumerisch vor sich hin. Ihr rundes Kinn war lieblich. Tigerhaft trat der andere ins Zimmer. Er trug Ilsa in seinen Zähnen davon wie die Katze die Maus. Vieles geschah noch. Emma hatte einen Namen geflüstert. Eine Stichflamme fuhr in sein Hirn. Die Briefbögen, dachte er. Ich habe sie nicht gezählt. Was flüstert sie einen Namen! Jetzt lächelte sie wie Ilsa. Drunten flatterte einer herein. Umwirbelte sie. Die warf ihm Hohn ins Gesicht. Er erbleichte. Es geschah. Er neigte sich zu Emma. Sie schrie leicht. Das Fenster, klirrte. Ilsa schwebte wie ein blaues Tuch in der Luft. Das war, das war, gut so! Er hatte Emma ergriffen. Er hörte sie klatschend im Parkett aufschlagen. Er floh. Der Portier drehte sich an ihm vorbei. Die Treppe fiel jäh ab. Er stürzte auf die Straße. Fenster grinsten. Er bog in sein Haus ein. Er kroch auf sein Bett. Er hörte noch das Klatschen. Sah Gehirn spritzen. Leute entsetzt aufspringen. Sie würden kommen ihn zu holen. Er hatte ihr Unrecht getan. Vielleicht. Er hatte keine Beweise. Er hatte auch vergessen ihre Briefbögen zu zählen. Aber der Name. Und damals die Begegnung. Trotzdem. … Er hörte Schritte auf der Treppe klappern. Das waren sie schon. Das ging schnell. Schafott, murmelten seine bleichen Lippen. Begnadigung! Eifersucht, Begnadigung, brüllte er, als die Tür aufrasselte. Emma tänzelte zu ihm. Weg! Weg! schrillte er. Gespenst! Fürchterliches Gespenst! Er sprang ihr an die Gurgel. Du! Du! Er hörte sie wieder röcheln, wie vor einer Viertelstunde, als er sie ins Parkett geschleudert hatte. Sie wurde ganz ruhig. Tot. Endlich tot!
Als man ihn verhaftete, begehrte er wegen Doppelmordes bestraft zu werden. Die andere Leiche müsse noch im Kino liegen.
In: Die rote Erde, I, November 1919
Der Name
Für M. R.
Er umblühte sie mit seiner Zärtlichkeit und gab ihr tausend Namen, die er mit der behutsamen Hand des Schmetterlingssammlers sich griff. Es war der Glanz der Sterne in seinen Worten und der kühle Duft der frühen Morgen und die bunten Kränze der Sonne über tropischen Flußufern wirbelten in ihnen. Aber er wagte es nicht sie mit dem Namen zu treffen, der einzig ihr Wesen umschloß und den auszusprechen von ihr erst Besitz ergreifen hieß. Er wußte, der Mann, der früher in ihrem Leben gewesen war, hatte sie so genannt. Das hielt ihn ab sie anzurufen mit der Beschwörung, der sie gehorchen mußte. Es war nahe daran, daß er sie verloren hätte, weil er Furcht vor einem Schatten besaß, dem nur die Kraft seiner Einbildung die toten Lenden mit Fleisch umkleidete. Sie gingen um
sich herum, zögernd, mit ausgestreckten Händen, ohne sich zu berühren. Schon wuchs es wie dünner Nebel zwischen ihnen auf und die Luft, die sie gemeinsam atmeten, wurde klar und kalt. Mit einem durchsichtigen, bebenden Panzer aus gefrorenem Gefühl umwölbte sie sich. Er sah ihr Herz wie eine rote Quelle strömen hinter kristallenen Wänden, die vor dem Wort geschmolzen wären, das er nicht sprechen konnte. Er klopfte mit tausend Hämmerchen an die funkelnden. Aber sie tönten nur und sprangen nicht. Er sah den Weg, den schmalen und geraden Pfad, der zu ihr führte und hob die Hand nicht, die Dornenranke wegzubiegen, die ihn versperrte. Je länger er zauderte, desto unmöglicher schien es ihm und beiden, daß er das Wort formte, das nötig war.
In dieser verzweifelten Lage trat ein Umschwung ein, zu dem der Anstoß so zufällig und von außen kam, wie es nur ein zufälliger und äußerer Grund war, der ihn bisher gehindert hatte sie ganz zu erreichen. Ein Freund, der lange verreist gewesen war, kam von der Hauptstadt zurück und brachte einen Wirbel von der Frische und Beweglichkeit mit, in der man dort lebte. Bei einem Ausflug, den sie zu dreien unternahmen, rief er das Mädchen wie selbstverständlich bei dem Namen an, der ihr gehörte und fragte lachend, wie man sie nur irgend anders nennen könne, da doch kein anderer Name so wie der zu ihr passe. Der Blöde begriff mit einem Male selbst nicht mehr sein Zaudern. Er formte die Silben zu einem ganz köstlichen Ball und warf ihr das Wort zu, das sie mit einem erlösten Lächeln empfing.
In: Die Sichel, I, November 1919
Das Kind
Als Hermine sich Mutter fühlte, spürte sie nur geringe Bestürzung. Aus einem unbekannten Grunde war es von Anfang an als das Natürlichste erschienen, daß es so kommen würde. Aber ebenso war es ihr durchaus klar, daß das zu Erwartende niemals Ereignis werden durfte. In ihrem Leben war kein Platz für dieses Kind. Die Beziehungen zu seinem Vater hatte sie abgebrochen, als sie ihn mit ihrer besten Freundin in einer eindeutigen Lage antraf. [Der] Beruf als Verkäuferin trug knapp ihr so viel ein, daß sie bescheiden sich erhalten konnte. Das Kind würde eine Bürde für sie sein, die ihr den Nacken krümmte. Das Gerede der Leute würde sie mit Nadeln martern. Das Vorurteil der Welt sie prangern. Sie wollte heiraten. Sie würde heiraten. Später einmal. Irgend Jemanden. Sie wollte nicht immer Strümpfe verkaufen. Das funkelnde Glück einer sicheren Ehe mußte zu ergreifen sein. Aber nur ohne das Kind. So traf sie ihre Vorbereitungen. Der Herr des Warenhauses gewährte ihr vierzehn Tage Urlaub. Sie fand Asyl bei einer weisen Frau und überstand den Eingriff mit wenig Beschwerden. Kein Gedanke an Schuld kam ihr. Nichts von Gewissensbissen. Nur das Gefühl einer großen und wunderbaren Erleichterung. Wenn sie mit prüfenden Händen die sanfte Wölbung ihres Leibes umspannte, in den Hüften sich bog und in beweglichen Gelenken sich wiegte überströmte sie kindliche Freude über wiedergeschenkte Unbeschwertheit des Körpers.
Nicht viel später begegnete sie eben jenem Mädchen, mit dem der Geliebte sie betrogen hatte. Sie empfand keinerlei Groll gegen die Freundin, sprach ohne Scheu mit ihr und wurde von einem Geständnis überfallen, das sie wie ein Schlag vor die Brust traf. Der Faden der Dinge, den sie eben mit fester Hand abgerissen hatte, spann sich auf gleicher Spule weiter. Sie erschrak über die wegsichere Wucht eines Geschicks, das sie wie eine schwere Kugel von sich auf eine andere abgerollt hatte. Der war der Ausweg versperrt, weil Hermine ihn durch ihre Flucht ungangbar gemacht hatte. Ihr (der Freundin) blieb das Opfer, dem sie sich entzogen.
Die folgenden Monate lebte Hermine in einer innigen Vertrautheit mit den Veränderungen, die in dem fremden Körper vor sich gingen. Sie fühlte die Last des schweren Leibes, die unruhigen Wallungen des Blutes, den schmerzlichen Segen der Reife in einer Stärke der Empfindung mit, die sie fast betäubte. Als bei der Geburt die Mutter starb, nahm sie ihr Kind an sich wie ein Geschenk, das erst verschmäht, um so tiefer beglückt.
In: Die Sichel, I, Dezember 1919
Der Insektenstich
Er war fünfunddreißig Jahre alt und anscheinend vollkommen gesund, als er von der sonderbaren Neigung ergriffen wurde in der Betrachtung von Selbstmordarten, in dem peinlichen, fast liebevollen Ausmalen ihrer Einzelheiten, ihrer Handgriffe und Feinheiten einen lebhaften und erregenden Genuß zu finden. Vielleicht war es eine übermäßige und unnatürliche Furcht vor dem Tode, die ihn bedrängte, sich so innig mit ihm zu beschäftigen und ihm derart alles Grauen zu nehmen. Und indem er sich auf der rasenden Flucht vor dieser Angst überschlug, gelang es ihm dem Gedanken jedes Gift zu entziehen, und Süßes zu schmecken, wo vordem Bitteres gebrannt hatte.
Er befestigte einen Nagel in der Wand, legte sich die Schlinge des weizengelben Strickes um den Hals und erlebte glühend beseligten Absturz in rote Schlucht. Er knöpfte das Hemd auf, setzte zitternd die blauglänzende Messerspitze an die Brustwarze und fühlte sein Fleisch auseinanderfallen, wie die geäderten Sichelteile einer Apfelsine. Der Lauf der Pistole blitzte und der Schuß warf ihn zu den kreisenden Sternen. Er stand auf dem Geländer der Brücke und segelte mit ausgebreiteten Armen ins Strömende. Er schleuderte sich vor die krachenden Räder der Lokomotiven, trank grüne und blaue Gifte, öffnete sich die Pulsadern und atmete den schweren Duft des Leuchtgases. Er erlebte spielerisch alle Tode und wenn er zögerte, sich in der Tat für einen zu entscheiden, war der Grund die schmerzliche Unmöglichkeit, die Genüsse aller in einem zusammenzufassen. Da geschah es, daß ihm der Arzt ohne Umschweife den baldigen Tod voraussagte. Einschleichendes Übel, lange vernachlässigt, hatte sein Blut zersetzt und auf Heilung war nicht mehr zu hoffen. Die Furcht vor dem Sterben, an die Wand gedrückt, gestoßen und getreten, zu Brei zermalmt und zu Nebel verflüchtigt, formte sich wieder und erstand schrecklicher als jemals. Ein Stehaufmännchen, das unter dem zurückweichenden Finger kurvig sich wieder aufstellt. Er begann einen zornigen und zähen Kampf um sein Leben. Wie er früher die Süßigkeit des Sterbens hundertmal vorgekostet hatte, schien ihm jetzt ein Leben in Gesundheit das unerhörteste Glück, nach dem er sich wütend sehnte. (Hier wäre vie lleicht zu sagen, daß der stürmische Drang zu leben, der sich jetzt in ihm entzündete, aus der Begierde erstand, das süße Laster des vielseitigen Sterbens nicht aufgeben zu müssen.) Kurz und gut, das Unglaubliche traf ein, er genas wieder. Nach Monaten, die er mit anstrengenden und gefährlichen Kuren zubrachte, mit Atemübungen und Bädern, mit Abreibungen und Bestrahlungen, konnte ihm der Arzt sagen, daß das Schlimmste überstanden sei. An dem Tag, da ihm diese erfreuliche Mitteilung die Augen heller machte, stach ihn ein Insekt in die Hand. Er starb nach vierundzwanzig Stunden an Blutvergiftung.
In: Zeitschrift des Konstanzer Stadttheaters, 1919
Die Glaswolke
Ein Märchen
Die Glaswolke brach klirrend nieder von einem fremden Stern. Ein silberner Pfeil, von dem riesigen Bogen des Sternenjägers abgeschnellt, hatte sie blitzend die Sonnenkreise durchschnitten, um mit dem süßen Pfeifen von tausend Nachtigallen auf der Wiese zu landen. Nun wölbte sie sich wie ein gläserner Berg vor den Toren und überfunkelte die schwarzen Dächer. Als man mit großen Hämmern, Stemmeisen und Hebestangen sich daranmachen wollte, Blöcke von dem milchdunstig schimmernden Kegel abzutrümmern, zeigte es sich, daß es besser gewesen wäre, sich mit Scheren und Messern zu rüsten. Die glasähnliche Masse war weich und schmiegsam wie Gummi, ohne klebrig zu sein. Ein köstlicher, behutsamer Duft strömte von ihr aus, wie er den Frauen fremder Horizonte in gesalbten Achseln wohnen mag. Man schnitt große Stücke des himmlischen Glases ab. Die Tuchfabrikherren der Stadt errieten die Gefahr, die ihnen drohte. Aber ehe sie noch die Bittschrift an den Senat abgefaßt hatten, daß es verboten werden sollte, das sternhelle Gewebe in den Handel zu bringen, hatte sich schon eine kluge, bebende und eitle Frau daraus einen Mantel geschneidert und trug ihn im Triumph durch die Straßen. Eine Woche später prahlte alles in Kometenkleidern. Ein Glasmaler, der in ärmlichen Verhältnissen gelebt hatte, weil die Herstellung von Kirchenfenstern nur wenig einbrachte, kam auf den glücklichen Gedanken, die Glasseide bunt zu bemalen, mit Blumen und seltenen Ornamenten. Er konnte die Aufträge, mit denen man ihn berannte, nicht mehr bewältigen, trotz der zwanzig Gesellen, die er in Schichten arbeiten ließ und obwohl er selber Tag und Nacht hinter seinen Entwürfen saß. Als die Frau des Senatspräsidenten bei der Auffahrt zum Rennen in einer Glasrobe sich zeigte, auf deren grünem Grund flammendrote Pfauen sich spreizten, brach ein allgemeiner Jubel los. Kometenseide wurde die große Mode. Niemand mehr trug Kleider aus gewebten Tuchen. Der gläserne Berg wurde nicht kleiner und die Armen der Stadt gingen in schönen Gewändern wie nie in ihrem Leben. Nur die Tuchfabrikherren schritten traurig durch die Maschinenhallen, in denen kein Webstuhl sich mehr regte, seit man die Unterwäsche sogar aus dem billigen Stoff herstellte. Und der süße Duft des Glases schwelte durch alle Gassen und brannte wie ein feuriger Rausch in den Menschen.
Da trat ein Ereignis ein, dessen Folgen nicht ohne weiteres abzusehen waren. Als eines Abends ein schwarzes Gewitter heraufzog, funkelte ein greller Blitz wie eine wütende Schlange über die Dächer. Aus irgendwelchen Gründen, sie mögen chemischer Art gewesen sein, zerflossen die gläsernen Kleider zu einer grünklaren Flüssigkeit und alle Menschen der Stadt standen nackt, wie eben
dem Bad entstiegen. Junge Mädchen, die mit ihren Geliebten auf den Wällen lustwandelten, flüchteten schreiend in die nächsten Häuser. Eine Nonne, die auf dem Gang zur Kirche war, besaß Besinnung genug, von einem blühenden Baum sich Zweige zu brechen, um ihre Blöße zu decken. Glücklich waren diejenigen, die noch Tuchkleider von ehemals im Schranke hängen hatten. Andere konnten sich Wochen nicht aus dem Hause trauen, bis sie sich das Notwendigste angeschafft hatten. Die Tuchherren atmeten auf, der Glasmaler entließ die zwanzig Gesellen und zeichnete wieder Ritter und Heilige. Vor den Toren der Stadt aber glänzte ein Teich mit silbernem Spiegel.
In: Die Flöte, I, 1918/19
Journalist Franz Bär
Journalist Franz Bär trieb versunken über den Platz. Die Nadeln des Doms stachen den Himmel blutig. Rosa Wolken vertropften über den Dächern. Schmale Schuhe einer Verkäuferin glitten geschmeidige Eidechsen über das nasse Pflaster. Spielende Tiere. Flink züngelten sie über die blanke Steinschwelle. Die weiße Bluse blühte wie fernher aus dem Dunkel und versank im schwarzen See Finsternis. Franz Bär vermochte den Gifttropfen kleiner Enttäuschung nicht auszuspucken. Er ließ ihn ins Blut rollen und von ihm jede Lust dieses Abends sich zersetzen. Ranziges Fett im Gasthaus verklebte den Gaumen. Der Herr am Nebentisch, Schauspieler oder gepflegter Postsekretär, Augen seiner Begleiterin tief entzündend, zwang ihn zu aufreizendem Vergleich. Scham, Trauer und Wut jagten ihn zwischen weißen Tischen zur Tür auf die Straße. Ein brennender Trambahnwagen knatterte steil in den Himmel. Menschen kreisten. Woge trug ihn und warf ihn in die enge Stube. Das Tischtuch glänzte fleckig. Das Bett stand drohend in der Ecke. Die Polster blähten sich lüstern ihn zu erdrücken. Er zog die Stiefel aus. Den Kragen besah er und beschloß zähneknirschend ihn auch morgen noch um zu binden. Die Hose legte sich geduldig in gewohnte Falten. Nackt trat er vor den Spiegel. Die Füße, verrunzelt, mit gekrümmten Zehen, fraßen sich bösartig in den schäbigen Teppich. Waden, mager wie bei Kindern, verdickten sich zu den häßlichen Knollen der Kniee. Das Fleisch der Schenkel, faltig, prüfte er mit grausamen Fingern. Trommel des Bauchs hing an den Rippenstäben, schwankend. Dünner Stengel über den Teller der Brust hob sich der Hals und trug behaarte Riesennuß des Kopfs. Er flüchtete ins Bett. Das Messer des Monds fuhr durchs Fenster und zerschnitt ihm die Leber. Er ertrank im Blut und entschlief zu schwerem Traum.
Er lag im Trommelfeuer der Morgenpost. Die Kanonade der Briefe schlug wirbelnd auf ihn ein. Ziffern der Handelsberichte peitschten wie Gewehrfeuer. Schwere Minen versiegelter Schreiben dröhnten. Der Galoppsprung der Pferde scholl hart aus Rennotizen: Fußballspieler wogten über den Rasen. – Mordschrei gellte. Minister sprachen zum Volk. Scheiben klirrten bei Plünderungen. Spiele der Dichter entzündeten ihn. Brüllender Atem der Versammlungen wehte ihn an. Züge stürzten von Brücken. Der Tango der Operetten tanzte durch sein Fenster. Das Telefon riß ihn in fremde Städte. Stimmen drangen auf ihn ein, vertrauter Tonfall, sprudelnd von nie gesehenen Lippen. Auf feuchten Bögen glänzte die Flucht schwarzer Zeichen, Abdruck noch glühenden Metalls. Mit roten Strichen fetzte er, riß tiefe Wunden. Besuche kamen. Von Erfolgen träumte der junge Sänger. Politiker, Schrei und Empörung, zerbarsten. Turnvereinler prahlten mit Muskelwülsten. Boten brachten Telegramme. Der Tisch schnaubte wie ein Pferd. Türen flogen. Das Fenster zitterte. Berg des Papiers neigte sich gegen ihn und zertrümmerte seine Stirn. Zur Lawine schwoll der Lärm der Maschinen. In die plötzliche Stille knisterte die fertige Zeitung.
Den Frieden des Nachmittags trug er an den Strom. Die sanften Flanken des Bergs atmeten wie schlafende Tiere. Der Wind sprang in die Weiden, die mit bebenden Gerten auf ihn einschlugen. Franz Bär warf sich ins Gras. Der Bogen des Himmels spannte sich gewaltig über ihn. Er maß ihn mit blinzelnden Augen aus. Er drehte langsam den Kopf und ließ den geblendeten Blick über die funkelnde Bläue tanzen. Die grünen Halme schrägten sich wie Balken über sein Kinn. Eine brüllende Hummel erschütterte die Luft. Ein Schmetterling schwankte seinem Auge vorüber. Bäume brausten. Durch Schluchten jagte das Blut der Erde. Das Wasser brodelte. Die Bäume standen wie Riesen. Der Berg wälzte sich zu Tal. Der Fluß stieg über die Ufer. Der Weg jagte in wütenden Sprüngen in die Stadt. Ein gläsernes Licht glänzte. Ihn riß es hoch. Seine Beine begannen zu laufen. Der Wind klirrte im Schilf. Vögel schrien. Seine Flucht endete im Café. Der Marmortisch kühlte seine Hände. Der Samt der Polster streichelte sie. Er redete mit der Kellnerin. Sein Blick umstrich die Wölbung ihrer Hüften, verbiß sich im Ausschnitt ihrer Bluse. Die gelbe Haut ihres Halses machte seine Knie zittern. Freunde kamen. Gespräche dampften. Durch den grauen Dunst züngelten gellende Worte. Grün klatschend tropften Witze. Weiber wurden entkleidet. Brüste von Stallmägden überschwemmten den Tisch. Huren knallten mit breiten Schenkeln. Bär zahlte. Durch die Straßen raste der Abend. Ein Herr im Frack küßte der Dame die Hand. Ihre dünnen Lippen entblößten ein trauriges Lächeln. Der Diener meldete den Polizeibeamten. Sein schwarzer Spitzbart zündete steil. Sein Gehrock saß schlecht. Der Herr im Frack sprang durchs Fenster. Es wurde hell. Programme rauschten: Henny Porten. Dunkel. Der Herr im Frack stand auf der Wiese. Die weißen Ärmel seines Hemdes blitzten. Langsam hob er die Pistole. Sein Gegner sank ins Gras. Ärzte flatterten mit Binden. Ein Wagen fuhr im grünen Schatten des Waldweges.
Im Café zahlten die letzten Gäste. Stühle kletterten auf die Tische und verbauten sich zu Burgen. Der Wirt feilschte mit den Kellnerinnen. Centa raschelte im gelben Gummimantel. Auf dem Pflaster klapperten ihre Absätze. Er küßte ihren Hals. Aus ihren Kleidern strömte ein Geruch von Speisen. Von Wein. Qualm von Zigaretten. Ihre kleinen Hände trafen sich in seinem Haar. Die Treppe knarrte einen Trauermarsch. Aus Messingrahmen stachen die Schnurrbärte von Vizefeldwebeln. Als es dämmerte und er erwachte lag sie schlafend neben ihm. Ihre dünnen Beine bogen sich fremd und feindselig. Ihr Gesicht war zerflossen. Das Waschgeschirr klimperte unfreundlich. Das Handtuch kratzte ihn. Der Kamm riß an seinen Haaren. Die staubigen Schuhe drückten. Er floh. Die Spirale des Treppengeländers wirbelte ihn in den Hausflur. Mit nasser Hand klatschte ihm der Morgen ins Gesicht.
Am Teetisch blühte das Porzellan. Der Freund entzündete ihm die Zigarre. Die Frau, weiß, blumenhaft, schenkte ihm ihr Lächeln. Sie rissen die Türen vor ihm auf, aber er kam nicht über die Schwelle. Er klammerte sich am Tisch fest. Sie entschwebten und die Hände, die sie nach ihm streckten, zergingen zu Dunst in seiner Faust. Er saß allein am Tisch. Auf einem Felsen. Die Glut seiner Zigarre leuchtete wie ein Notfeuer. Der Nebel fraß sich in seine Kleider. Meervögel klatschten. Ein Schiff mit Musik zog am Horizont. Ihre weiße Hand goß ihm Tee ein. Er ging bald.
Die Klinge des Friseurs tanzte auf seinem Kinn. Puder wölkte ihn ein. Das Grau seiner vierzig Jahre sah ihn aus dem Spiegel an. Am Abend traf er sie im Stadtpark. Sie erzählte von der Schule. Von den Kindern. Der fußfreie Rock wippte fröhlich um die Waden. Ihr festes Gesicht ruckte entschlossen voran. Die Schwäne glitten weiß und lautlos wie ausgestopft. Die Enten schrien. Der Kies knirschte Worte, die er nicht verstand. Die Lehne der Bank schlug ihm hart den Rücken. Er erreichte mit den Füßen den Boden nicht. Das machte ihn unsicher. Sie wurzelte mit spielenden Knöcheln im Gras. Er tastete sich an sie heran. Sie wich aus. Er griff immer ins Leere. Er zielte mit Worten. Sie trafen nicht. Sie brach seinen Pfeilen die Spitzen ab und spielte kindlich mit den gefiederten Schäften. Wenn er sie von den Seilen seiner Sätze umschnürt glaubte, wendete sie sich leicht und die hanfene Schlange lag zu ihren Füßen. Sie rannte davon. Er faßte zu und hielt ihr Schultertuch. Er lockte sie auf Wolfsgruben. Aber ihrem leichten Gang hielt die trügerische Decke. Er führte sie in Sackgassen, aber verborgene Türen taten sich vor ihr auf. Er warf sich an ihre Brust und fiel taumelnd ins Leere. Er stellte die brüske Frage. Sie hörte nicht und bat zu gehen. Für den nächsten Abend bestellte sie ihn in den Zirkus.
Das Bett schrie unter seiner Last. Das Gas brannte schlecht. Das Fenster wehte auf. Der fremde Abend atmete ihn an. Er warf sich zu Boden und lief auf allen vieren wie ein Hund. Wütend bellte er die Lehne des Sessels an. Er legte den Kopf auf die Vorderpfoten und heulte laut. Die Kastenwand lockte ihn, sein Wasser ab zu schlagen. Das ging nicht auf hündische Art und erinnerte ihn, daß er Mensch sei. Er trommelte sich mit den Fäusten auf den Kopf und befahl sich es zu vergessen. Die Wände des Käfigs marschierten auf ihn los. Plötzlich zerfielen sie. Er ragte einsam in die kalte Unendlichkeit, ausgesetzt auf der Spitze eines riesigen Turms. Jäh fielen die Wände ab in schwarze Stille. Winselnd rannte er um den Rand des Turms. Eine ungeheure Kälte stach ihn. Der Himmel war tief und grenzenlos und ohne Sterne. Sein Brüllen verscholl in Nichts. Er schluchzte unendlich in den Mond hinaus.
In: Die rote Erde, I, Januar bis März 1920
Schmaler Tag des Kommis
Er blies wie beruhigt den Rauch seiner Zigarre ins Blaue und täuschte sich ein Gleichgewicht vor, in dem er sich nicht befand. Die schwarzen Schnäbel der Schiffe hackten erbittert auf den unbewegten Spiegel. Hinterrücks überfiel ihn straßenräuberisch lauernder, unausbleiblicher Vergleich. Aus der Luft schnitten sie gläserne Türen, die vor keinem Steinwurf zerbrachen. Der Hafen
kreiste ihn ein. Die Spinnenarme der Krane griffen mächtig ins Leere. Er dachte einen Augenblick lang an Indien, oder an San Francisco, oder an ein Bordell in Stockholm. Schienen funkelten. Netze von Gerüsten durchflochten den Raum. Teer dampfte. Der Hund, gröhlend am Heck, Sidney, Palmen, Sago, Fieber. Möven klatschten aufs Meer. Dünner Trost: Du entrinnst dir auch dort nicht. Dann heftige Ablehnung des stets vergeblich unternommenen Versuches, sich zur Welt zu erweitern. Er fluchte verzweifelt, lief davon und bestellte im Gasthaus die doppelte Portion. Das Mädchen, schmaler Schuh und hochgetürmtes Haar, lockte zu rasender Flucht in dunkel geahnten, möglichen Ausweg. Sie schlief ohne Umstände bei ihm. Als er früh erwachte und quer über ihr lag, riefen die fremden Stimmen ferner und unerbittlicher. Er aber kreuzte wieder mit totem Segel. Ihr Mund röchelte ihm geöffnet entgegen. Er stieß tief seine Zunge hinein. Spiralen von roten Horizonten umwirbelten ihn. Der Kontorstuhl krächzte. Er überblickte zehntausend kommende Tage. Vorläufige Erlösung bot nur Lohnaufbesserung. Und etwa Esperanto.
In: Die Sichel, 2, August 1920
Katta Moll
Katta Moll triumphierte: Ich habe in Hafenschenken getanzt, daß die Gäste mit den langen Messern die Tische zerschnitten vor Lust. Der chinesische Steuermann schüttete mir ein Pulver ins Glas. Ich gab es ihm zu trinken und schlief bei ihm. O, er war süß der gelbe Affe! In Dortmund sprang ein Apotheker auf die Bühne und verbiß sich in meine Schenkel. In Paris verkaufte ich einer Herzogin meine getragenen Strümpfe. Sie schrie vor Wollust, wenn sie daran roch. Katta Moll legte die Arme weit in den Tisch. In Boston, ja in Boston wars, da wollte mich der Mönch im Beichtstuhl vergewaltigen. Katta Moll kreischte: Morgen tanze ich zum erstenmal hier!
Der grüne Kulissenwald schwankte wie ein Pfauenschwanz. Gelb, grün, grün, gelb, rot. Katta im schwarzen Trikot. Sie schritt, beugte sich, drehte die Arme, schwenkte die Hüften, spannte die Schultern, wirbelte, brannte, zischte, loderte, raste … und stürzte brüllend von der Bühne, als drunten keine Hand sich regte.
Sie saß bleich am Tisch. Sie duckte sich unter den Blicken der Frauen. Schäumend berichtete sie: In München hatte sie einem Maler nackt Modell gesessen. Es wurde ihm verboten das Bild auszustellen. Ein Oberrealschüler versuchte seinen Vater zu erwürgen, weil der es ihm verwehren wollte, den fünften Abend ins Variété zu gehn ihretwegen. Heute tanze ich wieder. Ah, sie schnupperte erregt.
Wald wogte. Die Musik rauschte wie goldener Schleppenwurf. Katta Moll trug ein gelbes Trikot. Auf zögernden Gelenken schritt sie zur Rampe. Cymbeln tönten auf. Sie wölbte den Bauch zu spiegelnden Sonnen. Sie setzte die Hände auf die Brüste, gleich Vögeln, die an Trauben naschen. Sie begann sich langsam zu drehen. Unter ihren Füßen waren silberne Messer. Sie warf die Hände in die Luft und sie fingen sich wieder und verschwanden. Rasender jagten die Geigen und ein Paukenschlag warf sie auf die Kniee. Der Vorhang sank wie ein Blütenblatt. Niemand klatschte.
Katta Moll verbrachte die Nacht in der Portierloge. Sie brüllte in seinen Armen und ließ ihn schwören, daß sie schöner sei als seine fünfzigjährige Frau. Auf der Straße schlich sie entlang den Häusern. Sie ging zum Direktor und erbat die Lösung des Engagements. Er verweigerte sie.
Abends tanzte sie wieder. Orangen war ihr Trikot. In traurigen Kreisen erreichte sie die Mitte der Bühne. Sie zelebrierte mit den Beinen eine Messe des Teufels. Sie zerriß die Seide über der Brust. Fromm verhüllte sie sich wieder und mit dem Gang junger Nonnen tanzte sie ab. Niemand klatschte.
Katta zerfleischte sich vor dem Spiegel. Sie beschimpfte sich mit schrecklichen Worten. Sie riß sich an den Haaren. Sie schlug sich ins Gesicht. Sie wälzte sich auf dem Teppich. Sie schloß sich im Zimmer ein. Abends ließ sie der Direktor im Wagen holen und auf die Bühne schleppen.
Grün und gelb zischten die Kulissen. Katta befahl der Musik aus zu setzen. Dann drehte sie sich in einem Tanz voll einfacher und keuscher Bewegungen. Mit einem Ruck warf sie ihr Kleid ab. War nackt. Und spreizte mit einem gellenden Schrei die Schenkel. Der Vorhang taumelte rasch herab.
Katta weinte und heulte. Ein Mönch hatte mich vergewaltigen wollen. In Berlin … Sie floh zum Bahnhof. Die verzauberte Stadt sah ihr mit kalten Augen nach.
In: Die Sichel, 2. Mai 1920
Ariel
Bei seiner Geburt bog die Mutter den weißen Hals zurück und starb mit einem lauten Schrei. Man mußte das Kind vor dem Vater verstecken, der es ermorden wollte. Man gab Ariel zu ländlichen Verwandten. Wälder, Wiesen, Brunnen und ein immer riesiger Himmel waren spiegelnd um ihn. Man holte ihn zurück, als er fünf Jahre alt war und sein Vater Hochzeit machte mit der rundschultrigen Sängerin. Der Husarenoberst glänzte wie eine großeüberreife Himbeere am Ärmel seiner Frau. Der Senatspräsident wippte wie eine schwarze Schwalbe über der kristallnen Schale, in der Pfirsiche und Äpfel lagen, flaumig, rot und duftend. Sekt, aus einem winzigen Glas, trieb ihm viele Nadeln in das Fleisch. Später kam Ariel zu den Kadetten. Die eisernen Bettstellen zuckten unter der ersten Qual seines wilden Blutes. An den kalten Februarmorgen, im dünnen, schrägen Regen, übten sie mit Gewehr und Säbel. Mit zwanzig Jahren trat er ins Regiment ein und war wie durchschnittlich der Offizier. In tiefen Nächten trank er gemessen und immer unerschüttert Wein. Der Feldzug brachte ihm Auszeichnung. Er fing bei jenem Vorstoß, der in allen Zeitungen ausschweifend beschrieben ward, das feindliche Panzerautomobil, den Major und wichtige Pläne. Er wurde daraufhin dem König vorgestellt. Wieder in der Garnison sah man ihm vieles nach. Er las dicke Bücher, auch solche von den deutschen Mystikern, von Schopenhauer, indische Sagen. Er lernte Illa kennen. Ihr gelbes Gesicht stand kühl über dem Pelz. Sie verachtete das holprige Pflaster der kleinen Stadt und verließ selten das Haus. Sie brannte schneeweiße, betäubende Lampen im Zimmer und saß wie ein heller Vogel auf der Lehne des Ledersessels. Der Rittmeister hatte Ariel bei ihr eingeführt. Sie rauchte starke Zigaretten, schlief wenig und spielte bis zum Morgengrauen mit Ariel. Er machte sich zu ihrem Geschöpf. Sie hatte keine Launen und war zu ihm wie zu einem edlen Pferd. Er verbrachte den Winter nur in ihrer Gesellschaft. Er kam ihr nicht näher und wußte nicht mehr von ihrem Eigentlichen, als von dem blonden Fräulein, das ihm die Fingernägel glänzend erhielt. Sehr spät erst merkte er, daß sie die Geliebte des Rittmeisters war. Ariel fuhr nach Berlin, erbat und bekam den Abschied von soldatischen Diensten. Er besuchte Vorlesungen an der Hochschule, verschaffte sich Theaterkarten und war ein regelmäßiger Besucher aller nächtlichen Vergnügungstätten. Die kleine Schauspielerin Eva und die Gräfin Gagern teilten im Wechsel das Bett mit ihm. So konnte er dem Arzt auch keine sichere Auskunft geben auf die Frage, von wem er die Krankheit sich geholt habe. Nach einer kurzen und unvollständigen Kur mietete er sich in einem Ostseedorf ein. Er war ein großer und schlanker Mensch von blühendem Aussehen und die Weiber gierten nach ihm. Er hatte vielen Zulauf und es war bald kein Mädchen mehr im Dorf, das nicht von ihm angesteckt gewesen wäre. Er wüstete entsetzlich im unschuldigen Fleisch. Bald war es weit und breit bekannt, daß alle Frauen von Sandelmaar vergiftete Pfeile im Schoß trügen. Die Männer von Sandelmaar stürmten eines Nachts Ariels Haus und schlugen ihn halbtot. Er ließ sich später in einer kleinen süddeutschen Stadt nieder. Er führte ein sehr zurückgezogenes Leben. Rosenzucht füllte seine Tage aus. Er legte die Kleider seiner Jugend nicht mehr ab. Er ging noch in engen Hosen und weiten Röcken, da alles um ihn schon weite Hosen und enge Röcke trug. So wurde der alte Ariel eine allgemein bekannte und den Kindern ein wenig komische Figur. Grauhaarig machte er noch eine Reise nach Berlin. Er stieg im besten Hotel ab, bestellte Schneider, Schuster, Friseur und verwandelte sich binnen vierundzwanzig Stunden in einen modisch gekleideten alten Herrn. Sein weißer Schnurrbart, sorgfältig gedreht, übersteilte die geschminkten Lippen. Abends steckte er sich eine Blume ins Knopfloch und besuchte das feinste Kaffee des Westens. Einen jungen Burschen winkte er zu sich, behandelte ihn mit vollendeter Höflichkeit und nahm ihn mit ins Hotel. Als der Knabe am Morgen den Greis tot neben sich im Bett liegen sah, plünderte er noch dessen Brieftasche aus und verschwand. Weil er Ritter des Sankt Georgsordens war, wurde Ariel mit militärischen Ehren zu Grabe getragen. Die Presse berichtete ausführlich über den feierlichen Akt und erinnerte auch noch einmal an die kühne Tat, mit der er die hohe Auszeichnung sich erworben.
In: Die Sichel, 2, Juli 1920
Das weiße Pferd
Bukol erwachte im Zelt. Es war dunkel. Er blieb flach liegen, fühlte sich von Wärme getragen wie ein Stück Holz im Wasser. Er schloß die Augen, ließ sich tiefer sinken und stieß wie ein junger Fisch steil an die Oberfläche . Er krümmte die Knie, hoch, zur Nase, streckte sie wieder, beugte die Arme zu einem knackenden Kreis, klatschte in die Hände und sprang auf. Der Boden schaukelte unter ihm. Er lächelte, hielt sich an einer Stange fest. Er ging aus dem Zelt. Der Morgen brannte grün über den Horizontbergen. Über die Ebene her, in kurzen Sprüngen, näherte sich ein Pferd. Der lange Schweif flog im Wind. Tänzelnd blieb das milchweiße Tier vor Bukol stehn. Er faßte mit der linken Hand in die Mähne, stützte die rechte auf den Rücken des Pferdes und saß oben. In einem leichten, wiegenden Trab setzte der Schimmel die Hufe. Die Ebene schwand. Wald kam. Quellen
sprangen. Vögel kreisten, Berge schoben sich heran und flohen wieder davon. Büsche rauschten am Weg. Teiche blitzten. Auf Wiesen drehten sich große runde Blumen. Bukol ritt vom Morgen bis zum Mittag. Er ritt vom Mittag bis zum Abend. Riesige Sterne liefen über den Himmel. Ein Komet stob sprühend dahin. Winde erwachten. Das Meer brauste gewaltig heran. Küsten donnerten und unendliches Land begann wieder. Bukol ritt. Eine große rote Sonne brodelte im Zenit. Das Pferd gab die ersten Zeichen von Müdigkeit. Der weiche Trab wurde stolprig. Es knickte in den Fesseln. Stürzte. Bukol fiel wie ein Kreisel drehend auf die Beine und hob die Peitsche und zog dem weißen Pferd drei Hiebe über das Fell. Drei schwarze Striemen blieben und vergingen nicht mehr. Bukol ritt weiter bis wieder zum Abend. Als es dämmerte, hielt das Pferd auf einem Hügel, mit stoßender Brust. Bukol stach ihm den Sporn tief in die Flanke. Blut begann zu fließen. In einem dünnen roten
Faden lief es, wie aus einem unversiegbaren Brunnen. Das Tier stand mit zitternden Beinen. Und immer floß und floß das Blut. Tot brach der Schimmel in einer roten Lache zusammen. Bukol brachte die lange und schaurige Nacht auf dem Hügel zu. Am Morgen begann er die Wanderung nach den Zelten seines Stammes. Am dritten Tag, als er den See durchschwamm, um den Weg abzukürzen, ruderte vor ihm ein weißes Pferd. Am Ufer trabte es triefend davon. Nach Wochen erreichte Bukol, abgezehrt, zerlumpt, erschöpft die Seinen, die ihn schon tot geglaubt hatten. Er duldete nicht hinfort, daß man Schimmel aufzog. Jedes Schimmelfohlen ließ er töten. Er ritt nur Rappen. Er starb im Zweikampf, zu dem ihn ein Gastfreund gefordert, dessen weißes Pferd er im Stalle niedergestochen.
In: Romantik, 2, August 1920
München
Wir sind im November jetzt, schon sind die Bäume weiß vom Reif und die Enten bei den Isarbrücken stecken den Schnabel ins Wasser und wackeln mit den weißen Steißen. Diese Enten, oft streichen sie davon, der Körper hängt schwer wie ein Sack, aber sie rudern mit den kurzen, strammen Flügeln mächtig voran. Diese Enten und die Möven, sie rühren sich, immer ist was los, Bewegung und Schrei. München träumt, schläft, döst. Aber der englische Garten war im Sommer wundervoll. Das schöne Grün. In der neuen Sezession haben Seewald, Eberz Sinn für die Reize des Vegetativen. Aber wie beschränkt ist ihr Format! Beckmann ist geräuschvoll wie ein Weinreisender. Im englischen Garten sitzend könnte man nur Klee anschauen, vielleicht noch Eberz, aber im Isartal, unter blauem Himmel, viel gelber Kies, im Isartal ist nur mehr Klee erträglich. Es sind auch sonst noch Maler in der neuen Sezession, aber das sind keine Maler. Doch, doch, doch, sie sinds, denn auch die feldgrauen Künstler stellen aus. Ich gehe nie wieder zu ihnen, nie wieder! Das ist eins vom Wenigen, das ich sicher weiß. Emmi Hennings hat im Steinickesaal vorgelesen. Ich ginge, wahrscheinlich, auch nicht wieder hin. Ich lese das lieber selber. Sie hat einen blonden Pagenkopf, eine süße, kleine Stimme und ihre Verse sind mir lieber als ihre Prosa. Es waren wenig Leute da, unter ihnen Exzellenz Maximow, und Engert, der letzte Schwabinger. Ich suchte den Saal, hatte mich verlaufen, war eine Stiege zu hoch gestiegen, da sah ich durch ein Fenster nackte Arme, jemand kreischte, es war der Ankleideraum der »Schaubühne«, die Felber im Steinickesaal auftut. Früher leitete er die »Neue Bühne« und ich sah dort eine Vorstellung von Kaisers Plakatdrama »Von morgens bis mitternachts«. Grellbunte Bühnenbilder Schaeflers, Granach als Kassierer, galizisch, viel Mache, aber darunter echtes Theatertemperament. Die Vorstellung, im Ganzen, doch erregend, prickelnd! Prickelnd das kann man nie sagen von einer Vorstellung der Staatstheater. Das vierte Gebot ist gräßlich und der Spielplan auch sonst zäh ledern. Aber sie haben einen Schauspieler, Faber heißt er. Als Prinz in »Das Leben ein Traum« eine der wenigen ganz starken Erschütterungen, die von den Brettern herab je auf mich eindrangen. Was ist gegen ihn der maßlos gepriesene Berliner Gast Werner Krauß: ein neuer Possart. Wenn in Berlin die Hungernden einen Brotwagen stürmen, so reden die Münchner Neuesten Nachrichten von Pöbel. Aber drucken die Speisenkarte eleganter Weinlokale im Inseratenteil ab. Und lassen Fritz von Ostini über Kunst schreiben. Und haben Hausenstein gehen lassen. Und Paul Ehlers schreibt Opernbesprechungen. Haben Sie die gelesen? Die müssen Sie gelesen haben! Bei Caspari stellte Pechstein aus. Sehr farbig, robust, die Holzschnitte sind das Beste. Von dort weg ging ich zu Unold. Aber ich überlegte mir: zwei Mark. Das ist zu teuer. Lieber sah ich im Schaufenster bei Goltz schöne Bücher umsonst. Einmal, früher schon, war ich auch in seinem ersten Stock, aber ich finde Mense unwahr, Davringhausen aufgeblasen, das Schönste war Klee und Kubin. Von den Tänzerinnen hab ich wahrscheinlich die schlechteste gesehn! Erika Skögen. Nächstens geh ich zur Wigmann. In der Volksküche kostet ein Teller Kartoffelsuppe vierzig Pfennig. Draußen geht ein prangender Zug. Man begräbt den ehemaligen König. Autos sausen nach Grünwald. Dort ißt man gut beim Weinbauern. Im Schauspielhaus wird Freksa aufgeführt. Der Mann soll ein ausgezeichneter Koch sein. Schlecht ist sein Stück. Wenn Blüher hier spricht, ist der Saal leer. Weil Blüher einer der stärksten Denker ist, die wir heute haben. Dafür ist Marcell Salzer ausverkauft. Die Couleurstudenten haben jetzt ausgefranste Hosen und einen verblichenen Prunk. Der Gott, der Eisen wachsen ließ. Sie lassen nicht von ihm. In der neuen Staatsgalerie hängen schöne Bilder. Wenn man an Stuck vorbei muß, kann man ja die Augen zumachen. Schwieriger ists in der Schack-Galerie. Da bringt man die Augen nicht mehr auf. Aber in der alten Pinakothek gibt es die herrlichen alten deutschen Meister und ein handgroßes Bildchen von Altdorfer, das ich gern stehlen würde. Was habe ich nur gegen München? Der Terlaner in der Torggelstube ist trinkbar, von der Geberleschule aus sieht man an klaren Tagen die Berge blau, altdorferblau, und immer noch fliegen Enten und Möwen.
In: Die Sichel, (Interimsbuch), 1921
Passau und der alte und der junge Lautensack
Ich sage es frei heraus, daß ich Passau für die schönste deutsche Stadt halte. Es gibt Stiche von einem alten und treuherzigen und klaräugigen Künstler, von dem großen Kleinmeister Lautensack, der vor dreihundert, vor vierhundert Jahren lebte. Auf seinen vergilbten und bräunlichen Blättern sind die Konturen von Städtebildern klar in den Himmel gezogen. Ein Netz von Linien, ein Geflecht und Gespinst von Kurven, ein Kreuz und Quer von Dächerkanten, von turmgeraden, von schrägen und schiefen Mauerleisten schwankt elastisch und tänzerisch über dem Flußtal. So ist auch Passau anzusehen, die Stadt, von der ich nicht weiß, ob der alte Stecher Lautensack sie jemals vor seine Augen bekam: Ein hüpfender Ball über Ebenen und Wäldern.
Drei Flüsse fließen ihr zu Füßen zusammen: Die Donau, der Inn und die Ilz. Spiegelndes Wasser glänzt auf unvermutet hinter jedem Häuserblock, und es sind so viele Brücken, daß man über sieben an jedem Tag gehen kann, und man kennt sie noch längst nicht alle, und auf jeder schaut der böhmische Beichtvater Nepomuk hinunter zu silbernen Fischen.
Die Straßen steigen hurtig auf und nieder, verwandeln sich in Treppen mit moosbewachsenen, feuchten Stufen und stürzen jäh und glitschrig ab – und immer steht man dann an einem Fluß. Grün und geringelt, wie Wasserschlangen, die ihr Element suchen, patschen diese Treppenstraßen ins Strömende. Drei Tage ist man dort, dann unterscheidet man an der Farbe des Wassers, ob es die Donau ist, der Inn oder die Ilz. Die Donau rollt breit und schwer, der Inn rasch und schäumend. Und breit und schwer und rasch und schäumend fließen sie vorbei an den Kirchen. Es sind viele Kirchen, barocke Kirchen, mit runden und stumpfen und spitzen Türmen, mit katholischen Glocken und sie läuten am Morgen, am Mittag, am Abend. Passau ist die glockengeschwätzigste Stadt.
Drüben beginnt Österreich. Adalbert Stifters Land.
Die Festung Oberhaus steht über der Stadt und war einmal Militärzuchthaus. Wer den Offizier mit der blanken Waffe anging, den jungen Leutnant oder den breitschultrigen Hauptmann, der mußte hier Karren schieben, Soldat zweiter Klasse, schielend hinunter auf die goldenen Dächer.
In einer kleinen Schänke, die Mönchen gehört, gibt es einen würzigen Wein. Der wächst über der Grenze auf einem Weinacker, den die Braunkuttenträger betreuen. Ein grauer Scheitel bedient. Man schenkt in der Schenke nur diesen einen Wein und nichts sonst und sonst garnichts. Du trittst an den Tisch, an den butterweiß gefegten Tisch, und schon steht das funkelnde Glas vor dir. Brot mußt du selbst mitbringen. In der Schenke gibt dir die Greisin nur den gelben mönchischen Wein.
Mit gemauerten Seitenwänden stößt eine Insel hinaus in das viele Wasser. Mit wippender Gerte steht an der vordersten Spitze ein Angler. Der Himmel wölbt sich herab. Das viele Wasser ist wie ein See, und Himmel und See verrinnen in eins und der Angler angelt nach Fischen und Sternen.
Ich sage es frei heraus, daß ich Passau für die schönste deutsche Stadt halte. Ob der alte Stecher Lautensack sie je vor seine leiblichen Augen bekam, ich weiß es nicht. Sein Nachfahre Heinrich Lautensack, der Dichter der »Pfarrhauskomödie«, lebte in dieser Stadt. Er lebte in dieser Stadt auch während er in Berlin Filmdramaturgie trieb und auf dem Brettl grimassierte. Er hat sie nie verlassen. Seine Gedichte sind stark und würzig und funkelnd und ein wenig mönchisch wie der Schoppenwein in der kleinen Schenke.
Von grünem, kurzem, hellgrünem Stoppelgras beflaumt steigt eine Anhöhe sanft hinauf.
Da liegt Heinrich Lautensacks Haupt. Schmerzlich grinst sein leicht geöffneter Mund, eine bräunliche Kiesgrube. Bäume, buschig, blätterwuschlig, stehen im Halbbogen wie Augenbrauen. Abgetrennt liegt sein Kopf vom Rumpf, wächst zusammen mit der Landschaft, und wie eine freche, stechende, stachlige Nase mit nach oben stehenden Nasenlöchern erhebt sich ein Grasbuckel in der Mitte des Hangs. So sieht um die Abendröte weinrot des Dichters Kopf über die bayrische Stadt.
Ein hoher Baum, eine kahle Föhre, sonnt sich am Erdbeerhügel. Eidechsen rascheln unten, die nackte Föhre wiegt sich im Juliblau. Es ist nur ein schwarzer Abdruck von der braunen Kupferplatte, aber das Juliblau, das über der Föhre auf dem Stadthügel bläut, das tiefe, tönende, wankende Blau ist unverkennlich. Hinter dem Hügel beginnen die Wälder, die böhmischen Wälder, die schattenden, dunklen böhmischen Wälder. Nur die froschnackte Föhre ist auf die braune Platte gesprungen, voreilig, zu früh, und brät nun allein in der hitzigen Einsamkeit ihres Vorpostens. Denn nach Passau darf sie doch nicht hinein. Dieser Stadt, schwankend und tänzerisch über dem Dreiflüssetal, wie sie der Donaumeister Lautensack stach. Und aus den Versen des anderen Lautensack, des jungen Lautensack, strömt die Essenz dieser Landschaft zu mir her und den funkelnden Schoppen halt ich hinauf, empor zu Oberhaus, hinüber ins Adalbertstifterland, schwenk ihn und schütt ihn hinab zu Donau und Inn und Ilz.
In: Das Tagebuch, 4, 1923
Die verwegene Marion
Die Wasenmeisterei liegt auf einem Hügel vor der Stadt, dem Galgenberg. Die Straße, die beim Tor den schweren Panzer des Pflasters abwirft, erklimmt in kurzen Sprüngen die Kuppe, wo ein schwarzer Zaun aus Eisenlanzen das Gehöft feindselig verstachelt. Verwachsene Bäume und von ekelhafter Blattkrankheit zernagte, niedere Büsche umkreisen wie lauernde Hunde das Haus. Marion ging fast täglich diesen Weg. Nie waren die kleinen Fenster geöffnet, und als sich einmal die dunkle Türe knarrend drehte, schnell schloß sie sich wieder mit dem Geräusch eines zuspringenden Taschenmessers hinter der Frau, die ein Kind (oder war es irgendein Tier?) an die Brust drückte. Der Versuch mißlang, dem Abendspaziergang eine Richtung zu geben, daß er sie nicht vorbeiführe an dem verpesteten Garten. Ein dunkler Wille, dem sie sich mit geringem Sträuben unterwarf, trieb sie verschlungene Wege, die alle wieder einbogen in die große Straße. Dann legte sie die Stirn an die kalten Eisenstangen, klammerte sich mit den kleinen Händen fest und roch lange den süßen und faden Geruch, vor dem sie sich ekelte.
Ihr Bräutigam Otmar, der Afrikaner, war, wie stundenlang an jedem Tag, mit seinem weizengelben Schnurrbart beschäftigt. Die Medaille und das Verdienstkreuz, die er sich bei der Niederwerfung des Hereroaufstandes erfochten hatte, sie klirrten über seiner linken Brustwarze, auch wenn er sie, wie jetzt, nicht trug. Er neigte das Ohr und horchte auf das feine Klingeln. Dann, im Wirbel der Fingerspitzen die Schnurrbartenden schleudernd, stellte er an seine Braut die Frage, die er, weil ihn das Ungewöhnliche wieder einmal sehr bedrückte, jetzt und sofort stellen mußte: Muß es bei Marion bleiben? Er hätte lieber Maria gehabt. Aber sie nickte nur ein verträumtes: Ja. Die gebräunte rechte Hand mit der Narbe tändelte noch immer an dem längsten der Barthaare und im Zerren schien es noch länger zu werden und immer länger, die linke jedoch lag regungslos auf dem weißen Tischtuch wie ein Tier. Er spreizte die Finger und sie erschrak, als er sie zur Faust schloß. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, eine Mücke oder blauglänzende Fliege säße gefangen im Innern. Spielend entknüpfte sie seine Fingergelenke und war fast betrübt, als kein Insekt surrend aufflog. Sie fiel ihm um den Hals und küßte ihn stürmisch. Wenn im Straßengraben unter versprengten Roggenhalmen eine hochstielige, blutrote Blume aufwächst, mit schwarzen Negerhaaren an dem Bindfadenstiel, so meint jeder, die lampionrote Kitschblume mit den papiernen, schlappen Blättern sei etwas ganz Besonderes. Und wenn des Afrikaners Braut in Selbstbetrachtung und im unruhvollen Insichselbstversenktsein die flache, trockene Wiese ihres Daseins überschaute, so schwankte das schwanenhalsige, blutrote Gewächs des Namens Marion verwegen darüber.
Der Herbstabend stand breitbeinig am Horizont, ballspielend mit den runden, weißen Federwolken. An einem Baum gelehnt, träumte Marion in die Landschaft. Die versank um sie und nur die Wasenmeisterei blieb, ein riesiges Schiff mit schwarzen Wänden. Ein Schrei, dünn wie ein siebenmal geschärftes Messer, sprang empor und gegen den Himmel. Der Schrei des guten Tieres, vom Metzger blind gemeuchelt, raste um die Erde. Alles, was in Ketten lag, spürte Verzweiflung und die Sichel des Monds blutete auf im Rot des Rubins. Marion, süß gepeinigt von dem Schrei, warf die Arme in die Luft und hetzte hinunter in die Stadt, die sich schon im Dunkel verkroch. Aus den feuchten Gassen glaubte sie Kröten und Molche im Funkelzug ihr entgegenwallen zu sehen. Sie scheute sonst vor der Berührung der schleimkalten Tiere wie das Pferd vor einem weißen Blatt Papier, aber heut bückte sie sich, um einen steingroßen, grasgrünen Frosch aufzuheben und an die Wange zu drücken. Es war aber kein Froschprinz und bloß ein froschgroßer Stein.
Daß die Rechnungsrätin im ersten Stock den kranken Spitz weggeben wollte, erzählte Marion, und daß die weißhaarige Dame sie gebeten habe, das Tier zur Wasenmeisterei zu bringen. Sie wand die Finger ineinander, daß sie schmerzten. Otmar zögerte. Warum willst du es nicht? fragte sie. Sie drückte ihren Kopf gegen sein Kinn und unter seinen Händen spürte er ihre Brust und da sagte er keuchend: Ja. Und während das Mädchen einiges, und beileibe nicht alles, dem Bräutigam erlaubte, der wie ein Schatzgräber den Batist durchwühlte, flog ihr leichter Sinn wie eine Flaumfeder auf und fort und wiegte sich wie ein Engelskopf vor den Fenstern des Galgenhauses. Aber die Fenster waren trüb und fliegenkotbespritzt und die Flaumfederseele schaukelte wieder zurück und Marion sagte entrüstet: Otmar! Er ließ es sein und auch sie glaubte an ihre Jungfräulichkeit, die unbezweifelbar vorhanden war. Der Kerl, der Wasenmeister, hatte ein lilienweißes Gesicht, das wie ein Löschblatt war, leicht aufgefasert. Den Hund hob er hoch am Genick und da hing er wie ein leerer Sack, zusammengetröpfelt im Zipfel der Rest der Körner. Marion schloß die Augen. Auf feuerfarbenem Grund sah sie einen schwarzen Stern aufblühen, der silbern verbrannte. Der Wasenmeister riß die Tür wieder auf.
Er lehnte sich mit hängenden Armen über seinen Zaun, ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen und sah dem eilig und schwankend davongehenden Mädchen nach. Nun war ihm selber wie einer Katze zumute, nur schnurren konnte er nicht. Sein Buckel wurde regenbogenkrumm und das Fräulein lief wie eine weiße Maus vor ihm und wie er zuschnappte, hatte er in einen rostmürben Zaunnagel gebissen. Den Nagel ließ er los und dort sah noch das Fräulein
Zwischen blitzenden Spiegeln saß des Afrikaners Braut und bürstete ihr Haar. Auf den Fußspitzen trippelte sie zur Kommode, hob Otmars Bild und küßte es. Zärtlich betrachtete sie seine Orden und sah in der Steppe den durstmatten Geliebten. Der ging eben durch die hallenden Straßen der kleinen Stadt und als er unter einer Laterne einen kohlschwarzen Kater buckeln sah, blieb er stehen. Schwarzer Teufel, redete er ihn an, aber der Kater schlug einen Kreis mit dem Schwanz, drehte sich und tigerte davon. Schwarzer Teufel, rief ihm Otmar nach und schritt dann versonnen und versponnen nach Haus und spürte ein Zucken im Herzen und wußte nicht was das bedeuten sollte, aber es war Marions Kuß.
Die Katze sträubte sich unter ihrem Griff. Marion sah sich um. Niemand hatte den Diebstahl bemerkt. Sie streichelte das schwarze Fell und einen tiefen, summenden Ton geigte das arglose Herz. Das milchweiße Gesicht des Wasenmeisters ging wie der Mond im Dämmer des Türrahmens auf. Und wie der Mond, der etwas Lustiges sieht, anfängt, die Lippen breit zu ziehen und zu grinsen und gelb und schallend zu lachen, so wurde das Gesicht des Kerls rund und prall und pausbäckig. Er nahm den Kater und schmiß ihn durchs Fenster, daß er mit steifgehobenem Schwanz durch den Garten und davonsauste. Dann tat er, was das Fräulein aus der Stadt offenbar von ihm erwartete, und es war nicht anders als sonst auch bei Dienstmägden, nur daß er hier noch Geld bekam, aber das wäre nicht nötig gewesen.
Die Tür schnappte nach ihr. Die Büsche bogen die Arme zu schamlosen Gebärden. Die Straße lief, flog und schwang sich sausend in die Stadt. Wirbelnd wurde Marion mitgerissen.
Der hundeblutrote Klatschmohn in Marions Seelengärtlein schaukelte verwegen und lustig und listig und operettenhaft über den trockenen, sandgelben Roggenhalmen, die sich knarrend und knurrend rieben.
Dem Afrikaner hat sie natürlich nie etwas erzählt. Sie zog und zerrte mit ihm an seinem Schnurrbart und bald feinhörig wie er hörte sie das Klingeln der Orden, auch wenn er sie nicht trug.
An das Erlebnis mit dem Kerl, blutrot und wollüstig und ausschweifend und gleich einer Rauschnacht in Spanien nach einem Stierkampf, dachte sie noch manchmal zurück. Die heiße Gewürzsuppe noch einmal aufzukochen, fiel ihr nicht ein. Sie hatte ja jetzt ihren Otmar und wenn sie beide abends aus dem Fenster schauten und ein kohlschwarzer Kater buckelnd über die Straße lief, sagte der Afrikaner: Schwarzer Teufel, und legte sich mit seiner Gott sei Dank weißen Marion ins weiße Bett.
Und die weiße Marion aß das kräftige und nahrhafte Roggenbrot mit Appetit, zermalmte es knallend zwischen ihren gesunden Zähnen und würzte es mit dem betäubenden Mohn der Erinnerung.
Schließlich hatte sie keinen weiten
Horizont und einer anspruchsvolleren Frau hätte dies eine Abenteuer nicht genügt, den Abendhimmel der Ehe magischrot zu überglühen.
In: Vers und Prosa 1, 1924
Unter dem Titel Mohn oder Das verwegene Fräulein
wiederum stilistisch verändert in: Jugend, 34, 1929
Der Kolonialfeldwebel
Der aufgeschwemmte Doktor, er erzählte einmal, daß er zehn Jahre im Sattel gesessen sei, bei Expeditionen, der spitzbärtige Doktor, der in der kleinen Weinstube oft am Nebentisch sitzt, berichtete auch diese Geschichte.
Ein deutscher Leutnant von Adel hatte sich für zwei Jahre Urlaub geben lassen, um, ich glaube, türkische Dienste zu nehmen. Es war irgendein Kolonialkrieg, ich hörte immer nur Fetzen von des Doktors Reden, der Oberbefehlshaber, ein General, war Engländer. Wenn ich recht verstanden habe, hielten die Italiener den Gegenpart. Der deutsche Leutnant, da unten war er natürlich gleich Oberleutnant geworden, hatte für die zwei Jahre den Namen Schwertlein angenommen. Von seinen Vorgesetzten war ihm das nahegelegt worden. Man wollte nicht einem Staat, mit dem man im Bündnis sich befand, Gelegenheit zu der Beschwerde geben, daß Offiziere des Bundesgenossen: kurz und gut, der Oberleutnant hieß nun Schwertlein, verrichtete stramm seine Obliegenheiten, und die waren weniger kriegerischer Art, bestanden vielmehr darin, Farbige zu exerzieren, Forts anzulegen, Straßen zu bauen – alles im Angesicht des Feindes, der mit ähnlichen Arbeiten sich beschäftigte. Nur selten beschoß man sich ein wenig.
Nun gab es da auch einen alten englischen Unteroffizier, einen Feldwebel, einen recht gewöhnlichen Patron. Er war ein Kolonialsoldat mit viel Erfahrung, zu allem zu gebrauchen, mutig, aber mit Umgangsformen, die den Verkehr mit ihm nicht leicht machten. Er war Feldwebel, wie gesagt, und aß mit den Offizieren am Kasinotisch, wo der General an der Tafelspitze saß.
Irgendeinmal nun geriet der Oberleutnant Schwertlein im Verlauf einer dienstlichen Auseinandersetzung in Streit mit dem Engländer. Der Mann der rauhen Sitten wurde ausfallend, gebrauchte wohl auch Wendungen, die ein Kavalier und Offizier auch in der Erregung vermeidet. Schwertlein wandte ihm den Rücken. Abends berichtete er dem General von dem Zwischenfall und erklärte ihm, er sehe sich genötigt, ihm zu melden, daß er den Feldwebel zum Zweikampf fordern werde.
Der General dachte ein wenig nach. Dann sagte er: Es gelten hier die Gesetze des Landes. Das wissen Sie. Wenn Sie zum Beispiel, den Feldwebel erschießen, haben Sie für sein Leben seiner Familie den Preis von dreißig Kamelen zu entrichten.
Der Oberleutnant hatte die Absätze zusammengenommen und aufmerksam zugehört. Er erklärte dann aber, er denke gar nicht daran, dreißig Kamele zu bezahlen, wenn er nur eines erschieße.
Damit fiel die Forderung unter den Tisch. Auch tat der Feldwebel beim nächsten gemeinsamen Mittagessen ganz unbefangen, und die beiden vertrugen sich wieder leidlich. Er war übrigens ein tapferer und tüchtiger Mann, der Feldwebel, nur eben ungeschliffen.
Als einmal abends viel getrunken wurde, ging er eine Wette ein, er werde beim Mondschein so nahe an das italienische Fort herangehen, daß er es im Lichtbild festhalten könne. Er trank noch einen kräftigen Schnaps, nahm seinen schwarzen Kasten und ging. Es war schon gegen Morgen, knapp vor Dämmerung. Er wartete wohl zu lange, bis es schon heller Tag war und die italienischen Posten ihn erschossen.
Seine Leiche holte man am Abend und begrub sie mit allen militärischen Ehren. Das Fort hatte er richtig noch auf der lichtempfindlichen Platte. Der General kam drei Tage nicht zum gemeinsamen Tisch, ließ sich das Essen auf sein Zimmer bringen, um der Trauer über den gefallenen Landsmann Ausdruck zu geben.
Der dicke, spitzbärtige Doktor vom Nebentisch, mit den kleinen Händen, sagte noch einmal bestätigend: Es war ein mutiger Kerl, bloß eben ein Rüpel.
In: Frankfurter Zeitung, Nr. 44, 16.6.1924
Der trunkene Kutscher
In einem gedrungenen, von Blut prall vollen, in einem behenden und fiebernden Gebilde aus zehn Sätzen will ich zeigen, an dem Versuch mich selbst erprobend, daß ohne Bedeutung ist, ohne Gewicht und Wert das »Was«, daß nur das »Wie« Farbe und Form und Glanz gibt und Atem, aus sich selbst zu leben wie ein schönes Tier. Wenn ich sage, daß ein Wind sich aufgemacht hat und viele Wolken eilig über den Himmel hin schaukeln – wie gleichgültig ist das »Was«, dieser alltägliche Wind, diese grauen, wässerigen Wolken! Aber wie ich’s sage: muß man nicht die Hände in die Hüften setzen und unendlich sich mitwiegen? Es steht die Sonnenblume hinterm Gartenzaun. Wenn ich will: seht ihr sie nicht groß und rund und feurig wie ihre ferne Schwester in Blau? Ich will bebende, springende, tanzende hundert Worte schreiben – was gilt mir das »Was«? Ich hebe die Augen: Ein Fenster.
Beginne, kleine Magie:
Das Fenster löst sich in der Dämmerung los
Und schwebt, ein funkelnder Kristall,
Sylphidenhaft und jeder Schwere bloß
Verzaubert durch den Saal.
Dreht sich und schaukelt wie aus Glas ein Ball,
Daß jede Fläche blankes Silber spritzt
Vom Licht, das süß im Achsenschnittpunkt sitzt:
Schwebt, steigt und sinkt und platzt mit leisem Knall.
Die petroleumduftende Spalte einer Tageszeitung erzählt: Ein Bauer fährt durch den Wald, wird ohnmächtig. Da er erwacht, liegt er am Boden und Pferde und Wagen sind fort. Seht ihr die Augen des Bauern? Groß, weit aufgerissen, in den Wald hinein glotzend. Nun hebt er den Arm. Vorn dran sitzt wie ein Stein die Faust. Wird er fluchen? Tobend den Forst erfüllen mit rauhem Schall? Jedenfalls, er hebt den Arm. Und fährt nicht eben jetzt ein Dieb peitschenknallend über Land?
Ihr meine zuckenden, springenden, fiebernden zehn ist’s nicht gleichgültig, an welchen Wagen ich euch spanne? Daß ihr zieht, ist schön! Wie ihr die Beine setzt, hebt mir das Herz! Ein Peitschenknall über euch hin! Holla steh‘ ich taumelnd am Bock? Was ist schöner, als ein trunkener Kutscher zu sein?
In: Frankfurter Zeitung, Nr. 444, 17.6.1925
Hol über!
Es war im September und das sah man dem Waldweg an. Vor Tagen war Regen gefallen, davon hatte der Wald viel getrunken, und wie im Schnurrbart des Säufers Tropfen und Glitzerfäden hängen bleiben, so zeigte der Weg, und der ist in diesem Vergleich der Schnurrbart des Waldes, feuchte Stellen, flache Mulden, in denen gelbes Wasser am Verschlammen war. Die Nadelbäume, denn es war der Nadelwald meiner Heimat, meiner Donauheimat, standen spitz und unangreifbar, dunkelgrün, auch grau, und die roten Fliegenpilze, viele waren zu sehen, leuchteten wie Blutstropfen. Aber sie hatten nichts Erschreckendes, diese dunkelroten und braunroten versprengten Bluttupfen, sie hatten etwas Fröhlichmachendes. Es war wie das Blut im Märchen. Das ist ein roter Saft, an dem uns nur die lustige Farbwirkung erregt. Es ist Märchenblut eben, und wie Märchenbluttupfen waren die Fliegenpilze im feuchten Moos. Nun, ich ging meinen Weg, hörte einen Vogel flattern und sah am dünnblauen Himmel, an dem Längsstreifen dünnblauen Himmels, den der Weg ausschnitt, die eine oder andere weiße Wolke.
Noch fünf Minuten und der Wald mußte aufhören, der Weg nicht, der mußte weiter laufen, und noch ein Stückchen bergab durch eine Wiese und zur Donau und zur Donaufähre. Es waren jetzt wohl an die zehn Jahre, daß ich zuletzt diesen Weg gegangen war. Wie rief man, stand man am Ufer, und die Fähre schaukelte am andern? Hol über! rief man. Hol über!, das gefiel mir auf einmal ausnehmend, und ich sah mich auf einem Pferd sitzen, einem Rappen, oder besser einem Apfelschimmel, und ein Schwert hatte ich wohl auch an meiner Seite und: Hol über! schrie ich, als sei ich im Zug der Nibelungenliedritter und zöge nach Ungarn hinab und stünde an der Donau und riefe dem trotzigen Fährmann.
Ich fing zu traben an, da blieb auch schon der Wald zurück mit den Fliegenpilzen und die Wiese lief hinab und da floß die Donau. Breit und grün floß sie, und da stand die Fährmannshütte. Rund legte ich die Hände um den Mund, den ritterlichen Holüberruf über die breite Wasserfläche zu schicken und – ja, da stutzte ich und tat die Hände herab. Denn an der Hütte hing unter einem Schutzdach ein braunglänzendes Kästchen und an dem Kästchen an einer Schnur ein Hörrohr und es war ein Fernsprecher.
Ich hängte aus, eine Stimme sagte: Gleich komm‘ ich, und schon sah ich drüben den Fährmann aus seinem kleinen Haus treten. Bald drehte sich die Seilfähre in der Donaumitte und dann landete sie bei mir. Der bärtige Fährmann stieß ab, ich zahlte, war drüben, der Strom rauschte, und ich ging meinen Weg weiter zur Bahnstation. An das Nibelungenlied traute ich mich nicht mehr zu denken, und ich ging zu Fuß und ritt nicht auf einem Apfelschimmel.
Der Zug mußte in ein paar Minuten einlaufen. Mit mir wartete auf dem Bahnsteig ein Mönch, ein Kapuziner, ein junger Mensch mit fliegenpilzroten Wangen, der ein braunes Köfferchen in der linken Hand trug. Im Zug kamen wir nebeneinander zu sitzen. Wir waren allein im Abteil. Auf der nächsten Station hatten wir einen ungebührlich langen Aufenthalt. Da klappte der braune Kuttenmönch mit den Fliegenpilzwangen das Köfferchen auf, eine Reiseschreibmaschine glänzte schwarz. Ein Blatt Papier war noch eingespannt zwischen den Walzen und der Mönch begann zu schreiben. Es klapperte wie eine fleißige Mühle.
Ich sah aus dem Fenster. Im hintersten Wagen wurde Vieh eingeladen. Ein Kalb sträubte sich, stemmte sich mit allen vieren und brüllte ängstlich.
Ich lachte. O Nibelungenlied! Wir leben etwas später. Und da sah ich fröhlich zu dem Mönch hin. Aber der blickte nur streng auf seine Tasten.
In:
Frankfurter Zeitung, Nr. 640, 27.2.1925
Das Initial
In einem niederen Ledersessel zu sitzen und Kaffee zu trinken und ein Buch in der Hand zu halten, ein aufreizendes, begehrlich machendes, ein fieberndes Buch und an den Wänden; ringsumher an den Wänden Bücher, Bücher, Bücher, braune, rote und gelbe Streifen zusammengewachsen zu einem großen Tier, das dampfend lauert und gestreift ist wie ein Tigertier! Der Kaffee rinnt wie Gift in die Fingerspitzen, in die vordersten Fingerspitzen, daß sie beben und ich dürfte kein glattes, hautweißes Blatt Papier mit den Fingerspitzen betupfen, sonst gäbe es braune Flecken, so sitzt mir der Kaffee in den zitternden Fingerkuppen. Aber das Buch, das ich lese, das hitzige, brandrote, schwelende Buch wird von dem Gift nicht gefärbt. Ich darf einen wilden Wirbel auf dem Deckel schlagen, einen Fingerspitzentriller, einen rasenden Nägelparademarsch, es färbt nichts ab. Oft klapp ich schnell und schnappend zu, daß eine grelle Lohe, die zwischen zwei brennenden Seiten herausfahren will, erstickt, bevor sie mich und das Zimmer und das große Büchertigertier versengt und verascht.
Auf dem Messingaschenbecher aber schlägt ein Hahn die Flügel, kräht mit krummem Schnabel lautlos und das Tigertier faucht den Vogel an mit den Messingfedern. Der flattert und flügelt und sperrt den Schnabel zu seinem lautlosen Gekräh.
Ich habe kein Gewicht mehr, ich schwebe, wie ich nun wieder eine Tasse leere. Der Hahn ist auf den Kastenrand geflogen und wie eine stumme Trompete schmettert er sein Kikeriki. Ich will dir die schönen, langen Federn ausreißen und dir den Schnabel stopfen und dem Tiger will ich mit der längsten und buntesten Feder den blutroten Rachen kitzeln, daß er seine Glühaugen rollt und mit dem Schwanze schlägt und wie ich lachend zwischen dem gerupften Messinghahn und dem gereizten Tiger inmitten und in der blauen Luft schwebe, schenke ich mir noch eine Tasse ein.
Das große Buch liegt aufgeschlagen vor mir wie vor dem Priester in der Messe das große, steinbesäte Buch. Ein Satz daraus sticht mir ins Gehirn wie eine brennende Nadel und dem Nadelstich folgt ein Pfeilschuß und noch einer schwirrt und noch einer und mit zitternden Schäften stecken sie in mir. Und der Gockelhahn kräht wieder lautlos und der Tiger funkelt und nun ist auf einmal mein Herz aus Glas und alles an mir ist aus Glas und die Pfeile können mir nicht mehr an, prallen ab und mit den Füßen werf ich sie raschelnd durcheinander wie Streu und gellend darüber kräht flügelschlagend der betrunkene Messinghahn.
Eine Frau im gelben Gewand öffnet die Tür und steht an der Schwelle mit weißen Blumen im Strauß und ich ruf ihr zu: Draußengeblieben, du Tote! Siehst du nicht, daß hier die weißen Blumen gelb werden wie dein gelbes Gewand? Nun wird die Frau traurig, aber das mag ich nun gar nicht und mit einem Sprung sitz ich neben dem Hahn auf dem Kasten, schlage mit den Flügeln wie er und krähe: Hinaus!
Die Frau geht auf die achte Seite des Buches zurück. Ein rundes, geblähtes O nimmt sie auf. Tief durch das Buchstabenportal geht sie, wird kleiner und kleiner und verdämmert im rötlichen Dunkel.
Wie sich die Isar grünschäumend an der Brücke bricht! Sie kommt vom Gebirge und haut mit platschenden Händen, mit derben Gebirglerpratzen an die Pfeiler. Das spritzt bis zu mir herauf, frisch wie Eis und der Kaffeedunst steigt aus meinem Kopf und kräuselt sich zu kleinen Wolken und steigt und die Vögel, die durch diese seltsame Abendwolke streifen, taumeln und verfehlen die Brummfliege. Aus den Anlagen kommt die Lebendige und ihr gelbes Kleid flattert diesmal wie eine Fahne beim Einzug des Kardinals. Tief in das Grün der Sträucher und wippenden Büsche dringen wir und wie ihre Lippen den Seufzer formen, seh ich das kreisrunde Rot, rund wie das Buschrund, das hinter uns zusammenschlägt, während wir atmend und liebend verdämmern im Initialkreis des O.
In: Romantik, 6, H.1, 1924/25
auch u.d. T. Beim lautlosen Krähen des Messinghahns.
Das stelzbeinige E
In der Oberrealschule, die ich besuchte, hatten wir, es war in einer der unteren Klassen, ja, ich weiß es genau, es war die dritte Klasse, ich weiß es genau, weil ich sie zweimal durchlief, nicht durchlief, durchstolperte (was gab es da an Hindernissen, Fallgruben, Wolfslöchern, Fußangeln, Drahtverhauen, Fangnetzen), in dieser dritten Klasse also hatten wir einen Lehrer für Deutsch, der war sehr durchschnittlich begabt und tat uns auch nicht viel zu Leid, man durfte ihm nur in einem Punkte nicht wehe tun, da war er empfindlich wie ein Pferdemaul gegen Hornissenstiche. Und das war so, es klingt unglaublich und komisch, aber es ist wahr, er verlangte, daß man, wenn man den Buchstaben e, das kleine e, das kleine deutsche e schrieb, daß man da den zweiten E-Strich etwas kürzer machte als den ersten. Das war früher allgemein üblich gewesen, alte Leute tun es heute noch, aber zu unserer Zeit war das schon nicht mehr Sitte, aber er, der Deutschlehrer, er verlangte es von uns. An der schwarzen Tafel malte er uns das Muster-E hin, das beispielhafte, es sah ein bißchen hinkend aus, denn standen die E’s, die wir gewohnt waren zu schreiben, auf zwei gleich langen, festen Beinen unerschütterlich und stramm und ordentlich da, so glich das E, das er gebieterisch forderte, einem Invaliden, einem Stelzfuß, einem Kriegsbeschädigten, dem man das eine Bein unterhalb des Knies abnahm. Aber ihm schien dieses verstümmelte Zeichen besonders liebenswert, und wir Schüler, nun, wenn man nichts Schwereres von uns verlangte, das konnten wir leisten, wahrhaftig, und wir leisteten es.
Ich träumte viel damals, nicht nur im Schlaf, da träumt jeder, da träumte ich auch, auch mit offenen Augen war ich abwesend (wo nur überall!) und träumte davon, berühmt zu werden und wußte nur nicht recht, wie. Eine Spur mußte man von sich hinterlassen, irgendwas tun, was noch Jahrhunderte nachwirkte, und da kam mir der Lehrer mit seinem E gerade recht. Wenn ich, träumte ich, in allem, was ich schrieb, nicht nur in den deutschen Aufsätzen, nein, auch in allen anderen Arbeiten, in der Naturkunde zum Beispiel, in jedem Fach, ja auch in jedem Briefe, den ich an Freunde, an Verwandte schickte, in allem Schriftlichen, das ich aus der Hand ließ, das kurzbeinige E anwendete, so würde das Nachahmer finden. Da und dort im Land würden Leute aufstehen, die mir darin folgten. Meine Freunde konnte ich bitten, auch ihrerseits das umstrittene Zeichen nur in meiner Fassung aus der Hand zu geben. Und das würde ich mein ganzes Leben hindurch so halten, und wenn ich erst groß sein und Kinder haben würde, so war es ganz klar, daß die mir nachfolgten und das E malten wie ich, und die Kinder meiner Freunde würden es auch tun, und deren Kinder wieder, und so durch viele Geschlechter. Ich träumte davon, auch Lehrer zu werden und natürlich meine Schüler davon zu überzeugen, daß das Invaliden-E das einzig richtige, das einzig schöne sei, und von den Schülern würden wieder ein paar Lehrer werden dereinst, und unsere, die kurzbeinige Fassung verbreiten und vielleicht, wenn wir alle recht zusammenhielten, so konnte es gelingen, daß man auf dem ganzen großen Erdball das gleichbeinige E besiegte und im Triumph das alte, gediegene auf allem Papier zu finden war. Welch‘ ein Ruhm, dachte ich, das zu leisten, und sich zu denken, daß auf dem dicken, gelben Pergament, auf dem man einen künftigen Friedensvertrag niederschrieb, mein E, denn mein E war es nun geworden, glänzen würde! Und wenn die Weltgeschichte, träumte ich, wie man uns gesagt hat, das große Buch der Menschheit ist, in der von allen riesigen Taten wie in Stein gehauen, wie in Erz geritzt, erzählt wird, oder, wie man uns auch sagte, die Tafel ist, auf der goldene Lettern stehen, nun, zu den Lettern, sogar zu dem am häufigsten gebrauchten, gehört das E, und das würde in meiner Fassung ruhmvoll in die Jahrtausende schreiten.
Ein Kastanienbaum, blühte vor unserem Schulfenster, mit großen, fast handgroßen Blättern, dunkelgrünen, und mit vielen weißen Kerzen, die im Frühlingswind leise schwankten, und ein Vogel, ein Star, saß auf einem Ast, und pfiff, und ich träumte mir meinen Ruhm. Caesar ritt heran, goldgepanzert, mit kühnem Gesicht, und hinter ihm römische Kolonnen, in Viererreihen, in Sechserreihen, schauten kühn wie er, trugen den Adler an der Stange, der flog auf und rauschte, breitflügelig, um des Imperators blaugeäderte Schläfen. In einer Tonne saß der schmutzige Diogenes, Columbus fuhr in seiner Caravelle übers Meer, Napoleon hielt das fette Kinn auf die weiße, schnupftabakgebräunte Krawatte, Helden überall! Die Dichter sangen ihren Ruhm, schrieben Bücher, viele, viele Bücher, dicke und dünne, mit vielen, vielen Buchstaben, und hinter jedem Kapitel drein hüpfte und tanzte, wie auf der Dorfkirchweih nach dem Siebenjährigen Kriege, der gewesene Dragonerwachtmeister, der stelzbeinige Buchstabe E.
In: Frankfurter Zeitung, Nr. 45, 18.1.1926
Der nackte Engländer
Es ist ein braunes Buch, schmal, lang wie eine gute Männerhand, ein Viertel so breit, flohbraun, zwischen kaffeebraun und flohbraun, Leder der Einband, auf dem Rücken in Gold der Titel. Das Buch ist alt. Das sieht man an dem Braun, an dem edlen Braun, kein junger Einband hat diesen Ton. Und das Gold steht matt darauf, müde, altersmild, zart verwischt, und schlägst du das Buch auf, so siehst du gelbe Seiten, wachskerzengelbe Seiten, hast du weiße erwartet? Auf den wachsgelben, weizenfarbenen, honigglänzenden Seiten stehen Kolonnen schwarzer Lettern, nein, nicht schwarzer, grauer, dunkelmauergrauer, kellerasselgrauer Lettern. Lies nun! Du hofftest ein zärtliches, ein schwermütiges, ein spinnwebschwankendes Lied zu hören, aber da schlägt dir ein Tubaton
entgegen, ein wilder, Trompeten schmettern, Waffen fahren gegen eiserne Strickhemden, ah, Shakespeare! Es ist ein Band einer alten Shakespeareausgabe, es ist Othello und der König Lear und der Macbeth. Dieser Einband, fluchst du, und überfliegst eine Seite im Lear, und noch eine, und wie du bei der dritten bist, fangen deine Finger zu zittern an. Sie greifen fest in den Deckel, sie reißen, sie zerren und der flohbraune Einband, der edle Einband in Rembrandtbraun und Gold, flattert, braust schnatternd in eine Ecke, und du hältst den nackten Shakespeare in der Hand und freust dich und schreist, du mußt schreien, mußt laut und barbarisch und zimbrisch schreien über deinen entkleideten, abgehäuteten, entschuppten Mann. Bis deine Frau kommt und sich weinend zu dem Einband in der Ecke niederhockt und ihre Augen voll Wasser auf dich richtet, ihre Rehaugen, ihre Rotkäppchenaugen, ihre tropfenden. Tut’s dir jetzt nicht auch leid, du Urmensch, du Waldmensch, du Vieh? Aber du bist kein Waldmensch und hockst jetzt auch nieder, vor dem Rotkäppchen, Aug in Aug, und jetzt Mund auf Mund, wie glänzen die Tränen! Die linke Hand auf dem Rücken aber hält den nackten Engländer und schwingt ihn und Tränen hast du auch in den Augen, aber dein Herz innen, tief innen, kichert’s nicht?
In: Vossische Zeiteing, Nr. 46, 24.3.1926
Der Parlamentarier
Der neugebackene, Abgeordnete Andernacher hatte zum erstenmal parlamentarische Ferien, stieg am Morgen am Anhalter Bahnhof in Berlin in den Zug – und saß abends schon am heimatlichen Stammtisch, breit, hinter seinem Krug Bier, eine schwarze Zigarre im Mund, glücklich.
Und die Freunde fragten.
Der deutschnationale Freund, der sozialdemokratische Freund, der zentrümliche Freund – denn so verschieden waren die Stammtischbrüder gefärbt – sie alle waren neugiergespannt und huben an zu fragen: »Wie war’s?«
Herr Andernacher sog an der schwarzen Zigarre und erzählte: »Ich sag euch, das Reichstagsrestaurant, also pikfein!. Und, denkt euch…«
Der Deutschnationale unterbrach ihn: »Hast du Hindenburg gesehn?«
Herr Andernacher sagte: »Ja! Natürlich! Und denkt euch, im Reichstagsrestaurant . . . «, aber da fiel ihm hitzig der Sozi ins Wort und schrie: »Und den Scheidemann, hast du den auch gesehn, den Scheidemann?«
Herr Andernacher sog nachdrücklicher am Glimmstengel und bekam ein paar ungeduldige Falten auf der Stirn und brummte: »Ja, natürlich! Und denkt euch, im Reichstagsrestaurant gibt es . . . « Aber da fuhr der Zentrumsmann dazwischen: »Und den Doktor Wirth, den hast du auch gesehn?«
Da schlug Herr Andernacher auf den Tisch und war rot im Gesicht wie eine Sozifahne, und seine Zigarre dampfte wie eine Lokomotive, und er brüllte: »Ja, den hab‘ ich auch gesehn, und den Löbe und den Geßler auch, und wenn ihr nicht aufhört, mit eurer dummen Fragerei, so komm ich nie dazu, euch zu sagen, daß es im Reichstagsrestaurant unser Bier hier,« und er hob strahlend sein Glas, »unser Kulmbacher Bier gibt.«
Erschüttert griffen auch die drei Zuhausegebliebenen nach ihren Krügen, und gemeinsam sagten sie: »Prost!«
In: Völkische Bibliophilie, Nr. 31, 31.10.1926
Völkische Bibliophilie
Merkwürdige Dinge werden angepriesen in »vaterländischen« Zeitschriften. Nicht nur Hakenkreuze und gipserne Ludendorffbüsten und prima-prima Windjacken und schwarzweißrotes Fahnentuch.
O nein, auch Bücher!
Und sogar Lyrikbücher!
Und sogar unter der Schutzmarke: »Ein Theodor Körner!«
Nämlich: In einem Organ des »Treubund Schlageter«, des »Schlageterbunds« (das ist anscheinend etwas anderes) und des »Deutschen Volksordens« fordert man auf zu kaufen »das mannhafte Buch« von Fritz Kaiser:
Heilige Flamme glüh!!
Ein Heroldsruf an die deutsche Seele.
Und fügt hinzu: In einem seinem ehernen Geiste würdigen Gewand, mit echtem Goldschnitt ringsum, ringsum Mk. 6.
Wobei sowohl die beiden Rufzeichen hinter »glüh« als das doppelte »Ringsum« zwar rätselhaft, aber genau zitiert sind.
Aber was will man, wenn die heilige Flamme in echtem Goldschnitt glüht!
Heil!
In: Völkische Bibliophilie, Nr. 31, 31.10.1926
[Begräbnis]
Bei Kunstmalers, die mit mir Landleben genießen, im gleichen Haus, einen Stock höher, scheint geniale Unordnung zu herrschen.
Dafür sprechen vielerlei Anzeichen.
Zum Beispiel, daß der jüngste Sohn des Künstlerpaares, ein aufgeweckter, elfjähriger Junge, manchmal ebenso drollige wie treffende Bemerkungen über die elterliche Schlamperei macht.
Neulich, am See, spielen Mutter und Kind im Strandkies. Da bekommt die Malerin einen elegischen Anfall und sagt: »Hans, wenn ich tot bin, verscharrst du mich einfach hier im Sand!«
Aber der Junge wittert schon wieder die verhaßte Bohemewirtschaft und schreit ablehnend: »Nein, nein, Mutti, du wirst, wie andere Leute auch, ordentlich auf einem Friedhof beerdigt.«
Und wirft wütend einen Stein in den See.
In: Völkische Bibliophilie, Nr. 7, 16.5.1927
Der Gerechte
Auf der flimmernden Leinwand macht Chaplin seine heiter-traurigen Kapriolen, im »Zirkus« . Vor mir, in der Pause, fragt einer seinen Nachbarn: »Hältst du den Chaplin für einen Juden?«
»Dös siehst ihm doch an«, antwortet der.
Der Frager, der sich über Charlie schief gelacht hat, nestelt am Rockaufschlag.
»Was machst?« fragt der Nachbar nun.
»I will mein Hakenkreuz einstweilen in d’Taschn stecken. Wenn man mich hier sehen tät! In so einem Judentheater!«
Und er tut’s, und der Film läuft weiter, und läuft zu Ende, und Charlie geht’s schlecht, und er bleibt bedeppert allein zurück, der Charlie – und dann wird’s wieder hell im Kino, und der Hakenkreuzler steckt sein Hakenkreuz wieder an und spricht: »Für an Judn! Net schlecht! Gar net schlecht!«
Und stolz über seine objektive Haltung geht er ab, der Hakenkreuzler.
In: Völkische Bibliophilie, Nr. 49, 5.3.1928
Theater
Ich hab‘ einen guten Bekannten, der ist Heldendarsteller an unserm Stadttheater.
»Was wählst du denn diesmal?« frag‘ ich ihn, als ich ihn zufällig auf der Straße treffe.
»Einen Kommunisten«, erwidert er rollenden Auges. »Dieses morsche System verdient zerschmissen zu werden, daß darauf ein Bund freier und brüderlicher Menschen errichtet werde!« Er geht, und ich schau‘ ihm erstaunt nach.
Vierzehn Tage später stoß‘ ich wieder vorm Theater mit ihm zusammen. »Morgen«, sage ich, »morgen ist Wahltag. Du wählst also kommunistisch?«
Er sieht mich groß und abwehrend an. »Kommunistisch wählen? Die Herrschaft des Pöbels heraufführen? Nein! Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen! Man muß aristokratisch sein in diesem nivellierenden Zeitalter. Ich wähle deutschnational!«
Und geht, und läßt mich verblüfft stehen. Grad kommt der Charakterspieler aus dem Theater heraus. Wütend sag ich zu ihm: »Dieser Benckengrott! Vor vierzehn Tagen wollt‘ er kommunistisch wählen, und jetzt auf einmal deutschnational!«
Der Charakterspieler lächelt. »Vor vierzehn Tagen spielte er den Räuber Karl Moor! Aber gestern begannen die Proben zu Coriolan, und er spielt den großen Volksverächter!«
In: Völkische Bibliophilie, Nr. 7, 14.5.1928
Literatur
Ort des Gesprächs: Die Berninabahn. Sprechende: Zwei Ehepaare.
»Wo werden Sie denn in Zermatt wohnen?«
»Selbstverständlich bei Seiler; etwas anderes kommt doch dort gar nicht in Frage!«
»Sagen Sie mal, bei Zermatt gibt es doch irgend etwas ganz Bekanntes in der Nähe?«
»Sie meinen wohl die Teufelsbrücke?«
»Ach ja, von der hat sich doch mal eine Berliner Schauspielerin herabgestürzt!«
»Natürlich, das ging ja damals durch alle Zeitungen!«
»Aber da ist doch schon früher mal was passiert.«
»Freilich, da hat sich ja auch der Rechtsanwalt Hau heruntergestürzt!«
»So? – Sich selbst aber bestimmt nicht! Ich weiß nur nicht mehr genau, ob seine Frau, seine Schwägerin oder seine Schwiegermutter! Jedenfalls kamen sie alle drei irgendwie bei der Geschichte vor!«
(Sehr bestimmt hinter der Zeitung!)
»Nun natürlich doch seine Schwiegermutter! Übrigens war das aber gar nicht bei Zermatt! Soviel ich weiß, hat er sie in Rom irgendwo heruntergeworfen!«
»Ja, die Geschichte ist schon zu lange her, – aber eine Teufelsbrücke kam irgendwie darin vor!«
»Jetzt hat doch ein ganz bekannter Schriftsteller einen großen Roman daraus gemacht! Wer war’s doch gleich?«
Zögern und allgemeines Überlegen.
Endlich: »Ach ja! Kellermann hat doch ein neues Buch geschrieben, wo der Fall Hau drin vorkommt!«
»Spielt das nicht auch in Davos bei lauter Lungenkranken?«
In: Völkische Bibliophilie, Nr. 37, 10.12.1928
Lyrik
Ich hab‘ einen guten Bekannten, der ist Buchhändler.
Bücher werden heut wenig gekauft, wie man weiß.
Das paßt aber meinem guten Bekannten, der Buchhändler ist, nicht, das paßt ihm sogar ganz und gar nicht.
»Reklame, Reklame«, sagt er, »man muß Reklame machen!«
Und stellte Gedichtbücher in sein Schaufenster, und ein Plakat vor die Gedichtbücher, auf dem stand in grellroten Buchstaben: Man liest wieder Lyrik!
Vier Männer betraten nacheinander den Laden.
Der erste hatte lange Haare und sagte: »Man liest wieder Lyrik? Wollen Sie nicht auch meinen Versband ›Unter wandernden Wolken‹, bei mir im Selbstverlag erschienen, dazustellen?«
Der zweite hatte einen Stapel Bücher unterm Arm und sagte: »Man liest wieder Lyrik? Darf ich Ihnen antiquarisch diese Gedichtbände billig anbieten?«
Der dritte
kaufte eine Fahrradkarte der Umgebung Münchens und sagte: »Man liest wieder Lyrik? Sonderbare Menschen gibt’s!«
Der vierte war ein Stammkunde des Geschäfts und ein Wahrheitsfanatiker und sagte: »Schämen Sie sich, so zu lügen!«
Da nahm mein Freund, der Buchhändler, die Gedichtbücher und das Plakat wieder fort und stellte Detektivromane ins Schaufenster.
Davon verkaufte er auch wirklich binnen drei Tagen ein Stück.
In: Völkische Bibliophilie, Nr. 7, 12.5.1930
Der Georgsritter
Bei seiner Geburt bog die Mutter den weißen Hals zurück und starb mit einem lauten Schrei. Man mußte den Sohn vorm Vater verstecken, der ihn ermorden wollte, und so gab man Otto zu ländlichen Verwandten. Dort rauschten kellerschwarze Wälder, Wiesen grünten im Sommer und wurden im Winter weiß, und Hunde waren seine besten Spielgefährten. Als er fünf Jahre alt geworden war, holte man ihn zurück, weil sein Vater Hochzeit machte mit einer rundschultrigen Sängerin. Der Husarenoberst und Bräutigam glänzte wie eine große, überreife Himbeere am Ärmel seiner Frau. Sekt, den man Otto aus einem winzigen Glas zu trinken gab, machte ihn lachen, und lachend sah er, wie ein Herr im Frack, ein schwarzer Rabe, Früchte aus einer Schale pickte und davonflog. Später kam Otto zu den Kadetten. An den kalten Februarmorgen, im dünnen, schrägen Regen, an schwülen Augustabenden übten sie mit Gewehr und Säbel. Mit zwanzig Jahren trat er ins Regiment ein, und wurde wie durchschnittlich der Offizier, und trank in tiefen Nächten gemessen und immer unerschüttert Wein. Der Feldzug brachte ihm Auszeichnung. Er fing bei jenem Vorstoß, der in allen Zeitungen ausschweifend beschrieben wurde, den feindlichen Stab und seinen Führer, dem wichtige Aufzeichnungen in der Brusttasche steckten, und wurde daraufhin dem Könige vorgestellt. Der Krieg ging vorbei, der Friedensdienst begann wieder, und man sah dem ausgezeichneten Feldzugssoldaten vieles nach, selbst, daß er dicke Bücher las, Homer und Sophokles, alle antiken Schriftsteller und Abbildungen von den Gestalten griechischer Bildhauer um sich stellte. Dann lernte er Illa kennen, die das holprige Pflaster der kleinen Stadt verachtete und darum nur selten das Haus verließ und ihr Zimmer, in dem schneeweiße, betäubende Lampen brannten. Der Rittmeister hatte Otto bei ihr eingeführt. Illa rauchte viel, schlief wenig und spielte bis zum Morgengrauen mit ihrer neuen Puppe. Er machte sich zu ihrem Geschöpf und verbrachte den Winter nur in ihrer Gesellschaft, obwohl er ihr nicht näherkam und von ihrem Eigentlichen nicht mehr wußte als von dem blonden Fräulein, das ihm Tabak verkaufte. Sehr spät erst merkte er, daß Illa die Geliebte des Rittmeisters war. Er fuhr nach Berlin, erbat und bekam den Abschied von soldatischen Diensten, besuchte nun Vorlesungen an den Hochschulen, ging viel ins Theater und war ein regelmäßiger Kunde aller nächtlichen Vergnügungsstätten. Zwei Jahre ritt er so auf der pferdeköpfigen Woge des Großstadtlebens und war ein guter Reiter, und das Tier warf ihn nicht ab. Er stieg nur dann selber von diesem bockigen Gaul. Er spürte Ekel auf der Zunge und bebte vor Begierde, die Verwüstung seines Herzens mit der Verwüstung anderer zu rächen. Er mietete sich in einem Ostseedorf ein. Er war ein großer und schlanker Mensch von blühendem Aussehen und gefiel den Frauen. Sandelmaar hieß das Dorf, und alle Mädchen von Sandelmaar kannte er gut. Bis die Burschen des Ortes eines Nachts das Haus stürmten und den Verhaßten halbtotschlugen. Später ließ er sich in einer kleinen, süddeutschen Stadt nieder, führte ein zurückgezogenes Leben, beschäftigte sich mit Rosenzucht, übersetzte den Pindar, und die Gestalten griechischer Bildhauer glänzten immer noch um ihn. Er legte die Kleider seiner Jugend nicht mehr ab. Er ging noch in engen Hosen und weiten Röcken, als alles um ihn schon weite Hosen und enge Röcke trug. So wurde der alte Hauptmann eine allgemein bekannte und ein wenig komische Figur. Grauhaarig machte er noch eine Reise nach Berlin. Er stieg im besten Hotel ab, bestellte Schneider, Schuster und Haarkräusler und verwandelte sich binnen vierundzwanzig Stunden in einen modisch gekleideten, alten Herrn. Sein weißer Schnurrbart, sorgfältig gedreht, stieg lustig über seine geschminkten Lippen, und aus seinem Knopfloch nickte eine Blume, als er in einer vornehmen, kleinen Weinstube 5, zu Abend aß. Draußen brauste die große Stadt, schwoll die pferdeköpfige Woge des Daseins, und war er nicht ein guter Reiter wie je? Er zahlte, ging, die Bogenlampen sangen über ihm, ein Motorrad kam in scharfer Fahrt und knatternd die glänzende Asphaltstraße daher und auf ihn zu, und mit kühnem Helm saß der Jünglingsgott strahlend und lächelnd im Sattel. Er lief auf ihn zu, das große Auge sah ihn an, durchblitzte ihn, und den toten Alten zog man mit zerschlagenem Hinterkopf auf den Bürgersteig. Er hielt die Pindarübersetzung noch in der Leichenhand. Weil er Ritter des Sankt-Georg-Ordens war, wurde der Hauptmann Otto von S. mit militärischen Ehren zu Grabe getragen. Die Presse berichtete ausführlich über den feierlichen Akt und einmal an die kühne Tat, mit der er die Auszeichnung erworben hatte.
In Orplid, 3 H.2 Kurzgeschichten, 1926/27
Neue Fassung von Ariel.
27. Februar
(Im Englischen Garten)
Ich war im Englischen Garten. Nun, wie waren da die Wege? So waren sie: Gelb, nicht feucht, aber auch nicht trocken. So, daß man spürte, drunter saß Nässe, drunter war braune Erde, schnupftabakbraune, aber schwarze, nicht rabenschwarze, nein, vielleicht bauernpferdlederzeugschwarze. So waren die Wege. Und die Stämme der Bäume waren dunkel und glänzend, und die Äste trugen kein Laub, die vielen Äste, die schwarzen, weitverzweigten, krummen, geringelten, ineinander versponnenen Äste. Das war wie ein Netz einer Riesenspinne, eines ungeheuren, gigantischen Weberknechts, der fern saß, auf einer Wiese, einer lehmfarbenen Wiese, und spann und spann, ein Netz über den Himmel spann, ein schwankendes Netz, ein bebendes, nachgiebiges. Und wie nun war dieser Himmel? Nun, blau war er nicht, eher grau, aber ein Blau war hineingemischt, auch ein Grün, und so war er blaß und ohne Wolken und keine Vögel flogen unter ihm, nicht die flitzwippenden Schwalben, kein Wackelrabe. So war der Himmel, so waren die Bäume, so liefen die braungelben Wege und liefen um Wiesen, auf denen nackte Büsche standen. Gras war schon da, schon da, aber wie gefärbt! Gelbgrün, dünn, wie Haar auf dem Kopf eines alternden Mannes, welk, müd, hängend, erbarmungswürdig. Ja, so war der farblose Himmel, die kahlen, kalten Bäume, die dornigen Sträucher, die träg fließenden Wege. Aber dann verschob, dann verzog sich am Himmel, am Horizont etwas, riß etwas, es sah blau her, nicht groß, aber es war ein scharfes Blau, es sang Blau. Und hinterm Dornbusch, zu sehen war es nicht, aber zu ahnen, war ein klares, singendes Blau, ein Veilchenblau zu wittern. Und dann, all das Karge rundherum, das Bläßliche, Farblose, es machte nicht traurig, es machte nicht traurig, eher fröhlich, weiß Gott, eher fröhlich! Eher fröhlich machte es mich, im Englischen Garten, am siebenundzwanzigsten Februar.
In: Frankfurter Zeitung, Nr. 156, 27.2.1926
Indianischer Film
Jimmy, der gerissenste der Kuhhirten, ritt einen Apfelschimmel. Wüst klimperten seine Messingsporen. Dann war da noch ein Rappe. Aber der hatte einen Hahnentritt. Dann ein Brauner, ein schneeweißer Schimmel, ein Fuchs mit flachsgelben Büscheln an der Stirn. Sie trabten über die Ebene. Die runden Hüte stiegen und fielen. Ganz fern, ein blauschwarzer Streifen, eine blaufunkelnde Raupe, war Wald. Judith, das Farmermädchen, las in der Blockhütte die Bibel. Die Bibel war ein schweres, schweinsledernes Ding, gewaltig, und sie blätterte mit schmalen Fingern darin. Sie trat vor die Tür und der Wind riß an ihren Röcken. Sie schirmte mit der Hand die Augen. Sie sah die Männer nicht, die im anderen Tal ritten. Die Pferdebeine waren in unaufhörlicher Bewegung. Die Roßschweife flogen. Die Männer nahmen die Zügel lockerer und die Schenkel dichter ran. Das Sattelleder knarrte. Näher schob sich der Wald, die blaue Raupe, krümmte sich, zuckte. Die Gegend wurde steiniger. Der Rappe mit dem Hahnentritt blieb zurück. Aber Joe gab ihm die Stiefel-Eisen.
Das Geflecht der Vorgänge wird nun dichter geknüpft. An Baches Ranft lag die Rote Feder. Der Wind wehte durchs Gras und der Häuptling dehnte die Brust. An seinem Gürtel hingen Skalpe und der Wind wehte durch die Skalphaare, daß sie flogen wie die zittrigen Halme, daß sie flogen wie einst, als sie noch in lebenden Köpfen wurzelten. Es war noch derselbe Wind, derselbe lebendige Wind, aber sie waren nun wie Zwirn gedörrt, spröd, klingend wie Draht. Der Häuptling preßte die Lippen fest aufeinander und sein Blick jagte wie ein Adler. Aber er erjagte die Männer nicht, die im andern Tal ritten. Voran Jimmy, der gerissenste der Kuhhirten. Dicht hinter ihm Joe, der mit dem Stiefeleisen seinen Rappen mächtig vorantrieb. Mit geringem Abstand dann ein Brauner, ein schneeweißer Schimmel und ein Fuchs, mit flachsgelben, schlagenden Büscheln an der Stirn. Die Vorgänge verwirren sich weiterhin. Aber noch sind wir mitten in der Entwicklung. Der Kreis der Personen wird vergrößert. In einer großen Stadt des Westens verließ ein alter Herr das Wirtshaus. Automobile flitzten um die Ecken. Judiths Vater, der alte Herr, einen langen Bocksbart am Kinn, wurde überfahren, war tot, schrie nicht einmal mehr, der Bocksbart, tabakgebräunt, vergilbt, hing vom seitlich gedrehten Gesicht beschmutzt auf das Pflaster. Eine Verkehrsstockung entstand und ein Prärievogel, weit von der Ebene her, verirrt, sang verwirrt. Im fernen Tal ritten die Männer, Schenkel dichter ran. Die runden
Hüte fielen und stiegen. Die Zusammenhänge werden nun offenbarer. Der Knoten schürzt sich. Auf Seelisches einzugehen wäre notwendig, wird jedoch vernachlässigt. Judith, die Waise nun, wird von der Roten Feder geraubt. Vom Gürtel des Häuptlings flattern die Skalpe, übern Sattel wie ein Sack hängt das Mädchen, weint und die Tränen nässen die strohknisternden, die toten, die raschellustigen Haare. Der Indianer, der rote Räuber, der Weibfleischdieb bringt die Beute in sein Dorf. Vor dem Wigwam sitzt Judith traurig. Ihre sinnenden Augen sehen in die Ferne. Im andern Tal reiten die Männer. An der Spitze Jimmy, der gerissenste der Kuhhirten. Der Rappe, der Braune, der Schimmel, der Fuchs hinterdrein.
Eine Nebenhandlung wird aufgerollt. Licht aus der Vergangenheit fällt herein. Einst liebte die Rote Feder die Wippende Amsel, das schönste Mädchen vom Stamm der Waplahusen. Aber die weiße Judith, die elfenbeinerne, hat ihn mit Zauberei betört. Die Wippende Amsel, krummbeinig, Glühaugen unter sanften Brauen, sinnt auf Gewalttat. Judith, schon vaterlos, und weiß es nicht, hat einen Dolch im Nacken, und weiß es nicht. Massenszenen werden nun aufgeboten, Statisterie und Chor. Die Titiwapau haben das Kriegsbeil gegen die Waplahusen ausgegraben. Ein Waplahuse hatte den Schwanz eines Bibers auf einer Stange vor dem Häuptlingszelt der Titiwapau gehißt. Das ist die tödlichste Beleidigung, die einem Titiwapau zugefügt werden kann. Die Titiwapau tanzen den Kriegstanz. Ihr großer Medizinmann, die Funkelnde Ente, segnet ihre Waffen. Auch die Waplahusen bemalen ihre Gesichter mit grünen und blauen Farben. Sie zünden Feuer an und tanzen feierlich. Die Rote Feder ist Vortänzer, wie es die Vorschrift verlangt. Er tanzt und die Skalpe an seinem Gürtel wackeln, er schreit, und seine Krieger schreien mit und die Skalpe fliegen, daß die nackte Unterseite, vom Feuer beschienen, rot aufglänzt, rot wie ein aufgerissener Mund, als schrien sie mit.
Im andern Tal reiten die Männer. Die runden Hüte steigen und fallen. Fluchte nicht Jimmy? Wacker hielt sich der Rappe mit dem Hahnentritt. In der großen Stadt begrub man den alten, bocksbärtigen Herrn. Es regnete, und der Geistliche stand bis zu den Knöcheln im gelben Friedhofslehm, und so machte er es schnell. Die wenigen Zuhörer verliefen sich bald. Auf der Friedhofsmauer, wild durchnäßt, struppelfedrig, saß der Prärievogel und wagte nicht zu singen. Am Abend brach die Sonne durch, orangegelb. Die Kundschafter der Titiwapau waren auf die Vorhut der Waplahusen gestoßen. Die beiden Heere lagerten sich und riefen Manitu an, den Sieg zu geben. Am Büffetberg entbrannte die große Schlacht.
Es war an einem klaren Morgen, der Himmel war noch grün und eine Ziegenherde graste. Da pfiff der erste Pfeil, da sang der Speer, wie schrien sie, die Kämpfer! Die Sonne kam, die Ziegen galoppierten in eine Schlucht, wo es Wasser gab und fette Kräuter, und blieben dort den Tag. Abends wagten sich zwei freche Böcke, mit grünen Glasaugen, auf die Ebene hinaus. Mutwillig und verlegen hopsten sie über die steifen Körper der Toten. Sie grasten.
War das hart! Einer zerrte, riß, das krachte! Das waren nicht Halme, das waren Skalphaare am Gürtel der Roten Feder. Der Mond stieg auf. Die Rote Feder lag auf dem Bauch. Blutrot sah sein Schädel, sein skalpierter Schädel, ein dunkelroter junger Mond zum großen alten Mond am Himmel auf.
Nun biegt es rasch zum Ende ab. Die Männer, an der Spitze Jimmy, der gerissenste der Kuhhirten, langten am männerverlassenen, weibergekreischwiderhallenden Waplahusendorf an. Die Wippende Amsel hatte den Dolch hochgehoben, da schlug Joe das Zelttuch auseinander, da trat Joe ein, da richtete die Indianerin ihre Glühaugen auf den Reiter und ging ins Freie. Und dann trat Jimmy ins Zelt und dann hob Jimmy Judith aufs Pferd und dann ritten die Reiter in den Abend hinein. Die runden Hüte stiegen und fielen. Joes Hut war nicht mehr dabei. Joe band den hahnentrittigen Rappen ans Zelt und blieb bei der Wippenden Amsel und gründete mit ihr ein Mischlingsvolk, das von der Biberjagd lebte und das Christentum annahm. Jimmy und Judith machten ihre Hochzeitsreise zum Grabe des Bocksbärtigen. Und die Sonne ging auf und unter, der Wind wehte über das Präriegras und am Büffelberg weideten die grünglasäugigen Ziegen.
In: Frankfurter Zeitung, Nr.213, 20.3.1926
Regen
Hellblau, blau wie Vergißmeinnicht, Silber darin, solche Augen hatte das Mädchen im Kopf, und ein gelbes Puppenhaar hatte es, strohgelb, das goldwolkig um den Kopf stand, und Wangen wie rotgetuscht, und war elf Jahre alt und trug ein weißes Kleid und saß auf der Veranda des Tiroler Dorfwirtshauses, und es regnete seit Tagen schon, seit vielen Tagen, und der Regen rann in runden, klaren Tropfen von dem braunen, pechgetränkten Holz des Geländers. Das Mädchen hatte eine Zeitschrift aufgeschlagen auf den Knien, auf den schmalen Knien, und sah auf das eingeregnete Tal hinaus und auf die Berge, die schmutzig schafgrau waren und wie nasse Schwämme (keine Riesenfaust drücke sie aus!) und bog nieder den mageren Kinderhals, erbärmlich und fröstelnd, und besah den Anzeigenteil der Zeitschrift und betrachtete gespannt und plötzlich erregt, und ich sah ihm zu, die Anzeige der Schaumweinkellerei Mattheus Müller, die, weil man die Anfangsbuchstaben ihres Namens, weil man M. M. zwei verschlungene M. in den Linien jeder Handfläche eingezeichnet findet, dies als einen Grund begreift zu behaupten, die Vorsehung sozusagen habe bestimmt, daß der Mensch ausschließlich MM-Sekt trinke. Und die zartblauen Augen des Mädchens wenden sich auf mich, und der kleine Zeigefinger deutet auf die Anzeige, ich sehe das rosige Oval des Nagels glänzen, und mit klingender und klagender Stimme sagt es: Da steht, das Doppel-M in der Hand heiße Mattheus Müller. Und die blauen Augen werden noch durchsichtig er, und die Blondhaarwolke um den Kopf flammt, und die rotgetuschte Wange wird röter noch, und unser Religionslehrer sagte uns doch, das MM hieße, und nun nimmt es den Finger von der Anzeige weg und zeichnet das MM seiner Hand nach, das hieße, und das habe Gott in jede Menschenhand geschrieben: memento mori!
Tapptapp schlug der Regen gegen das braune Holz, über der Wiese war’s schleierfeucht wie Nebel, über die Straße trappelte naßhaarig eine Ziege, der das schwere Euter gegen die Beine schlug, und der blonde Haarkreis flackerte wie Strohgold. Klang ein Sektglas? Die klaren Tropfen am braunen Geländerholz waren wie Sektperlen, und das Tropfengeläut silberte zierlich wie eine Sterbeglocke. Ich betrachtete meine Hand und besah das MM und auch das Mädchen beschaute blauglasäugig das rosige Doppelzeichen. Es war elf Uhr vormittag, und jetzt schlug die Kirchturmuhr elfmal an, und der Ton ertrank fast in der Nässe, und die Berge waren wie platschvollgesaugte Schwämme, und wenn ein Riese sie jetzt ausdrückte, würde gelbes, moosgrünes, erdbraunes Waldwasser zu uns steigen und uns mitnehmen und mitschwemmen, wie der Bach hinterm Haus Hölzer und Blätter mitreißt.
Nur Frösche und Molche waren in diesen Tagen zufrieden.
In: Frankfurter Zeitung, Nr.596, 12.8.1926.
Salzburgiana
Ich war auch in Salzburg.
Und war auch im Café »Bazar« und trank eine »Teeschale Kaffee mit Schlag« und sah, wie der junge Thimig der Lady Diana Manners, der »Mirakel«-Madonna, die Hand küßte.
Hinreißend.
Und sah das Gerüst vorm Dom, wo Moissi bei schönem Wetter nachmittags um fünf Uhr als »Jedermann« schreckliche Sachen mitmachen muß.
Und ich stand vor der Winterreitschule, die jetzt Reinhardts gelbes Festspielhaus ist, und wo er »Turandot« aufführt.
Einen Mann im grünen Hütchen, einen Eingeborenen unzweifelhaft, fragte ich, wieso man dazu käme, diesen Berliner Komödie spielen zu lassen in einem Gebäude, wo man jahrhundertelang den Pferden die Hohe Schule beibrachte.
Der Eingeborene sah nachdenklich vor sich hin.
»Jo, Wissens«, sagte er dann, »jetzt, wo die Rösser so selten geworden sind, und olles Motorrad fährt!«
Und: »Nöt, hob i net recht?« fragte er vorwurfsvoll und doch auch stolz.
Die Festung Hohensalzburg aber sah grauglänzend auf uns herab.
Und ich saß auch im Peterskeller, trank den gelben Prälatenwein, der aus Ungarn stammt, und aß Salzburger Nockerln.
Am Nebentisch taten einige schwarzkuttige Mönche das gleiche.
Nur hatte ich eine Freundin mit. Sie nicht.
Dann zahlte ich, und weil ich nicht mehr genug Schillinge hatte, fragte ich den Kellner, ob er auch Mark nehme.
Ober jo, Herr«, sagte er, »Geld ist Geld, is olles ans!«
Er erschrak. Dann stand er stramm.
»Bloß der Dollar«, sagte er, »der Dollar…« und sah hochachtungsvoll aus.
Aber er ermannte sich wieder.
Und, nahm duldsam meine Markstückeln.
Nachdem er sich beim Zusammenzählen verrechnet hatte.
Die Kandelaber der Salzachbrücke tragen große, graue Milchglaskugeln. Das gibt ein schönes, gedämpfes Licht und sieht drollig aus. So wie Petroleumlampen vergangener Zeiten.
Ein Mann aus Norden konnte sich über diesen Anblick gar nicht beruhigen. Und er sprach zu seiner Frau: »Ne, ne doch, Mieze, det is ja das reinste Mittelalter!«
Und als er sich umwandte, stieg gerade der volle, rote Mond, glühend und atmend, zwischen den Bergen empor.
Der Mann aus Norden wich erschrocken zurück, hielt sich am Brückengeländer fest, sah den Mond an, sah vom Mond auf die Milchglaskugeln und wieder auf den Mond und sagte resigniert: »Das reinste Mittelalter! Da kommt wahrhaftig auch noch der Mond!!«
Die Salzach unten schäumte.
Und weil ich in das Innere des Landes vordringen wollte, zog ich genagelte Schuhe an und ging zu dem Bahnhof, wo ein Lokalbahnzug tief in die wüsten Täler des Gebirges geschickt wird.
Um
sieben Uhr dreißig sollte der Zug abgehen, las ich, und weil ich mißtrauischer Natur bin, fragte ich auch noch einen Beamten nach der Abfahrtszeit.
Der Hochbemützte war sehr höflich.
»Offiziell,« sagte er, und nahm das Wort sehr streng und feierlich, »offiziell geht der Zug um sieben Uhr dreißig ab. Wann er ober würklich fohrt, dös kann i net sogen!«
So sprach der höfliche Hochbemützte.
Und ein heiterer blauer Himmel wölbte sich österreichisch über uns.
In: Vossische Zeiteing, Nr. 205, 2.9.1926
Ein bißchen Salzburg
Es war am Samstag, den einundzwanzigsten August, in Salzburg, und abends gegen zehn Uhr, und ich kam vom Peterskeller, der einem kirchlichen Stift gehört, wo ein Mönch, die Kellner beaufsichtigend, die Kutte flattern läßt, und ging nun in die Stadt hinein. Im Peterskeller hatte ich einen gelben Donauwein getrunken. Ja, einen Donauwein, einen herben aus der Wachau. Weil ich selbst von der Donau stamme, aber von einem rauheren Strich, wo Wein nicht gerät, gelüstete es mich, einmal die Traube ihrer östlicheren Hänge zu kosten, und es reute mich nicht, sie schmeckte gut und ich trank manches Glas und ein Schuft, wer die Zahl noch weiß und verrät.
So ging ich in die Stadt hinein, am Dom vorbei, dessen Türme geringelt und verschnörkelt waren wie nur je tagsüber, und ging über den Residenzplatz, wo der Brunnen plätscherte und die steinernen Flußpferde schnaubten und niesten, und kam hinunter an die Salzach und auf die Brücke, wo die Kandelaber stehen mit den großen, weißen Milchglaskugeln, die ganz aussehen wie rahmglänzende Trauben. Da strich ein südlicher Wind, warm war es, die Salzach rauschte, und zwischen den Bergen stieg wahrhaftig der Mond herauf, fast Vollmond war es, am Abend des einundzwanzigsten August.
Der Mond war gelb, aber sein Licht sonderbarerweise bläulich, und bläulich färbte er alle Gesichter. Über die Brücke liefen viele Menschen, und jenseits der Brücke saßen viele auf Bänken am Ufer, Liebespaare auch, wie mir schien, weißgekleidete Mädchen, und dann kam ich auf einen Platz, da strömten aus einem Haus immer noch mehr Menschen, Herren im Frack und Damen in roten Abendmänteln, und es war das Stadttheater.
Und der Wachauer Wein macht verwegen und so schritt ich durchs Tor des Hauses, schob mich vorwärts, und plötzlich strahlte es rot und gold und mit Plüsch und mit Stuck und mit Gips, und ich stand hinter der hintersten Parkettreihe des Zuschauerraumes. Logentüren wehten halboffen, ein Häuflein Menschen hatte sich irgendwo zusammengeballt, das immerfort die Hände ineinanderschlug, und einmal standen auf der Bühne, vor dem Vorhang, eine Dame, weißgepudert, in einem seltsamen Kostüm und ein antiker Prinz oder so etwas, und die beiden lächelten süß und verneigten sich, und auf einmal war da auch noch ein hochgewachsener Herr im Frack mit einem roten Gesicht und mit weißen Haaren, die gut zu dem Rot der Haut paßten, und der Herr sah sehr vornehm aus, und auf einmal wußte ich es, daß es der Komponist Richard Strauß war.
Und weil ich den Komponisten Richard Strauß sehr mag, klatschte ich heftig und rief »Bravo! Bravo!« und »Strauß! Strauß!« und er sah mich an, groß an und verneigte sich, und dann ging ich ganz beflügelt wieder hinaus in die Stadt, in den südlichen Wind, auf die Brücke mit der Milchglaskugelbeleuchtung, über der immer noch der Vollmond brannte, denn es war abends gegen zehn Uhr, am einundzwanzigsten August neunzehnhundertsechsundzwanzig.
In: Vossische Zeiteing, Nr. 214, 12.9.1926
Die Geschichte von der goldenen Frau im Lechtal
Es war im Juli, ein heißer Tag im Lechtal. Wo das Dorf anfängt, räkelt sich der Rosenkranzhügel in der Sonne. Rosenkranzhügel, so heißt er von der kleinen Kapelle, die wie eine Warze auf ihm sitzt. Es ist kühl in der Kapelle und dunkel. Aber die Frau liebt die Hitze. Sie ist zwanzig Meter höher gestiegen, da bilden die Latschen eine runde Schüssel, drin liegt sie, auf dem roten Mantel, unbekleidet. Hat die Augen geschlossen, die Hände hinterm Kopf, und träumt. Das Lechtal flimmert, o, wie heiß! Die grauen Berge, der Schnee darauf sieht aus wie Watte! Nun brummt eine Hummel um ihre faustgroße Brust. Der Mann hat die Frau gesucht und gefunden, er steht und betrachtet sie. Braune Königin, denkt er, ja, das denkt er, braune Königin. Und kniet schon neben ihr, schlägt nach der Hummel. Die Frau öffnet die Augen, lächelt, schließt sie wieder und dreht nachgiebig das Gesicht unter seinen Küssen.
Aus Silber war der Lech und eisigkalt. Hui, schrie Karl, warf die Arme nach vorn und schwamm ein Stück, bis die Kälte tief in ihn drang. Er zog sich an; die Kiesel klirrten, auf der Veranda war der Tisch schon gedeckt. Auch Martha kam eben die Treppe herauf. Ihr Gesicht glänzte ihm entgegen. Als Nachtisch gab es Erdbeeren. Sie nahm eine große, rote zwischen die Lippen und bot sie ihm. »Du bist kitschig«, sagte er, und nahm sie. So waren sie Mund an Mund, und so zerdrückte er die Beere. Der Saft rann ihm und ihr übers Kinn wie Blut.
Stundenlang saß er oft auf dem steinernen Damm, der sich in gleicher Richtung mit dem Flußlauf hinzog, auf dem Damm, der jetzt untätig und zwecklos dalag, weil der Lech Niederwasser hatte. Die weißen, klobigen Steine erhitzten sich wie Bratäpfel, und in den Ritzen wuchs grünes Kraut von merkwürdigen Formen. Weiß, blau, grün waren die Farben. Stein, Himmel, Fluß und Wiesen waren so bemalt, und nur an den hitzigsten Tagen glühten sie feurig in einziges Rötliches zusammen. Einmal, spät am Nachmittag, klappernd flog ein unbekannter rotbrauner Käfer in Ovalen um ihn, saß auf den heißen Steinen auch ein Mädchen. Sie saß und hatte die Hände sanft auf die Schenkel gelegt. Ein dunkelbraunes, sonnverbranntes Gesicht hatte sie, mit einer niederen Stirn, auf die das Haar in einer schwarzlackierten Arabeske fiel. Der Mund war in einer mutwilligen Krümmung geschwungen, die Lippenlinien liefen wie aus Holz gedrechselt, kantig und so übertrieben, daß man ihn anstarren mußte. Sie saß, zehn Schritte von ihm entfernt, sah geradeaus, nicht ein einziges Mal her zu ihm, ganz gerade sah sie vor sich hin, und der Mund zuckte nicht, aber die krummen Lippenlinien liefen so überschwellend, daß er doch in ständiger Bewegung schien.
Sie war, so stellte sich später heraus, aus Innsbruck, ein Kindermädchen, sozusagen, allerdings eine Art von besserem Kindermädchen, und die gutgelaunte Dienstherrschaft ließ ihr nachmittags meistens zwei, drei freie Stunden, und immer saß sie die am Lech, am weißen Damm, geradeaussehend.
Und er nun, wie? er war stets vor ihr auf seinem Platz, starrte sie an, legte die Hände auf die heißen Steine, starrte sie an, den blauen Himmel, den grünschäumenden Lech und zupfte von dem Kraut die herzförmigen Blätter, rupfte sie alle weg, daß der nackte Stengel verdammt und unanständig grünkahl stand.
Wo die holzdachgeschützte Brücke über den Lech ging, saß er mit Frau Martha. Eine Kuh graste, die Glocke am breiten Lederband schallte. Und wie die Glocke friedlich und freundlich brummelte und läutete, und oft nur ganz zart anschlug, kaum zu hören, und das Gras knirschte unter dem rupfenden Kuhmaul, begann der Kampf. Er hatte ihm schon schmale Wangen eingebracht und Finger, die manchmal zitterten, und ihr einen unruhigen Blick. Das Gefecht verlief wie jedesmal unentschieden, aber es wurde von ihnen durchgekämpft, so, als ließe sich die Entscheidung erzwingen, sie keuchten und keuchend sahen sie auf den Lech hinunter, der mit Steinen spielte.
Wußten sie überhaupt noch, worum der Kampf ging? Sie nicht, sie gewiß nicht! Er wollte das Allerunmenschlichste und Sinnloseste, sie sollte sein wie Ton, wie weiche, feuchte Erde, und er wollte etwas formen, das unklar vor ihm stand und ihm klar sein würde, wenn es nur erst geformt war. Aber sie war nicht wie Ton, der nachgibt, sie war Stein, er konnte Brocken und Trümmer von ihr abschlagen, aber sie saß geformt schon neben ihm, und er war ratlos.
Über die Berge hingen Nebelkappen, der Regen lief, das Vieh stand unter den hängenden Zweigen der Fichten und brüllte unwillig. Aber die Brücke hatte ein hölzernes Dach, da drauf konnte der Regen trommeln, und Karl konnte auf den Lech hinabsehen, der sich gelb und braun färbte, auf dem Baumstämme drehend hinabtrieben und Buschwerk daherkam, das Wurzeln wie Arme streckte. Immer schneller schoß das Wasser dahin, stieg, und der weiße Damm, den man von hier aus nicht sah, er mußte jetzt fast überflutet sein und verschlammt, und das Innsbrucker Mädchen konnte nicht mehr dort sitzen und geradeaus sehen, mit der lackierten Haarlocke, arabeskenhaft und scharf in der niedern Stirn. Da kam Frau Martha, im Lodenmantel, und sagte nichts und schob ihren Arm in den seinen, und der Lech strudelte eifrig.
Aber auch der Regen hörte wieder auf, und die Sonne kam wieder, und der Himmel wurde wieder so blau wie je, und auch der Lech lief und lief, und eines Morgens glänzte er wieder grün und schäumte weiß. Der Damm war mit Astwerk überstreut, das sammelten Kinder als Brennholz, die Sonne brannte, und an einem späten Nachmittag saß das Mädchen wieder da und badete im Licht. Er blieb schräg vor ihr stehen und sagte: »Warm!« Sie veränderte sich nicht, und auch kein Rot stieg ihr in die Wangen, keineswegs färbte sich ihr Hals auch nur ein wenig röter, als sie sagte: »Ja« und »Gottseidank!«Er wagte es nicht, vor ihr stehen zu bleiben und ging rasch den Wiesenweg entlang und in sein Zimmer. Dort saß er am Fenster und wartete auf den Abend, der mit Mond und Sternen heraufzog, mit vielen klaren, kleinen Sternen und einem türkensäbligen Mond. Die Tür ging auf, und Frau Martha trat herein. »Warum«, fragte sie, »warum hast du dich den ganzen Nachmittag vor mir
verborgen gehalten?«Sie hatte traurige Augen, das sah er, aber um den Mund Zornlinien. Sonst sagte sie nichts. Es war die Stunde gekommen, wo er die Waffen streckte. Da war vor ihm die Frau, und er kannte jeden Zug ihres Gesichts und jeden Atemstoß, den sie machte. Er hatte mit ihr gerungen, Brust an Brust, Herz an Herz, und wenn sie nachgab, hatte er doch nur verloren. Er war ein dummer und besinnungsloser Mensch und wollte ihr die Brust öffnen und das Herz so setzen und die Lungen so und so die Leber und wollte ihr den Kopf aufschlagen wie eine Nuß und die Gehirnlinien so ziehen und so und immer anders als sie liefen. Aber da saß der liebe Gott und hatte das so gemacht, und dagegen kam er nicht auf.
Überm Lech, am andern Ufer, war ein kleines Wäldchen, ein Lärchenwäldchen. Es waren nur ein paar hundert Stämme, aber die waren so hochgeschossen, wie braune Pinsel, und mit den Wipfeln wischten sie den blauen Himmel. Unten war viel Moos und im Moos viel Erdbeeren. Die saßen geduckt unter den Blättern, nur ihr Rot verriet sie. Es waren dunkelrote, feuchte, klebrig-feuchte, zuckersüße, überreife, auch halbreife, die eine rosa Wange hatten und eine gelbweiße. Er sammelte auf ein großes, grünes Blatt ein paar Hände voll, bückte sich tausendmal und legte die rote Last auf des Mädchens Platz und wartete, bis sie wie gewöhnlich kam. Sie saß und sah die Beeren und aß sie langsam, eine nach der andern, und das leere Blatt nahm sie spielend in die Hand.
Frau Martha ging eilig die Dorfstraße entlang, ließ die letzten Häuser hinter sich, und vor ihr tauchte schon ein fremder Kirchturm auf. Da stieg sie schräg in den Wald hinauf und setzte sich, dann fiel sie um, lag lang ausgestreckt, als horche sie in den Boden hinein. Der Boden schwieg, sie drehte sich auf den Rücken, Wasser glänzte in ihren Augen, aber demütig konnte sie nur sein, wenn sie allein war, zwischen Fichten und Tannen, nur von Erdbeeren belauscht und von Fliegen umsungen. Welchen Vorsatz gab’s, den sie jetzt nicht gefaßt, welches Wort, das sie jetzt nicht gesprochen hätte? Aber die Fliegen kümmerten sich nicht um ihre Worte, die Fichte ließ einen Zapfen fallen, der polterte: Vergeblich! Langsam trockneten ihre Tränen, und sie dachte mit Rührung und Stärke an ihn. Später, auf dem Heimweg begegnete Frau Martha der Innsbruckerin. Die beiden Frauen sahen einander kaum, und die schwarzlackierte Arabeske, als die sich die Locke der Innsbruckerin zeichnete, hätte Frau Martha, wenn sie die Stirn des Mädchens betrachtet hätte, abscheulich gefunden.
Als sie hintereinander, Karl und Martha, in die Schlucht einbogen, durch die der Hechtbach fließt und schießt, Karl ihren Knöchel im grauen Strumpf ansah und sie sich umwandte und verlegen lächelte und weiterging, spürte er eine Art von Gleichgültigkeit gegen sie wie nie zuvor. Da war sie, wie sie immer gewesen war und wie er sie immer geliebt hatte. Oder vielmehr, das Wesen, das er geliebt hatte und noch liebte, hatte sich tief in sie zurückgezogen. Immer tiefer verschloß es sich in ihr, und was er mit Händen an ihr erreichte, war zu wenig. Seine Einbildungskraft ließ ihn die Frau sehen, die er wie ein Phantom glühend liebte. Diese phantastische Frau hatte dicht unter der Oberfläche, unter der gespannten Haut der Frau Martha gesessen. Und die Haut mußte platzen und die phantastische Frau prangend zu ihm treten. Aber die Haut platzte nicht, sie bräunte sich, wurde fester, nie würde sie springen und die Gefangene freigeben. Was da vor ihm herging, war eine seltsam lebendige Puppe mit einer Zunge, die reden konnte, ein ihm tief fremder Mensch, der dreißig Jahre lang, ehe er ihn kannte, gelebt hatte, geliebt hatte. Er liebte ein Phantom, und das mußte sich bestrafen. Und es bestrafte sich tausendmal, weil er wie ein Goldgräber graben mußte, graben, graben, scharren, scharren, das Gold blinkte, aber sank stets nur tiefer. Nun warf er die Schaufel weg. Nicht, daß er glaubte, das Gold sei nicht da! Er verzweifelte daran, so tief zu stoßen, dahin, wo es steckte.
Das Innsbrucker Mädchen saß auf dem Damm in der Sonne. Es war unbeweglich und wie aus Gold. Auch das Gesicht war aus Gold und auch die Augen aus Gold und auch die Arme. Schwarz fiel die Haararabeske auf die goldene Stirn. Es war ein Götterbild, ein Götzenbild, was da saß und nicht atmete. Der Lech schäumte grün und lebte und bebte, die Bergwälder wehten wie Fahnen, Grillen sangen unaufhörlich, und über die Wogenkämme der Blumen lief ein kleiner, heißer Wind. Aber das Goldmädchen atmete nicht, es blinkte und blitzte nur, und auf den krummen Lippen war das Lächeln ewig und von ferneher und nach Fernen hin.
Er setzte sich unbeweglich hin wie sie. Er schloß die Augen. Die statuenhafte Ruhe vereinigte ihn mit ihr. Der weiße Damm war eine breite Mauer, sie waren Standbilder beide, von einem unbekannten Volk einst errichtet. Er öffnete die Augen wieder, sie saß immer noch, immer noch, immer noch.
Es kam eine Mondnacht, ein blaues Glänzen und Strömen, ein bläuliches Fließen und Rieseln und Tropfen. Die Berge waren weit zurück marschiert, das Tal hatte sich gebreitet und gemuldet, und der Himmel war ein blausaftiges Gewölbe und der Mond von einer strahlenden Klarheit, eine gefrorene Lichtscheibe. Wo die Berghänge im Schatten lagen, dunkelte es wie Samt, dann schnitt eine messerscharfe Linie das Licht vom Dunklen, und Gruppen von Fichten standen wie Tiere auf der Flucht, in Rudeln, äugend, auch äsend. Die Schindeldächer der Häuser waren wie beschuppte Fischleiber, jede Schuppe war bläulich glänzend einzeln zu sehen, und das lange Dach des Wirtshauses schwamm schwanzschlagend wie ein großer Fisch durch die Silbermilch davon. Hoch stieg das Holzkreuz, mit den hölzernen Geräten der Marter und Christi benagelt, benagelt mit Hammer und Winkel und Säge, mit dem hölzernen Essigschwamm und Speer und Schwert und Dornenkrone, hoch stieg das Holzkreuz über der Brücke empor und warf einen Schatten, einen tiefschwarzen, schnurgeraden, einen massiven Schatten, daß man die Beine hob, darüber zu steigen, zu steigen über das Ebenholzebenbild des mondbeleuchteten Kreuzes.
Er war aus dem Wirtshaus gekommen, vom roten Wein, und ging nun betäubt durch das blaue Zauberdorf. Die Jugend schlief nicht, wie hätte sie schlafen können, wo Wiese und Wald blau kochte und der goldgelbe Mond über den Himmel hin schwebte, lautlos und singend? Weiß glänzte die Straße unter seinen Füßen, und viermal und fünfmal strich er wie ein schwanker Vogel häuserentlang von Dorfende zu Dorfende. Und flügelmild und glanzbetäubt fand er über die knarrende Treppe den Weg in sein Zimmer. Aber dort lag der Mond plötzlich und überfallswild mitten auf den Brettern, und durch das Fenster drang das unbändige Licht. Und Gesang stieg von der Straße auf, drei Stimmen, drei Mädchenstimmen, die ein Volkslied sangen, das frech und getragen war. Er sah hinunter, aber die Sängerinnen waren in schwarze Mäntel gehüllt, und er wußte nicht, ob es ihre Stimme war, der Innsbruckerin Stimme, die lockte. Frech war das Lied, das sie sangen, volksliedfrechliederlich, verwildert, dornig wie ein Zweig schwarzer Brombeeren. Er beugte sich tief aus dem Fenster, wo im Mondlicht jetzt die drei Mädchen schwankten wie Brombeerstrauchfahnen. Nun stimmten sie noch einen Gesang an, es klang vom Scheiden und war süß, aber ehe sie zu Ende gesungen hatten, stürmte um die Ecke ein Trupp Burschen. Die schwarzen Mäntel kreischten, flohen, und dann Stille. Nur der Dachfisch flog surrend und schaumperlenwerfend.
Die gelbe Postkutsche trug auf dem Verdeck einen Turm von Koffern und Taschen, einen wackelnden Turm, den der dicke Fuhrmann mit Fluchen stützte. Der Mond war weg, der blaue Glanz war verschwunden, die Sonne war da, es war früh um sieben Uhr, und das Schindelwirtshausdach war kein silberner Zauberfisch, nur eine bürgerliche Decke über Menschenschlafstätten. Die Postkutsche fuhr zur Bahn. Sie hatte sieben Stunden Talfahrt vor sich, eine Stunde schon hinter sich. Die zwei braunen Gäule schepperten an den Ketten, drehten die Köpfe. Endlich saß alles, der Fuhrmann knallte mit der Peitsche, mit Taschentüchern winkte man, man fuhr. In diesem Augenblick schlüpfte Karl aus seinem Bett, war froh und trat zum Fenster. Der gelbe Karren schaukelte ums Eck, rollte jetzt dicht unter seinem Fenster, er konnte die Koffertäfelchen lesen. Er sah tiefer, sah die Köpfe der Abreisenden, er sah die Arabeskenlocke, sah den krummen Mund, das Mädchen streckte die Hand gegen ihn, er tat das gleiche. Beide ließen die Hände gegeneinander gestreckt, während die Entfernung zwischen ihnen wuchs.
Der Wagen war nicht mehr zu sehen, aber er stand immer noch. Er war nicht traurig, er war nicht froh, er wusch sich, kleidete sich an wie immer, aber bevor er ging, trat er noch einmal zum Fenster, streckte die Hand aus, keine streckte sich ihm entgegen, nur der grüne Berghang mit Flaumgras bewachsen sah gutmütig zu ihm her.
Jeden Nachmittag zur gewohnten Stunde saß er am gewohnten Platz. Es kam eine lange Reihe von schönen Sommertagen. Er saß und fühlte sich in der Hitze wohl wie eine Eidechse. Einmal, er hatte mit geschlossenen Augen sich wie ein Schmetterling geträumt, der über den Flußwellchen hinschwebt, in der Richtung mit dem Strom, rot und braun gepunktet, Samt der Leib, oben Blau des Himmels, unter sich das Grün des Lechs, weg und fort die Welt, einmal, er öffnete die Augen und war nicht mehr der Schmetterling, einmal, er sah nach rechts hin, wo das Mädchen immer gesessen hatte, und sah, daß sie, gerade und fröhlich geradeaus blickend am alten Platz sich befand. Sie saß dort, die Hände sanft auf die Schenkel gelegt, die schwarzlackierte Haararabeske in der niedern Stirn und mutwillig und krumm und verwirrend gebogen und geschwungen die Linien der Lippen. Sie sah geradeaus und sah ihn nicht, und eine Hummel, die sie brummend umflog, kreiste
einmal, zweimal, dreimal, er zählte, sechsmal, siebenmal um ihren Kopf, dann taumelte sie, daß sie fast die Steine des Damms berührt hätte, zu Boden, hob sich, kam in einer Wackellinie gegen ihn gesteuert, dicht, fast vor seinen Augen, er sah den dicken Leib, das Brummen wurde überlaut und dröhnend, aber im letzten Augenblick wandte sie sich und flog weit hinaus auf die klirrenden Wiesenflächen. Die Frau drüben stand auf und ging den schmalen Weg ins Dorf zurück, aufrecht und schlank, und die vielen Blumen, die blauen und gelben und roten sahen ihr nach. Am andern Tag, der strahlend und brennend war wie der gestrige, es war das Tal eine riesige grauseidene Distel, die knisternd flammte, am andern Tag saßen die beiden wieder an ihren Plätzen. Es war Frau Martha natürlich, und sie rührte sich nicht und sah geradeaus und fühlte, daß sie mehr nicht tun durfte, und fühlte, daß sie mehr nicht von ihm haben konnte, als dieses Zusammensein in der krachenden Hitze des Nachmittags. Er sah hin und sah das Mädchen mit Stirn und Mund, wie er nur ihr, der Abgereisten und nun Wiedergekommenen, und nur ihr zu eigen war. Er neigte sich weit hinüber, und auf Händen und Füßen, wie ein Leopard vielleicht oder auch nur wie eine verwilderte Hauskatze, auf Katzenpfoten und in Katzengelenken sich wiegend, schlich er gegen sie. Zehn Schritte waren hin zu ihr, er machte zwei, sie saß noch und ihr bebender Mund krümmte sich, und die Unterlippe trug die Oberlippe, aber nach nochmals zwei Schritten sah er, daß es Frau Martha war. Erschreckt wich er wieder zurück, und nun saß das Mädchen wieder da, schenkelgeschlossen und statuenhaft wie je. So rührte er sich nicht mehr, und das Bild blieb, und auf der grauseidenen Distel, als die das Tal wuchs und brannte, saßen sie inmitten wie zwei fremde Käfer und zitterten.
Sie verkehrten im Dorf zusammen wie sonst und wie sonst mit den Freunden. Der Kampf zwischen ihnen hatte aufgehört. Sie fanden eine schwebende Art, mit der sie zueinander redeten. Sie betrachteten sich mit heiteren Gesichtern, und kein Wort fiel zwischen ihnen, das an ihre tägliche Begegnung am Damm gerührt hätte. Frau Martha wußte nichts, oder vielmehr sie wußte nur, daß von der Stunde her, die sie getrennt und vereinigt auf den heißen Julisteinen saßen, ein Glanz und eine Milde kam, die ihnen den Tag und den Abend verschönte. Das genügte ihr, und das genügte ihm.
Nun war die goldene Frau, nach der er, ein unermüdlicher Schatzsucher, gegraben und gewühlt hatte, weit aus dem Hintergrunde ihres Tempels nach vorn getreten, aus Frau Marthas Augen sah sie ihn jetzt manchmal bezaubernd an. Und sie, Frau Martha, und das Mädchen mit der niederen Stirn, als die er sie sah, und die geheimnisvolle Frau, nach der er suchte, waren in einem Wunder in eines geschmolzen. Er begriff, daß er auch in dem Innsbrucker Mädchen nur nach der Urgestalt gesucht hatte, nach der Urgestalt, die in Scham und Dunkel zurückwich, wenn man sich ihr näherte und die sich näherte, wenn man selber in Demut verharrte.
Ein großer Rausch hatte ihn erfaßt. Alles war ihm tönend geworden. Er legte sein Ohr an den rauhen Stamm der Fichte, und er klang süß wie eine Flötenstimme. Er legte den Mund daran, und wie Pan blies er ein großes Lied, daß die Wipfel in der Melodie schwankten.
Dann kam der Tag der großen Sonne. Die Steine des Dammes waren heut heiß von einer Hitze, die nicht weh tat. Er setzte sich, funkelndes Licht fiel in großen, schweren Tropfen in den Lech, daß sich kleine Wellenkreise bildeten. Der ferne Wald rauchte. Es war ein dünner Rauch, Schleier; artig, schwärzlich, aber darunter schimmerte es wie Gold, als ob über ein Goldbrokatgewand ein schwarzer Schleier gelegt worden wäre. Die Steine, auf denen er saß, waren noch weiß und heiß, aber sie begannen schon gelb zu werden, Gold zu werden. Er hob einen kleinen Stein, aber der war so schwer, daß er Gold sein mußte, kein Stein, kein gewöhnlicher Stein, Granit oder Kalk, wog so schwer. Langsam drehte er den Kopf und sah, daß sie schon dasaß. Sie lächelten sich an, ohne sich zu rühren. Nun wurden auch seine Füße schwer. Er schlug spielend mit den Absätzen gegen die Dammwand und es klang metallisch, wie Gold gegen Gold schlägt. O, du wundersames Glockenspiel, dachte er, und mit den goldenen Schuhhämmern schlug er weiter, stark und schwach und stark und schwach, aber immer goldmetallisch klang es. Er sah hinüber, ob sie sein Glockenspiel hörte, aber sie saß unbeweglich und lächelte nur. Und zum Takt seiner schlagenden Füße schlug er nun Hand auf Hand, und der Ton klang goldmetallisch wie jener. Er sah seine Finger an, die waren wie aus Gold gedrechselt, fein, mit schönen Gelenken, und nun sang er auch noch, und er sah seine Worte goldschwer auf den Damm klingeln, wie Goldmünzen, und bald lag ein kleiner Berg solcher singenden Münzen neben ihm. Er hörte zu singen auf und sah auf den Fluß, auf den Lech, der träger zu fließen begann. Grad vor ihm, an immer der gleichen Stelle, erneuerte sich ein Wellenberg und ein Wellental. Er sah scharf hin, und war es nicht, als sei Berg und Tal jetzt festgefroren? Waren nicht alle Wellen gefroren, war nicht der Lech erstarrt in Gold [?] Er warf einen Stein ins Wasser, das nicht mehr Wasser war, aber der Stein versank nicht, klirrend schlug er auf Hartem auf, es klang, und er kollerte und glitt wie ein Stein auf Eis und blieb Gold auf Gold liegen. Er drehte sich zu der Frau. Sie hatte sich ganz zu ihm herübergewandt. Die tausend Halme der Wiesen waren Goldfäden, alles war Gold, nur der Himmel noch blau. Da begann die Frau zu wachsen. Ihre Hüften schoben sich nach oben, die Beine wurden lang wie rundschaftige Bäume, die Kleider fielen von ihr, sie war nackt, und die Arme breitete sie langsam aus, die goldene Frau, die goldene Innsbruckerin, und die Hand streckte sie aus, die goldene, große Hand, er sah jede Kuppe jeden Fingernagels, und dann senkte sie die Hand, und dann hob sie die Hand, und dann trug sie auf der flachen Hand das Tal und die Berge und die Wiesen und den Lech und den Himmel. Alle waren zu Gold erstarrt. Alles wurde klein, sehr klein, die Berge hatten Käfergröße, und die Käfer waren noch winziger, aber er sah sie noch ganz deutlich. Und nun schob sie Tal und Damm, den Damm auf dem er kniete, dicht an ihre großen Augen heran. Die waren unbeweglich, ausdruckslos, sie sahen ihn an und sahen ihn nicht und waren aus Gold. Sein Blut gerann, er spürte, wie es sich verdickte und langsamer floß und dann zu Gold fror in der atemlosen Hitze. Und jedes Leben hatte aufgehört, jedes tierische Leben, die Welt war aus Gold getrieben, jede Einzelheit, jeder Halm, jede Blume aus Gold, unbeweglich, und lebte nur das stumme und dumpfe Leben des Steines. Und seine Gefühle waren nun auch aus Gold, ja, aus Gold, denn sie waren noch da und in einer eigentümlichen Weise noch lebendig. Aber der Schmerz tat nicht mehr weh, und die Freude tat nicht wohl, sondern tat weh und wohl in einem.
Und so verharrte er auf der Hand der goldenen Statue, die große, unbewegliche Augen auf ihn gerichtet hielt, und erlebte die Ewigkeit des Steines und des fließenden Wassers, und es gab keine Menschen mehr und nicht mehr ihn, Karl, und nicht mehr Frau Martha, und nicht mehr die Innsbruckerin. Um die Gruppe aus Gold, das Bildwerk aus Gold und Metall blinkte die gelbe Sonne, abgestorben und lebendig. Aber sie ließ die Hand sinken, er fiel tief, er fiel auf den Damm auf, kam auf die Knie zu liegen, auf den Knien rutschte er zu ihr, sie breitete ihm die Arme entgegen, er legte den Kopf an ihre Brust, und als er in der Verwirrung seines Gefühls Frau Marthas Lippen küßte, stand er lachend auf und sagte: »Laß uns ins Dorf gehn!«
Der Himmel schien willens zu sein, nie mehr etwas von seiner Bläue herzugeben, die Tage liefen goldzitternd einander nach, die Bienen waren betrunken, wie taumelten sie! Er war auf die Veranda des Hauses gegangen, es war fünf Uhr des Nachmittags, und sah das Tal entlang und sah auf die Berghänge und die Talwiesen und den Schlängelweg hindurch. Und jetzt, da, in dieser Stunde, geschah ihm wieder Verzauberung. Es kam den Weg daher die Innsbruckerin, die Lippen geschwungen, er sah es genau, und sie lächelte und nickte ihm zu, und er wollte ihr auch zunicken, aber es ging nicht, sein Hals und sein Kinn tat nicht mit. Sie schritt näher heran, war weit weg, am Talende, aber doch nah, nicht größer als wie natürlich, obwohl sie doch, dort am Talende stehend, klein wie eine Nuß aussehen mußte, aber er sah sie, als stände sie armweit vor ihm. Sie nickte heftiger, ihre Lippen zuckten, sie sprach wohl auf ihn ein, er hörte nur nichts. Hinter ihr kam Frau Martha. Sie trat dicht hinter das Mädchen, sie war größer als das Mädchen und jetzt standen ihre beiden Gesichter übereinander, sahen ihn unverwandt an, Augenpaar über Augenpaar. Und beide schienen nun mit ihm zu reden, und ihre Augen wurden verlangend, öffneten sich, saugten, es strudelte vor ihnen die heiße Luft, es wirbelte bis zu ihm heran, es war wie ein Trichter. Dann drangen die zwei Gestalten ineinander ein, wurden eins, es war ein Kopf nur mehr, nur noch zwei Augen, und die sahen ihn an und waren willig und ergeben und demütig und lockten. Und die Doppelgestalt, das eine, einzige Wesen, dort am Talende, streckte die Hand zu ihm auf der Veranda, bittend, er wollte seine Hand entgegenstrecken, aber die lag auf dem Verandabalken und hob sich nicht und hob sich nicht. Und er merkte, daß er sie nicht heben wollte, und er hörte sein Herz klopfen und spürte schon Zuneigung zu dem Doppelwesen, aber da standen die Berge und glänzten, da war der Himmel, blaukrachend, und die Wälder, die Wälder, die Bäume und die Waldtiere, und es riß seine Arme auseinander, und seine Hände reichten bis weit links und rechts zu den Bergflanken und spürten das Fleisch der Bergflanken, das weiche Moos. Das Doppelwesen lächelte noch immer, ein wenig
traurig jetzt, und er lächelte zurück und preßte die Lippen fest aufeinander, daß ihm nicht ein Lachen daraus würde, denn kränken wollte er das Doppelwesen nicht. Das fing zu wanken an, das Doppelwesen, nur der Kopf war noch unbeweglich. Dann war der Körper weg, nur der riesige goldne Kopf schwebte über dem Talende, wurde größer, noch größer, und dann wurde er einäugig, der Kopf und die Sonne war das Auge, und die Wälder waren die Brauen, und der Schlängelweg war eine geschwungene Lippenlinie, und die Lippen bebten ihm zu, und jetzt konnte er die Hand vom Verandabalken heben und nach dem Talende ausstrecken. Die Luft zitterte heißer, er rannte über die braune Treppe ins Freie, den Weg entlang, geradeaus und vorwärts stürzte er, die Brust heiß vor Glück, das Herz an den heißen Brustkasten wie die betrunkenen Bienen pochend, die ringsum brummten. Er lief, er mußte laufen, Laufen war Glück! Dann stürzte er schreiend ins Gras.
Im Herbst dann fuhren Karl und Martha in die Stadt zurück, und als der Winter kam, sahen sie sich schon sehr selten, und eines Tages, im Frühling, war es ganz zu Ende.
An den Damm schlägt immer noch der Lech. Und das unruhige Herz schlägt immer noch in Karls Brust, aber nach Innsbruck fuhr er nie, etwas zu suchen. Er wußte, es war dort nichts zu finden, dort nicht und nirgends, nichts und nirgends für ihn.
In: Die Linie, Heft 10, 1930
Winterlich
Der Weg, den der Knecht nahm, duckte sich, als zaudere er die flache Höhe zu erklimmen. Er wand sich und schlängelte sich, machte eine lächerliche und unberechtigte Schleife, aber besann sich dann und lief schief und schnell und verwegen empor. In der Ferne war Wald. Der war wie ein dunkles Tier mit vielen schwarzen Beinen, das waren die Stämme, und einem weißen Fell, das war der Schnee, der auf den Ästen lag. Ein langgestreckter Schneefuchswald trabte eilig am Horizont, gebogen wie der. Mit dem Kopf war das Waldtier schon drüben, auf der anderen Seite, aber der Leib und der Schwanz waren noch zu sehen, geschmeidig, gekrümmt und in scharfer Gangart. Als der Knecht die Höhe erstiegen hatte – der Weg konnte nicht entkommen, alle Kniffe und Windungen halfen ihm nicht, er mußte hinauf, und nun war er droben –, drehte sich schnell von rechtsherein ein Dorf, wie auf einer Scheibe, in der Mitte der Kirchturm, um ihn Häuser, und die Drehscheibe drehte sich so schnell, daß der Schwung die Häuser dicht an die Kirche heranwarf, und da klebten sie nun zusammen. Die Drehung hörte knapp noch auf; denn noch ein Riß und ein Ruck und Dorf und Kirche und Häuser wären flach abgeschleudert wie ein Papierteller in die Luft hineingetaucht, schräg und pfeifend und vielleicht hinterm Horizont in einen Wald geplumpst, Äste brechend, schwer atmend, maßlos bestürzt. Nun, das war nicht eingetreten, das Dorf lag ruhig, und viele Rauchsäulen, weiß und zitternd, knäulten sich in die Höhe. An einem Tümpel ging der Knecht vorbei, der war am Rande dünn zugefroren, dann kam schwarzes Wasser, wie dunkler Schnaps, ölig glänzend, sicher schliefen da Frösche. Im Sommer gab es da wohl auch Schlangen und viele Stechmücken und distlige Gewächse und Gestrüpp und Brombeerstauden. Aber jetzt war Winter, die Frösche schliefen, und die graue Winterluft schwieg.
In: Frankfurter Zeitung, Nr.925, 12.12.1926
Zwölf Raben
Die Straße war hart gefroren. Am Nachmittag, so um fünf Uhr herum, war es kalt geworden, ein scharfer Wind war gegangen, der hatte sich jetzt wieder gelegt, es war ganz ruhig, aber die Kälte war geblieben. Die Erdspuren der Wagen, der Ochsenwagen natürlich, es gab im ganzen Dorf keine Pferde, glaube ich, nur Ochsen und Kühe und Ziegen; die Radspuren der Ochsenwagen also waren kantig gekerbt und wie hartgeschnittene, länglichrunde Muscheln waren die erstarrten Fußspuren der Zugochsen. Der Himmel war schwarzblau und glänzend, alle Sterne standen daran, keiner fehlte, sie flimmerten eifrig über dem Schwung der Preglergruppe.
Der Bach neben der Straße war gefroren, auch erst seit ein paar Stunden. Mittags und nachmittags noch war es tauig gewesen, und da war der Bach noch langweilig geflossen, grüngrauschillernd. Aber jetzt war er wahrhaftig zugefroren, eine grauweiße, blasige Eisdecke trug er, darunter floß er wahrscheinlich noch, aber das sah man nicht. Wasserpflanzen, die am Rand wuchsen, und Schilfstengel und so grünes Zeug, das aus dem Wasser emporgetaucht war, zahlreich, das erhob sich nun aus der Eisdecke, komisch genug, das Eis war fruchtbar und grünte.
Die meisten der Fenster in den meisten der Häuser waren schon dunkel, in einigen aber sah man noch Licht. Ich ging schnell und war am Dorfrand. Die beschneiten Talwiesen lagen vor mir, auch der Schnee auf ihnen war frosterstarrt, und rechts der Straße der Wald stieg blaugrün und weißbebuscht herab und hauchte kühl her.
Was jetzt der Bock wohl trieb, den wir gestern hinterm Haus, dicht an der Stallwand, belauscht und belauert hatten? Er lag wohl unter einer alten Schirmfichte, und sein Atem wölkte grau vor dem feuchtschwarzen Maul, und die Augen sahen ruhig vor sich hin. Wer weiß es?
Oder er scharrte die leichte Schneedecke weg, um das braune Gras zu fressen, wer weiß es?
Hinter mir lag das Dorf, der spitze Kirchturm ging hoch in den mondlosen Himmel hinauf. Auf der Wiese, zehn Meter von der Straße, stand eine zaundürre Baumgruppe. Es waren zwei Bäume mit dünnen Stämmen und mit verzweifelt gespreizten nackten Ästen. Die Bäume froren, das war ersichtlich. Ja, ja, im Frühjahr trugen sie Blüten und im Sommer Laub und im Herbst Früchte, aber jetzt war Winter, es war der einunddreißigste Dezember, und kurz vor Mitternacht, und da trugen sie schwarzes Lebendiges, Raben, die Glanzfräcke waren spitz, man sah es deutlich im Schneelicht.
Morgen war der erste Januar, und ein neues Jahr würde da sein, schon in fünf Minuten ein neues Jahr da sein, die Sterne wußten nichts davon und flimmerten gleichmütig, der Wind hatte es vielleicht gewußt und war kalt und schneidend gekommen am Nachmittag (jetzt hatte er sich schon längst wieder gelegt) und hatte den sauberen und klaren Frost gebracht, daß das Jahr gut begänne, nicht in Dreck und Morast, obwohl das vielleicht auch richtig und richtiger gewesen wäre, denn Sumpf und Morast und Feuchte ist geburtsgut.
Der Wind war gekommen und die Kälte, und der Wind war gegangen, und die Kälte war geblieben, und jetzt mußte bald das neue Jahr sich erheben. Die schwarzen Burschen auf den dürren Ästen rührten sich nicht, und ich rührte mich nicht, sie nicht zu verscheuchen, denn sie sind scheu, die Dunkelvögel, ich hatte es oft erfahren.
Da, lief nicht ein Zittern über den Himmel, flimmerten nicht die vollzähligen Sterne stärker, glänzte der Spitzturm nicht klarer und eisgrüner? Das war wohl Täuschung, aber das war keine Täuschung, daß jetzt die Kirchenuhr anschlug, klingend. Der erste Schlag, und schon flog auch der erste Rabe auf, und der zweite Schlag, und der zweite rauschte auf, und so bei jedem Schlag ein Vogel, und es waren zwölf Schläge, und es waren genau zwölf Vögel, und beim zwölften Schlag war der zwölfte und letzte Vogel auf und fortgeflogen, und der Kirchturm war wieder stumm, und die beiden dürren Bäume waren leer, und die zwölf Raben hockten tiefer in der Wiese, stumm, schwarz verstreut, die Vogelschar, die scheue, und jetzt wieder regungslos.
Das neue Jahr war da, und Raben sollen weise sein, und ich bin nicht weise, und Raben sind leicht klüger als ich. Dort hockte sie, die schwarze Gemeinschaft, und ich stand allein hier, und mir gegenüber das neue Jahr, das drängte heran, mächtig, mit erschreckenden Kaltglanzaugen, einem unmäßigen Leib und mit vielen Spinnenfüßen, mit dreihundertundfünfundsechzig Spinn[en]füßen, mit einem Dritteltausend Zappelbeinen, abscheulichen, und ich allein und die klugen Raben immerhin zu Zwölfen. Und unterm gleichmütigen Himmel und unter den flimmernden Sternen ging ich ins Dorf zurück und zum Wirtshaus zurück und in die warme Wirtsstube hinein und trank und sang mit den andern, mit den Männern und den Frauen.
Ich zählte, es waren elf, fünf Männer und sechs Frauen, und ich war der zwölfte, und nun waren wir auch ein Dutzend und sprachen rabenklug und vogelweise. Und die hölzernen Bänke, auf denen wir vor den hölzernen Tischen saßen, waren unsere Bäume, unsere winterdürren Bäume. Deutlich sah man die Maserung der blankgehobelten Tischplatten, bräunlichrote Linien im Weißgelben, das war wie eingetrocknetes Blut, und mit unsern gekrümmten Zeigefingern hackten wir auf die Adern, wie mit Schnäbeln, und tranken doch nur roten Wein.
Um drei Uhr rief einer: »Ein Komet!« Wir prasselten durch den Hausgang ins Freie, lärmend wie ein Vogelgeschwader, und staunten den Himmel an. Es war kein Komet, aber ein großer Stern glänzte nah und stark wie nie, und ihn staunten wir an.
Noch später, beim Morgengrauen, da waren wir Furchtsamen schon längst nicht mehr zu Zwölfen, trauten wir uns hinaus in die junge Frische, und uns geschah nichts.
In: Vossische Zeitung, Nr.3, 5.1.1927
Indianer
Als Fünfzehnjähriger schwärmte ich für die Indianer mit einer feurigen Hingabe, über die ich auch heute nicht lächeln kann. Ich schuf mir in ihnen Wesen einer höheren Art, edler, klüger und von mehr Größe als die Männer um mich, deren Erbärmlichkeit früh zu durchschauen mir nicht schwer fallen konnte. Das rothäutige Geschlecht, mit den fließenden Wassern, den ziehenden Wolken und dem Rauschen der Bäume brüderlich vertraut, schien mir höchster Verehrung würdig. Ich träumte davon, zwischen bronzenen Häuptlingen über dunkelnde Savannen in den Abend zu reiten. Ich saß unter überhängenden Felsen an Lagerfeuern, während unendlicher Regen aus niederen Wolken strömte. Über
wogenden Büffelherden zuckten unsere Lassos und zwangen den Stier in die Knie. Beim Morgengrauen durchschwammen wir blaufunkelnde Flüsse und der hohe Mittag fand uns auf der Fährte des Felsenpumas. Ich liebte die roten Männer, und die Tränen, die ich vergoß, nicht als Sioux geboren zu sein, waren bitterer als jene, die ich weinte, als mich das erste falsche Mädchen verließ.
Die Sehnsucht nach dem erdnäheren Dasein der Waldgesellen verflüchtigte sich, als ich mit zwanzig Jahren die Hände gepuderter Schauspielerinnen küssen durfte, als ich durch breite Straßen ging, über denen Bogenlampen wie falsche Monde prahlten. Die großen Worte der glattrasierten Männer auf dem Podium setzten mich in Taumel, und das Rasseln der Hochbahn klang mir gewaltiger als der Donner der Berggewitter. Ich bin nicht lange vor diesen Wundern auf gläubigen Knien gelegen. Doch als ich erkannte, daß die sieben Farben des Regenbogens glühender und milder brannten als alle Schmelzöfen der Länder, war mir die Natur nur mehr ein Schauspiel, das ich vom feindlichen Parkett aus mit bewundernden und ungerührten Augen genoß.
Wenn ich heute taub und blind durch den Wald gehe und vor dem Schrei des Hähers und dem Rascheln des Eichhörnchens zusammenfahre, bin ich traurig bei dem Gedanken, daß Wald und Wolke und Fluß mir fremd wie fremde Sachen sind und mir im Blut bekannt sein könnten wie der Schlag meines Herzens. Die Säfte, die die glänzenden Schenkel der Pferde prall machen, die Flügel der Vögel heben, die in den Bäumen brausend nach oben steigen, müssen notwendig und innig denen verwandt sein, die durch mich rinnen, von Ufern roten Fleisches eingedämmt. Daß ich diese Verwandtschaft nur mit dem Verstande begreife, sie nicht mit Augen und Blut liebend fühle, ist ein Schmerz, der mich nicht verläßt.
Ich habe viel in Indianerbüchern gelesen. Immer zur stärksten Erschütterung riß mich Schillers Gedicht von dem Tod des Häuptlings. Ich habe den Band nicht zur Hand und muß die Verse nach dem Gedächtnis wiedergeben. Sie beginnen so:
Seht, da sitzt er auf der Matte,
Aufrecht sitzt er da,
Mit dem Anstand, den er hatte,
Als ers Licht noch sah.
Der große Greis stirbt nicht. Ihn schüttelt kein schmerzlicher Krampf und splitternd bersten bei ihm keine bösen Stricke, die uns an die kalte Klippe Erde schnüren. Die kristallene Luft um ihn ist wie ein gewaltiger, blitzender Wassertropfen, in dessen Mitte er schwebt, von dem er aufgesogen wird. Lächelnd vergeht er, wie die Blume im Herbst erlöst zerfällt. Über den Bergen, im Blauen, liegt Manitou, ein riesiger, roter Krieger und stößt tanzende Wolken aus seiner Pfeife. Er wird neben ihn sich strecken und Frühling und Herbst und alle Jahreszeiten werden wie Schatten über die Täler wehn.
Ich möchte sterben wie er. Aber wir müssen einmal fliehen von der Erde, die uns eine fremde Insel war, von seltsamen und grausamen Geschöpfen bewohnt, von Hecken durchzogen und von scharzen Waldfahnen furchtbar Und zitternd, von Fremden zum Fremden, uns fort. Von einer Woge stechender Disteln, die uns unwillig trug, heben wir uns in ein Boot, zur Fahrt über ein Meer, vor dessen Erahnen schon uns der Hauch dem Munde gerinnt.
In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 12, 8.1.1927.
Tüchtige Diener
In jenen Novembertagen neunzehnhundertundachtzehn als die an der Front in verschlammten Löchern hockenden Soldaten der Befehl traf, das unrasierte Gesicht nach Osten zu drehen, nicht mehr nach Westen zu halten, wie sie es vier Jahre lang getan hatten, als die grauen Männer aus dem braunen Schlamm aufstanden und marschierten, marschierten, marschierten, der Heimat entgegen marschierten, immer noch unrasierten Gesichts, der Heimat entgegen, von der man erfuhr, daß sie sich auch erhoben hatte, nicht aus Schlammlöchern zwar, aber aus Trübsal und Müdigkeit und Verzweiflung, der Heimat entgegen, von der man sagen hörte, daß sie, immerhin rasiert, Freiheit und Gerechtigkeit und andere schöne Dinge zu einem so hohen Berg stapeln wolle, daß man damit bis zum Himmel käme und glattrasiert auf dem Gipfel sitzend dem lieben Gott ins bärtige Antlitz zu starren vermöchte, damals also liefen durch die Straßen der deutschen Städte viele junge Soldaten, aus den Krankenhäusern halb geheilt entlassen, aus Rekrutenlagern und Garnisonskompagnien, die trugen um den Hals ein flatterndes, meist ein buntes Tuch und die Hände in den Hosentaschen und die Mütze immer schief und verwegen auf dem Kopf. Niemand hätte gewagt, damals die Mütze gerade auf dem Kopf zu tragen, niemand.
Ich war auch drei Jahre bei den Männern draußen gewesen, war unrasiert in Schlammlöchern gehockt wie sie, und Kugeln hatten gejault und eine hatte mich gefunden, nachdem sie sechsunddreißig Monate vergebens nach mir gesucht hatte, und so kam ich in die Heimat und war in der Heimat, als die Freiheit entbrannte. Die entbrannte hell und schön und wahrhaftig, sie wärmte auch etwas, es sah ganz so aus, als würde sie immer heftiger brennen und immer wohliger wärmen. Aber ein Flattertuch um den Kragen meines Feldrocks mochte ich doch nicht tragen, und die Mütze auch nicht schief aufsetzen, und wollte mir auch ganz und gar nicht die Achselstücke abreißen lassen von jungen Burschen, nicht von solchen, die Pulver gerochen hatten, und erst recht nicht von verdammten blassen Grünlingen. Also ging ich in bürgerlicher Kleidung und betrachtete mir die Soldaten der Freiheit, die schiefmützigen, und mancher hatte einen guten Blick, und vielleicht würde alles wieder gut werden und besser sogar noch, die Freiheit wärmte doch das Herz, ich spürte es, und ich versuchte über die schiefen Mützen hinwegzusehen und versuchte sogar nicht mißmutig, nein, wohlwollend auf die ekelhaften Kappen zu schauen. Und als ein Lastkraftwagen an mir vorbeiknatterte, der eine Fuhre von Freiheits-Soldaten geladen hatte, die rote Fahnen schwangen und schwarzbedruckte rote Zettel abwarfen und Schwung hatten und Begeisterung, waren gute Gesichter dabei, ausgezeichnete Gesichter, da freute ich mich fast. Und während ich noch recht froh war, kam mir so ein junger Kerl entgegen, zwanzig alt, zwanzigjung, schiefer die Mütze als irgendeiner, Hände tief in den Hosentaschen, und ich erkannte ihn, er war in meiner Kompagnie gewesen, war mit einem leichten Schuß davongekommen, war ein guter Soldat gewesen, ich hatte ihn sogar zum Eisernen Kreuz vorgeschlagen, und das bekam man an der Front nicht so leicht wie weiter hinten und daheim, der also kam mir entgegen, Freiheitsmann, lodernd, der gefiel mir, den mußte ich sprechen.
Er betrug sich auch würdig und wußte nicht recht, wie er’s machen sollte, seinem alten Leutnant gegenüber, und nahm für alle Fälle eine Hand aus der Hosentasche, das genügte wahrhaftig, damals, ich war ja auch in Zivil. Er ginge jetzt in eine Versammlung, sagte er mir, da müsse man hin, überhaupt müsse man auf der Hut sein, tätig sein, Schneid haben, das gefiel mir, und er lobte die hohe Löhnung und das Essen und die neugewonnenen Rechte. Ein prächtiger Kerl, dachte ich, und die Sache der Freiheit hatte es noch leichter bei mir, da solche wackeren Burschen für sie eintraten. Nun, ich fragte ihn, wie er sich denn sein weiteres Leben vorstelle, was er plane, in seinem Beruf, und so? Der Freiheitsmann steckte auch die Hand, die noch in der Luft war, wieder in die Tasche, sie kam sich zu unbehaglich vor so im Freien, ich verstand das sehr wohl und dann sagte er, am fünfzehnten Dezember müsse er in seiner Fachschule antreten, angemeldet sei er schon. Bravo, sagte ich, eine gute fachliche Ausbildung, nicht wahr, sei was wert und was für eine Schule denn das sei. Und ohne jede Verlegenheit, und verlegen war bloß ich und sah unruhig weg, klar und zuversichtlich sagte er, es sei eine Dienerfachschule in Leipzig, in die er bald eintrete, um sich zu einem tüchtigen Diener ausbilden zu lassen, bei Tisch auftragen zu lernen und dergleichen, und das sei ein Beruf, der seinen Mann gut ernähre. Und ohne Verlegenheit ging der Freiheits-Soldat in seine Versammlung und ließ mich zurück, und der Gedanke an die Freiheit wärmte auf einmal nicht mehr so recht, und als wieder ein so Schiefbemützter vorbeikam, mußte ich die Lippen fest zusammenpressen, um ihm nicht zuzuschreien, er möge gefälligst die Kopfbedeckung grad richten, ganz grad, wie sich das schicke.
Inzwischen ist ja wieder mancher Tag und mancher Monat und manches Jahr verflossen, schlechte Tage und weniger schlechte und sogar gute, und mit der Freiheit ist das nicht so einfach, da kann man verschiedener Meinung sein, das habe ich gelernt inzwischen, und es kann wohl auch sein, daß sich Diener und Dienerschulen mit ihr vertragen, mit der wärmenden, strahlenden Freiheit, es mag wohl sein; aber damals, damals schienen mir schiefe Mützen nicht erlaubt für Lakaien, schiefe Mützen nicht und nicht flatternde Schlipse, schienen mir nicht erlaubt zu sein, mir, der doch kein lodernder Freiheits-Soldat war, mir, der immer ein bißchen rückwärts schielt, nicht nur vorwärts, vorwärts sieht, wie sich das wohl geziemte, damals und heut.
In: Frankfurter Zeitung, Nr. 121, 15.2.1927
Anekdote [auch „Die Antwort“]
Mir erzählte ein Anstaltsarzt die folgende Begebenheit, die wahr ist:
In ein Krankenhaus wurde ein vielleicht sechzigjähriger Mann eingeliefert, ein stämmiger Kerl, wie ein Baum, aber nun auch gefällt wie ein Baum, vom Schlag gerührt, blaurot, gelähmt, bewußtlos. Wenig Hoffnung, sagten die Ärzte, wenig Aussicht, ihn noch einmal, wenn auch nur für kurz, wenn auch nur für eine Viertelstunde ins Leben zurückzubringen.
Der Mann lag still in seinem eisernen Bett, aber seine Verwandten summten durchs Zimmer, brummten auf dem Vorplatz wie ein Hummelschwarm. Sie bestürmten den Arzt, alles aufzubieten, die entlegensten
und schärfsten Mittel der Heilkunde anzuwenden, damit der Bruder, der Onkel, der Vetter noch einmal mit sehendem Auge ins Leben schaue. Und sie warteten, begierig, gierig wie Hummeln auf Honig, darauf.
Besorgte Verwandte, sehr besorgte, wollten Abschied nehmen von ihm, ihm noch einmal die Hand drücken, wollten das?
»Fünf Minuten noch«, sagte die dickste der Hummeln, schwarz, im Gehrock, der Wortführer der Schar, »fünf Minuten noch muß er ins Bewußtsein zurück, fünf Minuten noch, damit er das hier unterschreibt, und das ist ein Testamentsentwurf. Nur der Name fehlt, nur sein Namenszug, und der muß hier her!«
Man gab dem Mann Kampfer, man tat, was man konnte, der Mann regte sich, der Mann schlug die Augen auf, man hielt ihm das Papier hin, das schaute er gar nicht an, winkte, denn reden konnte seine gelähmte Zunge nicht, winkte, man solle ihm die Schiefertafel geben und den Griffel, die neben ihm auf dem Tischchen lagen. Man gab sie ihm und er schrieb.
Er schrieb: »Das Pöcken«. Vielleicht war er nie sicher in der Rechtschreibung gewesen, der Mann, vielleicht war’s nur sein Zustand, er schrieb jedenfalls »Pöcken« und meinte »Becken«, wie die Krankenschwester gleich erriet, meinte damit die Bettschüssel, die jeder kennt, der einmal hilflos in einem Krankenhaus, in einer eisernen Krankenbettstelle lag.
Sonst schrieb er nichts mehr, der Mann, auch nicht mehr seinen Namen auf den gewünschten Platz auf dem vorbereiteten Papier, denn er starb gleich darauf, aber war das, was er zu tun wünschte, und auch noch tat, nicht Antwort genug dem zudringlichen Gebrumm der Schmeißfliegen?
Die flogen auch betäubt surrend weg und davon, und der stumme Witzbold lag nun still und unbelästigt im ewigen Schatten.
In: Frankfurter Zeitung, Nr. 222, 24.3.1927
Anekdote vom Major Xanders
Es war im Kriegsjahr 1915, in Russisch-Polen, und unsere Reiterei tat noch nicht rühmlichen Fußdienst in verschlammten Schützengräben und weniger rühmlichen in Ortskommandanturen und Bahnhofswachen, sondern saß noch stramm zu Pferde und focht gegen Kosaken und Baschkiren. Focht und hungerte und ritt, aß kaltes, fettes Büchsenfleisch und schlief auf Stroh in Scheunen, schlief auf Stroh unter freiem Himmel, schlief auf trockenem Stroh unterm klaren Himmel, schlief auf nassem Stroh unterm Regenhimmel, und focht und ritt unter jedem Himmel, und dazwischen fielen auch einmal ein paar Ruhetage, und da wurde nicht nur in Betten geschlafen und gebratenes Fleisch geschlemmt, auch geputzt und gestriegelt und gescheuert und exerziert, exerziert, exerziert, und an einem kühlen Märzmorgen, die Sonne stand rund und klar über den Wiesen, besichtigte der Herr Major und Regimentskommandeur Xanders eine Schwadron.
Er war nicht recht zufrieden mit dem Sitz der Leute, der junge Nachschub baumelte gar zu zivilistisch auf den Gäulen. So hatte er sich schon recht in Wut geredet, sein rundes Gesicht war rot und röter als die Sonne über ihm, als eben auf der Straße, neben der die Eskadron hielt, der junge, katholische Feldgeistliche, ein brauner Kapuzinermönch, getrabt kam. Der Herr saß mit vortrefflicher Haltung im Sattel, zog grüßend sein kaffeebraunes Käppchen, und der wütige Major, dem geistlichen Reiter mit der Hand zuwinkend, brüllte die Eskadron an: »Da seht einmal hin, wie der Herr Divisionsgeistliche sitzt! Ihr könnt euch ein Beispiel dran nehmen. Tadellos!« Er musterte den Herrn in der Kutte. »Tadellos! Nur die Absätze ein bißchen weiter auswärts und abwärts! Und die Ellbogen besser an den Leib! Noch besser! Die Ellbogen an den Leib, hab‘ ich gesagt! Ob Sie die Ellbogen an den Leib nehmen wollen, verfluchtes Donnerwetter noch einmal!«
Und unversehens, und er hatte wohl ganz darauf vergessen, daß da der Mönch vor ihm auf dem tänzelnden Gaul saß und nicht einer seiner Rekruten, fing der giftig gewordene Regimentschef an, nun nicht mehr rot im Gesicht wie die Sonne über ihm, nun bläulich im Gesicht wie die voreilige blaue Blume dort im Märzengras, fing an und hörte nicht auf, den Kapuziner mit tausend Flüchen zu belegen, bis er lächelte, wieder sein Käppchen schwang, glatt und sicher wegtrabte, in den Märzmorgen hinein, in den kühlen, grünen, und die Eskadron dem Major ins Gesicht grinste, ins bläulich-puterrote. Der lachte nun auch, befahl dem Eskadronführer »Einrücken!« und galoppierte dem Kuttenträger nach. Und der Oberleutnant Wodringen sagte zum Fähnrich: »Schauen Sie, wie ihm der Alte nachprescht!«
Sie sahen, daß der Major den braunen Kapuziner auf dem braunen Gaul erreicht hatte, aber hören konnten sie natürlich nicht, daß der Tonsurierte dem sich entschuldigenden Offizier antwortete: »Sicher ist mein Sitz nicht einwandfrei. Aber setzen Sie sich einmal in einen Beichtstuhl, dann will ich an Ihnen herumnörgeln!« Der Major erschrak sehr bei dieser Vorstellung, und in der nächsten Kantine tranken sie zusammen einen Schnaps, der mönchische Reiter und der Uniformierte.
In: Frankfurter Zeitung, Nr. 273, 12.4.1927
Erbse
An der Stimme, ja, das war im August 1916, und von der Stimme, die ein Fluß ist, sahen wir nichts, daß sie etwas Wässeriges, Fließendes sei, das wußten wir nur von der Karte, wir sahen nur Wiesen, als wir hinkamen, grüne Wiesen, üppige, fette, feuchte (es mußte doch wohl Wasser in der Nähe sein) und später dann wurden aus den Wiesen gelbe, braune Äcker mit vielen Granatlöchern (nicht wahr, der Krieg, wie es so heißt, ackerte) an der Stimme also, im August 1916, war’s heiß, heiß, heiß. Ein blauer Himmel, eine gelbe Sonne, ein gelber Lehmschützengraben, und der Krieg, wie der war, das wissen einige von uns (die aber noch nicht begonnen haben, davon zu reden) – an der Stimme also hatten wir, eingesetzt rechts neben dem Pierre-Vaast-Wald, dem Zahnstocherwald, an der Stimme, da hatten wir viele gute Burschen verloren und auch unsern Stabsarzt, einen frechen, kleinen Kerl. Tot war er nicht, der Gelbhäutige, Gottseidank, er ließ nur seine halbe Hand dort und kurierte sie in einem deutschen Lazarett, während wir zur Erholung in ein Dorf kamen, in ein friedliches Dorf, ganz wo anders, weit weg von der Stimme. Wir sprachen kaum mehr von ihr, wir hatten unsere geheimen Gründe dazu. Im Dorf, im friedlichen, unter einem friedlichen blauen Himmel und einer sanfteidottergelben Sonne (die andere, die krachend-böse, stand über der Stimme, immer noch), in dem Dorf bekamen wir Nachschub und mit dem Nachschub auch einen neuen Stabsarzt.
Und der neue Stabsarzt, ein langaufgeschossener, wortkarger und trockener Herr aus Thüringen, hieß Erbse. Stabsarzt Erbse. Der Name kam uns jungen Leutnants sehr lustig vor, und in vorgerückter Stunde, im Kasino, versuchten wir es wohl auch, ihn damit zu frozzeln. Aber der trockene Herr aus Thüringen verstand Spaß. Er bestellte eine Runde Schnaps und sagte: »Erbse is drollig, nich? Aber wissen Sie, was für eine Geborene meine Frau ist? Horchen Sie: Eine geborene Linse.« Wir lachten. Er, Erbse, verheiratet mit der geborenen Linse, lachte mit. Dann sprach er würdig: »Achtung! Es geht weiter! Meine Schwester ist mit einem Pastor verheiratet. Mit wem? Mit dem Pastor Bohne!« Wir grinsten. Er grinste mit, bestellte eine neue Runde Schnaps und rief. »Prost das ganze Gemiese!« »Hurrah!« schrien wir. Es war ein vergnügter Abend. Hinten, im friedlichen Dorf, im Kasino, weit weg von der Somme, die, wenn die Karte recht hatte, ein Fluß war, für uns nur ein gelber Schützengraben in einer ehemaligen Wiese, mit keiner Blume auf dieser Wiese, es sei denn, man nehme die rotgrauen Feuertulpen der explodierenden, kleinkalibrigen Granaten dafür.
Übrigens bekam der Thüringer später einen Lungenschuß, auf eine ganz dumme Weise, aber das gehört nicht hierher, bekam einen Schuß, der ihn kriegsdienstuntauglich machte, und für ihn schickten sie uns unseren Gelbhäutigen wieder, der sich freiwillig gemeldet hatte, mit seiner verkorksten Hand, drei Finger waren weg, dort im Pierre-Vaast-Wald, heut wachsen Brombeeren drüber, aber seine Frechheit war geblieben.
Man konnte so gut mit ihm über Stendhal reden, aber zur Sache, als er eintraf, lagen wir in Flandern, doch wenn wir die Nase zum Graben hinausstreckten, wahrhaftig, da war’s wie an der Somme, und keiner von uns, auch der Klügste nicht, auch der Doktor nicht, konnte einen Unterschied herauskriegen.
Und wenn’s des Nachts ruhig war, der Mond zwischen den Sternen ging wie in Afrika und Australien und überall – doch sprechen wir nicht davon, hören wir auf!
In: Vossische Zeitung, Nr. 165, 17.7.1927
Auf einem Hügel über Aichach
Wir hatten zwei Tage Wanderung hinter uns, waren von Dachau aus nach Indersdorf gegangen, über viele grüne Hügel hinweg, hatten in Indersdorf die Nacht verbracht. Am andern Morgen wieder ging’s weiter, es ging über Altomünster, mitten durch altes bayrisches Land, es ging nach Aichach, Indersdorf, oh, das lag schön, und das Schönste war das Kloster dort, ein riesiger Bau, mit mächtigen Türmen, und Altomünster, oh, das war noch schöner, still und einsam, und da war die schönste Wirtsstube, die ich jemals sah, weißgedielter Fußboden, weiße Tische, weiße Bänke, aber weiter gingen wir, vorwärts, wir gingen nach Aichach. Aichach nun, so schön wie Indersdorf, so schön wie Altomünster ist es nicht, es ist behäbig, fett sogar, bürgerlich, bäurisch, bayrisch, aber wir blieben dort noch zwei Tage, und nicht in Indersdorf und nicht in Altomünster.
Und am Nachmittag des zweiten Tages gingen wir auf einen Hügel vor dem Ort, auf einen Wiesenhügel, der unvermittelt aus der Ebene aufsteigt und sahen weit in die Ebene hinein. Wir sahen über welliges Land dahin, am Horizont waren Wälder, grüne Wiesen unter uns, von einem Fluß bewässert, der tiefeingegraben,
krumm, schwarzglänzend dahinzieht. Ecknach heißt er.
Und da kam eine Spielzeugfigur daher, ein Mann, ein Angler, trug einen Rucksack, hatte eine Angelgerte unterm Arm, ging die Ecknach entlang, suchte nach einem guten Fischplatz. Er schien einen gefunden zu haben, unter einer Gruppe hellgrünbeflaumter Birken. Aber er hatte keine Geduld, der Mann, angelte nur fünf Minuten, dann zog er die Schnur wieder aus dem Wasser und ging weiter, dem Ufer entlang, nach einem noch besseren zu spähen.
Die Uferränder der Ecknach sind schwarzerdig. Moorboden ist hier immer noch, und das sieht gut aus gegen das
Grün der Wiesen. Der kleine Angelmann ging immer weiter, er wurde kleiner. Ganz fern nun, hielt er, angelte wieder. Aber wir betrachteten ihn nun nicht mehr. Wir sahen etwas anderes von unserem Hügel aus. Es kamen zwei Bauern über die Wiesen daher, in schwarzen Röhrenstiefeln, in enganliegenden schwarzen Lederhosen, Westen mit Silberknöpfen und kurzen Jacken und runden, schwarzen Hüten, schwarz von oben bis unten, die Männer, bis auf die Silberknöpfe, und diese Tracht sieht lustig und verwegen aus, ein bißchen spanisch, nach Stierkämpfern.
Die beiden Bauern waren betrunken, so schien’s, hielten sich bei der Hand wie Kinder, gingen über die Wiesen, einem Dorf zu, das rechterhand unter uns lag, auf Wiesenpfaden strebten sie diesem Dorf zu, dem Dorfwirtshaus zu, Hand in Hand, leicht wackelnd. Über einen Holzsteg gingen sie über die Ecknach, und die lustigen Bauern warfen die Holzstange, die das Geländer des Stegs bildete, ins Wasser und freuten sich ihrer bösen Tat. Dann kam wieder eine große, grüne Wiese, die überquerten sie, klein sahen sie aus, zierlich, wie Spielzeug, und plötzlich kam ihnen unser Angler entgegen, der auch mit seinem letzten Angelplatz nicht zufrieden gewesen war, und gerade in der Mitte der grünen Wiese trafen sich die drei, die sich anscheinend kannten und begannen ein Gespräch. Der Angler stand ruhig, aber die beiden Bauern konnten nicht ruhig stehen, traten von einem Bein auf das andere, lachten, man sah es, daß sie lachten, sie lachten mit dem ganzen Körper, mit Armen und Beinen.
Dann nahmen sie Abschied voneinander, die drei, der Angler ging nach Aichach zu, die Bauern in der Richtung des Dorfes, und fingen mit einemmal an, zu tanzen und zu hüpfen wie Buben, ungelenk, komisch, voll Lebensfreude, die beiden schwarzen Bauern. Sie verschwanden dann im Dorf, der Angler war wohl schon in Aichach, die grünen Wiesen lagen unter uns, die Birken standen weißrindig, grünbeflaumt, Hühner liefen über die Wiese und ein Hahn krähte frech.
Das war ein Aprilsonntagnachmittag auf einem Hügel über dem oberbayrischen Marktflecken Aichach.
In: Frankfurter Zeitung, Nr. 339, 6.5.1928
Der Ledergepanzerte
An jenem Märztag 1918 – wer gesund war und ein Mann war, und auch mancher Mann, der nicht gesund war, befand sich im Krieg, (es waren aber auch Gesunde zu Haus, in der Heimat, aber das waren vielleicht doch keine rechten Männer), an jenem Märztag 1918 lagen wir bei Bapaume, und es wollte nicht recht voran, wie es doch sollte, und wir lagen untätig in verlassenen, verfallenen Schützengräben herum, nicht mit gutem Gewissen, wie die Jahre vorher, denn jetzt und hier hatte es doch »Angriff« und »Vorwärts« geheißen, – an jenem Märztag 1918 also hatte sich mit vielen anderen Soldaten, weißen und farbigen, auch ein englischer Motorradfahrer zu den Toten aufgemacht. Es mußte an eben diesem Märztag gewesen sein, denn als wir ihn fanden, wies er alle Merkmale eines eben Gestorbenen auf, und was wir waren, wir hatten schon einen Blick dafür, ob einer seit zwölf Stunden tot war, oder seit sechsunddreißig.
Ich hatte da in meinem Loch und Kompagnieführerunterstand neben mir einen Reiterleutnant liegen, der hatte sich freiwillig zu uns, zu einer Fußtruppe, gemeldet. Die Kompagnie war in Gräben dreißig Meter weiter rückwärts untergebracht, und die Kompagnie wartete, und wir warteten, und Warten ist langweilig, so erzählten sich die Leute Geschichten und der ehemalige Reiter erzählte mir – was sollte er schon erzählen? – eben Pferdegeschichten. Tja, was war der Mann traurig, daß der Krieg eine solche Wendung genommen hatte, daß nun Reiter, die nichts taugten, hinten, irgendwo hinten Schnickschnack trieben und es Dienst nannten, und solche, die was taugten, gezwungen waren, aus dem Sattel zu steigen und zu Fuß sich umzutun!
Tja, darüber war der Mann neben mir nun sehr traurig und wurde ganz wehmütig, wenn er gar der alten Ritter
dachte, und fing an, mir von denen was vorzuschwärmen, des Langen und des Breiten. Ritter, sagte er, gepanzerte Ritter, gibt es nicht mehr! Nein!, sagte ich, gibt es nicht mehr! Solche Burschen, sagte er, hätte er gern einmal gesehen!
Wir duckten uns tiefer in das Loch, weil gerade ein Flieger über uns kreiste, ein englischer, wir hörten es am Motorgebrumm, es war schon gegen Abend, das war die Fliegerzeit.
Dann kam rasch die Dämmerung. Vor uns lag ein Hügel, den erklomm eine Straße und wir kletterten aus unserem Loch, jetzt in der Dämmerung, und gingen die Straße hügelhinan, feindzu. Es war alles durcheinander damals, wir wußten nicht recht, wo die feindliche Linie lief, hatten nur zu warten, bis wir irgendwo eingesetzt werden würden, wahrscheinlich wußte niemand genau, wo der Feind saß – und gestern hätten sie uns bald ein paar Essenträger geschnappt, die in der Dunkelheit bis zu einer englischen Grabenstückbesatzung gestolpert waren, um in übertriebener Nächstenliebe den Engländern, die doch mehr und besseres wie wir zu essen hatten als wir, Büchsenstampf zu bringen. Die Engländer hatten unfreundlich abgelehnt, auch ein bißchen geschossen, nichts getroffen, nur einen Feldkessel durchlöchert, aus dem nun alles Flüssige auslief, und als der Kesselträger zurückkam, war nur noch ein kleines bißchen Fleischbrei in dem Blechgehäuse, weil eben das Flüssige sich davongemacht hatte, und das Flüssige war das mehrere gewesen.
So stands also damals mit der Front, und so wagten wir es in der Dämmerung die Straße hügelan zu gehen, dem Feind zu, ich und der Reiter und Ritterschwärmer. Der Weg machte eine Krümmung, ich blieb etwas zurück, brachte an meiner Wickelgamasche etwas in Ordnung, (an einer Wickelgamasche ist immer etwas in Ordnung zu bringen) folgte um die Ecke nach und da sah ich meinen Mann in zusammengeraffter Haltung, stramm stehend, ernsten Gesichts, die Hand am Mützenschirm, als salutiere er einem General.
Nun, er salutierte einem toten englischen Motorradfahrer, der da am Straßengrabenrand neben seinem Rad lag. Der Tote war ganz in Leder eingewickelt, Leder unten und oben, nur vom Gesicht waren Augen und Nase und Mund und Kinn frei. Er lag da, in Leder gepanzert, eine lederne Sturmhaube über den Kopf gezogen, die Hände in großen ledernen Stulphandschuhen, es war Dämmerung, und der Tote sah wie ein Ritter aus, neben ihm lag das Pferd, lag das Rad, metallisch blinkend, auch gepanzertund ich verstand schon meinen Begleiter, der ein bißchen verträumt war und romantischen Sinns und ein bißchen gefühlsübertrieben, und um ihm auszudrücken, daß er so unrecht nicht hatte, daß ich seine Meinung ein wenig teilte, seine Herzenswallung begriff, salutierte ich auch. Wenn ich allein gewesen wäre, hätt‘ ich’s nicht getan, wahrscheinlich nicht, sicher nicht.
Mein Gott, wir konnten doch nicht vor jedem Toten salutieren, da wären wir weit gekommen, aber an jenem Märzabend 1918 salutierten zwei bayerische Offiziere einem toten englischen Motorradfahrer, bloß weil er einem gepanzerten Ritter glich.
Wir blieben vielleicht eine halbe Minute so stehen, ein bißchen erschüttert wohl, und ein bißchen spielerisch, dann nahmen wir gleichzeitig und schnell die Hände von den Mützen, wir waren doch keine Kinder, die Märchen spielten, wir waren doch keine Komödianten, und nahmen dem Toten die Meldetasche vom Gürtel und schickten sie nach hinten zum Stab, es konnte doch was Wichtiges drin zu finden sein, möglicherweise.
In: Der Tag, Berlin. 7.10.1928
Hinterhauser und sein Fräulein
Wie soll ich diese Geschichte erzählen, die wahr ist, und weil sie wahr ist, ein übles Licht auf uns alle wirft, die wir drin vorkommen, wie soll ich sie erzählen, wie soll ich sie vortragen, daß wir nicht gar zu schlecht abschneiden im Urteil der Braven und Unbescholtenen, die unsere Richter sind?
Im Frühjahr 1916 lagen wir in den Côtes Lorrains in stark ausgebauten Schützengräben. Es war nicht viel los dort um diese Zeit, und unser schlimmster Gegner war nicht der Franzose, sondern der Regen, der Regen, der Regen.
Einmal, es regnete gerade nicht, saßen wir vier Offiziere der Kompagnie in einem Unterstand zusammen, und der Leutnant Hinterhauser erzählte, und es war nichts Schönes, was er uns erzählte, und wenn ich sage, daß er ein Theologe war, so sage ich das nicht, damit seine üble Tat sich noch schwärzer male, ich sage es, weil es die Wahrheit ist.
Der Leutnant der Reserve Hinterhauser also, als der Krieg ausbrach, ein Student der protestantischen Theologie im fünften Semester, und nun seit fast zwei Jahren Soldat, ein hübscher Kerl mit braunen Backen und gesunden Zähnen, erzählte uns, daß er im letzten Urlaub ein weibliches Wesen mit allerhand Reizen kennengelernt habe, die ihm half, die Heimattage, die wenigen, angenehm zu verbringen. Zwar, er habe sie in gutem Andenken, aber mit allzu heftigen und dringenden und verliebten Briefen habe sie sich an ihn gedrängt, habe zu schwärmen begonnen vom nächsten Zusammensein, und er, nun er – er wolle sie nicht wiedersehen, weil er, ganz einfach, genug von ihr habe, und darum habe er lange darüber nachgesonnen, wie er das stürmische Fräulein endgültig aus seinem Leben bringe.
In seiner Not, erzählte er uns, habe er zu einem Mittel gegriffen, das er selber verwerflich, abscheulich, teuflisch nennen müsse. Und er erhob sich, Hinterhauser, machte eine lange und wirkungsvolle und ängstliche Pause, und stehend und die Hände auf den kleinen Tisch gestützt, schrie er wütend und verlegen: Er habe dem Fräulein durch seinen Burschen schreiben lassen, er sei gefallen! Er habe seinem Burschen Karl den Brief in die Feder vorgesprochen, und für das Fräulein sei er nun tot und begraben.
Ein wenig gruselte es uns, als wir in das braunbäckige Gesicht Hinterhausers sahen, der für irgendjemanden da draußen tot war. Wir waren alles alte Soldaten, allerhand gewöhnt, vieles gewöhnt, aber es gruselte uns, wenn wir es uns auch nicht merken ließen.
»Ja«, sagte Hinterhauser, nun schon wieder sitzend, nun schon wieder gelassen, »aber damit beruhigte sich das Fräulein keineswegs.« Es nahm, erzählte er, nun den Briefwechsel mit Karl, seinem Burschen auf, schrieb Briefe mit hundert Fragen, mit tausend Fragen, wo sein Herr gefallen sei, wie die Art der Verwundung und ob er gleich tot gewesen sei? Wie seine letzten Worte gelautet hätten? Jede Einzelheit, jede Kleinigkeit wollte es wissen!
Und Hinterhauser, erzählte er uns, gab eine eingehende Schilderung seines eigenen Todes, erfand rührende letzte Worte, die sich seiner granatzerfetzten Brust entrungen hätten, er war doch Theologe und redegewandt, und darüber hinaus, er hatte sein Vergnügen daran, die Darstellung seines letzten Stündleins in dem Ton zu halten, wie sie wohl dem Bildungsgrad, dem Ausdrucksvermögen eines einfachen Mannes entsprach, wie es sein Bursche war, und dieser, sein Diener, sein Mitschuldiger, schrieb und schrieb, schrieb alles, was sein Herr nur wollte.
Aber das Fräulein, ein hartnäckiges Wesen, war immer noch nicht zufrieden. Es schickte dem Burschen Wurst und Schnaps und wollene Unterwäsche allwöchentlich und fragte und forschte und bohrte und schrie nach einem Andenken an den Toten, nach einem Ding, das er im täglichen Gebrauch gehabt habe, nach seinem Taschenmesser zum Beispiel, das sie damals, in den verflossenen Urlaubstagen, bei ihm gesehen hatte.
Und Hinterhauser kaufte sich beim Marketender ein neues Messer und schickte das alte durch seinen Burschen dem Fräulein, dessen rührende Liebe zu dem Toten zu beobachten ihm eine aus Freude und Scham gemischte Aufregung bereitete.
»Und wahrhaftig«, sagte Hinterhauser, »wenn ich mich traute, dem Fräulein jetzt zu sagen, daß ich noch lebe, wenn ich den Mut hätte, es in meine Karte schauen zu lassen, wenn ich mich nicht so schämte, alles aufzudecken jetzt hätt‘ ich wahrhaftig Lust, das treue Wesen wiederzusehen, aber, nicht wahr, jetzt kann das alles nicht mehr sein!«
Im Unterstand brannte nur eine einzige Kerze, wir tranken Kaffee aus unsern Feldbechern, rauchten und Hinterhauser sah von einem zum andern und versuchte die Geschichte wie eine lustige Geschichte zu erzählen, aber obwohl wir ihm gern den Gefallen getan hätten, konnten wir nicht recht lachen.
»Ja«, sagte Hinterhauser, »aber sie gibt noch immer nicht Ruhe. Es ist toll, was sie jetzt will!«
Die Franzosen hatten eine Mine herübergeschickt, das taten sie manchmal nachmittags, täppisch scherzend, eine einzige Mine, die war in der Nähe unseres Unterstandes niedergegangen, es rieselte hinter den Holzbohlen, und die Kerze verlöschte von dem Luftdruck.
Wir saßen im Dunkeln, und das kam Hinterhauser gelegen, und er sagte schnell aus dem Finstern heraus: »Sie will ein Bild von meinem Grab.«
Ich gönnte ihm sein Versteck im Schwarzen, brauchte drei und vier Streichhölzer, bis die Kerze wieder brannte, das richtete ich schon so ein.
»Ja«, sagte er dann, »ich hab‘ nun hier meinen Namen drauf gemalt«, und er zog aus der Tasche eine ovale Blechtafel, drauf stand:
Hier ruht der
Lt. d. R. Hinterhauser, xtes Infanterieregiment.
Gefallen am 21. Februar 1916
»Du hast so einen Kasten«, sagte Hinterhauser zu mir. »Jetzt gehen wir auf den Friedhof hinter unserer zweiten Stellung, da befestige ich die Tafel auf einem Kreuz, und du knipst mein Grab!«
Wir kletterten hinter ihm aus dem Unterstand, es war am Nachmittag um vier Uhr, ein grauer Aprilhimmel war über uns, es war kalt, die Posten standen gelangweilt in ihren Nischen, und wir gingen im Gänsemarsch durch den Kampfgraben, gingen ein Stück den Laufgraben zurück, dann kam Wald. Wir stiegen aus dem Graben, gingen ein Stück in den Wald hinein zu dem Friedhof, den die Preußen angelegt hatten, zu dem Waldfriedhof mit den schiefen Kreuzen.
Hinterhauser klemmte sein Täfelchen auf das Kreuz eines noch ganz gut erhaltenen Grabes, und ich nahm meinen schwarzen Kasten und drückte ab, während die andern verlegen lächelnd beisammen standen.
So war es, so taten wir an diesem grauen Apriltag, es war nicht schön, wir zitterten, das war der kalte Wind, was sonst?
An den Abend begann es wieder zu regnen, und wir tranken viel, aber es war doch ungemütlich, denn ich konnte mich wehren, wie ich wollte, ich sah immer wieder ein Gesicht mit braunen Backen sich verwischen, verformen, verrutschen, das Fleisch zerschmolz, die gesunden Zähne blieben, und dann war das wie ein Totenschädel, was über dem Kragen Hinterhausers saß und mich freundlich anfletschte.
Ich ging übrigens den Tag darauf wieder zum Friedhof zurück und nahm das Hinterhausersche Täfelchen vom Kreuz, damit die ursprüngliche Inschrift, die den Musketier Z als gefallen meldete, wieder die Wahrheit sprechen konnte. Das, schien mir, war ich dem Musketier Z. wohl schuldig, der ein wackerer Mann gewesen sein mußte, denn er war gefallen, und das ist schon eine Sache, die Achtung einflößt – und unbesehen darf man solch einen Mann wacker nennen.
Es hat in diesem Krieg, den den Weltkrieg zu nennen man übereingekommen ist, auf deutscher Seite an die zwei Millionen Tote gegeben, und als man das am Kriegsende übersah, war auch Hinterhauser unter ihnen.
Er war unter ihnen, war gefallen, wie eben viele fielen in diesem Weltkrieg – wie müßte man sich denn auch benehmen, was sollte man denn auch davon halten, was sollte man denn auch mit sich anfangen, wenn sein Tod mehr und ein anderer gewesen wäre als der übliche und häufige und billige und kostbare und blutige und wackere Soldatentod?
Und schließlich steht auf einem solchen, wenn auch unpassenden Spaß doch nicht die Todesstrafe, doch auch nicht für einen Studenten der Theologie, obwohl er sich für ihn schon gleich gar nicht schickt – und, wie gesagt, da waren ja noch zwei Millionen Tote, die nicht so übel gescherzt hatten und doch dran glauben mußten, die Verluste der Feinde gar nicht eingerechnet.
Und wacker diese wie jene und auch Hinterhauser!
Und ich, Hinterhausers Mitschuldiger, lebe ja auch noch, und wenn ich an jene Monate zurückdenke, habe ich Regen, Regen, Regen in Erinnerung, der uns wusch in vielen Tagen und Nächten, wohl auch jene Schuld abwusch von uns, so daß ich mich diese Geschichte zu erzählen traue und zu hoffen wage, daß wir nicht gar zu schlecht abschneiden im Urteil der Braven und Unbescholtenen, die unsere Richter sind.
In: Berliner Illustrirte Zeitung, Nr. 51, 16.12.1928
Ein Pferd überm Fluß
Als wir, und das war gestern, uns in den Anlagen an der Isar trafen, wo die Wege feuchtschwarz glänzten, obwohl seit Tagen kein Regen gefallen war, wo an den Weidenästen schon die ersten grausamtnen Kätzchen saßen, da betrachteten wir die handgroßen, blauen Flecken am sonst farblosen Himmel und erinnerten uns, daß wir in einem großen Saal zwischen bunten, papiernen Wänden und unter künstlichen, gelben und roten Monden getanzt hatten, auf glattem Parkett, auf spiegelndem Holz – und nun gingen wir auf feuchtschwarzen Wegen und der Sand knirschte bei jedem Schritt, bei jedem Schritt. Es war nun kein Mond da, auch keine Sonne, es war um vier Uhr nachmittags, graues Licht kam von überall her, und die Isar war grün und rauschte ein wenig herauf, ein wenig herauf. Du trugst jetzt ein blaues Jackenkleid, bis hoch oben geschlossen, und weil auch deine Hände in Leder vermummt waren, sah ich Fleisch und Haut und blaugrünes Aderngeflecht nur in deinem Gesicht, in deinem klaren und strengen Gesicht, und vor vierzehn Tagen doch, im Saal mit den Papierwänden, war dein Rücken tief entblößt gewesen, und dein Hals bis zum Brustansatz, und du hattest dich nicht geschämt, deiner Blöße nicht geschämt, aber war es nicht, als holtest du jetzt das nach, jetzt im hochgeschlossenen, blauen Jackenkleid unter dem farblosen, dem grauen Himmel, jetzt, wo der feuchtschwarze Sand unter deinen Schuhen knirschte, wie singend knirschte? Und damals, damals, da hatte ich dich doch auch geküßt, aber jetzt, wo die Weidenäste mit den grausamtnen Kätzchen uns den Weg sperrten, jetzt sahst du immer weg von mir, zeigtest nicht einmal die roten Lippen, die du mir vor vierzehn Tagen willig geboten hattest, begehrlich geboten hattest.
Aber nun stand ich still, und da mußtest du auch stehen bleiben, und nun sahen wir beide auf die schnellfließende Isar hinab. Wir sagten nichts, auch der Weg schwieg nun, da wir standen, Wind ging, warm, das war Föhn, und die Weidenäste zitterten, zitterten.
Da blies drüben, überm Fluß, der Frühling auf seiner Trompete. Es war ein hellschmetternder Ton, so konnte nur der Frühling blasen, aufreizend. Es war aber ein Pferd, das wieherte, ein Pferd, das ein Mann am Zügel führte, und weil das Pferd trabte, mußte der Mann auch traben, und das Pferd, ein braunes Pferd, schrie wieder, und das war natürlich das Frühlingspferd, das da trabte, das war natürlich die Frühlingspferdehalstrompete, die da schallte, flußüber.
Ein paar Enten flogen auf, strichen dicht übers Wasser, fielen platschend und gleitend wieder
ein. Das trabende Pferd, das braune, und der trabende Mann, Kopf neben Kopf, ein Wesen, zweiköpfig, sechsfüßig, nun war es weg, war nicht in die Luft gestiegen, wie es wohl gekonnt hätte, wie es sich wohl geschickt hätte, war bloß in eine Nebenstraße abgebogen.
Die Weidenäste zitterten… Aber über der Brücke hing jetzt, gelb und gekrümmt, der Mond, messinggelb, wie eine Trompete, und blies aufreizend und lautlos darauf nicht der Frühling, mit Jünglingslippen, mit Lippen, wie deine, in deinem strengen, klaren Gesicht?
In: Vossische Zeitung, Nr. 101, 1.5.1929
Über die Schnelligkeit
Zwei Erinnerungen
Es ist viel von Schnelligkeit die Rede, heute, wir leben im Zeitalter der Schnelligkeit, sagt man, und Kraftwagen und Eisenbahnen, glaubt mancher, geben die deutlichste Anschauung davon. Ich kann nicht dieser Meinung sein, denn wenn ein Schnellzug, zum Beispiel, mit wilder, eiserner Wucht, klirrend und stampfend und wackelnd an mir vorbeikracht, ein tobendes Gewitter, donnernd, schallend, aber ohne Blitz, so ist er mir nicht ein Bild der Geschwindigkeit, eher eins der Kraft und des ungetümlichen Ungestüms.
Nur Mensch und Tier können mir den erregenden Eindruck von Schnelligkeit vermitteln, und am blitzwendigsten ist jedes Geschöpf in Gefahr, in Todesgefahr.
Das wußte der Soldat, der, an der Grabenwand der rückwärtigen Stellung lehnend, einem Meldegänger, der ihn fragte, wie weit es noch bis zum vorderen Graben sei, zur Antwort gab, nachdem er die Pfeife aus dem Mund genommen und jägerbedächtig über das Gelände hingespäht hatte, das flach wie ein Teller vor ihm lag:
»Zehn Minuten, wenn sie aber herschießen, brauchst du nur fünf!«
Ich habe das Gesicht dieses Meldegängers nicht gesehen, als »sie« herschossen, aber einmal das Gesicht eines Offiziers beobachtet, der sich in einer ähnlichen Lage befand.
Wir sollten abends ablösen, in einer neuen Stellung, an einer Großkampffront, und um die Zumarschwege zu erkunden, hatten wir vier Kompagnieführer unseres Bataillions schon am Nachmittag einen Radausflug nach vorn gemacht. Wir waren unbehelligt bis zu einem Dorf dicht hinter dem für uns bestimmten Abschnitt gekommen, hatten von da aus unsere Gräben liegen gesehen, waren nun im Bild und bestiegen unsere Räder wieder, um zu unseren Kompagnien zurückzukehren. Die Straße war schlecht, zerfahren, auch mit Granatlöchern besät. Wir strampelten also zurück, da rauschte es in der Luft, wir brauchten uns nicht umzusehen, das Rauschen kannten wir, das waren Granaten. Die erste schlug dicht hinter uns ein, der Luftdruck schob uns nach vorn, als hätten wir einen Stoß von einer Riesenfaust bekommen, Staub wölkte, wir traten fest darauf. Es kamen aber noch mehr Schüsse, sie lagen gut auf der Straße, »sie« waren gut eingeschossen, und jetzt polterte eine Granate gar vor uns auf dem Weg nieder.
Wir sausten los, eifrigst, grad auf die Staubfontäne zu, hindurch, hinter uns krachte es schon wieder, ich sah zur Seite, die Lenkstange hatte ich krampfhaft umklammert, da strampelte auch einer, tief aufs Vorderrad gebeugt. Das Gesicht kannte ich doch, kannte es seit Jahren, und erkannte es doch kaum wieder. Das Gesicht war aufs äußerste verzerrt, und eben jetzt war mein Nebenfahrer in eine Wagenspur geraten, das Rad rutschte, er hing schief zur Straße auf dem Rad, stürzte aber unbegreiflicherweise nicht, kam wieder zurecht, länger als diese winzige Spanne Zeit konnte ich nicht hinüberschauen, ich hatte genug mit mir selber zu tun. Aber das Gesicht vergesse ich nicht, das verzerrte, verzogene, verkniffene Gesicht dieses Radlers, der um sein Leben radelte. Das Gesicht drückte nicht Todesangst aus, der Mann hatte keine Zeit, Todesangst zu haben, er hatte allen Willen angespannt, schnell zu sein, vorwärts zu kommen, vorwärts zu fliegen.
Das Feuer hörte dann auf, wir fuhren wieder langsam und stellten nur fest, daß wir geschwitzt hatten, tüchtig geschwitzt.
Ich habe nur einmal etwas gesehen, was mir den Eindruck nach größerer Schnelligkeit gab, noch schneller war als dieser radelnde Offizier: das war ein Tier, und das war schon zehn Jahre früher als damals dort in Flandern.
Wir hatten zu Hause eine Katze, ein schönes, schwarzes Tier mit glänzendem Fell, wir liebten es alle eifersüchtig, Vater und Mutter und wir Geschwister, aber die Katze, glaube ich, liebte uns nicht, wie Katzen schon sind. Sie duldete gnädig unsere Zärtlichkeiten, ließ sich streicheln, aber oft, während sie noch schnurrte, und ich selig war, daß sie sich streicheln ließ, und sich herabließ zu schnurren, richtete sie sich plötzlich auf, auf einmal spürte ich, daß das Tier auch Knochen hatte (wenn es so auf meinem Schoß sonst lag, spürte ich das nicht), streckte den Schweif hoch, sprang mir vom Schoß und ging nachlässig fort, ohne sich auch nur umzusehen, ohne auf die Lockworte zu hören, ging irgendwohin, wohin es die Lust ankam, in eine Ecke, aufs Fensterbrett, unter das Bett, irgendwohin.
Diese schwarze Katze liebte über alles die Wärme und so liebte sie die Küche, wo auch im Herbst, wenn das Wohnzimmer noch nicht geheizt war, Feuer im Ofen war und oft lag sie an Nachmittagen auf der Herdplatte, die noch Wärme vom Mittagessenfeuer aufgespeichert hatte.
Einmal nun wurde, was selten vorkam, abends der Küchenherd nochmals angeschürt, meine Mutter tat es selber, und kam dann wieder ins Wohnzimmer, und nach einiger Zeit schickte sie mich hinaus, ich sollte nach dem Feuerschauen.
Ich betrat die dämmerige Küche, aus dem Ofenloch fiel rote Glut über den Boden und gleichzeitig hörte ich ein sonderbares Geräusch, trappelnd, dumpf, hohl, als schlüge jemand mit einem Stock, an dem man vorn einen Wollknopf befestigt hat, rasch gegen Blech. Ich wußte nicht gleich, woher das Geräusch kam, sah mich, ich war ein zehnjähriger Bub, erschrocken um, der Lärm kam vom Ofen her, wurde immer heftiger.
Die Herdplatte war leer, bis auf einen eisernen Topf, ich dachte, daß vielleicht das Holz im Ofen so krachte, vielleicht war ein mit Harz durchsetztes Scheit ins Feuer gelegt worden, das krachte ordentlich, wußte ich aus Erfahrung. Aber das hier war denn doch ein anders geartetes Geräusch, das Getrappel schwoll an, nun schlug es wie eine kräftige Faust gegen hohles Blech, wie Blechdonner im Theater klangs, und nun glaubte ich zu hören, daß der Lärm aus der Bratröhre kam, und ohne mir Rechenschaft zu geben, wie es in der Bratröhre so donnern könne, riß ich die Blechtüre auf, und heraus schoß wie ein feuriger schwarzer Teufel aus der Röhre unsere schwarze Katze, in einem mächtigen Satz, flog ohne den Boden zu berühren, wie ein abgefeuertes Geschoß bis zur Küchentür und verschwand ohne Laut.
Sie hatte Wärme gesucht, die Katze, hatte es sich in der Bratröhre bequem gemacht, meine Mutter hatte die Türe geschlossen und Feuer gezündet und nun bekam das Tier Glut genug und mehr als genug.
Es ging mir lang nach, mir vorzustellen, wie die Katze, als der Boden unter ihren Füßen anfing sich zu erwärmen, von Fuß auf Fuß trat, immer schneller, immer schneller, daß es wie Pferdegetrappel klang, im engen, schwarzen Raum, im Finstern, von sechs Blechwänden umgeben, in Gefahr, gebraten zu werden, wie manche Gans und manche Ente schon in der Röhre gebraten worden war – wär der seltsamste Braten gewesen unserer Küche!
Und also hab ich nie etwas Schnelleres gesehen als die flüchtende Katze, die feurig aus dem dunklen Loch herausflog, und ich glaube heut noch, daß ich damals sah, daß ein Schweif von Feuer und Rauch mit ihr flog – vielleicht hatten die versengten Haare schon angefangen zu glühen!
Sie hatte übrigens keinen Schaden erlitten, keinen wesentlichen Schaden, stellten wir fest, als wir sie unter dem Bett hervorholten, wo sie sich verkrochen hatte, knurrend. Zwar die schwarzen Ballen unter ihren Füßen trugen Brandwunden, sie ließ sich später geduldig Öl darauf streichen und ließ sich verbinden und humpelte auf vier weißverbundenen Beinen herum, und als man ihr die Verbände abnahm, die Wunden aber noch nicht ganz verheilt waren, hielt sie sich am liebsten im Hausgang auf, der mit Steinen gepflastert war, das war wohl kühlend.
In: Münchner Illustrierte Presse, Nr. 4, 1930
Sarganekdote
Als Katharina nach dreiviertelstündiger Fahrt auf den harten Holzbänken der dritten Klasse nachmittags um drei Uhr bei hellem Sonnenschein den kleinen verstaubten Bahnhof verließ, der trostlos allein neben der Straße stand, kein Haus sonst weit und breit, und sich aufmachte nach Pflengenreuth, eine halbe Stunde Wegs war wohl noch bis dorthin – oh, sie kannte den Weg wohl gut, wohl sehr gut, kannte wohl jeden Baum der hundert Bäume, die den Weg säumten, jeden Baum, im Sommer und im Winter, sie war ihn auch oft genug gegangen, diesen Weg, weiß Gott, oft genug, wohl zu oft, öfter als gut war, in den letzten zwei Jahren, bei jeder Witterung –, stand dort, wo Pflengenreuth lag, das von hier aus noch nicht zu sehen war, es war von einem flachen Höhenzug verdeckt, stand dort am blauen Himmel über Pflengenreuth eine düstere schwarze Rabenwolke, die ein Gewitter anzeigte.
Katharina mochte wohl hoffen, noch vor Ausbruch des Unwetters das Dorf zu erreichen, und sie war durchaus in der Stimmung, auch ein Gewitter, das sie zu überraschen käme, nicht zu scheuen, war durchaus in der Stimmung, ein solches sogar herbeizusehnen, und so ging sie festen Schrittes dahin, mitten auf der Landstraße, mitten in der prallen Sonne, nicht am Rand der Straße, links oder rechts, wo Baumschatten gewesen wäre, links und rechts, ging gerade, als sei sie ihr Ziel, auf die große schwarze Rabenwolke los. Der Wolkenvogel wuchs rasch, seine Flügel, gelb und weißlich gerändert, schwangen immer breiter am Himmel, und bald wohl war seine tiefschwarze,
ungeheuer gewölbte Kehle über ihr, und der Vogel flog weiter fort und über sie hinweg, dahin, wo sie herkam, ins Sonnige, ins Blaue, und wer weiß wohin rauschend und dunkeldrohend zu fliegen ihm der Sinn stand.
Katharina ging nach Pflengenreuth zu dem Mann, den sie liebte, und sie hatte nie zuvor einen anderen Mann geliebt, sie ging zu dem Lehrer von Pflengenreuth, den sie liebte, der sie aber nicht mehr liebte, und sie ging zu einer letzten Unterredung mit ihm, die herbeizuführen wohl sinnlos war, ganz und gar sinnlos, vor der er sich fürchtete, er hatte es ihr geschrieben, die auch sie fürchtete, das hatte sie ihm geschrieben, die sie aber als notwendig empfand, die aber unbedingt stattfinden mußte, auch wenn sie sich beide davor bangten, und wenn sie sich fragte, was sie ihm wohl sagen wollte, ihm, dem Geliebten, der es noch immer und auf immer war, wenn sie ihn auch nicht mehr so nennen durfte, künftighin, so fiel ihr nichts weiter ein als dies: Ich möchte jetzt sterben!
Sie ging unter der dunkeln Wolke dahin, die Straße lag im Wolkenschatten jetzt, aber wenn sie nach links hin blickte, war über einem fernen Nadelwald noch Sonne, lag über dem Wald ein unwirkliches, gläsernes Licht, ein Vogelpaar hob sich jetzt aus dem Wald empor, hing unbeweglich in der Luft, kurze Zeit, und machte sich in schönen Schwüngen dann eilig davon. In die Bäume an der Straße war jetzt der Wind eingefallen, er drehte kleine Wirbel auf aus dem Straßenstaub, die fauchend um ihre Füße quirlten, sie ging, es fielen die ersten Tropfen, und aus dem Schwarz der Wolke leuchteten schweflige Lichter entfernter Blitze. Der Regen wurde stärker, ein Knurren lief über den Himmel, Donnerschläge jetzt schallten, nun rauschte der Regen herab, Katharina war ganz und gar durchnäßt bald, aber sie ging, sie ging.
Sie ging mitten auf der Straße, es war auch keine Möglichkeit, sich zu schützen vor dem Regen, auch wenn sie am Straßenrand unter den Bäumen gegangen wäre, hätte das wenig geholfen, dick troff das Wasser von den Blättern, aber sie suchte auch gar keinen Schutz, sie hätte jeden Schutz verschmäht. Sie ging, sie ging im Schwarzen und Nassen, und die Blitze waren jetzt näher und waren über ihr. Wasser schwamm über ihr Gesicht, vielleicht waren auch Tränen dabei, das meiste aber war Regenwasser, sie ging, sie ging, und wenn sie dem Geliebten dort in Pflengenreuth, dem geliebten Lehrer von Pflengenreuth doch nur sagen wollte, daß sie zu sterben begehre, so konnte ein Blitz sie daran hindern, es ihm zu sagen, indem er ihr diesen Wunsch rasch und feurig erfüllte, und so schloß sie die Augen, faltete die Hände vor dem Leib und ging, ging wie eine Blinde, mit den suchenden Tritten einer Blinden, und sagte inbrünstig und laut und in dem Ton, wie Wallfahrer beten, und sprach schluchzend das gotteslästerliche Gebet: »Komm, Blitz! Komm, Tod! Komm, Sarg!« Noch durch die herabgelassenen Lider ahnte sie den grellen Schimmer der Blitze, die sie umzuckten, aber sie öffnete die Augen nicht, ging und ging, der Donner dröhnte in ihren Ohren, und sie betete immerfort und immer lauter werdend, um durch den Donner die eigene tröstende Stimme zu hören, lallte und rief und schrie ihre böse Litanei: »Komm, Blitz! Komm, Tod! Komm, Sarg!«
Da brach ein Krachen nieder, schmetternd, daß sie wankte, schon glaubte, das Schicksal habe ihr den Willen getan, ihr das tötende Feuer geschickt, aber das Schicksal hatte keinen Blitz für sie, mußte sie erkennen, das Schicksal gab ihr nicht, noch nicht, mußte sie verspüren, den Tod, den sie begehrte, daß sie lebte, noch lebte, mußte sie verspüren, und so gab es ihr wohl auch nicht den Sarg, nach dem sie betete und schrie.
Sie öffnete die Augen, öffnete sie gerade jetzt, als sie in ihrem eintönigen Singsang bei den Worten war: »Komm, Sarg! c und da lag vor ihr am Straßenrand ein weißer Sarg, ein weißer Holzsarg, das Wasser lief an ihm herab, es war ein schöner, gelblichweißer Holzsarg, ein Sarg für einen erwachsenen Menschen, nicht vielleicht ein Kindersarg. Da lag am Straßenrand also der Sarg, den sie herbeigefleht hatte, und jetzt hob sich der Sargdeckel langsam und verschob sich, und ein blasses Gesicht sah aus dem Sarg, und ein Gesicht erhob sich weiß über den Sarg. Der im Sarg lag, hatte sich erhoben, und er rührte die Lippen, der Tote, denn in Särgen liegen doch nur Tote, aber was der Tote ihr zurief, verstand sie nicht, und vielleicht nahm sie an, der Tote wolle ihr Platz machen, weil sie so inbrünstig nach einem Sarg gerufen hatte. Der im Sarg lag, ging vielleicht gern wieder zurück ins Leben, während sie doch gern an seine Stelle wollte, vielleicht tauschte der Tote ganz gern mit ihr! »Komm, Sarg!« sagte sie noch, als ihr Herz aussetzte, als sie umsank gegen einen Baum und tief fiel, sehr tief fiel, und im bodenlosen Schwarzen unendlich und auf immer versank, die gefalteten Hände noch vor dem Leib, ein schwaches Lächeln noch auf den Lippen, weil der Sarg und mit dem Sarg der Tod nun doch noch zu ihr gekommen waren.
Der Schreiner von Pflengenreuth, der den von ihm gehobelten Sarg zur Bahn hatte bringen wollen und vor dem Regen Schutz in dem Holzgehäuse gesucht hatte und erschrocken war vor dem gewaltigen Donnerschlag und aus dem Sarg gespäht hatte, bleich, und mit bleichen Lippen ihr zugerufen hatte: »Der Blitz muß aber nah eingeschlagen haben!« – der Schreiner von Pflengenreuth stieg nun vollends aus der bleichen Kiste, stand nun doch auf der Straße im Regen, im nachlassenden Regen, blickte zum Himmel auf, wo die Wolken durcheinanderdrängten und schon wieder Blaues sehen ließen, sah vom Sarg, neben dem der Sargdeckel lag wie ein zweiter Sarg, auf seinen kleinen zweirädrigen Karren hin und vom Karren weg verständnislos zu der hingesunkenen Frau im Straßengraben, und war seinem Schicksal nun doch nicht entkommen, das es gewollt hatte, daß er an diesem Sommernachmittag vom Gewitterregen eisig durchnäßt werde.
In: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 5, 4.5.1930
Kleines Tagebuch
einer Fahrt durch Bosnien, die Herzegowina, Dalmatien, Montenegro und Albanien im Mai 1930
5. Mai in München ab, Tauernbahn, Kärnten. Bei Villach: Grün, wie das Grün der Spielzeugbäume, gelbe, bräunliche, zwieblige Kirchtürme, einzelne Hügel und Buckel wie Tische im Tal, ein italienisches-slawisches Tirol. An Kramburg vorbei, schön, grüngelb, ein großer Steinbruch. In Laibach gute, fette, weißgelbe Krainer Wurst. Abends Ankunft in Agram.
6. Mai Ein Tag Agram. Morgens zum Markt, den größten, den ich je sah. Blumenmarkt, Gemüsemarkt, Spinat, Zwiebeln, an Stroh geflochtne Schnüre gereiht. Grün, grün, grün. Bauernweiber, in weißen, rotbestickten Röcken und Blusen, Opanken an den Füßen, Körbe auf dem Kopf tragend. Eier, Milch, Käse in kleinen, runden, braunen Leibchen, Honig, Samen, Brot, weiß, rund, lang, Brezeln. Auf dem Fleischmarkt Lämmer, Kälber, mit durchschnittenem Hals, mit dem Kopf nach unten hängend, Staub, viel Staub. Fischmarkt, Seefische, Tintenfische, ein Hecht, armlang, armdick, Walter. Wurstmarkt: Würste, braun, geräuchert, Speck, in riesigen Stücken, wie Walfischspeck, geräucherter Schafskäse, Sonne, Staub, Goldfische, Singvögel, Hühner, Enten, Gänse, Truthähne. Alles Geflügelte liegt, mit zusammengebundenen Füßen, auf Bänken und Tischen. Später: Militär zieht vorbei, verschwitzt, von einer Übung kommend, Infanterie, viel Offiziere zu Pferd, Damen reiten mit den Offizieren.
Das Leben schon sehr balkanisch. Das einfache Volk fast bäurisch, die besseren Stände à la Paris.
Nachmittags in einer Kunstausstellung. Französische Abstracte: Leger, Braque etc. Später: In einem Tordurchgang, in einer Nische, durch ein eisernes Gitter geschützt, ein Marienbild, davor viele, brennende Kerzen, meterlange darunter, viele Votivtafeln. Beter, Beterinnen, alle kniend, Kerzen opfernd, manche weinend, alle Vorübergehenden das Kreuz schlagend. Eine Frau kämpft mit einer anderen um einen guten Platz für ihre Kerze.
Kaffeehäuser noch österreichischen Charakters. Große Photographien vom Kroatenführer Raditsch in den Schaufenstern.
Abends wieder zum Marienbild. Singende Mädchen vor den unablässig flackernden Kerzen.
7. Mai Früh Abfahrt von Agram, durch grünes Baumland, weidende Kühe und Pferde, über Sisak, Sunja umsteigen, Bosnien beginnt. In Dörfern neben der Bahnlinie die ersten Moscheen. Nachmittag in Banjaluca. Sallam sagen die Leute und tragen einen Fez auf dem Kopf. Bazar, klein, ganz orientalisch, Goldarbeiter. Der Muezzin ruft vom Minarett, Zapfenstreich von der Festungskaserne. Der Mond über der Vrbasbrücke. Orient in Europa, verschleierte Frauen. Gutes Essen in Banjaluca.
[…]
8. Mai Mit dem Auto von Banjaluca nach Jaice. Fahrt durchs Vrbastal. Jaice, am Berghang liegend, ein altes Kastell thront hoch. Schöner Abend. Die Pliva rauscht unter meinem Fenster. Heraufziehendes Gewitter.
6. Mai Bei heißer Sonne in 2 Stunden Fußmarsch nach dem muslimischen Dorf Jezero, der Pliva entlang zuerst, dann neben den Pliva-Seen her. Am Rückweg fängts zu regnen an.
Der Regen bleibt auch am Nachmittag. Es ist Bairam Fest der Muhammedaner. Auf den Straßen werden gebratne Lämmer feilgehalten.
10. Mai Zwei Stunden Spaziergang auf den Höhen um Jaice. Melancholischer, feuchter Vormittag.
Mittag Abfahrt nach Sarajewo. Schafhirten draußen, Reiter. Abends Ankunft in Sarajewo, kalt, Regen. Das Hotel balkanisch, schmutzig, aber vornehm-tuend.
11. Mai Sonntag und Bairam, die Stadt also doppelt ruhig. Vormittag die Moschee besucht. Ein spaniolischer Leichenzug zieht vorbei.
Sarajewo: wie ein türkisches Innsbruck.
Nachmittags: Auf den Höhen um die Stadt muslimisches Volkstreiben. Verkrüppelte Bettler. Zigeunerkapellen.
12. Mai Am Morgen ab von Sarajewo. Entlang der wilden Narenta, durch das »große
Defile«, Karst. Bei Sonne in Mostar an. Uralte Türkenbrücke. Alte Steinhäuser an der Narenta, Stein, Stein, grau, schimmlig. Wie tot sehen die Häuser aus, aber es lebt in ihnen, schmutzig, riechend, wie Maden im grauen Speck.
Vollmond.
Das Schönste wohl bisher: Mostar.
13. Mai Sarajewo ist lieblich und europäisch gegen Mostar, Bauern-Orient hier. Sarajewo städtisch-geschleckt dagegen.
Stein, Stein, grau, kahl, abgefressen, dürr, Steinwürfel.
14. Mai Gestern Nachmittag: Radobolje-Quelle, eine Oase im Stein. Fruchtbar, Feigen, Wein; Orangen, der breite Bach, hole zierliche Birken, wie pflanzliche Windhunde. Heut vormittag auf dem Hunn. Karstberg. Nachmittags Fahrt nach Ragusa, Fahrt durch ein Inferno. Alles Stein, jeder Baum von Mauern geschützt, elende Steinhütten, unsägliche Armut. Auf einem Bahnhof ein Bettler auf allen vieren, hoch das Hinterteil, wie ein seltsames Tier.
15. Mai Ragusa, paradiesisch gegen die Herzegowina, südlich paradiesisch. (in unserem fruchtbaren Norden liegt das wahre Paradies.) Hier ist doch überall Stein. Heiß, blau, Staub. Kastell, grau vor Blau von Himmel und Meer.
16. Mai Schöner Morgen im Garten. Nachmittag Ombla-Quelle. Südliches, italienisches Leben.
17. Mai Letzter Tag Ragusa. Hafen. Überall Meer. Es waren drei Ruhetage nach den vielen Bahnstunden von Agram bis hierher.
18. Mai Ab nach Cattaro, die Stadt ist ein kleines Venedig.
Hohe Berge. Die Bucht von Cattaro ein wunderbares Naturspiel.
19. Mai Früh auf die Festung geklettert. Von Kindern zurückgeführt.
Herr Radimiri versorgt mich mit Silbergeld für Albanien. Er gibt mir österreichische, bulgarische, griechische Silbermünzen, alle außer Kurs gesetzt, aber in Albanien nach ihrem Metallwerte gehandelt.
20. Mai Die Königin von Jugoslawien kommt nach Cattaro. Große Begeisterung. Nachmittags Fahrt nach Cetinje. Von den Serpentinen des Lovcen aus herrlicher Blick auf die Bocche di Cattaro. An Njegusi vorbei. Schwarze Berge, wild, düster. Gegen Abend in Cetinje, der Hauptstadt von Montenegro.
21. Mai Von Cetinje nach Skutari.
[…]
22. Mai Gestern nachmittag und abends in Skutari. Sehr merkwürdige Stadt. Orientalisch-italienisch, halb Hafen-, halb Bergstadt, unendlich staubig und unendlich geschäftig. Der Bazar: ein Geruch von Schweiß, Rauch, Schafmist, Heu und Straßenstaub lagert über allem. Die grellen Farben der Zäckchen und die engen weißen Hosen, die weißen Kappen leuchten.
Gegen Mittag Autofahrt nach Alessio. Schlechte Straße, schlechtes Auto, 2 x Panne. Schlangen über den Weg. Ich sitz im Wagen bis über den Knien in Hühnern, denen die Beine zusammengebunden sind.
Bewaffnete Reitertrupps begegnen uns, im zierlichen, kurzen Galopp querfeldein.
Mittelalter, ritterliches, scheint es. Von Alessio zum winzigen Hafen Giovanni di Medua. 6 Häuser.
Von dort mit Dampfer, 4 Stunden, nach Durazzo.
Französisches Gespräch mit einem Albaner, der, ein besserer Sklavenhändler, albanische Arbeiter für französische Bergwerke anwirbt. Merkwürdiges »Hotel« in Durazzo. Freundlicher Besitzer.
23. Mai Vormittags in Durazzo. Langweilige Hafentadt. Mittag im Auto nach Tirana, der albanischen Hauptstadt. Zum Teil schon sehr europäisch, teilweise noch skipetarisch. Schöne Moschee. Viel italienisches Militär. Zigeuner. Gesandtschaftsviertel.
Nachmittag nach Durazzo zurück. In der Umgebung herumgestreift. Abends stundenlanges, französisches Gespräch mit dem Gasthofbesitzer.
24. Mai Abfahrt von Durazzo mit jugoslawischem Dampfer. Die knappen 3 Tage Albanien erregend und merkwürdig. Eine Welt, die untergeht, mittelalterlich, stirbt die Hälfte aller männlichen Albaner eines gewaltsamen Todes durch Blutrache.)
23. Mai Nach 24 Stunden Fahrt, der dalmatinischen Küste entlang nach Spalato. Nachmittags die Stadt besichtigt. Palast des Diocletian. Türkenfeste Klis. Um Mitternacht auf den italienischen Dampfer Morosini.
26. Mai Wieder 24 Stunden Fahrt. Abends Venedig. Ausbooten am Markusplatz.
27. Mai Venedig. Kommt mir bekannt und fast heimatlich vor, nicht, weil ich schon zum viertenmal hier bin, nein, gegen den Balkan, gegen Albanien vor allem gehalten, ist hier vertrautes Europa.
28. Mai Fahrt nach München.
Das eigenhändige Manuskript befindet sich in der
Handschriftenabteilung der Monacensia, München
Fahrt nach Skutari
Um sieben Uhr früh stand ich auf dem Marktplatz in Cetinje.
Ein junger Kerl machte sich da wichtig, er trug schwarze, weite, schmierige, türkische Hosen, eine alte, verschossene, geflickte, grüngraue Militärjoppe, war barhäuptig, und jeder Bauer, der ein Lamm zu Markte brachte, sie trugen die Tiere wie lebendige Pelze zärtlich um den Hals gelegt, jeder Bauer mußte sich das Tier vom Nacken lösen und dem Kerl hinhalten, der dem aufblökenden Kraushaar an den Bauch griff; mit prüfenden, knetenden Fingern. Er schien ein sehr fettes Tier zu suchen, er tat wenigstens so, jeder Bauer hielt ihm auch geduldig das Lamm vor. Ich sah dem wichtigtuerischen Treiben des Kerls wohl zehn Minuten lang zu, ich hatte nichts Besseres zu tun, ich wartete auf den bestellten Kraftwagen, aber der Kerl kaufte keins der Lämmer, wenn er auch eine kennerische, käuferische Miene machte.
Da tippte mir jemand auf die Schulter, ein mittelgroßer, auffallend breitschultriger Mann wars, der Wagenbesitzer und Wagenlenker, in schnalzendem Englisch sagte er, jetzt ginge es los, und wir fuhren los. Rückschauend lachte ich dem gauklerischen Burschen ins Gesicht, der mir verdutzt nachstarrte, während seine Finger am Bauch eines Lamms geschäftig waren.
Cetinje blieb zurück, der Weg stieg, Steinberge ringsum, viele schwarzblaue Bergkreise, einer über den andern sich schiebend, gezackt, verschluchtet, türmig. Weit hinten, hoch oben, ein schwarzer blitzender Strich, wild herfunkelnd, den Blick an sich reißend, wie eine glitzernde Nadel, nein, breiter, wie ein Säbel, der auf Bergen liegt der Skutarisee, fern!
Die Straße geht abwärts, schwarzes, stilles Wasser zur linken, ein See, es ist aber der Karte zu entnehmen, nur ein unmäßig breiter, versumpfter Fluß, Wassergevögel schwirrt auf, gegen neun Uhr sind wir in dem Dorf Rijeka, frische, saubere Kühle weht, grüner Baumschatten, hohe Pappeln, Gesträuch, die schwarzen Berge sind hinter vorgelagerten grünen Hügeln verschwunden, das Dorf liegt langgestreckt am Fluß, auf dem Enten und Gänse schwimmen. Auf Holzbänken hält man Fische feil, den Fischen, breitnackigen, fetten Tieren mit hängenden, fleischernen Schnurrbärten, sind durch die weichen, weißen Mäuler Weidenruten gezogen, die Ruten sind zu zierlichen Ringen geschlungen, dran trägt man die gekauften Tiere nach Haus. Die Fische sind lebendig, rühren sich aber nicht, schlagen nicht mit dem Schwanz, liegen geduldig, nur vergeblich und quälend öffnen und schließen sie, auf und zu, auf und zu, Feuriges einatmend, das Maul.
Hier in Rijeka trank der mittelgroße, breitschultrige, englisch schnalzende Montenegriner einen Zwetschgenschnaps, rauchte eine selbstgedrehte Zigarette. Dann weiter, bergauf, bergab, auf guten Wegen, auf schlechten Wegen. Einmal läuft die Straße hoch oben, von tief unten glänzen blaue Buchten silbern herauf, das ist wieder der Skutarisee. Die Straße fällt nun in schönen Kehren abwärts, der Engländer wirft den Wagen schwungvoll um die Kurven, es ist als flögen wir, abwärts kreisend wie ein großer Raubvogel. Immer näher blinkt der See, und da scheint im See ein befestigter Ort zu liegen, auf Pfosten und Dämmen und Pfählen, schwer verschanzt, eine Burg fast. Ein Damm stößt in den See hinein und der Damm verbreitert sich zu einem Platz, das also ist Virpazar. Wir jagen über die Dammbrücke, halten am Markt.
Mein Führer nimmt sein Geld, nimmt das verabredete, erwartet nicht mehr, wie einem das sonst hier leicht geschieht, legt die Hand grüßend an den Hut, sagt schnalzend: »Good bye«, geht. Den Wagen seh ich nach einer Stunde noch stehen, den Führer seh ich nicht mehr, er wird Geschäfte haben in Virpazar.
In Virpazar ist Markt, ausgeweidete Lämmer, rot, von Fliegen schwarz bedeckt, hängen von den Stangen, am Boden sitzen Bauernweiber, bieten Schafkäse an, Schafwolle, Gurken und Zwiebeln, und auch Fische, denen die Weidenruten schmerzhaft durchs Maul gezogen sind. Ich bleibe zwei Stunden in Virpazar, in zwei Stunden erst fährt mein Dampfer ab, und als ich auf dem Weg zum Dampfer bin, schnappen die geduldigen, genarrten Fische immer noch nach Wasser, immer noch, mit grauem Staub beschmiert.
Die Hitze ist schon groß geworden, eine knallige Sonne hängt über Virpazar, ich bummle durch Virpazar, es ist wie ein großer steinerner Würfel, liegt auf Dämmen im Skutarisee, jetzt, im Mai. Später im Sommer, weicht der See zurück, dann liegt Virpazar am See, wie sich das gehört. Ich gehe ein Stück in der prallen Hitze auf dem Damm dahin, im grünen, schlammigen Uferwasser, unsichtbar quacken Frösche, hunderte, tausende, und wenn ich einen Stein ins Wasser werfe, schweigen sie kurz, knarren und schnarren dann umso leidenschaftlicher. Der Himmel ist blau, wolkenlos, fast weiß, der See dehnt sich mächtig, rings steigen hohe Berge an, kahle Berge, grau, ohne jeden Graswuchs. Virpazar, das steinerne, kalkgraue, schlangenhautgraue Virpazar, zwanzig Häuser vielleicht oder dreißig, hockt faustklein und frech und springlebendig am Damm.
Ich trinke schwarzen Kaffee, esse meine mitgebrachten Eier. In Cetinje sagte man mir, in Virpazar gäbe es keine Verpflegung, das ist aber nicht wahr, am Nebentisch der kleinen Schenke ißt ein Bauer Lämmernes, ich schaue ihm neidisch zu, das gebratene Fleisch riecht kräftig herüber, aber ich muß meine Eier essen. Eine Zigarette tröstet mich dann.
Gegen Mittag besteige ich das kleine
Dampfboot, das mich in sechsstündiger Fahrt nach Skutari bringen soll. Das Boot fährt nicht geradewegs nach Skutari, es legt ein paarmal an, an kleinen Fischerdörfern. Der Skutarisee, weithin grünglänzend, von hohen Gebirgszügen umwandert, liegt regungslos unter einem regungslosen Himmel, von den Bergen kommt kein Wind, Tauchervögel spielen. Unser kleines Boot stampft, die paar Mitreisenden schlafen auf den Bänken, essen Zwiebel und Brot. Weite Strecken hin sind die Ufer versumpft, grüne Binsen flirren, dann wieder steigt der Fels mit schwarzem Knie ins Wasser. Dörfer liegen tief in Buchten versteckt, wehren mit vorgelagerten Riffen die Zufahrt, so daß nicht einmal unser kleines Boot zu ihnen kann. Es kommen Ruderkähne um die Klippen geschossen, fliegen nahe an uns heran, bekommen den Postsack zugeworfen, die Ruderer mit rauhen Stimmen rufen uns etwas zu und werden von den Buchten wieder verschluckt.
Wir sind schon vier Stunden unterwegs, da hält ein kleines, wendiges Motorboot entschlossen auf uns zu, es ist weißgestrichen, schnaubend braust es an uns heran, es macht einen angriffslustigen Eindruck, am Heck weht eine rotschwarzrote Flagge, es ist ein albanisches Zollboot, wir sind jetzt, auf diesem Teil des Skutarisees, auf albanischem Hoheitsgebiet. Zwei Männer kommen auf unsern Dampfer geklettert, bewaffnet, weißgekleidet, braungebrannte, lustige Gesichter, lassen sich die Pässe vorweisen. Die Pässe sind in Ordnung, die Albaner zeigen lachend ihre Zähne, besteigen wieder ihr kleines Kriegsschiff und zischen schaumwerfend davon.
Zur rechten Hand schieben sich jetzt niedere, lang gezogene Berge heran, befestigt, das ist wohl der Tarabosch, die berühmte Burg über Skutari, und da, das Stangengewirr der vielen Masten der vielen kleinen Fischerboote ist der Hafen von Skutari. Ich gehe an Land, wieder Zollmenschen, sehr neugierige Zollmenschen, dann setze ich mich in einen Pferdewagen, eine alte Kalesche auf hohen Rädern, herabgekommene Vornehmheit, zerfetzter, roter Plüsch im Innern, der Wagen ist geschlossen, die schmutzigen Fenster sind verquollen und nicht zu öffnen, staubige, stickige, modrige Luft ist im Wagen, der Wagen schwankt, der Kutscher scheint auf die Pferde einzuhauen, ich höre ihn brüllen, wir fahren scharf, die Straße ist schlecht, der Wagen schaukelt, taumelt vorwärts, neigt sich seitwärts, ich möchte doch was sehen von Skutari, ich presse mein Gesicht gegen die halbblinden Scheiben, sehe einen Reiter vorbeitraben, sehe eine lange, weiße Mauer, sehe ein Minarett, schwarze Zypressen, wieder Mauern, lange weiße Mauern, verschleierte Frauen auf Eseln, viele Reiter, Staub wirbelt auf, Geschrei dringt in meinen verschlossenen Kasten, der Wagen rüttelt, ich stoße mit der Nase gegen das Glas, aus den schmutzigen Sitzpolstern dringt pfeffriges Mehl, die Straßen werden enger, eine Biegung, noch eine, der Wagen hält, ich steige aus, betäubt, hinten zerrt etwas an mir, ich drehe mich um, es ist ein Bettler mit verschorftem Gesicht, aber zuerst will der Kutscher sein Geld, schlägt dem Bettler die Peitsche schallend um die Beine, hält mit der peitschenschwingenden Linken den Bettler von sich ab wie der Bändiger den Tiger im Raubtierkäfig, während er mir seine Rechte offen und fordernd entgegenstreckt.
In: Kölnische Zeitung Nr.158, 31.3.1931
Das Typoskript von 1930 befindet sich in der Handschriftenabteilung der Monacensia, München.
Welcher ist’s?
Im Sommer, wenn wir Kinder an den Nachmittagen vor die kleine Stadt hinauszogen, in die nahen Wälder, Schwarzbeeren zu pflücken, und heißgebrannt und müd und mit blauen Mündern, blau vom Beerensaft, heimkehrten des Abends, kamen wir an der Irrenanstalt vorbei, die von hohen Mauern umgeben war, und die Fenster waren vergittert des mächtigen, gelben Hauses, ein Kloster war es früher einmal. Wenn wir Glück hatten, ein bangemachendes Glück, herbeigefürchtet und herbeigesehnt, standen Männer an den Fenstern, die Hände fest um die Eisenstangen gekrallt, in weißen Krankenkitteln, und schrien gellend, langgezogen, schrien in den blauen Sommer hinein, daß wir schauerten, und diese wilden Schreie gehörten für uns zum Sommer wie der Kuckucksruf in den Wäldern, erregender als dieser.
Ich habe nie wieder ihre Schreie gehört seit meiner Kinderzeit, und wenn von Irrsinnigen gesprochen wird in meiner Gegenwart, oder wenn ich von ihnen in der Zeitung lese, dann steht immer das vergitterte, gelbe Haus vor mir, und immer ist es Sommer, obwohl es doch auch im Winter die armen Kranken gibt.
Manche sind schlau unter diesen Irren, weiß man, schreien auch nicht alle wie die Irren meiner Kinderzeit, schreien nicht öfter als du und ich, wir schreien auch bisweilen, und bisweilen sind sie so listig wie Füchse, sind listiger als ich und du, die wir gesund zu sein glauben.
Es war da ein Verrückter, las ich, in einer dörflichen Gemeinde, ein harmloser Mann, den man lange hatte frei herumlaufen lassen, wie wir frei herumlaufen, du und ich, wie wir wenigstens glauben es zu tun. Nun hatte man wohl Anlaß zu fürchten, daß er gefährlich werden könnte, der Verrückte, und so hatte man beschlossen, ihn in die Irrenanstalt der nächsten Stadt zu bringen, auf Kosten der Gemeinde, und der Bürgermeister, der sowieso Geschäfte hatte in der Stadt, nahm den Irren mit, dem man nicht gesagt hatte, wohin des Weges es ging.
Man steckte den Kranken in seine besten Kleider, und so ging er mit dem Bürgermeister zur Bahn, waren zwei ansehnliche Männer beide, und wer der Verrückte war von den Zweien, keiner der Mitreisenden hätte es zu erkennen vermocht, auch du nicht und ich, und so fuhren beide zur nahen Stadt.
Die Wiesen glitten vorbei, die Bäume dahin, es war im Sommer, es war heiß, der Bürgermeister schlief ein auf der Bank, wackelnden Hauptes, und niemand sah, daß der Kranke einen raschen Griff tat in die Brusttasche des Schlafenden, der Schlaue.
Man kam an in der Stadt, der häuserreichen, und ging geraden Wegs zur Irrenanstalt, deren Fenster werden wohl vergittert gewesen sein wie die Irrenhausfenster meiner Jugend, und der Bürgermeister wies sich aus mit seinen Papieren, und hier sei der Kranke, und den möge man hier behalten, wie es auf Antrag der Gemeinde vom hohen Amt verfügt worden sei.
Daß der Kranke behauptete, er sei gar nicht krank, er sei völlig gesund, das beachtete man nicht, das behaupten die meisten der Einzuliefernden. Daß der Mann, den man da behalten sollte, schrie und tobte und scharfe Worte gebrauchte, das machte keinerlei Eindruck, zwei Wärter nahmen ihn liebreich am Arm, und daß der Schäumende immer wieder brüllte, nicht er sei der Irre, er sei der Bürgermeister, der andere sei der Irre: Nun, da waren ja die Ausweispapiere, und den schreienden Mann ohne Papiere behielt man da, und den still blickenden Mann mit den Papieren ließ man ziehen.
Die Kinder, die an diesem Sommernachmittag vom Wald heimkehrten, den Mund blau beschmiert vom Saft der Beeren, sahen mit Grauen und Entzücken vielleicht einen Tobenden an den Gitterstangen rütteln, hörten seine schrillen Schreie, und als sie durchs Stadttor dann gingen, begegnete ihnen vielleicht ein Mann, fröhlich lächelnd und ihnen zuwinkend mit freundlicher Hand.
Die Kinder, natürlich, nahmen den Stangenrüttelnden, der noch nachts durch ihren Schlaf tobte, für einen Wahnsinnigen und den freundlichen Mann unter dem Torbogen für einen gemächlichen Wanderer.
Wie sollten sie klüger sein, die Kinder, als du und ich und als alle Welt und alle Weisen der Welt, die auch Weise und Narren nicht auseinanderzuhalten vermögen, niemals und nirgends?
Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 390-340, 29.7.1931
Der Rabe von Elbigenalp
Raben sind Märchentiere, wie Drache und Einhorn, und seit früher Jugend aus Bilderbüchern dem Stadtkind vertrauter als Pferd und Ochse. Wie war ich aber enttäuscht, als ich bei einem Ausflug vor die Tore der kleinen Stadt zum erstenmal schwarze Vögel krächzend von den Wiesen aufsteigen sah und man mir sagte, das seien Raben. Es waren aber keine Raben, wie ich später befriedigt erfuhr, es waren Krähen, und die mächtigen echten alten Kolkraben, die Galgenvögel des Mittelalters, gebe es in Deutschland nur noch in den großen östlichen Ebenen.
Aber das Auge gewöhnte sich an die kleineren Vettern, doch ein Rest von Gehe imnis blieb und umwittert sie immer noch für mich.
Vor einigen Jahren verbrachte ich zwei glühende Sommermonate in dem Tiroler Dorf Elbigenalp, und dort war es, zur Zeit des zweiten Grasschnitts, daß ich das seltsame Abenteuer mit dem schwarzen Vogel hatte. Das breite Tal, in dem das Dorf liegt, war mit den auf Stöcken befestigten Grasbündeln bedeckt, die in der Sonne trocknen sollten. Ein knallblauer Himmel wölbte sich, die Berge standen mächtig, und es war wunderbar, quer über die Wiesen gehen zu dürfen, ohne sich an die Wege halten zu müssen. Es war ein Gefühl, ähnlich dem, das man hat, wenn man über einen zugefrorenen See geht und die ganze Sonderbarkeit spürt, über eine Fläche zu schreiten, die sonst dem Schritt verwehrt ist, nur dem Schwimmer oder Ruderer zugänglich!
Vor dem Mittagessen, das in einer halben Stunde fällig war, es hatte eben zwölfmal vom Kirchturm geschlagen, ging ich, gerade von einer Arbeit aufgestanden und mit dem Gedanken noch bei ihr, in die Wiesen hinein, barhäuptig. Die Sonne kochte die Grasbündel, daß sie rauchten, der Geruch des Heus schwamm über dem Tal, wie in einer leisen Trunkenheit ging ich zwischen den Bündeln dahin. Vom Lech drüben sah ich eine Krähe herstreichen und sich niederlassen. Ich ging auf sie zu und berechnete, wann sie auffliegen würde, wie das scheue Tier das immer tut, wenn man sich ihm bis zu einer gewissen Entfernung nähert. Aber die Krähe blieb, und belustigt ging ich noch
näher an sie heran, und als sie immer noch nicht aufflog, erwachte eine Art von Jagdlust in mir. Ich hielt gebückt weiter auf sie zu, nahm Deckung hinter den Heubündeln, legte mich auf den Bauch, sie wie ein Indianer aus Knabenzeiten zu beschleichen. So kam ich bis auf vielleicht fünf Schritte an sie heran, den Kopf an den Boden gedrückt, daß das kurze Gras mich kratzte. Ich lugte hinter einem Bündel hervor; da saß sie, geneigt den Kopf, sah höhnisch zu mir her, und jetzt, immer wenn ich noch näher heran wollte, flog sie kurz auf, ein paar Flügelschläge nur, und ließ sich wieder nieder, und ich kroch ihr wieder nach. Immer tiefer in die Wiese hinein kamen wir so, wie ein schwarzes Irrlicht flatterte die Krähe vor mir, der heiße Boden brannte, das Heu stach und biß. Ich hatte das Mittagessen vergessen und das Dorf mit dem Kirchturm und die ganze übrige Welt dazu, nur immer dichter heran an die Krähe trachtete ich. Die Krähe war schon längst keine gewöhnliche Krähe mehr, sie war zum riesigen Raben geworden, zum Zauberraben der Märchenbücher, blau schillerten seine Federn, die klugen Augen sahen mich spöttisch an. Ein Marder, dachte ich mir, ein Fuchs bist du, und im Sprung wirst du den bösen Raben fangen! Jetzt eben war mir das Tier aus den Augen gekommen. Ein Heubündel hatte sich zwischen uns geschoben, neben dem saß es, hatte ich von meiner letzten Stellung aus gesehen. Wenn ich unbemerkt an das Bündel herankam, mußte es nur mehr auf Armlänge von mir weg sein, und mit einem Sprung mußte ich es dann haschen und meine Finger in das schwarze Federzeug wühlen können, und füchsisch war mir zumute, beutegierig, daß ich zitterte. Ich hatte das Bündel jetzt erreicht, noch einen Ruck, noch einen, leise, ich stützte mich sprungbereit auf die Knie und die linke Hand, hielt die rechte griffbereit – tat den Sprung und landete, und der Rabe war nicht da. Er konnte nicht fortgeflogen sein. Wie hätte mir das entgehen können! Ich sah mich wild um und sprang auf, aber der Vogel war nirgends zu sehen, wie von der blauen Luft aufgesaugt. Taumelnd stand ich in der heißen Sonne, spähte, lief zwischen den Bündeln hin und her, klatschte in die Hände, stocherte wütend, als habe er sich da verkriechen können, in den Bündeln umher. Das zauberische Tier war und blieb verschwunden.
Die Turmuhr schlug eben halb eins, eine halbe Stunde war ich auf der Rabenjagd gewesen, und beschämt und merkwürdig erregt, nahm ich den Weg zum Wirtshaus: hoffentlich hatte mich niemand vom Dorf aus beobachtet. Zwischen Suppe und Fleisch fiel mir ein, daß es nur eine Möglichkeit gab, daß das Tier meinem Blick hatte entkommen können: es mußte ganz gegen gewöhnlicher Vögel Art, zu fliegen verschmähend, weggegangen sein, mit dem wippenden Gang der Raben, mußte eilig und spöttisch und vor sich hingrinsend zwischen den Heubündeln dahin gegangen sein, schwanzwackelnd, berstend vor Vergnügen über den Tölpel, der ihm nachstellte.
Die Vorstellung war so komisch, daß ich der dicken, alten Kellnerin, die mir das Fleisch brachte, ins Gesicht lachte, und sie lachte gutmütig mit, während mir gleichzeitig ein kleiner kalter Schauer über den Rücken kroch.
In: Kölner Stadtanzeiger, Nr.411, 14.8.1932
Die gepeitschte Sünderin
Der junge Baumeister Hans Breckerle, sein Name sagt’s: ein Schwabe, ein Schwabe aus der Gegend von Memmingen, hatte den Kopf glühend voll von Plänen für Hallen und Kirchen und Türme; die er dereinst zu bauen gedachte, und stand und saß aber vorläufig den lieben langen Tag hinter dem Zeichentisch in der Werkstube der städtischen Baubehörde, mit kleinen Aufgaben nur beschäftigt und murrend über die Plage des Amtes, mußte er noch froh darum sein, weil es ihm wenigstens das Brot gab, das er brauchte, und er brauchte es zweimal, für seine Frau auch.
Für seine Frau auch, wie das klingt; das klingt falsch und hört sich an, als sei sie ihm eine Last, die ihm eine Lust war, Frau Barbara, aus der Gegend von Memmingen auch wie er, und groß und breit und blond, und er war klein und schwarz von Haar und Bart; denn einen Bart trug er ums Kinn, gegen alle Sitte, an dem sie ihn zupfte und zerrte, oft, den Baumeisterbart, wie sie ihn nannte, und er lachte dann nur.
Er lachte aber nur mehr selten in der letzten Zeit, und dann bald gar nicht mehr, das Lachen war ihm vergangen, gänzlich, je länger und verbissener er, jede Stunde nützend seiner freien Abende und der Sonntage, an dem Entwurf arbeitete für den Rathausneubau einer kleinen norddeutschen Stadt.
Die hatte ein Ausschreiben erlassen, Pläne zu erhalten für ein zu errichtendes Stadtväterhaus, und als spätester Zeitpunkt, an dem die Bewerber ihre Arbeiten abzuliefern hatten, war der erste Oktober bestimmt worden. Aber nun war es schon Ende September und die Blätter an den Bäumen fingen schon an zu gilben, er sah es, Hans Breckerle, wenn er den müden Blick hob von seinem Entwurf, der zwar schon so gut wie fertig genannt werden konnte, mit dem er aber jetzt sehr unzufrieden war, der ihm gar nicht mehr gefiel und der ihm doch, als er ihn zum ersten mal mit wenigen Strichen auf das Papier gesetzt gehabt hatte, glücklich und verheißungsvoll erschienen war, daß ihm das Herz fast hatte still stehen wollen vor Freude, so klar und selbstverständlich hatte sich alles gefügt.
Aber dann war er an die Ausarbeitung gegangen und vieles wollte genau überlegt sein, wo die Türen saßen und Fenster, und je deutlicher jede Einzelheit hart und schwarz aus dem Plan hervortrat, um so mehr trat die Schönheit des ersten Entwurfes zurück, versank vor seinen Augen in eine dunkle Tiefe und wollte sich nicht mehr heraufholen lassen.
Seine Frau, Barbara, die teilgenommen hatte am Rausch des ersten glücklichen Fluges, sie sah nun auch seine Niedergeschlagenheit, sie sah, wie er stockte und nicht mehr vorankam, sie sah, wie er sich festgebissen hatte, wie er sich verrannt und verbohrt hatte und nicht mehr den Entschluß fand zu dem, was jetzt nötig war: neu zu beginnen!
Wer in den Bergen an einen grün schäumenden Eisbach kommt und er muß hinüber, drüben läuft der Weg weiter und der Brettersteg, der ihn hinübertrüge, ist weggerissen – wer da zögernd steht und nicht recht den Mut aufbringt, hinüberzuspringen: der nimmt wohl seinen Hut oder sein Ränzel und wirft es ans andere Ufer, und muß nun, soll er nicht Verlust haben, den Sprung wagen. Und manchmal auch wirft ein anderer für ihn den Hut …
Und eines Abends also standen die beiden, Hans und Barbara, wieder einmal nebeneinander vor dem großen Zeichentisch, den der Baumeister in seinem Arbeitszimmer aufgestellt hatte, und betrachteten sorgend den Entwurf. Auf dem Tisch funkelte im Licht der Deckenlampe ein Tintenbehälter, ein schönes Stück aus der Großväterzeit, das Barbara bei einem Althändler entdeckt und gekauft und ihrem Mann zum Geburtstag geschenkt hatte, eine große Kugel aus geschliffenem Glas, ein wenig abgeplattet, daß sie stehe. »Ein Pfuscher bin ich!«, sagte Hans Breckerle, der Baumeister, »ein überheblicher Nichtskönner!« Und er hob zu der Frau sein kindhaftes Gesicht, das von dem schwarzen Bart männlich umrahmt war, und er sagte mutlos: »Ich gebe es auf!« »Aber nein, Hans«, sagte die Frau, »der Plan ist doch so schön!«, und sie stützte sich mit ihren großen, weißen, fleischigen Händen auf die Schmalseite des Tisches und beugte sich weit vor dann, genauer zusehend, und legte dabei die Arme fest und gewichtig auf die Tischplatte. Ein kurzärmliges Kleid trug die Frau, das die Arme nackt ließ, und wie sie so war, breit hingelagert mit den Armen auf dem Tisch, spürte sie sich wie froschkühl angerührt von dem Glas der Kugel. »Der Plan ist doch so schön!«, sagte sie wieder mit ihrer dunklen, tönenden Stimme, »und wenn du dort links das Tor«, fuhr sie fort, und sie wollte dort hindeuten, wo das Tor war, von dem sie sprach, und die tintengefüllte Kugel war ihrer deutenden Hand im Weg, das Glasgefäß wankte und tanzte und stürzte, und ein breiter Schwall von Schwärze ergoß sich aus dem speienden Mund. Die Tinte wälzte sich quer über die Zeichnung, ein mächtiger Strom, der anfangs rasch floß, sich dann staute und anschwoll zu einem schwarzen See, und aus dem See trat der Strom wieder heraus, langsamer rinnend nun und sich dann teilend in mehrere dünne Arme, wie Ströme das tun, wenn ihr Lauf ermattet, und diese dünnen Rinnsale rieselten nun gemächlicher, stockend manchmal am rauhen Korn des Papiers und dann Schleifen ziehend, und flossen vom Papier auf das Holz des Tisches und flossen weiter und erreichten ungehindert den Tischrand und tropften von dort auf den Boden. Der war mit einer Matte belegt, die aus hellem, grauem Stroh geflochten war, und die trockenen Strohfasern schluckten gierig die Nässe, und es bildeten sich drei schwarze Flecken, Tinteninseln, kleine zuerst, die sich rasch vergrößerten dann, weil immer wieder stürzende Tropfen sie nährten.
So standen die zwei, und keines sprach ein Wort, Hans nicht und nicht Barbara, und sahen untätig den fallenden Tropfen zu, bis keiner mehr kam. Dann holte Barbara einen Lappen und wischte die Tinte vom Tisch, und mit einem großen roten Löschblatt saugte sie das Nasse von der Zeichnung, die nun wie von Aussatz gefleckt und geschändet aussah, und der große schwarze See in der Mitte des Entwurfes hatte, nun er aufgetrocknet war, die Gestalt einer Eule, die finster herblickte.
Sie war schneeweiß im Gesicht, Barbara, als sie dann vor ihren Mann hintrat und sagte: »Verzeih mir, Hans!« Der nickte nur mit dem Kopf und sagte: »Wir wollen schlafen gehn!« Als Barbara folgsam zur Tür sich wandte, sagte er: »Ich schlafe heut nacht hier. Geh du nur!« Barbara ging, ging in das Zimmer, in dem sie sonst gemeinsam schliefen, und sie hatte Tränen in den Augen, als sie sich langsam entkleidete und die Tränen flossen noch, als sie schon im Bett
lag und näßten das Leinen. Aber dann hörte sie auf zu weinen und atmete tief und schluchzte noch einmal auf und wühlte entschlossen den Kopf in die Kissen, und zog die Decke ans Kinn, und so schlief sie ein.
Nachts erwachte sie und drehte das Licht an, es war drei Uhr, und das Bett neben ihr war leer, und sie stand auf und tat einen Mantel um und ging über den Flur zur Tür des Arbeitszimmers. Sie beugte sich spähend und sah Licht durch’s Schlüsselloch schimmern, und richtete sich wieder auf und stand eine Weile, und ein Frösteln überlief sie und zog fest den Mantel über der Brust zusammen. Dann klopfte sie an die Tür und ohne ein Herein abzuwarten trat sie in den grell beleuchteten Raum.
Hans hatte, sie sah es sofort, die verdorbene Zeichnung abgelöst vom Tisch und einen neuen, großen, weißen Bogen aufgespannt, auf dem schon wieder ein Liniengefüge sich zeigte. »Du mußt jetzt schlafen, Hans!« sagte sie, und trat zu ihm. »Du hast ja noch fünf Tage Zeit!« »Ja«, sagte er, und folgte ihr, die ihm mit wehendem Mantel voranging, schweigend ins Schlafzimmer.
Und nach fünf Tagen hatte Hans Breckerle den neuen Entwurf fertig. Wie die Ameise, die unermüdliche, ist ihr Werk zerstört, nach kurzer Verwirrung emsig von neuem beginnt, so hatte er getan, von Zeitnot wunderbar und wohltätig gedrängt, alle Kraft sammelnd auf das Wesentliche. Und dann war der Abend, wo sie gemeinsam den Entwurf verpackten und verschnürten und versiegelten, und die Rolle lag auf dem Tisch, braun und stattlich, und Hans sagte: »Trag‘ sie morgen auf die Post!«
Am andern Morgen brachte Barbara den Entwurf auf die Post. Der Weg führte sie durch die kleine Anlage, wo Weiden um einen Teich standen und Enten schwammen darauf herum. Die fütterte sie mit mitgebrachtem Brot, wie sie das oft tat, und als sie einen Brocken weit hinaus warf, und das Rudel, aufgeregt schnatternd, ihm zustrebte, lachte sie glücklich, als die kleine, goldgrüne Ente, die eine schwarze Krause um den Hals trug, als erste den Bissen erreichte und verschluckte, und sich dann, mit den Flügeln einen Wirbel schlagend, übers Wasser kurz hob, daß die Tropfen spritzten, und sich stolz plusterte.
Dergleichen als Vorzeichen zu nehmen, dazu neigt der kindisch-unsinnige Mensch, solchen Vorzeichen zu glauben, das Schicksal so zu befragen, das tut er gern, der unten Irrende, meint rasch, so sprächen die Götter zu ihm, die Stummen droben, und legt es sich aus auf seine Weise.
Und mehr als vier Monate vergingen, und aus dem Herbst war Winter geworden und schon wollten erste Vorfrühlingstage schüchtern sich hervorwagen und die beiden, Hans und Barbara, sprachen nie mehr ein Wort über das Schicksal des Entwurfes, sooft sie auch daran denken mochten, bei Tag und bei Nacht. Und eines Vormittags, als Barbara allein zu Hause saß, da brachte die Post einen Brief, ein großes, amtliches Schreiben.
Und sie öffnete es und ihre Hände zitterten nicht dabei, und sie wurde nicht rot und nicht blaß und war gar nicht einmal erstaunt, und tat, als sei das gar nicht anders zu erwarten gewesen, als sie las, daß die Preisrichter Hans Breckerle den Preis zugesprochen hatten.
Aber dann rannte sie in den nächsten Blumenladen und kaufte einen mächtigen Strauß weißer, nickender Blumen, aus deren Kelchen rote Zungen flammend sich streckten, und stellte sie mitten auf den Tisch, hochragend, die Tigerhaften, und als Hans Breckerle dann heimkam und vor dem Tisch stehen blieb, verwundert, sagte sie: »Du hast den Preis bekommen!«
Und sie schloß die Augen und sah die kleine Ente sich über’s Wasser heben, Tropfen spritzend, siegreich flügelnd, und sah den Bergbach stürzen, wirbelnd über’s Gestein, und sah sich, wie sie einen Hut warf ans andere Ufer, nicht ihren, und Hans sprang, er mußte ja springen, nicht sie, die nur so dreist gewesen war, den Hut des andern zu werfen, und hätte alles auch mißglücken können, was sie getan, die gut meinend Vorwitzige.
Als sie, Frau Barbara, die Blonde, tags darauf, einem Sonntag, gegen abend, und das Licht war noch nicht angedreht im Zimmer, blaß erhellt nur war es vom Schneeschein draußen, als sie, an der Wand stehend, groß und weiß, weit entfernt von ihm, Hans Breckerle, dem Baumeister und Ehemann, als sie ihm da plötzlich und ohne Umschweife gestand, sie habe die Kugel damals mit Absicht umgestoßen, damit die Tinte, wildflutend, fließe, da sagte er, der Schwarzbart, aus dem Dunkel her, in dem er saß, das habe er geahnt! Nicht schon gleich an jenem Abend sei ihm dieser Gedanke gekommen, aber je öfter er sich den Vorfall überlegt habe, um so klarer sei ihm alles geworden. Sie stand unbeweglich, seiner Antwort lauschend, und da drehte er das Licht an und er sah sie stehen, die den Blick vor ihm niederschlug und nun gegen die Wand sich kehrte voll Scham, und er sah im ausgeschnittenen Kleid ihren Rücken sich heben und senken, sie atmete wohl schwer. Und er nahm die Blumen aus dem Glas und hielt sie bei zusammengepreßten Stielen, und das Wasser, mit dem sie sich vollgesaugt hatten, tropfte ihm von der Hand, und die roten Tigerzungen hingen wie lechzend hervor, und mit der weißen Blumenpeitsche peitschte er der Sünderin Rücken und Hals. Und sie ließ es geschehen, sie ließ es sich gefallen, Schlag um Schlag nahm sie hin, geduldig, und daß ihr Rücken nur immer heftiger zuckte, das kam wohl von dem Schmerz, den ihr die Hiebe verursachten, woher denn sonst? Und die sie verdient hatte, ja mit Ruten hätte sie gepeitscht gehört, sie wußte es selber am besten …
In: Simplicissimus, 41, 1937, S.377 [25 Juli.]
Die kluge Frau
So gibt es zweierlei Ärzte, solche, die zu trübe machenden Voraussetzungen neigen, und andere, hoffnungsvollere. Der Mann, von dem hier die Rede ist, geriet an einen eher schwarz sehenden. Er, der Mann, nicht der Arzt, war ein Liebhaber des Weins und des Tabaks, und man sagt, auf die Dauer täte das nicht gut. Er war ein Mann im Trubel der Geschäfte, weit ausgreifende Pläne schmiedend, Stöße von Briefen auf dem Arbeitstisch, der Fernsprecher schrillte, und bis in Schlaf und Traum verfolgten ihn seine Abmachungen. Seine Tröster, wie gesagt, waren der Wein, es durfte auch manchmal ein scharfer Schnaps sein, und waren die Zigarren – am liebsten rauchte er Brasilzigarren, schwarz wie Pech, und groß wie ein Baumstamm, mit herrlich verglühender, schneeweißer Asche. Dann tat ihm das Herz weh. Seine Brust war geklemmt, als ob Riesenfäuste sie zusammen drückten, der linke Oberarm schmerzte wie von einem Messerstich – das ist schon ein schlimmes Zeichen, jeder Herzkranke weiß es. Er wußte es auch. Eines Abends war ihm ganz elendiglich zu Mute, er bekam keine Luft mehr, und der kalte Schweiß saß ihm auf der Stirn. Seine Frau riet ihm, einen Arzt zu fragen, was denn mit ihm los sei. »Was soll denn los sein?« verwahrte er sich, aber so bänglich und furchtsam fühlte er sich, und tat also, was die Frau empfohlen. Der Arzt, ein kahlköpfiger Herr, runzelte die Stirn und untersuchte ihn, nicht bloß so mit Abklopfen und Abhorchen, er durchleuchtete ihn mit einem Zauberwerkzeug, und mit einem anderen belauschte er sein Herz, und der Befund war ziemlich traurig. »Ja«, sagte der Kahlkopf, und seine goldene Brille blitzte, »in Ihrem Alter eben!« Der Geschäftsmann war Mitte der Fünfzig. »Mein Lieber«, fuhr er fort, »schön sieht es nicht aus bei Ihnen. Sie sind nicht mehr der Jüngste«, sagte er, »das ganze Getriebe ist eben recht mitgenommen. Stark verbraucht«, sagte er, »nun, nichts hält ewig, das ist nun einmal so. Sie sollten anfangen, sich vom Geschäft ein wenig zurückzuziehen« kurz, es war bitter, was der Geschäftsmann hören mußte. Er ging betroffen nach Haus, und bedachte, wie kurz das Leben sei, nur ein paar Jahrzehnte, und er schon verbraucht!
Natürlich rauchte er an diesem Abend wieder, es schmeckte ihm aber nicht recht, und die Geschäfte, wie sollte er die lassen? Sie waren das Wichtigste, das glaubt der Mensch so leicht, und meint, er kann nicht heraus aus ihnen, und was soll denn dann das Leben überhaupt? So ging es eine Zeitlang, aber ihm war wie einer Forelle, die man aus dem Bach auf den Kies geworfen hat – sie springt, und schlägt um sich, und Staub wirbelt um sie und nicht das grüne Wasser. Seine Frau sah es mit an, und sagte: »Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede«, und sagte: »Geh doch zu einem andern Arzt, was der meint.« Klug sind die Frauen, und er ging zu einem andern Arzt. Der nun beklopfte und behorchte ihn auch, und bediente sich auch der zauberischen Geräte, die der alte Hippokrates, der Vater der Ärzte, noch nicht zur Verfügung gehabt hatte, seinem hilflosen Jahrhundert gemäß, aber die Menschen starben damals wie heut. Dieser zweite Arzt war ein gemütlicher Arzt, es so auszudrücken. »Ach!«, sagte er, »ein Schaden ist da, aber wer ist ohne Schaden? Ein bißchen weniger zu rauchen empfehl ich, und müssen es denn immer die dicken, schwarzen sein? Nun, ob blond oder schwarz, weniger halt! Im übrigen«, so sprach er weiter, »ich liege sozusagen im gleichen Lazarett mit Ihnen! Worüber Sie zu klagen haben, ist ein Übel, das mich auch plagt! Wir wollen uns nicht einschüchtern lassen, und die Flinte ins Korn werfen! Ich gebe jedem von uns noch zwanzig Jahre! Wollen Sie länger leben? Fünfundsiebzig zu werden«, sagte er, »das genügt doch? Oder, was meinen Sie?« Der tief und selig aufatmende Geschäftsmann meinte das gleiche. Er nahm den Fernsprecher nicht weniger oft zur Hand hinfort, die Schreibmaschinen klapperten, ein neues, großes Geschäft tat sich eben auf, leuchtend und viel versprechend, wie die Morgenröte, und daneben ein anderes schon, und die Forelle war wieder im grünen Wasser und tänzelte und jagte. Nach vier Wochen solle er wieder zu ihm kommen, hatte der lustige, selber herzkranke Arzt gesagt, der ihm das Leben neu geschenkt. Er kam wieder, und ein Dienstmädchen
öffnete ihm die Tür, und sagte: »Sie wissen es noch nicht? Der Herr Doktor ist vor einer Woche plötzlich gestorben.« Und Tränen standen in ihren hellblauen Augen.
Da kann man nun Verschiedenes denken über schwarzseherische und zuversichtliche Ärzte. Der Geschäftsmann dachte Verschiedenes. Er ging, von seiner Frau gedrängt, zu einem dritten und vierten Arzt, und zu einem berühmten Professor gar, und einmal auf ein Vierteljahr in eine Heilanstalt. Zu guter Letzt versuchte er es mit einem Kurpfuscher, der in seinem Hauptberuf Schafe hütete, draußen am Rand der Stadt. Der behandelte ihn mit Lehmpackungen, und das war seine Rettung – das glaubte der Geschäftsmann steif und fest, der inzwischen, die Ärzte ständig wechselnd, schon die Siebzig überschritten hatte, immer noch rauchend, und Schnaps und Wein nicht verschmähend, und seine Frau war ihm schon längst gestorben. Ziemlich pünktlich dann mit fünfundsiebzig Jahren segnete er ganz unerwartet das Zeitliche, wie ihm das schon jener frühverblichene, lustige Arzt vorausgesagt hatte. Wer lang krank ist, lebt lang, lautet ein alter Spruch, dessen Wahrheit sich hier wieder einmal erwies.
In: Stuttgarter Nachrichten, 4.6.1949
u.d.T „Wie es euch gefällt“.
Feuerwasser
(Geographie des Schnapses)
In den Indianergeschichten meiner Jugend las ich das Wort Feuerwasser zum erstenmal. Brennendes Wasser – ich konnte mir nichts Rechtes darunter vorstellen und sah grünliche Flämmchen aus dem Glas züngeln, daraus man es trank. An eine Hexenküche mußte ich denken. Das Feuerwasser führte den Untergang der Indianer herbei, las ich, die alles, alles hingaben, es zu bekommen. Es handelte sich ganz einfach um Schnaps, begriff ich dann, es wird ein elender Fusel gewesen sein – aber er berauschte und öffnete die Tore zu einem Himmel des Vergessens. Es wanderte die Flasche am Lagerfeuer von Mund zu Mund, und die unbegreiflichen Sterne sahen zu. Schön aber ist der Name: Feuerwasser!
Am Bodensee hat man den Obstler. Zwetschgen, Birnen, Äpfel, alles durcheinander, Fallobst zumeist, gibt ein starkes Feuerwasser, bäuerlich-derb, der Kenner weiß es zu schätzen, trotzdem. Feiner ist das Kirschwasser, oder das Zwetschgenwasser, aus unvermischter Frucht., Das edelste unter den Fruchtwässern aber ist der Himbeergeist. Du mußt an ihm riechen, bevor du ihn trinkst! Mit dem Obstler mach keine Umstände!
Was nach der Kelterung von den Weintrauben bleibt, ist der Trester. Aus ihm gewinnt man auch ein Feuerwasser, in Italien Grappa genannt. Der tut gut, wenn man fette, in Öl gebratene Fische gegessen hat. Für manche ist das nur eine Ausrede, und sie trinken ihn um seiner selbst willen. Eine gute Ausrede ist einen Batzen wert, pflegte mein Vater zu sagen. Der Batzen ist ein Geldstück, das längst nicht mehr im Umlauf ist.
Der Sliwowitz ist das Zwetschgenwasser des Balkans, aus den bosnischen Pflaumen gebrannt, den besten der Welt. Bosnien war, es ist noch gar nicht so lange her, eine österreichische Provinz. Als Bub sah ich im bayerischen Passau, der Grenzstadt, dahinter es habsburgisch wurde, die »Fledermaus«, mit Gästen von drüben. Der lustige Gefängniswärter Frosch, schief gesetzt die hohe, österreichische Dienstmütze, brachte die Sliwowitzflasche schier nimmer vom Mund. Für ihn war der Sliwowitz noch ein vaterländisches Getränk. Als ich meinen ersten trank, in Agram, mußte ich an ihn denken, liebreich, und wie er sich den Schnauzbart wischte nach jedem Zug.
Was ist von Frankreich zu berichten? Es hat die Stadt und die Landschaft Cognac – da weiß nun jeder Bescheid! Ein Weinbrand, ein Vetter des Cognacs, ist der Armagnac, blond und still – unheimlich. Frankreich hat auch seine Liköre. Süß sind sie, damenhaft. Im groben Bayern nennt man das: Weiberschnaps. Aber einen Benediktiner oder Cointreau mag auch ein Mannsbild leiden.
In Miltenberg am Main, zwischen Weinhügeln, war ich oft bei Freunden zu Gast an glänzenden Sommertagen. Einmal hatte Fritz, der Mann, zehn Flaschen Armagnac geschenkt bekommen, eine Kiste voll. Er glaubte es mit Wein zu tun zu haben und stellte Weingläser auf den Tisch. Als erstem goß er mir das Glas voll. Ich sah es gern und wehrte ihm nicht. Als er aber fortfahren wollte in solchem Tun, klärte ich den Sachverhalt. Schnell erschienen Schnapsgläser. Gebt mir volles Maß! sagt Shakespeare. Fritz, der Mann, gab es mir. Und der Main blitzte herauf.
Die Ostvölker, die Polen und die Russen, trinken den Wodka. Alle wollen sie in den Himmel. Hinten, weit in der Türkei, und weiter noch, bei den Chinesen, hat man den Reisbranntwein. Arrak heißt er bei uns. Aus dem Zuckerrohr brennt man den Rum. Das ist der Schnaps der Seefahrer. Die unter der Piratenflagge segelten, tranken ihn gleich aus dem erbeuteten Faß und grölten wilde Lieder dazu. Manche Ballade beschreibt es. Alle Frucht in aller Welt ist den Leuten gerade recht, Feuerwasser daraus zu machen. Von alters her tun es die Mönche. Sogar die sanften Nonnen. Der Schnaps hat es mit dem Himmel zu tun.
Der Norden liebt den Aquavit, das Lebenswasser, wenn ich es recht übersetze. Unser Steinhäger wird aus roten Tonflaschen ausgeschenkt. Mit kochendem Wasser gefüllt, dienen sie dann als Wärmflaschen fürs winterliche Bett. Die bittere Wacholderbeere läßt sich brennen, und die Aprikose und das Korn wird nicht nur gegessen. In Salzburg hat man den Marillengeist, und die Schotten liefern der Welt den Whisky. Nicht jeder verträgt es, ihn ungemischt zu trinken.
In einem arabischen Wirtsgarten, bei Tripolis, trank ich einen Palmschnaps, weiß war er und ölig. Ungescheut tranken ihn auch die Burnusträger, gegen Mohammeds Gebot. In den bayerischen Bergen und in Tirol wird aus der Enzianwurzel ein Schnaps gebraut. Er schmeckt nach Harz, und ich mag ihn nicht. Früher machten sich die Leute bei uns selber einen Schnaps aus Nüssen. Am Fensterbrett, in der Sonne, wurde er in großen Gläsern ausgebrütet. Er war braun und süß, und die Großmutter trank ein Gläschen davon, wenn sie von Schneewittchen erzählte und den sieben Zwergen. Manchmal ließ sie uns kosten. In der Normandie hat man den Calvados, den Apfelschnaps.
In Agram sah ich in einem Laden die Sliwowitzflaschen auf einem Wandbrett nebeneinandergereiht wie Orgelpfeifen, in der Farbe anschwellend von Wasserweiß zum Honiggelb. Je älter, um so mehr Gold darin: eine lautlose Musik! In Palermo verlangte der Wirt, höflich dienernd, aber in diesem Punkte unbeugsam, daß man zu seinem alten Grappa Apfel und Käse aufeinandergelegt esse. So sind die Sitten, und ich gehorchte ihnen.
Es gibt böse Zeiten im Leben. Noch vor nicht allzu vielen Jahren stand es recht traurig um uns und um Essen und Trinken. Wir wußten eine hilfreiche Wirtschaft in der Nähe Münchens. Der Wirt war dick und trug eine weiße Schürze.
Vorm Wirtshaus war ein grüner Kastaniengarten, und vorm Gartenzaun wogte der Weizen, wir aber hungerten. Einmal gab uns der Wirt eine rote, fette Mettwurst. Sie war aus Pferdefleisch gemacht, das sagte er uns aber erst, als wir sie schon gegessen hatten. Er lobte Pferdefleisch und Pferdefett, und Krapfen, sagte er, in Pferdefett schwimmend gebacken, seien besser als die mit Kuhbutter zubereiteten. Ich betrachtete ängstlich seine blutbefleckte Schürze. Er hatte auch einen Schnaps, sündteuer, der roch nach Benzin. Er war in Benzinkanistern aus dem Schwäbischen herübergeschmuggelt worden. Wir tranken ihn, und den Himmel öffnete auch er.
Trinksitten
Ich habe einen guten Freund, der lebt jetzt nicht mehr in Deutschland, der lebt jetzt in England. Wenn ich mit ihm zusammensaß, und wir tranken Wein, so stürzte er das Glas in einem Zug hinunter. Er machte das nicht nur mit dem ersten Glas so, er machte es mit jedem Glas. Er trank nicht mehr als wir, er wartete, geduldig und höflich genau, bis wir andern, den Wein schluckweis trinkenden, auch unser Glas leer hatten. Dann goß er die Gläser voll, und seins trank er dann wieder leer in einem einzigen habgierigen Zug. Ich fand es etwas grobschlächtig, so zu tun, und fand es auffallend bei einem so artigen Mann, der er ist, und einmal sagte ich ihm: Tu langsam! Er sah mich nur lächelnd an, wie einer, der es besser weiß, und legte seine breite, feste Hand auf meine, und sagte: Laß mich so! Und ich ließ ihn so, ohne nach seinen Gründen zu fragen. Er wird diesen Brauch beibehalten haben im fremden Land. Genug zu trinken zu haben, wünsche ich ihm, die Insel ist neblig.
Dann begegnete mir diese Verhaltensweise wieder. In Köln war ich mit einem berühmten Dichter zusammen. Der hatte seine Gedichte im Rundfunk gesprochen, und nach der Lesung erwartete ihn ein Gelehrter, von großem Namen auch er, der nur gekommen war, von dem Hochverehrten, den er noch nicht von Angesicht zu Angesicht, nur aus seinen Versen kannte, sich das Glück auszubitten, daß er ein Glas Weins mit ihm trinke. Wir gingen in die Wohnung des sonderbaren Schwärmers. Er hatte aus dem Keller den besten Jahrgang geholt. Feierlich-umständlich entkorkte er die Flasche und füllte die Gläser mit dem flüssigen Gold: das Zimmer duftete davon. Er stieß mit dem Dichter, dann mit mir an, und da geschah es: der Dichter stürzte sein Glas in einem einzigen Zug hinunter. Ich erschrak über das Unangemessene. Der Wein war ein hochedles Gewächs, bei einem einfachen hätte es noch angehen mögen. Der gelehrte Herr erschrak sicher nicht weniger wie ich, ließ sich aber nichts anmerken und schenkte dem Dichter das Glas sofort wieder voll. Und wieder leerte es der in einem tiefen Zug. Unser Wirt war zu vornehm, ein Wort darüber zu verlieren. Ich sagte auch nichts, mir war mein Freund in England eingefallen. Dann redeten wir, dieses und jenes, und der Dichter mußte zur Bahn, und wir begleiteten ihn. Unerschüttert aufrecht schritt er dahin.
Ich trinke, auch wenn ich Schnaps
trinke, das Glas nicht in einem Zug leer. Das liegt nicht in meiner Natur. Doch weiß ich, daß es beim Schnaps viele mit dem »Aufeinenzug« halten. Bei einem Verleger, der aus dem Schwarzwald ist, gab es einen Himbeergeist, herrlichen, alten, der roch, wie ein ganzer Himbeerschlag riecht, wenn er in der Sonne glüht. Ich nahm, wie gewohnt, meinen Schluck, der Verleger kippte sein Glas kopfüber hinab. So sei es richtig! sagte er tadelnd, jeder Schwarzwaldbauer mache es so. Das gäbe einen glühenden Stoß bis ins Herz.
Einmal versuchte ich’s auch mit dem »Aufeinenzug«. Es war eine leere Stunde, traurig war mir zumut, ohne Grund, und da fielen mir die Aufeinenzug-Leute ein. Ich hatte eine Flasche Burgunder stehen, die holte ich hervor. Ich goß mir das Glas voll und leerte es, ohne abzusetzen. Und ein zweites und drittes hinterdrein. Eine Feuerwolke umhüllte mich. Es war eine Wärme, die kein Ofen spenden kann. So himmlisches Feuer gibt nur der Wein. Es war ein plötzliches Glück. Die Traurigkeit war fort, und in rosigen Nebeln dampfte die Welt. Die gedrungene Burgunderflasche gefiel mir, und ich legte die Hand um sie, wie um eine Frauenhüfte. Ich begann zu sprechen, obwohl ich allein war und lauschte meinen Worten, die ein andrer sprach. Ich glaube, ich habe Weises gesprochen und Schönes, obwohl es sich nicht reimte. Zuletzt dann sprach ich in Reimen, und die Reime fielen mir zu, wie die Apfel vom Baum fallen, in der rechten Stunde.
Seitdem bin ich wieder zu meiner alten Gewohnheit zurück gekehrt. Ich trinke, wie es sich gehört, den Wein in kleinen Schlucken, seine Würze zu schmecken. Aber vielleicht haben die andern recht, mein alter Freund auf der Insel, und der Dichter, der nun schon tot ist.
In: Rheinischer Merkur, 11.2.1950
u.d.T „Auf einen Zug“.
Der Nachtfalter
Ein Zug fuhr durch die Nacht, es war in England, um die Jahrhundertwende. Der Zug sollte nach London, und er kam auch hin, aber viel später, als der Fahrplan es vorsah, drei Stunden später, doch die Reisenden murrten nicht darüber.
Die Nacht war voll Nebel, und wer von den Reisenden nicht schlief, und hie und da einen Blick durchs Fenster warf, konnte sehen, wie draußen die grauen Schleier gespenstisch vorüber wehten. Der nicht schlief, der Lokomotivführer, sah es auch, und sah es nicht gern, wie es über den Schienen wirbelte und wogte. Er minderte die Fahrtgeschwindigkeit, und sagte zu seinem Heizer, daß dies Wetter der Teufel zusammengebraut haben müsse, und der Heizer war nicht andrer Meinung. Wachsam voran spähend, seine Griffe und Hebel vor sich, erblickte der Lokomotivführer auf einmal, und wollte fast seinen Augen nicht trauen, wie man so zu sagen pflegt, eine große, schwarze Gestalt, mitten auf dem Geleis, die heftig die Arme schwenkte, wie eine Windmühle ihre Flügel.
Ein tapferer Mann das, so schoß es dem Lokomotivführer durch den Kopf, der sein eigenes Leben gefährdete, das Leben anderer zu retten, es konnte auch eine Frau sein! Aber ob Mann oder Frau, darüber machte sich der Lokomotivführer natürlich nicht lang Gedanken, er riß an den Bremsen, und schleifend und knirschend kam der Zug zum Stehen. Er sprang von der Maschine, ihm nach der Heizer, und beide riefen in den Nebel hinein, was denn sei, aber niemand antwortete ihnen. Schon kamen die Schaffner und Zugführer herbei gerannt, und kletterten die ersten Reisenden aus ihren Abteilen, und näherten sich, in der Nachtkühle fröstelnd. Nichts aber rührte sich im Nebel vor dem Zug. Sicher ist sicher! sagte der weißhaarige Zugführer, und befahl, daß einer der Schaffner mit der Laterne eine Strecke auf den Schienen vorwärts gehen solle, zu erkunden, ob alles seine rechte Ordnung habe. Der ging, und kam bald wieder zurück, laufend diesmal, und atemlos keuchend berichtete er, tausend Meter voraus sei die Brücke, die dort über einen Fluß führte, eingestürzt. Das heißt, sagte er, nicht die ganze Brücke, so weit er es habe sehen können im Nebel, aber der vorderste Pfeiler.
Die Zahl der Reisenden bei der Gruppe der Eisenbahner hatte sich vergrößert, und als sie hörten, was sich ereignet hatte, erbleichte mancher von ihnen, und versuchte sein Zittern zu verbergen, und auch den Eisenbahnern wurde es eng ums Herz. Aber sie ließen sich erst recht nichts anmerken: sie waren ja im Dienst, und hielten sich mannhaft wie Matrosen, deren Schiff in Seenot geraten ist. Gleich wurden Boten nach der nächsten Ortschaft geschickt, damit man von dort, mit dem Fernsprecher, überallhin den Brückeneinsturz melde, daß nicht andere Züge unerwartet ins Verderben führen. Das gab nun, läßt sich denken, einen ziemlichen Wirrwarr auf der Strecke, Züge mußten angehalten und umgeleitet werden, und inzwischen war es Tag geworden und auch der Nebel begann sich zu lichten. Ein Vermuten hob an, wer der Warner gewesen, und wohin er gegangen, und warum er gegangen, und eine zartfühlende Frau glaubte auch den Grund zu ahnen: er sei, als er die Bremsen knirschen hörte, vom Bahndamm gesprungen und habe sich in die Nacht hinein lautlos entfernt, um sich den Danksagungen und einer Belohnung zu entziehen, ein Edelmann, wenn vielleicht auch im Bauernkittel!
Erst als der Zug in London ankam, wurde man des Rätsels Lösung inne. Auf der Scheinwerferlampe, ein Putzer entdeckte es, klebte ein mächtiger, toter Nachtfalter. Das Tier war von dem Licht der Lampe angezogen worden, und mit wildschlagenden Flügeln hatte es, schon sterbend, versucht sich zu befreien. Den Schatten seiner Bemühung, der sich riesengroß und schwarz auf der Nebelwand abzeichnete, hatte der Lokomotivführer für einen warnenden Menschen gehalten. So segensreich kann es sein, sich zu irren! Und die zartfühlende Frau hatte zu hoch gegriffen mit ihrer Mutmaßung – es wird ihr nicht zum erstenmal so gegangen sein!
Männern, auch Frauen, die sich auszeichneten im Leben, im Krieg, oder im Frieden, setzt man Denkmäler, sie zu ehren. Ein Denkmal nun setzte man dem Nachtfalter nicht. Aber er hängt, aufgespießt auf seidenem Kissen, unter Glas an der Wand des Britischen Museums in London, und eine Tafel darunter berichtet von seiner Rettungstat. So wenigstens hat man es mir erzählt, und ich habe keinen Grund, es nicht zu glauben.
In: Echo der Woche, 28.4. 195o,
u. d. T. Ein Zug wird gestoppt.
Der Gesang des Weckers
(oder: Ein anderer König von Thule)
Manchem mag es nicht viel ausmachen, jeden Tag um vier in der Frühe geweckt zu werden, für die meisten aber ist es, je länger, desto mehr, ein böses Leben, und der Ton der Weckeruhr ist ihnen wie Geklirr von Sklavenketten. Eine große süddeutsche Tageszeitung wurde den Beziehern gegen elf Uhr des Vormittags zugestellt, mit den neuesten Meldungen aus aller Welt, und hatte der Ätna Feuer gespuckt, während sie die Frühstückssemmeln schmausten – fürs Mittagessen gab das schon einen Gesprächsstoff her. Das zu ermöglichen, mußten die Leute, die die Zeitung machten, beim Morgengrauen aus den Federn, um ihre Arbeitsplätze aufzusuchen. Da saßen sie dann, Stapel von Geschriebenem vor sich, rieben sich den Schlaf aus den Augen, kratzten sich das unrasierte Kinn, schieden das Wichtige vom Unwichtigen, erfanden fette Schlagzeilen, und rauchten, und gähnten. Mählich wurden sie dann munter, und wenn die erste druckfeuchte Nummer vor ihnen lag, waren sie springlebendig geworden wie die Heuschrecken in der Sommerwiese.
Der Zeitung, es war erstaunlich, merkte man es nicht an, unter welcher Bedrängnis sie hergestellt worden war. Der Doktor Ehm, klein und spitzbärtig, Witwer und kinderlos, war schon lang ein wichtiges Rad in dem nächtlichen Getriebe. Er war einer, der gelernt hatte, sich ins Joch des »Früh ins Bett und früh heraus« zu fügen. »Schaut die Hühner an«, pflegte er zu sagen, »die machen es ebenso, und sind ihre Eier nicht köstlich?« Er dachte dabei an seine Zeitung. Er dachte immer an seine Zeitung. Einsiedlerisch lebte er, mit vielen Büchern, und den Frauen ging er lieber aus dem Wege. Jeden Spätnachmittag suchte er seine Stammkneipe auf, saß allein vor seinem Glas, und langweilte sich gar nicht, und wenn der erste der Freunde kam, hatte er schon vorweggenommen was ihm zustand an abendlichem Wein. Um neun Uhr, da war die Runde vollzählig geworden, erhob er sich, und ging, und die er lassen mußte, spotteten über den Geknechteten. Er trat in die Nacht hinaus – im Sommer war es noch gar nicht Nacht, der helle Tag lag auf den Straßen – und ließ daheim im Schlafzimmer die Vorhänge herunter, dem Licht zu wehren. Bevor er sich ins Bett legte, stellte er seinen Wekker, der ihm schon seit vielen Jahren treu und höflichgenau diente, auf vier Uhr, und meistens gelang es ihm auch bald einzuschlafen, aber nicht immer. Dann lauschte er dem Ticken der Uhr, das ihm hold vertraut war.
Seine Tätigkeit an der Zeitung war verantwortungsvoll, und gut bezahlt, und er hatte seine Freude an ihr, und seinen Stolz, und es wäre unrecht zu sagen, daß er, nehmt alles nur in allem, unzufrieden gewesen wäre mit seinem Los, oder gar mit ihm gehadert hätte als ein Geschlagener. Ein volles und gutes Männerleben läßt sich auch auf diese Weise führen, und wenn ihm, bildlich gesprochen, die Weckeruhr den notwendigen täglichen Stachel schmerzhaft ins Fleisch drückte – bei anderen ist es ein anderes, und es ist alles nur stellvertretend. Er besaß ein kleines Bauernhaus an einem See, und war Angler, und ein Boot gehörte ihm auc h. Im Wechsel zwischen seinen zwei Zimmern in der Stadt und dem bäuerlichen Anwesen gedachte er zu hausen von dem Tag an, und der war nun schon nahe, da er sich von seiner Arbeit zurückziehen konnte, um von dem Ruhegehalt zu leben, das ihm vertraglich zustand. Kein Wecker sollte ihm dann mehr den Schlaf stören, und mit gelassenem Blick betrachtete er jetzt manchmal die Uhr – so sieht ein
Jäger auf den Rehbock, wenn er in der Dämmerung auf die Wiese heraustritt, aber es ist Schonzeit, und er darf das edle Wild nicht schießen, noch nicht!
Und dann kam der Tag, der ihm die Freiheit schenkte. Es gab eine kleine Abschiedsfeier, man stand ein wenig herum, die Rotweingläser in der Hand, und als der Verlagsleiter eine kurze Rede hielt, und dem Scheidenden einen Strauß roter Rosen überreichte, dreißig an der Zahl, für jedes Arbeitsjahr eine, unterließ er es nicht zu sagen: keine Rose ohne Dornen! Und er hörte die Dornen klirren und scheppern, metallisch-grausamen Tons, Schicksalsgenossen sie alle, und tranken einander zu, fröhlichen Gemüts.
Noch am gleichen Abend fuhr der Doktor Ehm zu seinem See hinaus. Bevor er zu Bett ging, stellte er wie immer den Wecker auf vier Uhr. Unruhig war sein Schlaf in dieser Nacht. Pünktlich um vier Uhr begann das gehorsame Gerät zu läuten. Er setzte sich auf den Bettrand und wartete bis die Uhr verstummte, es schien ihm lang zu dauern. Dann zog er sie wieder auf und stellte den Zeiger auf fünf Uhr. Er kleidete sich an, steckte die Uhr in die Tasche, ging zu seinem Boot hinab und ruderte auf den See hinaus. Es war morgenfrisch, leichte Nebel wehten, und über den Bergen zeigte sich ein zartes Rosa. Er ruderte bis zur Seemitte und zog die Ruder ein. Immer heller wurde es über den Bergen. Den Wecker hatte er vor sich auf die geteerten Planken gestellt, und er sah ihn an, und dachte manches. Dann begann der Wecker zu singen, den alten, oft gehörten Gesang. Schön war der Gesang! Er hob die Uhr auf, und sie rührte sich in seiner Hand, als sei sie lebendig. Und wie jener König von Thule, der sein Liebstes, es ging ihm nichts darüber, den goldenen Becher der Geliebten, in die Flut warf, so warf er jetzt den Wecker in den See. Er sah ihn stürzen, trinken, und sinken … heißts in dem alten Lied. Und auch ihm gingen die Augen über, als er dem Wecker nachstarrte, der klingelnd zur Tiefe fuhr, und ein Leben nahm er mit hinab.
Die Fische unten mögen arg erschrocken sein über das lärmende Metallding, die Forellen und Barben. Manche davon gedachte er noch an den Haken zu kriegen, der Doktor Ehm, mit der Schleppangel, oder vom Ufer aus.
In: Merian 6, Heft 9, 1953, Der Chiemgau, S. 18,
u. d. T. Die Stunde der Freiheit.
Der polnische Schmied
In einem strengen Winter war das, in einem Dorf in Polen, vor mehr als hundert Jahren, und die Menschen waren noch einfältigen Gemütes und fromm. Die Kälte war so hart, daß es die Raben bis ins schwarze Herz hinein fror und sie tot von den Bäumen fielen, den Füchsen zum Fraß, die sonst nicht viel fanden.
Da war ein Schmied in dem Dorf, baumlang und mit breitem Brustkasten, der war von ordentlicher Natur, bei ihm mußte alles am gehörigen Platz sein, jedes Durcheinander war ihm zuwider. Und weil ihm eben jetzt noch, zur späten Abendstunde, in der Wohnstube eine Eisenstange stand, mit der er am Nachmittag ein widerspenstiges Krautfaß geöffnet hatte, so ließ ihm das keine Ruhe, und er mußte sie durchaus noch in die Werkstatt bringen, die neben seinem Haus lag.
Er trat vor die Tür, Mondschein war, der Schnee glänzte, und vor ihm war ein großer, grauer Hund, dem sträubten sich die Nackenhaare vor dem unerwarteten Mann. Das ist der vom Wirt, erkannte ihn der Schmied, und sagte: »fort mit dir!«. Der ging aber nicht, knurrte nur tief aus der Brust heraus, und wie Feuerkugeln glühten seine Augen, und nun setzte er gar zum Sprunge an. Ja, freilich, sagte der Schmied, das wäre, und schlug dem Hund die Stange unsanft über den Rücken. Darob stieß das Tier einen erbärmlichen Schrei aus, unterließ es zu springen und suchte, das Hinterteil nachschleppend, das Weite. Blut sieht man keins, stellte der Schmied fest, und so bös wars auch nicht gemeint, und sah zum kalten Mond hinauf, auch Sterne waren da, und trug die Eisenstange in die Werkstatt und legte sich dann ins Federbett zu seiner Frau, da wars warm.
Am andern Morgen machte ihm sein Gewissen schwer zu schaffen, ob er nicht gestern zu gröblich gehandelt habe gegen des Nachbarn Vieh. Er ging denn zu dem Wirt, und auf den Staffeln vorm Wirtshaus saß der Hund und knurrte – der Schmied hatte den Ton noch im Ohr. »Hast du noch nicht genug?« fragte er versöhnlich und gab dem Hund einen Fußtritt. In der Wirtsstube trank er keinen Schnaps, so locker saß ihm das Geld nicht an einem gewöhnlichen Werktag, sondern sagte dem Wirt nur, daß er besser solle Acht haben auf seinen herumstrolchenden Köter, und gestern sei der bei Mond- und Sternenschein vor seiner Schmiede gesessen, ein Schreckbild und greulich. »Was?« antwortete der Wirt gekränkt, »die ganze Nacht lag er mir im Hausflur an der Kette und vor einer halben Stunde erst ließ ich ihn los.« »Ich hätte gewettet, es sei deiner gewesen«, versetzte der Schmied, seiner Sache nun nicht mehr sicher, kraulte sich den Bart und ging heim.
Keine hundert Schritte von seinem Haus entfernt, jenseits der Straße, auf freiem Feld, in einer Mulde, fand er, was er suchte: Groß und grau lag der Hund im Schnee und zeigte ihm die Zähne, obwohl das keinen Sinn mehr hatte, tot wie er war. Der Schmied hatte ihm das Rückgrat zerschlagen! Es war kein Hund, sah er jetzt, im hellen Taglicht, es war ein Wolf, und keiner von den kleinsten. Eine Wölfin war es, und es wird niemand verwundern, daß der Schmied die Mütze abnahm, ein Stoßgebet sprach und sich bekreuzte.
Das Wolfsfell gab ein schönes Erinnerungsstück, um das er viel beneidet wurde. Da sieht man es wieder, sagten die Bauern, wer Glück hat, führt die Braut heim, und sagten, wer es haben soll, der kriegt’s, und ihm läuft es noch zu, und warfen mit Sprichwörtern um sich, und so ein Lapp, sagten sie, erschlägt einen Hund und gewinnt eine Wolfshaut! Ihren Kindern aber schärften sie es streng ein, am Abend nicht mehr das Haus zu verlassen.
Vor mehr als hundert Jahren begab sich das Abenteuer des polnischen Schmieds. Viel, viel früher begab sich, wenn dem römischen Geschichtsschreiber zu trauen ist, ein Ähnliches. Nördlich der Donau, im heutigen bayerischen Gebiet, saßen germanische Völker, hochgewachsen, kindhaften Gemüts und rotbärtig. Sie waren im Krieg gegen römische Soldaten, und als die wieder einmal über den grünen Strom setzten, die Barbaren zu züchtigen, so nannten sie es, hatte ihr Befehlshaber einen prächtigen Einfall, wie die Natursöhne zu schrecken seien, gleich zu Beginn des Kampfes. In Käfigen, die auf Rädern liefen, Löwen war sein Befehl. Die ließ man frei und hetzte sie mit Fackeln gegen den Feind, und versprach sich viel Erfolgs davon. Die schrecklichen Leuen trafen zuerst auf den Stamm der Quaden. Als diese die Tiere in Sprüngen herankommen sahen, verwunderten sie sich sehr und sagten zueinander: »Nein, schaut nur, die großen, gelben Hunde! Und wie dickköpfig!« Und sie schlugen die vermeintlichen Hunde mit groben Keulen nieder. Dann erst warfen sie sich auf die gepanzerten Römer mit Ungestüm.
Die Löwen waren gänzlich ungepanzert gewesen.
In: Hier schreibt München,
Hg. Karl Ude, München: Langen-Müller 1961.
U.d.T. Wie man mit Löwen umspringt
Entrückung in die Landschaft
Der Fluß Regen im Bayerischen Wald ist ein bräunliches, langsam strömendes Wasser, von sanft-schwermütiger Art. Auf den grünen Uferwiesen grasen die weißen Gänse. Am Flusse Regen liegt die kleine Stadt Regen. Der Regen mündet bei Regensburg in die Donau. Die Stadt Regensburg hat von ihm den Namen.
Nach langen Jahren war ich, zu Ende des August, zum erstenmal wieder im Wald, der meiner Mutter Heimat ist. Ich wohnte in Regen, in einem alten weiträumigen Gasthof am Marktplatz, gegenüber der Kirche. Der Schlag der Turmuhr dröhnte, wenn ich das Fenster offen hatte, gewaltig zu mir herein. Von der Stadt Regen führt eine schöne Straße zu der Stadt Zwiesel, die auch am Regen liegt. Die Stadt Zwiesel ist berühmt ihres Schnupftabaks wegen, und wegen der Glasbläsereien ihrer Umgegend. Venezianer sollen die Kunst in den Wald gebracht haben. Im Regen, und in den Bächen, die zu ihm fließen, wurde früher Gold gewaschen. Viel davon gaben sie nicht her.
Dreimal, an drei Tagen hintereinander, ging ich von Regen nach Zwiesel und zurück. Das sind zusammen fünf Stunden Wegs. Am Straßenrand gab es Brombeeren die Fülle, in schwarzblauer Pracht. Das rote Eichkätzchen zuckte wie eine Flamme durchs Waldesdunkel. Der Häher schrie.
Der Schnupftabak hat die graue Farbe des Flusses Regen. Von jeher machen den besten die Schuster, im Nebenerwerb. Die Blätter des Brasiltabaks werden, mit einer Zugabe von Butterschmalz, in einer großen, hölzernen Schüssel mit einem Stößel zu einem feinen Pulver zermalmt. Von dem Schmalz heißt der Schnupftabak Schmalzler. Auch mischt man Glassplitter in das Pulver. Die sollen die empfindlichen Innenhäute der Nase aufnahmebereit machen für das zarte Gift. Aber wer denn schnupft noch heute? Nur die alten Männer tun es, und haben große, rote und blaue Schneuztücher, und sie zu waschen, ist die Pein der Hausfrau.
Der Hund des Wirtes, ein weißer Spitz mit klugen, schwarzen Augen, lag immer am Abend am Kachelofen, auch wenn der nicht geheizt war. Einmal mußte der Ofen geheizt werden, so kalt war es geworden im sommerlichen August. Es ist eine rauhe Landschaft um Regen herum. Die Wälder tun das ihre.
Zwei Wochen verbrachte ich in Regen. Nicht eine Stunde lang regnete es in dieser Zeit. Der Himmel war blau, die Wälder glänzten schwarz, und der Tierarzt, aus dem Böhmischen stammend, der mir manchmal Gesellschaft leistete, erzählte Geschichten vom kranken Vieh, von der Maul- und Klauenseuche, von den störrischen Bauern, die seine Ratschläge nicht befolgten, und lieber alte Hausmittel in Anwendung brachten, vom Vater und Großvater überliefert.
Den Tierarzt ärgerte das. Er war auch sonst ein Aufklärer, und hatte in Gießen studiert.
In: Süddeutsche Zeitung Nr.298 von 24.12.1953
Unter dem Sammeltitel »Begegnungen 1953«
Nachwort
[zu einer Mörike-Ausgabe]
Eduard Mörike wurde im Jahre 1804 in Ludwigsburg bei Stuttgart geboren, in Stuttgart starb er 1875, und Zeit seines Lebens hat er Schwaben nicht verlassen mögen, ein paar kleine Reisen nach Bayern, nach Tirol, in die Schweiz ausgenommen. Über 70 Jahre währte dieses sein schwäbisches Dasein, von dem er an die zwanzig als Vikar und Pfarrer in behäbig-stillen Dorfgemeinden hinbrachte, zu Cleversulzbach im Unterland zuletzt, bis ihm Last und Sorge selbst dieses beruhigten Amtes zu drückend wurden, und er, noch kein Vierziger, den Abschied erbat und erhielt, von den jährlich 280 Gulden Ruhestandbezügen hinfort lebend, um nur noch am Katharinenstift in Stuttgart »Frauenzimmervorlesungen« über Literatur zu geben, eines kleinen Nebenerwerbs wegen. Der dichterische Ertrag dieses langen Lebens, und auch die Honorare waren entsprechend gering, ist ein schmales Werk: ein Roman »Maler Nolteno, eine Vers-Erzählung in sieben Gesängen, die »Idylle vom Bodensee oder Fischer Martin«, das saftstrotzende, wie vom Volksmund selber gesprochene Märchen vom »Stuttgarter Hutzelmännlein«, die kunstreiche, mozartzarte und -nahe Novelle »Mozart auf der Reise nach Prag«, ein paar kleine Märchen und Erzählungen – und ein Gedichtband, 1838 zum erstenmal erschienen, im Lauf der Jahrzehnte vom Dichter in mehreren Nachdrucken immer wieder vorgelegt, jeweils um etliche Stücke gekürzt, um neu Entstandenes sparsam vermehrt. Aber in diesem einen und einzigen Gedichtband Mörikes stehen Gebilde von vollkommener Schönheit, in antikischer Heiterkeit glänzend, von feuriger Kraft und süßer Fülle, in einem innigen Seelenton gesungen, makellose und ewig strahlende Zeugnisse unserer Sprache. 1873 erschien die letzte, die fünfte, Neuauflage der Gedichte, zwei Jahre später starb Mörike.
Er hatte sich noch in seinen letzten Lebensjahren von seiner Frau getrennt, war ruhelos von einer Wohnung in die andere gezogen, kränkelnd, heiter-griesgrämig und ein wenig wunderlich geworden, verspielt-melancholisch, »so arm von außen und so reich von innen«. Den 70. Geburtstag beging er einsam und ohne Trost.
Er war, als er lebte, nicht »verkannt«. Ein nicht einmal geringer Kreis von Lesern (seine Freunde waren darunter, und Dichter wie Heyse, Storm, Geibel, Keller) wußte um seine Bedeutung. Trotzdem: als die Nachricht von seinem Tode sich verbreitete, staunten die Stuttgarter; sie hatten gar nicht mehr gewußt, daß er noch unter ihnen weilte. Nun »grünt sein Ruhm und wächst ihm übers Haupt«.
Die vorliegende Ausgabe enthält den »Maler Nolten« nicht. Der Roman ist ein Werk von bedeutender Anlage, in der Nachfolge des »Wilhelm Meister«, der »Wahlverwandtschaften« stehend, abirrend und schweifend manchmal, voll von großäugigen Schönheiten: in einer zweibändigen Auswahl, die, ohne literaturwissenschaftlichen Anspruch, den Dichter Mörike in seiner lebendigen und unverbrauchten Fülle und Frische zeigen soll, schien es desungeachtet nicht notwendig, ihn zu bringen.
Die Gedichte, von denen eine geringe Zahl fortgelassen wurde, erscheinen hier in der Anordnung, die Mörike selbst gewollt hat. Die kleine Nachlese enthält Gedichte, die zum Teil nur in Zeitschriften erschienen sind, zum Teil sind es solche, die Mörike bei Neuauflagen aus dem Band herausnahm, zum Teil stammen sie aus dem Nachlaß. Im Verzeichnis ist bei den Gedichten das Entstehungsjahr vermerkt.
Von einer Erläuterung oder »Übersetzung« der mundartlichen und schwäbisch-volkstümlichen Worte und Wendungen und Redensarten, wie sie besonders im »Hutzelmännlein« zahlreich sind, wurde abgesehen. Sie sind so innig verwachsen mit Leib und Geist der Dichtung Mörikes, daß ihr Klang und Duft gespürt wird, und ihr Sinn sich erschließt, auch wenn sie nicht »genau« verstanden werden.
In: Eduard Mörike, Eine Auswahl,
München; Hanser Verlag 1946
Der Kuß der Musen
(Gespräch über das Handwerk des Dichtens)
Mein Gott – was ist nun eigentlich zuerst da? Das ist wirklich schwer zu sagen. Ein leerer Bogen Papier jedenfalls. Aber alles, was man über diese Sache sagt, sehen Sie, stimmt eben nur teilweise. Deshalb spreche ich auch nicht gern darüber. Ich müßte alles einschränken, bedingen, halb zurücknehmen. Natürlich, wenn man die weiße Fläche Papier so vor sich sieht, das reizt, ein paar Verse darauf zu schreiben. Das reizt und regt an, und auf. Aber auch nur wieder an bestimmten Tagen. An anderen Tagen nützt das gar nichts. Man schreibt ein paar Zeilen, man quält sich, man sieht, daß alles schlecht ist, schlechter als man es von sich selber für möglich gehalten hätte – dann hört man lieber auf.
Aber, natürlich glücklicherweise, es gibt andere Tage.
Da spürt man gleich: na, heute könnte etwas gelingen.
In: Die neue Zeitung, 16.7.1951
u.d.T. Gespräch über das Handwerk des Dichtens.
Das alles ist Bayern . . .
Den meisten ist das Land der Bayern ein Land der Berge, und wenn sie das Wort Bayern aussprechen, stehen die Gipfel der Alpen vor ihnen, weiß und schneeglänzend im Winter, grün und beinern grau im Sommer, Wasserfälle stürzen und Forellenbäche schnalzen durchs Tal. Sie denken an die Sennen, die in den schindelbedeckten Almhütten hausen, an Wildschützen und Holzfäller, und hören im Traum die Glocken, die am breiten Lederband am Hals der Kühe schaukeln: ruhevoll tönen sie, am Tag und durch die stillen, heuduftenden Nächte. Das alles ist Bayern, aber es ist nur ein Teil davon, ein schöner Teil, ein Pracht- und Glanz- und Prunkstück, doch wer sollte sagen dürfen, es sei der schönste, ehe er anderes von diesem Lande gesehen hat? Es gibt noch viel.
München ist Bayerns Hauptstadt. Es ist eine wunderbare Stadt, mit den Kupferhauben der Frauentürme; und die München lieben, sagen gern von ihm, es sei ein großes Dorf geblieben, und sagen: Gottseidank! München hat mächtige Bauten, Hallen und Kirchen und Paläste, die Wittelsbacher vor allem waren große Bauherren, es hat italienisch anmutende, steinerne Plätze, den grünen »Englischen Garten«, die schnelle, wendige Isar, hat Maler und Gelehrte und Tänzer, eine Stadt der Künste ist es, aber seine Bewohner sind zu einem großen Teil aus dem Alpenvorland zugewandert und haben Bäuerliches behalten in Sitte und Sprache und im Ungestüm ihrer Natur. Man muß einmal auf dem Oktoberfest gewesen sein, mit seinem Ochsen am Spieß, mit Brathendln und Steekerlfischen, und gehört haben, wie die Bierbonzen dröhnen, wenn frisch angezapft wird, um das zu spüren! Da atmet die bayerische Brust tief und beseligt auf und weiß sich geborgen im eigenen Wesen.
München ist eine vielbesuchte Stadt. Wer zu ihr kommt und rastet, kurz oder lang, der geht auch bald, für Stunden, oder für Tage, nach Süden, wo das Gebirge mächtig lockt, das bei klarem Wetter deutlich zu sehen ist und bei Föhn zum Greifen nah zu liegen scheint. Auch die eingesessenen Münchner machen es nicht anders. Nach Norden wenden sich nur wenige.
Da dehnt sich die schwäbisch-bayerische Hochebene, dehnt sich bis hinüber nach Augsburg, der Stadt der Brunnen, der Fugger-Stadt am springlebendigen Lech, und senkt sich mit Landshut, das die Martinskirche hat, mit dem hochgeistlichen Freising , dem bierbrauenden Weihenstephan, dem klotzig-schweren Moosburg hinab zur Donau. Über die Hochebene wehen kräftige Winde unter dem hohen weiß-blauen Himmel; weiß-blau sind Bayerns Landesfarben. Der Schwede Gustav Adolf hat vorwitzig gemeint, München sei ein goldener Sattel auf einer dürren Mähre – er hätte richtiger sagen sollen: auf einem derbknochigen Bauernpferd! An der Donau liegt Regensburg, liegen Straubing und Passau. Drei Städte, drei uralte Siedlungen, von den Römern gegründet. Manches ist den Menschen dort geblieben von ihrer Herkunft, im Schnitt der Gesichter, in der kleinwüchsigen Gestalt, im schwarzen Haar, und die jungen Männer tragen oft noch kleine, goldene Ohrringe, wie Spanier sehen sie dann aus! Hier ist Niederbayern, hier ist das »Gäu«. Der Gäuboden ist von strotzender Fruchtbarkeit, Weizenfelder wogen, die Kornkammer Bayerns wird dieser Landstrich genannt. Sanft gewellt ist die Gegend, Barock-Kirchen stehen hier und dort, und weißgekalkte Klöster. Hier ist das innerste Herzstück Bayerns. Die Bauern, fromm und rauflustig, sind Herren auf ihren stolzen Höfen. Oberbayern ist arm von Natur, hat Stein und Gras und seine Bergschönheit; Niederbayern ist reich. Bei Passau grenzt es an Österreich, das stammverwandte, das von den Bayern besiedelt wurde, und bayrisch ist es geblieben in Mundart und Wesen, nur zum Höflicheren, zu Leichterem und Feinerem hat es sich gewandelt: das Kaiserhaus in Wien und seine Ausstrahlung hat das vermocht. Passau, die Bischofsstadt, die Dreiflüssestadt, – Donau, Inn und Ilz vereinigen sich hier –, ist wie aus einem Traum geholt anzusehen, mit der Festung Oberhaus, dem Mariahilfsberg, den vielen Brücken.
Am nördlichsten Punkt, den die Donau in ihrem Lauf erreicht, liegt Regensburg: eine einzige Herrlichkeit! Romanisch, gotisch, barock, alle Stile vertragen sich in ihr. In der Nähe, donauaufwärts, bei dem Städtchen Kelheim, liegt das Kloster Weltenburg, ein Wunderwerk die Klosterkirche und ihr Georgsaltar. Die Donau bricht hier durch die Kalkfelsen des Jura, zieht eine mächtige Schleife. Wer von Weltenburg mit dem Boot donauabwärts fährt bis Passau, tut eine unvergeßliche Reise. Von den Donaustrudeln sei hier nicht weiter die Rede, und daß es bei Regensburg noch Weinberge gibt. Der Kruckenberger hat seinen sauren Reiz. Einen großen fließenden Magneten nennt Hans Carossa,
der in einem Ort bei Passau lebt, den grün dahinziehenden Strom.
Nördlich von Regensburg beginnt die Oberpfalz. Der Fluß Regen durchfließt sie, der bei Regensburg in die Donau mündet, daher trägt die Stadt ihren Namen. Der Regen ist ein schwarzes, langsam strömendes Wasser, von sanft-schwermütiger Art. Die ganze Oberpfalz hat etwas von dieser dunklen Schönheit. Burgruinen und Klöster sieht man, auf den grünen Wiesen grasen die weißen Gänse. Die Oberpfalz erstreckt sich hoch hinauf, bis ans Sächsische, ans Fränkische, und hat im Osten Böhmen zum Nachbarn.
Es gibt auch eine kleine Stadt, die Regen heißt, sie liegt schon »im Wald«, wie man den bayrischen Wald kurzhin nennt, und »Waldler« seine Bewohner. Von altersher wird Glas geblasen in dieser Gegend, Venezianer haben die Kunst eingeführt, ein Schnupftabak, der »Schmalzier«, wird gemacht, und sogar Gold wird noch gewaschen in den Bächen und Flüssen. Viel davon geben sie nicht her. Der »Wald« hat stille, schwarze Seen, Ortschaften wie Bischofsmais und Lam und Zwiesel, die Berge Arber, Osser und Dreisessel. »Der Hochwald« Adalbert Stifters wächst hier. Es ist bei ihm nachzulesen, wie er ist, keiner weiß es besser.
Viele Namen sind noch nicht aufgezählt der Orte und Gegenden, die des Rühmens wert sind: Ingolstadt, »die Schanz«, die alte Soldatenstadt, und Donauwörth, und Lauingen, das schweigsame Amberg, die hopfenreiche Holledau und Memmingen, die alte freie Reichsstadt, wo es schwäbelt und es Spätzle zu essen gibt statt der altbayrischen Knödel. Die sind aber auch gut. Und von Wasserburg wurde noch nichts gesagt, in der Innschleife, und von Burghausen, von Kappl, von Waldsassen, vom Wallfahrtsort Altötting mit seiner schwarzen Madonna wo anfangen, wo aufhören? Ein altes Leben hat sich in diesen Siedlungen erhalten, gelassen, ohne Hast, in selbstgenügsamer Tätigkeit.
Es wurde viel von Kirchen und Klöstern gesprochen, das hat seinen Grund, Bayern ist ein erzkatholisches Land. Es ist ein heiterer und lebensfreudiger Katholizismus, der hier daheim ist, und gar nicht weltabgewandt, mit allen Sinnen auch das Irdisch-Schöne genießend. Wie Gold funkeln die Altäre der Kirchen, die Türme haben lustige Zwiebelhauben, der Barock ist ein echter Ausdruck dieses Landes. Die Blasmusik wird geliebt, der Tanzboden am Sonntag, bei Hochzeiten und Taufen, und an den Werktagen wird gearbeitet: alles zu seiner Zeit!
In: Die deutschen Lande, Frankfurt, Umschau Verlag, 1952
Für Fontane
Fontane zu lesen, und immer wieder zu lesen, ist für mich eine Freude, und ein Glück.
Ich bin ein alter »Fontanist«, wie wir Fontane-Verehrer, Fontane-Bewunderer uns gern, und als sei’s eine Auszeichnung, die es auch ist, zu nennen lieben. Von diesem wunderbaren Mann, diesem großartigen Schriftsteller, diesem Dichter, der mit scheinbar leichter Hand Schweres bewältigt – ich kann von ihm nicht reden wie von einem germanistischen Katheder herunter.
Von den »Poggenpuhls« z. B., einem quasi »kleinen Nebenwerk« von ihm, vermag ich nur hingerissen zu schwärmen, wie ein Liebender entzückt zu schwärmen beginnt, wenn vom Gegenstand seiner Liebe gesprochen wird.
Grad innerhalb unserer deutschen Literatur, die so oft schwerflüssig, und schwersinnig und schollenklumpig einher schreitet – nie »schreitet« Fontane, er geht, nur manchmal auch tanzt er – schenkt er uns ein hohes und herrliches Vergnügen, ein tiefes und herzliches Wohlbehagen, eine fromme Lust, ist er ein Glanz, ein Segen, der auf Taubenfüßen zu uns kommt.
Er gehört aber zu dem Geschlecht der Adler.
Für den Verleger Bertold Spangenberg, 1959
Der Vogel Bienenfresser
In der alten Stadt Regensburg, auf einer Insel in der Donau, bin ich am 17. Februar des Jahres 1891 geboren worden, ein Wassermann also in jeder Hinsicht, auch in astrologischer. Ich glaube aber nicht an die Astrologie.
Früh fühlte ich mich einen Dramatiker, verfaßte fünf oder sechs Theaterstücke, von denen eins gedruckt wurde, zwei andre aufgeführt an den Staatlichen Bühnen Dresden und München. Dann gefielen mir die Komödien nicht mehr, gar nicht mehr, und ich beschloß, sie dem Feuertod zu überliefern. Das war im Jahre 1930 ungefähr. Da in dem Zimmer, das ich bewohnte kein Ofen stand, das Haus war zentralgeheizt, ging ich eines Abends, Münchner war ich geworden, zur nahen Isar hinunter und warf von einer Brücke aus die Manuskripte allesamt ins Wasser und hörte es klatschen und atmete tief und befreit auf, als das Gericht vollzogen war.
Spät erst, mit fast dreißig Jahren, begann ich zu schreiben; vorher war ich mit anderem beschäftigt gewesen, mit einem bißchen, nicht ernst genommenem Studium der Volkswirtschaft, und dann hieß es im Schützengraben den ersten Weltkrieg zu überstehen, der bekanntlich durch vier lange Jahre sich hindehnte. Als ich aus ihm zurückkehrte, nach zwei Verwundungen, war mein rechter Arm lahm und ist es bis heut geblieben.
Was sollte ich anfangen? Ich schrieb, weil ich nichts besseres zu tun wußte, ohne Vorsätze zu haben oder Pläne oder Theorien, ohne jede deutliche Vorstellung vom Wesen der Dichtung, nach der man mich heut fragt, nicht einmal eine undeutliche hatte ich. Ich schrieb, weil eine unruhige Lust mich drängte es zu tun, schrieb kurze Erzählungen, auch Verse, sehr dem Expressionismus verhaftet; um 1920 herum auch mein erstes Drama.
Die Zeit ging hin mit dieser Tätigkeit, ich verdiente wenig damit ganz natürlich, verdiente aber so viel, daß es zu einem Studentendasein in einem Zimmer reichte, mehr hatte ich auch nicht erwartet und wunderte mich eher, daß es so viel einbrachte. Es waren schöne, unbekümmerte Jahre. Und in einem möblierten Zimmer auch noch, erlebte ich meinen sechzigsten Geburtstag.
Ich war nie besonders fleißig, wozu auch, aber es häufte sich doch allerhand an, in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht zuerst, später auch in Buchform. 1932 erschien mein erster und einziger Roman, der Lebenslauf eines dicken Mannes, der Hamlet hieß, er wurde ins Französische und Holländische übersetzt. Fünf Gedichtbücher von mir kamen auf den Markt und ein halbes Dutzend von Büchern mit Erzählungen. Der Markt befaßte sich nicht sonderlich mit ihnen, was mich nicht erstaunte. Ich reiste in fremde Lande, nach Frankreich, Italien, Jugoslawien, Albanien, in Afrika sogar war ich, nicht lange, eine kurze Woche leider nur, sah die Wüste, Karawanen und Skorpione. Es waren billige Zeiten damals, für einen Junggesellen zumal.
Ich trank gern und nicht zu wenig, Wein, und tue es noch heute, rauche schwarze Brasilzigarren und dünne österreichische Virginias, lese viel, zuviel vielleicht, aber kann man das?, bekam einige Literaturpreise, wurde Mitglied von Akademien, und nun ist es soweit, daß eine Gesamtausgabe meiner Werke zu erscheinen beginnt, auf sechs nicht allzu dicke Bände berechnet, und immer noch nicht weiß ich die Frage zu beantworten, was denn das Wesen der Dichtung sei.
Seit ein paar Jahren habe ich es zu einer Zweizimmerwohnung gebracht, zu einer Mansarde im vierten Stock im Herzen Münchens, gegenüber der Sankt Annakirche, auf einem stillen, baumbestandenen Platz, und eine Frau habe ich jetzt, und Glockengeläute tönt oft zu mir und der Schrei des Turmfalken. Ein Turmfalkenpärchen ist es und sie haben Junge.
Die Gechichte von dem Tausendfüßler gehört jetzt hierher. Den fragt man, wie er denn zurecht komme mit den vielen Beinen, wie er es anstelle, sie nicht durcheinander zu bringen, daß kein Wirrwarr entstehe und er nicht stolpere. Das Tier antwortet: »Das ist doch ganz einfach, das mache ich so, sehen Sie einmal genau her.« Und es will seinen Gang beginnen, den oft gegangenen, und plötzlich kann es nicht mehr gehen, wie gelähmt ist es, und steht beschämt vor dem Frager. Wie ich auch. Und meine, nicht törichter zu sein als andere, nur vorsichtiger vielleicht, mir selber nicht trauend und meiner Weisheit, zögernd und eher hochmütig verlegen ablehnend.
Der Bienenfresser gehört jetzt auch hierher. So heißt ein Gedicht von mir:
Der Vogel Bienenfresser
Die den süßen Honig holen,
Von den Rosen, von dem Flieder
Was sie eben sich gestohlen,
Raubt sich gleich ein andrer wieder
Auf die frechste Räuberweise,
Goldner Stacheln ungeachtet:
Und die Bienen, schwer befrachtet,
Selber sind sie nun die Speise,
Und wie Honig ihnen, besser,
Schmecken sie dem Bienenfresser.
Und der Dichter? Voller Gier,
Ohne Vorsicht und Bewahrung
Schluckt er stachelige Nahrung
Wie das Bienenfressertier,
Nie und nie, daß er verzichte,
Kann er nur den Honig haben:
Bienen baun aus Honig Waben
Und die Dichter draus Gedichte.
Ist’s wenig, was ich zum Thema zu äußern habe?
In Bildern zu sprechen dürft ihr mir nicht wehren, ich wüßte mich sonst nicht zu erklären. So ungefähr sagt es Goethe. In Bescheidenheit sag ichs auch.
In: Sendung Deutschlandfunk am 10.7.1957
Editionsnotiz
In diesem letzten Band unserer Gesamtausgabe sind Prosa-Publikationen erfaßt, die in den bisher vorgestellten Bänden unserer Gesamtausgabe nicht enthalten sind, weil wir der noch von Britting autorisierten Gesamtausgabe der Nymphenburger Verlagshandlung aus den Jahren 1951 bis1957 folgten, der nach Brittings Tod ein Gedichtband und 1966 ein Prosaband zugefügt wurde. Diese Texte wurden aus verschiedenen Gründen nicht aufgenommen, da Britting bei der Auswahl sehr selbstkritisch vorging und seinen Ansprüchen nicht genügende Titel nicht aufnahm. Ein weiterer Grund war der, daß sich Britting gewisse Titel aufhob, um sie Zeitungen und Zeitschriften anbieten zu können und so seinen Lebensunterhalt zu sichern. Ein dritter Grund mag sein, daß Britting
einige seiner Erzählungen schlicht vergessen hatte.
Wir wiederum würden gerne dem Beispiel Brittings folgen, können das aber aus verschiedenen Gründen nicht tun. Erstens weil etliche dieser in diesem Band aufgenommenen Titel in Anthologien Aufnahme fanden und wir dem Anspruch einer Gesamtausgabe nicht genügen würden, ließen wir sie weg. Zweitens, wir wollen uns für gewisse Titel nicht vorwerfen lassen, sie aus bestimmten Gründen nicht gebracht zu haben.
Als wichtigsten Grund für die Aufnahme sahen wir es jedoch an, auch diese Titel vorzustellen, damit die literarische Entwicklung der Werke Brittings dokumentiert ist und für die Forschung zur Verfügung steht. So haben wir in diesem Band nach den jeweiligen Publikationen die Quelle des Erstdrucks mit dem Erscheinungsdatum zugefügt, damit eine zeitliche Einordnung möglich ist.
Impressum
Band 23
Hrsg. von Ingeborg Schuldt-Britting
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Informationen über den Dichter und sein Werk in www.britting.de.
Alle Rechte vorbehalten
© 2012 Georg-Britting-Stiftung
83101 Höhenmoos
Wendelsteinstraße 3
Satz u. Layout: Hans-Joachim Schuldt
Made in Germany
Gedruckte Taschenbuchausgabe:
ISBN 978-3-9812360-0-2 (Sämtliche Werke – Prosa)
ISBN 978-3-9812908-6-8 (Nachlese / Prosa)