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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs
Band 3-2
Seite 41
Kommentar
Seite 450
Aus: »Die Kleine Welt am
Strom«
Neu erschienen bei Rimbaud !
[Okt.2006]
Lästerliche Tat
In der Stadt
an der Donau steht ein großer gotischer Dom, mit zwei Türmen,
grauen Steintürmen, von den Domdohlen umlärmt. Im Juli, im August,
an heißen Tagen, wenn der Himmel wolkenlos blau ist, und das war
er oft, damals, in unserer Knabenzeit, so scheints mir heut, so war er
im Sommer fast immer, gabs nichts Hitzigeres als den Domplatz. Von den
Pflastersteinen stieg kochende graue Luft empor, und der Dom mit seinen
beiden Türmen blendete so sehr, daß man zu den Dohlen, die oben
die Kreuzblumen mit Geschrei umflogen, nicht hinaufzuschauen wagte, weil
es den Augen zu wehe tat. Man brauchte auch nicht hinaufzuschauen, die
Dohlen waren da, man hörte ihre unruhigen Rufe. Wir saßen auf
den Steinstufen des Doms, die brannten uns fast Löcher in die Hosen,
und wenn uns die Hitze zu arg wurde, flüchteten wir ins dunkle Dominnere,
da war es kalt, zum Schaudern, die dunkelbraunen, fast schwarzen Holzbänke
glänzten matt, durch die farbigen Fenster fiel buntes Licht, es war
fast unheimlich, und da gingen wir schnell wieder auf den sonnenklirrenden
Platz hinaus.
Unsere Knabenspiele trieben
wir am Dom, Räuber und Gendarmen vor allem. Da gab es viele Ecken
und Winkel, sich zu verstecken, Erker und Bogengänge, Türnischen
und Pfeilerschatten. Einmal stürzte einer von uns ab, der verfolgt
wurde, weil er Räuber war, und der den Gendarm schon dicht hinter
sich hörte, stürzte von dem Steingang ab, der überdacht
rund um den Dom läuft, stürzte drei Meter tief. Ich höre
noch, wie er unten aufschlug auf dem Pflaster; zuerst der schwere Fall
des Körpers, dumpf, und etwas später ein hellerer, hohler Ton.
Ohne hinzusehen wußte ich: das war der Kopf! Der Räuber blieb
bewußtlos liegen, der verfolgende Gendarm rannte davon, wohl schuldbewußt,
obwohl er doch unschuldig war. Ich blieb, noch ein paar von uns blieben,
der Abgestürzte rührte sich nicht, Blut war nicht zu sehen, kein
Blut. Erwachsene kamen dazu, schimpften, wir sagten nichts. Ein Herr rief
eine Pferdedroschke heran, und weil ich wußte, wo der Verunglückte
wohnte, wurde ich zu dem immer noch Bewußtlosen in den Wagen gesetzt,
und wir fuhren los. Ich saß zum erstenmal in meinem Leben, ich war
sechs Jahre alt, in einem Fuhrwerk. Es war dunkel in der Droschke, es roch
merkwürdig darin, nach Pferdedecken und Leder, es schaukelte, und
ich fuhr stolz dahin. Ich kam mir wie ausgezeichnet vor, erhöht, belohnt,
vom Schicksal ausgewählt. Der Abgestürzte lag bleich auf dem
abgeschabten Lederpolster, der Wagen wackelte, wir wackelten mit, ich und
der Ohnmächtige. Ich sah ihn nur hin und wieder an. Meist sah ich
durch das Fenster auf die Straßen, wo die Leute vorbeigingen, von
denen ich nur die Köpfe und die Oberkörper sah, und ich machte
ein stolzes Gesicht, wenn man mich ansah, denn wenn man in einer Droschke
sitzt, in einer Pferdedroschke, Muß man stolz und würdig schauen,
dachte ich, und so tat ichs. Die bekannten Straßen kamen mir so verändert
vor, als führe ich durch eine fremde, reiche, menschenwimmelnde Stadt.
Hier in der Droschke war es so ruhig und still, der Abgestürzte atmete
kaum, und draußen regte es sich wie in einem Ameisenhaufen. Die Fahrt
dauerte lange. Endlich hielt der Wagen, ich konnte die Tür nicht öffnen,
der Kutscher tat es. »Er wohnt im zweiten Stock«, sagte ich,
»der Abgestürzte«, und der Kutscher ging ins Haus, um
die Unglücksbotschaft zu überbringen, und hieß mich, bei
dem bleichen Bewußtlosen zu bleiben. Aber kaum war er im Haus verschwunden,
lief ich schnell davon, lief heim, es war nachmittags um vier Uhr, und
erzählte daheim nichts von dem Vorfall, blieb den Rest des Tages still
auf meinem Platz. Wie war meine Mutter erstaunt über ihren willigen
und ruhigen Sohn, der sanfte Spiele spielte und sich nicht rührte
und der sich möglichst unauffällig zu machen suchte, wie nicht
vorhanden.
Der Sturz war übrigens
harmlos, erfuhr ich am andern Tag, und davon wollte ich ja auch gar nicht
erzählen, sondern von einem späteren Abenteuer, das ich am Dom
erlebte, als ich schon fünfzehnjährig war, fast junge Herren
waren wir schon, mit Stehkragen und Bügelfalten in den Hosen.
Es war Ende Juli, ein
heißer Tag folgte dem andern. Die Donau fiel täglich, ihr Wasser
war hellgrün, nackte weiße Steine traten am Ufer aus der Flut.
Ich hatte einen Freund, mit dem ich viel zusammen war. Er wollte Arzt werden,
ist es dann später auch geworden, und er hatte damals eine heftige
und wißbegierige Liebe für Gifte: wir wollten zusammen ein Buch
über Gifte herausgeben, er sollte den wissenschaftlichen Teil bearbeiten,
ich sollte dem Buch den nötigen Schliff des Stils geben. Das Buch
ist natürlich nie geschrieben worden, aber wir berieten schon, wie
der Einband auszusehen habe, rot, das war klar, fliegenpilzrot, und die
Schrift darauf mit grünen Lettern, mit grasgrünen, giftgrünen.
Wir sahen viel Brodelndes, Gärendes, Schlammiges in uns, wenn wir
in uns hineinsahen, und der Umgang mit Giften schien uns kühn und
verbrecherisch schön zu sein, und wenn wir auch wirkliche, todbringende
Gifte uns nicht zu verschaffen wußten, Wein kaum kannten, kaum Tabak,
so nahmen wir seelisches Gift, täglich, eine Zeitlang, eine Art Rauschgift
war es, das uns unerhörte Spannungen und Aufregungen gab und tiefe
Erschöpfungen.
Hinterm großen Dom
ist ein grüner Domgarten, der im Schatten hoher Bäume liegt.
Hier steht die kleine Domkapelle, uralt, und der dunkle Eingang düstert
unheimlich. Vor dem Goldaltar brennt das ewige Licht, schwimmt in einer
mit Öl gefüllten Glasschale ein winziger Docht. Rötlich
schimmert das Lichtlein, den Frommen auffordernd zur immerwährenden
Anbetung.
Da schlichen wir nun,
wir zwei Fünfzehnjährigen, über den Domplatz, bogen in den
grünen Domgarten, traten durch das Steinportal in die Kapelle. Kühl
schauerte es hier, Gold glänzte ungewiß. Heilige standen steif
und steinern, und der rötliche Glanz des ewigen Lämpchens flimmerte.
Minutenlang standen wir unbeweglich, nachdem wir das Knie gebeugt hatten
und das Kreuz geschlagen, wie es sich für fromme Beter ziemt.
Ich wußte, heute
mußte ich es tun. Ich zitterte, ging nahe an das Lämpchen heran,
der Docht schwankte vor meinen Augen auf und ab, elfenbeinfarben, wie ein
Schiff in einem rötlichen, seltsamen Meer. Ich hielt den Atem an,
stieß ihn aus und blies das Licht aus. Langsamen Schrittes, unauffällig,
ganz unauffällig, verließen wir die Kapelle, waren im Domgarten,
gingen langsam, aber am liebsten wären wir wild gerannt, gingen langsam
an der langen, grauen Mauer entlang, sahen allen uns Begegnenden fest und
unschuldig in die Augen, verließen den Garten, bogen in eine Quergasse
und wieder in eine und schlugen einen Haken und noch einen, daß kein
Schutzmann und kein Polizeihund unsere Fährte hätte verfolgen
können.
Wir saßen auf den
Bänken der Anlagen, erschöpft von dem Abenteuer. Wenn man uns
erwischte! Man hätte uns von der Schule verwiesen, vielleicht wären
wir sogar ins Gefängnis gekommen, vielleicht sogar ins Zuchthaus,
Gotteslästerung, murmelten wir mit bleichen Lippen. Wir dachten an
unsern dicken, gutmütigen Religionslehrer, wie große Verbrecher
fühlten wir uns, und das gab uns eine Haltung, die uns unterschied
von unsern Schulkameraden. Und dann fingen wir von dem Giftbuch an zu reden,
das wir schreiben wollten, von wilden und gefährlichen Giften, von
schnell wirkenden und von schleichenden, von Pfeilgiften und von Giftschlangen.
Und morgen nachmittag
kam dann Hans daran, das ewige Licht kirchenschänderisch zu löschen,
das jedesmal, wenn wir wiederkamen, still und rötlich brannte, von
dem unermüdlichen Mesner immer wieder neu entzündet.
Eine Woche lang trieben
wir es so. Jeden Tag wurde die Tat gefährlicher, unsere Spannung größer,
denn es war damit zu rechnen, daß man versuchen würde, die Übeltäter
zu erwischen, daß man Beobachtungsposten aufstellte.
Manchmal, wenn wir die
Kapelle betraten, kniete schon jemand vor dem Lämpchen. Dann standen
wir schweigend daneben, beteten scheinbar und gingen wieder, um nach einer
Stunde wieder zu kommen und um dann, wenn die Kapelle still und fromm dämmerte,
unsere schlimme Tat zu tun.
Es nahm dann ein Ende.
Wir waren nachmittags gegen zwei Uhr gekommen. Wir schlugen das Kreuz und
knieten, und heute traf es mich, das Verbrechen auszuführen. Es war
dunkel in der Kapelle, man sah anfangs nicht viel, wenn man aus der Sonne
in das Steindämmernde trat, wir knieten, und da stand ich auf, trat
schon einen Schritt auf das Lämpchen zu, sah nach rechts und sah,
daß dort ein Mann im Schatten stand und mit großen schwarzen
Augen mich fest ansah. Ich erstarrte. Das war der Wächter, der Aufpasser,
der Lauerer. Ich glitt schnell in die knieende Stellung zurück. Hans
hatte jetzt den Mann auch gesehen. Wir rührten uns nicht, ich fühlte
den starren Blick des Mannes in meinem Rücken. Nun war alles aus.
Sofortige Entfernung von der Schule, Schande, Gefängnis, Schmach ohne
Maßen, es war entsetzlich! Vor mir flimmerte das rote, gnädige
Lichtlein. Da begann ich inbrünstig zu beten. Zu flehen, daß
diesmal noch alles gut vorbeigehen möge, daß der Fremde kein
Spion solle sein, daß er, wenn er einer sei, für diesmal noch
möge Gnade für Recht ergehen lassen! Fordernd, stürmisch
fordernd betete ich, alle Glaubenskraft holte ich aus mir heraus zum rettenden
Gebet. Und das Lämpchen vor mir zuckte bald höhnisch: Nein!,
bald brannte es still und tröstlich und sagte: Ja! Minutenlang war
das so, es war wie ein Rausch, und da ging der fremde Mann, nachdem er
das Kreuz geschlagen hatte.
Wir warteten noch eine
Weile. Dann gingen wir zur Tür. Niemand war zu sehen. Es war irgendein
Beter gewesen, kein Spion, ein Mann ohne jeden Argwohn, ein Frommer. Da
glitt Hans noch einmal schnell ins Dunkle, löschte das Lämpchen
noch einmal.
Aber das war das letzte
Mal, daß wir es taten. Wir gingen an diesem Nachmittag über
die steinerne Brücke, gingen donauaufwärts, bis das Weidendickicht
begann. Hans, der sehr geschickt war, schnitzte sich eine Weidenflöte,
wir lagen im Gras, über uns der blaue Himmel. Und dann begann Hans
zu blasen auf seiner Flöte:
Schön ist die Jugend,
Sie kommt nicht mehr.
Sie kommt nicht mehr zurück
. . .
Bis zum Abend lagen wir, und
Hans blies immer wieder dieses Lied, und wir Fünfzehnjährigen
waren traurig und spürten, daß wir einmal würden Greise
sein, weißhaarig, knöchelschwach und von Erinnerungen angefüllt.
Und wie das einst sein würde, alt sein, müd sein und auf seine
Jugend zurückschauen, das nahmen wir uns jetzt schon vorweg, dieses
Greisengefühl, dieses abendsüße - aber wie war das unterbaut
von dem triumphierenden Wissen, daß wir noch jung, jung, o wie jung
waren, fünfzehnjährig waren, während wir komödiantisch
sangen und bliesen:
Drum sag ichs noch einmal
Und sag es tausendmal:
Schön ist die Jugend,
Sie kommt nicht mehr.