...
zurück zum Inhaltsverzeichnnis
© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Band 3-2  Seite 199
Kommentar Seite 484

Aus: »Der bekränzte Weiher«


Der bekränzte Weiher

Es ist lange her, erzählte das Mädchen, daß ich zur freideutschen Jugend gehörte, so nannten wir uns, nahe Verwandte des großen Wandervogelbundes. Mein Gott, ist das schon lange her, unendlich lange, auch wenn ich mich noch so deutlich an alles zu erinnern vermag, an alles und jedes, als wär's erst gestern und vorgestern gewesen!
 Es war während des großen Krieges, daß ich als eine der Jüngsten unter der Schar der Wandernden jeden Sonntag dahinzog, hinter unserm Wimpel her, mit langem, weitem Rock am kurzen Leibchen. Das Kleid war einmal ein weiß und rot gewürfelter Bettbezug gewesen und der Schurz war aus einem Stück eines gebrauchten Vorhangs gemacht, das die Mutter zu Haus in der Waschschüssel gefärbt hatte. Es war ja während des Krieges, als alles schon anfing knapp zu werden und man sich behelfen mußte, so gut es eben ging, und man sich auch behalf.
 Wir Mädchen waren in der Überzahl damals, aber auch Buben gehörten zu uns, halbwüchsige Burschen, ein langaufgeschossener Goldschmiedlehrling war darunter, und ein kleiner, buckliger Handlungsgehilfe, aber zumeist waren es Schüler, die Wochentags nur widerwillig auf den Bänken saßen und Latein und Rechnen trieben, weil ihnen das überflüssig vorkam in dieser Zeit, die bald anderes von ihnen verlangen würde. Es schien fast so, als verstünden es die Burschen schneller zu wachsen in diesen Wochen und Monaten, als verbreitere sich ihre Brust zusehends und als würde ihr Blick von Sonntag zu Sonntag feuriger. Sie hatten es eilig, dahin zu kommen, wo der Krieg war, wo dieser von uns Mädchen nicht zu begreifende Krieg war, und sie hielten sich gerne, bei einer Rast, aber auch während des Marsches, ein wenig abseits von uns, die wir nicht verstanden, was sie bewegte, die wir nicht wußten, was sie erwartete, was das war: Krieg! - sie aber wußten es und behandelten uns mitunter ein wenig hochmütig und von oben herab, wie schon ganz richtige Männer.
 Eines Tages verließ uns denn auch der erste der Freunde, in die hohen Stiefel zu schlüpfen, den grauen Rock anzuziehen, das Seitengewehr umzuschnallen, und nach kurzer Ausbildungszeit kam er dann auch an die Front und schickte uns gleich am ersten Schützengrabentag eine Feldpostkarte, und nun wußte er wohl, wie der Krieg war und konnte wohl auch merken, daß er nicht genau so war, wie er sich eingebildet hatte es zu wissen, als er noch singend mit uns hinter unserm Wimpel marschierte.
 Für den Goldschmiedlehrling dann, der sehr schön zeichnen konnte, - wie oft hatten wir staunend zugesehen, wie er eine Blume, einen Dornenzweig liebevoll und genau, mit zartem und doch festem Strich auf dem Papier nachbildete! - für den Goldschmiedlehrling dann, den wir immer noch so nannten, auch als er seine Gesellenprüfung schon bestanden hatte, weil es so altertümlich klang, wie in den Volksliedern, die wir sangen, für ihn kam dann auch der große Tag, da man ihn zu den Soldaten nahm, das Geschütz zu bedienen mußte er lernen, und er wurde bald nach Rußland geschickt, und er war, obwohl er der dritte war, der uns verließ, um ins Feld zu gehen, er war dann der erste, von dem wir erfuhren, daß er nie mehr zu uns zurückkehren würde, nie mehr. Die Nachricht von seinem Tod erreichte uns einige Wochen vor Ostern. Sie versetzte die Großen unter uns in eine tiefe Fassungslosigkeit, wir kleinen Mädchen aber, für die das Wort: Tod nur ein Wort war und nicht viel mehr, wir trugen bald wieder den Kopf oben und besannen uns, wie wir auf eine geziemend feierliche Art den gefallenen Helden zu ehren vermöchten.
 Lange beratschlagten wir, und berieten hin und berieten her, und dann fiel uns nichts anderes ein, als was den Erwachsenen aller Länder späterhin auch einfiel, später, als der Krieg aus war, als sie ihren tapferen Toten, die im fremden Boden moderten, zu Hause, in den Städten und Dörfern, die zu verteidigen sie ausgezogen waren, sinnbildlich gemeinte Grabstätten errichteten.
 Den Goldschmiedlehrling, war uns berichtet worden, den feinfingrigen Zeichner, den Kameraden auf vielen Fahrten, hatte die Kugel getroffen während eines Flußübergangs, und so war er vom ängstlich auf schmaler, schwankender, schnellgebauter Brücke tänzelnden Pferd in den kalten Fluß gestürzt, und niemand konnte sagen, ob noch Atem in seiner Brust war, als das Wasser über ihm zusammenschlug, oder ob er als Verwundeter ertrunken war, und auch kein Arzt hatte das mehr feststellen können, weil der Fluß den Toten mit sich genommen hatte, mit anderen, denen es ähnlich ergangen war.
 Ein unruhiger Vorfrühlingshimmel wölbte sich in diesen Tagen über Deutschland, Wolken stiegen auf und liefen über uns hinweg, treibende, geballte Wolkenmassen, zwischen denen es hie und da blau erblitzte, und als sei er ein Schlachtengemälde, sahen wir zum Himmel auf. Reiter sprengten dahin auf weißen, bäumenden Rossen, Rüstungen glänzten, Beinschienen und Sporen, und die Helmbüsche flatterten, rosa und grün. Und unser Goldschmiedlehrling war ein kühn schimmernder Ritter geworden, sein Panzerhemd, mattblau strahlend, trug eine goldene, flammende Sonne an der Brust, und ritterlich fechtend stürzte er vom Gaul, vom sausenden Schwerthieb des Feindes getroffen, und seine langen, blonden Locken wehten, und fast hatten wir vergessen, daß er im feldgrauen Rock gefallen war und daß er sein dunkles Haar immer gänzlich kurz geschnitten hielt, wie Soldaten es tun.
 Nur betrübte es uns sehr, daß ihm, dem Helden, nicht ein Grab gegönnt war, und sei's auch in fremder Erde, ruhig zu liegen, daß der brausende Strom ihn hinweggetragen hatte, und daß er preisgegeben war, der Freund, dem Spiel der Wellen und den Tücken der Strudel und kreisenden Wirbel.
 Wir waren damals, erzählte das Mädchen und lächelte, alle ein wenig verschwärmten Sinnes, unklarer Gefühle übervoll das Herz. Wir überraschten uns zum Geburtstag oder zu anderen Festen mit Freundschaftsringen, in die zärtlich Widmungen oder Zuneigungsbeteuerungen eingeschnitten waren, oder schenkten uns, zum Zeichen unverbrüchlicher Treue, die wir einander halten wollten, an schwarzen Samtbändern um den Hals zu tragende kleine billige Anhänger, goldene Anker, von gläsernen Vergißmeinnichtblüten umwunden, oder silberne Kreuze. Man mußte sinnbildlich nehmen können, was uns gefallen sollte, und jedem Ding und jedem Tun, so wollten wir es, sollte eine geheime tiefere Bedeutung unterlegt werden können. Ja, so waren wir damals, jung alle, keiner und keine älter als siebzehn. Keine Dorfkirche verließen wir, die wir auf unseren Wanderungen besuchten, ohne die Finger ins kalte Weihwasser zu tauchen und uns gegenseitig feierlich damit zu besprengen, ohne ein paar Pfennige in den Opferstock zu werfen, und das Knie vor dem Altar, um den die Engel tanzten, beugten wir tief und fromm und ausdrucksvoll, und die Evangelischen unter uns, die taten mit, waren besonders eifrig in solchen Übungen, als wär's nicht ein fast heidnischer Frevel für sie.
 Am Sonntag vor Ostern sammelten wir uns früh am Morgen, fuhren mit der Straßenbahn aus der Stadt hinaus, und zogen dann flußaufwärts, einen kalten, klaren, eifrig strudelnden Fluß hinauf. Die kleinen Inseln, die aus dem Wasser ragten, aus rundgeschliffenen Kieselsteinen zusammengeschwemmt, waren noch silberweiß überschneit, aber die Hänge, die zu beiden Seiten des Flusses anstiegen, hatte die Sonne schon kahlgeschmolzen. Der Boden schien trocken, fürs Auge, aber wir merkten im Gehen, daß in tieferen Schichten die Erde noch feucht war, denn der Weg schwappte leicht unter unseren Tritten. An geschützten Stellen wuchsen schon dicht die Osterblumen, wie wir sie nannten, die großen Küchenschellen heißen sie im Naturkundebuch, deren blaue Blüten wärmend grau behaart sind. Auf sanften Hügeln lagen die Dörfer, Rauch stieg aus den Schornsteinen, und immer wieder sahen wir, bei einer Wegbiegung, von einer Anhöhe aus, fern das Gebirge zartblau dämmern.
 Wir wanderten ihnen entgegen, den Bergen, ohne ihnen merklich näher zu kommen, und der wohlbekannte Weg schien sich uns länger hinzuziehen als sonst. Vielleicht ermüdete uns der nachgiebige Boden, oder es ging deshalb nicht so rasch voran wie sonst, weil wir keine Marschlieder sangen, kein Lautenton uns anfeuerte, das hätte sich nicht geschickt zu unserm Vorhaben, so meinten wir, und wir sprachen auch nur das Notwendigste miteinander, und kein Lachen hätten wir uns verziehen und keinen übermütigen Schrei auf unserm Zug, der einem Toten galt. Gegen Mittag bogen wir vom Fluß ab und wandten uns nach Süden. In einer Wiesenmulde rasteten wir, saßen im Kreis und aßen schweigend, wie bei einem Trauermahl, den mit Zwetschgenmus verkochten Haferflockenbrei aus unseren Blechgefäßen, verzehrten große Stücke des grobmehligen grauen Kriegsbrotes dazu, und es war uns großartig und feierlich und auch ein wenig bänglich zumute, und wir gefielen uns sehr in unserem gemessenen Tun.
 Später dann, nach dem Essen, schritten wir an die Ausführung unseres Plans. Die Burschen machten sich an eine Birkengruppe, die weiß glänzend am Bachrand stand, sie zogen ihre Fahrtenmesser aus den Lederscheiden, die Klingen blitzten, und das waren Messer fast so groß wie die Seitengewehre der Soldaten, und schnitten dünne Äste von den Bäumen, und wir Mädchen pflückten Osterblumen, viele und viele. Und während die Burschen aus den Birkenästen ein kleines, festes Floß zimmerten, bogen wir Mädchen eine lange Weidenrute zum Kreis und wanden die Blumen darum, daß ein großer, schöner, blauschimmern-der Kranz entstand. Wir hängten ihn, daß er beim Tragen nicht beschädigt würde, über einen Ast, den die beiden größten Mädchen nun schulterten, aber so groß war der Kranz, daß er trotzdem noch ein wenig und zart auf dem Boden schleifte. Vor uns her, auf den Köpfen, trugen die Burschen das weiße Floß.
 Wir zogen einem Wäldchen zu, das wir gut kannten, von unsern Fahrten her. Es lag abgeschieden und barg in seiner Tiefe einen kleinen, geheimnisvoll grünen Weiher. Ihn hatten wir ausersehen für unser Vorhaben.
 Wir befestigten den Kranz auf dem Floß, und das Floß schoben wir aufs Wasser und mit einiger Mühe, und auch das ging ohne Lärm und Geschrei vor sich, und das wollte was heißen bei uns aufgeregten jungen Leuten, erreichten wir es, das Blumenfahrzeug in die Mitte des Weihers zu bringen. Mit den Stricken, an denen es hing, banden wir es an vier in die Erde getriebenen Pflöcken fest, und so verankert, noch leise schaukelnd, aber bald ganz ruhig, lag es nun da, das auf den Fluß gehört hätte, fern in Rußland, in dem unser Freund ertrunken war. Aber dies hier, dachten wir, ist es kein Fluß, so ist es ein Weiher immerhin, und Wasser ist Wasser, und es täte ihm gut und freute ihn auch, unsern Toten, wenn er es sehen könnte, wie wir hier um ihn bemüht waren.
 Es war kühl in dem Wäldchen, die Fichten standen schwarz und rührten sich nicht, und wir stellten uns im Kreis um den Weiher, und der Weiher war so klein, und wir waren unser so viele, daß wir, so stehend, einander mit ausgestreckten Armen die steifgefrorenen Hände reichen konnten. Mich überschauerte es, sprach das Mädchen, als ich zu meiner Rechten und zu meiner Linken eine eiskalte Hand in der meinen fühlte, und es war mir, es seien nicht die Hände der lebenden Freunde, als greife der Tote, den zu ehren wir gekommen waren, wassertriefend aus seinem russischen Fluß nach uns. Und als ich, sprach das Mädchen weiter, aus der Tiefe des Weihers einen dicken Fisch aufsteigen sah, und ich weiß nicht, ob die andern ihn auch sahen, und der Fisch, grünschuppig schillernd, die Schwanzflossen leicht bewegend, glotzäugig zu mir hersah, und ich des Toten gedachte, dem ein geschaufeltes Grab versagt geblieben war, der in Schlamm und Blatt und Grünfädengespinst fischmaulbenagt verdarb, wankte ich und schloß die Augen und hielt mich nur aufrecht, weil ich links und rechts fest in den Kreis gespannt war. Als ich die Augen wieder aufmachte, war der dicke Stulpmaulfisch verschwunden, nur ein Zitterring lief über das Wasser, da, wo ich den Geschuppten gesehen hatte.
 Dann sangen wir. Wir blieben stehen im Kreis, die Hände ineinanderverflochten, und sahen auf den Kranz hin, der wie eine Krone auf dem Weiher lag, und sangen traurighallende Lieder und erinnerten uns des toten Freundes, und manche von uns hatten feuchte Augen, aber nicht alle. Nur traurige Lieder sangen wir, vom Scheiden und Meiden, und »kein schön'rer Tod ist in der Welt« sangen wir, »als wer vorm Feind erschlagen«, nur solche Gesänge stimmten wir an, denn die heiteren und erhebenden Lieder, die gehörten dem nächsten Sonntag, dem Ostersonntag, dem Fest der fröhlichen Auferstehung, an dem die Gräber springen und die Toten frei werden, und da wollten wir wieder hierher wallfahrten, zum Wassergrab des Goldschmiedlehrlings, das war schon abgemacht und fest beschlossen.
 Die Karwoche brach an mit mildem Wetter, am Gründonnerstag ging ein eisiger Wind, am Karfreitag schneite es, aber am Samstag klarte es wieder auf und der Ostersonntag war ein strahlender Frühlingstag, und wieder zogen wir flußaufwärts, unserm Wäldchen zu. Gelb leuchtete es von den Wiesen, Schlüsselblumen waren aufgeblüht unter dem Schnee und der Sonne der Karwoche, und aus Schlüsselblumen machten wir einen Kranz diesmal, einen Kranz, fast größer noch als es der erste gewesen war, gegen den wir ihn vertauschen wollten, und der mußte ja auch schon welk geworden sein, und für die Auferstehungsfeier, die wir im Sinn hatten, paßten die lustig trompetengelben Kelche besser als die sanftblauen, schwermütigen und stillen Blüten der Küchenschelle. Wir bückten uns hundertmal, unter Lachen und Scherzen, und wischten uns den Schweiß von der Stirn, und glühten im Sonnenbrand, und hielten geblendet die Hand vor die Augen, nach dem fernen Gebirge zu sehen, wo der Neuschnee in der Sonne glänzte, und bückten uns wieder, und bald so war unser Werk getan, der Kranz fertig, und wir brachen auf.
 Aber als wir in das Wäldchen eingedrungen waren und am Weiher standen, am Goldschmiedlehrlingsweiher, wie wir ihn nun schon nannten, da konnte es nicht sein, daß wir den Kranztausch vollzogen, denn der Weiher war zugefroren und im graugrünen Eis saß das Floß fest, und die Stricke, die es hielten, waren wie aus Glas und liefen wie Schlangen hinaus in die Weihermitte, und der Kranz auf dem Floß leuchtete blau und himmlisch und gänzlich unverwelkt, als sei er eben erst gewunden und gebunden worden. Tief betroffen sahen wir uns an, klopften ungläubig mit den Absätzen auf das Eis, das hielt und einen zart klirrenden, abweisenden Ton von sich gab, und neigten unsre Stirnen, die noch von der Hitze über der Wiese brannten, und senkten unsre Augen, die eben noch von der übermächtigen Lichtflut getrunken, draußen, des schon fast sommerlichen Tages, und unsre Herzen schlugen rascher angesichts des Wunders, das uns hier geschehen schien, des spiegelnden Eiswunders in der atmenden Frühlingsnatur. Und als es einer aussprach, der kleine, bucklige Handlungsgehilfe tat es, mit stockender Stimme, wußten wir es alle, und zweifelte keiner daran, und bannte uns in Freude und Schreck zugleich, daß in der vergangenen Woche, im Osten drüben, im fernen russischen Land, ein eisiger Wind geweht hatte, von Sibirien her oder von noch weiter her, und der hatte den kalten mörderischen Fluß zum Erstarren gebracht, in dem unser Freund sein Ende gefunden hatte.
 Und daß wir das wissen sollten, war der Klirrende bis hierher gefahren und hatte so den Auftrag unseres Toten erfüllt damit, der gehorsame Wind (oh, die Toten sind mächtig) und hatte über den Frühlingsweiher die gleiche eisblaue Grabplatte schimmernd gelegt, unter der still und geborgen jetzt der Gefallene seines Tages harrte, nicht anders, als die Toten in ihren Gräbern überall tun, und er war nicht mehr schlechter gebettet als sie.
 Und ich sah ihn mit Augen, diesen Wind, erzählte das Mädchen, wie ein riesiger, weißer Adler sah er aus, mit rotem Schnabel und mit roten Augen, und unter seinem mächtigen Flügelschlag stöberte Schnee, und sein Atem vereiste jeglichen Stromlauf, wenn er einherflog unter dem Himmel.
 Wir stellten uns wieder im Kreis um den Weiher, erzählte das Mädchen weiter, und sangen frommen Sinnes die Lieder, die wir für diesen Tag und diese Stunde geübt hatten, Lieder des fröhlichen Trostes und der gewissen Auferstehung. Und da war es, daß aus dem blumengeschmückten Floß schwirrend ein Vogel sich aufschwang. Ein Sperling mochte es sein, oder ein Fink, der dort sich geborgen hatte im Kranz, und unser Lied hatte ihn aufgetrieben, und ein zweiter und dritter erhoben sich aus der Blumenhöhle. Und die Vögel flogen in einer Linie hintereinander, hielten über den Wald weg, zur Sonne hinauf, die sich eben über die Baumspitzen schob, und der Schall unseres Liedes folgte ihnen.
 Eine trunkene Heiterkeit erfüllte uns, sagte das Mädchen, die Erzählerin dieser Geschichte, wie wir die Geflügelten so davonschießen sahen, ins himmlische Blau hinein, wie sie kleiner und kleiner wurden und dann unsichtbar, und den großen Schlüsselblumenkranz, dessen der Tote nun nicht mehr bedurfte, brachen wir auseinander, und wir Mädchen nestelten, und die Burschen steckten sich Sträuße der gelben Kelche an die Joppen. Dann begannen wir den Rückmarsch, der Wimpelträger an der Spitze, in Paaren hintereinander, in strammer Haltung, in gehörigem Abstand und im gleichen Schritt. Als wir aber aus dem Wäldchen ins Freie traten, auf die Wiese hinaus, ins flutende Sonnenlicht, löste sich ohne Befehl die strenge Ordnung, wir stoben auseinander, ein ungezügelter Schwarm, im wilden Lauf, ohne Richtung, ohne Ziel, und unser Getrappel und Schreien erscholl.
 Und einer der Burschen stürzte im rasenden Rennen, überschlug und überkugelte sich, laut lachend, und blieb laut lachend am Boden liegen, im grünen Gras, Arme und Beine in der Luft, und fuchtelte mit Armen und Beinen in der Luft, und schrie lauter als wir alle vor Lust und Entzükken, und es war der kleine, bucklige Handlungsgehilfe, der so strampelte und brüllte vor unnennbarer Freude, und kam erst vom Boden auf, als man ihn hoch und auf die Beine riß, und lief dann wieder weiter, mit den andern, mit rotem Kopf und glänzenden Augen und ausgebreiteten Armen. Als wir atemlos hielten dann, war unser Wimpelträger am weitesten gekommen, am Bachrand stand er, bei den Birken, und schwang den Wimpel um seinen Kopf, und das war das Zeichen, daß wir bei ihm sammeln sollten, und das taten wir.

Zur Erzählung

Drucknachweise und Anmerkungen:

Der bekränzte Weiher (1937)

Erstausgabe: Der bekränzte Weiher. Erzählungen, München: Albert Langen/ Georg Müller 1937. [1.-5.Tsd.] 108 S. Ausstattung: »biegsam gebunden« (Leinenimitat/Pappe); ein Teil der Auflage erschien in einer nicht eigens gekennzeichneten Vorzugsausgabe in flexiblem Leder mit Kopfgoldschnitt. Auflagenentwicklung: 6.-8.Tsd. 1940; 9.-11.Tsd. 1942; 12.-16.Tsd. 1943.

Der Band, erschienen im Herbst 1937, enthält sechs Erzählungen, die in den vorliegenden Fassungen aus den dreißiger Jahren stammen und zwischen 1931 und 1936 zuerst publiziert wurden; Donaufischer und Mädchenhändler wurde allerdings in anderer Form bereits 1929 gedruckt. Thematisch wie stilistisch ist der Band heterogen – trotz des im Vergleich zu den anderen Sammlungen relativ eng umgrenzten Entstehungszeitraums –. Zwei Erzählungen, Der Sturz in die Wolfsschlucht und Donaufischer und Mädchenhändler, entstammen noch dem Umkreis der Kleinen Welt am Strom (vgl. auch Komm. S.437f.) und bieten autobiographisch gefärbte Erinnerungen an Regensburg und Umgebung. – Der bekränzte Weiher, die Titelgeschichte, bezieht sich, ebenfalls mit autobiographischen Anklängen, auf die Wandervogelbewegung, mit der B. noch in Regensburg in Berührung gekommen war (vgl. Komm. in Bd.1). - Die Rettung gestaltet, ungewöhnlich für B., ein aktuelles zeitgeschichtliches Ereignis mit symbolischer Überhöhung (im zeitgeschichtlichen Bezug ein Pendant zur Geschichte der Monika). Den Abschluß bilden zwei, stilistisch bereits eine neue Werkstufe repräsentierende Erzählungen: Die Wallfahrt entfaltet, ähnlich dem Fliederbäumchen in der Sammlung Das gerettete Bild, eine religiöse Thematik, die Marienwallfahrt, in einem von Märchenelementen angereicherten Gewand (die beiden Töchter, die aneinander mit fast schon übertrieben zu nennender Zärtlichkeit hängen); die Erzählung Die Schwestern schließlich verkörpert vollends die neue Stilphase im Werk B.s, ein an klassischen Erzähltraditionen des 19. Jahrhunderts, vor allem auch am Kunstmärchen geschulter Stil, der mit eindringlicher Symbolik arbeitet.

Das Rezensenten-Echo auf den Bekränzten Weiher war uneingeschränkt positiv: Otto Heuschele sprach von »meisterliche[n] Erzählungen«; in: Weltstimmen, 12, 1938/39, S.535);Johann Heinz Beckmann von »echte[n] Erzählungen voll der Güte des schöpferischen Dichters«; in: Das Deutsche Wort (Der Literarischen Welt N.E und Die Große Übersicht), 14, 1938, H.2, S.96 [Sammelbesprechung S.93-98] [März/April]; in der Schlesischen Zeitung hieß es, B. sei die hohe Gabe verliehen, »die Kunst der klassischen Novelle zu beherrschen« (zit. nach Langen-Müller-Anzeige im Geretteten Bild). Allerdings ist auffällig, daß zum einen der Kreis der Rezensenten immer kleiner wird, zum anderen überhaupt weniger Rezensionen erscheinen: die Rezeption verengt sich mehr und mehr auf die Stimmen der Britting-Freunde, so daß substantielle neue Argumente kaum mehr auftauchen. B.s Freund Alverdes machte sich denn auch bezeichnenderweise keinerlei Gedanken mehr über die Qualität der neuen Erzählungen. B., der »Meister der kürzeren Erzählung«, ist für ihn bereits so bekannt und ein Gütezeichen, »daß über den hohen Rang seiner Dichtung kein Wort weiter zu verlieren ist«. (Geistige Ernte 1937. Die drei stärksten Bucheindrücke unserer Mitarbeiter, in: die neue linie, 9, Dezember 1937, H.4, S.25)
Andere Rezensenten schätzten die Situation realistischer ein, wenn sie, wie etwa Ludwig Baer im Fränkischen Kurier (22.12.1937), darauf hinwiesen, daß B.s literarische Bedeutung noch in keinem rechten Verhältnis zum Erfolg stünde oder, wie Joachim Günther in der Europäischen Revue (April 1938, S.333f. ), mit Bestimmtheit bemerkten, dieser Dichter werde gewiß »mehr bewundert als geliebt«.
Im Westdeutschen Beobachter (19.2.1938) charakterisierte Kurt Ziesel B.s neue Erzählungen als eine Verbindung von »verhaltener, hintergründiger Schwermut auf der einen Seite und weltoffener, kinderseliger Einfalt auf der anderen Seite. Ursprünglich und eigenwillig erzählt, bauen sie uns aus einer Welt des Alltags und des Traumes das Reich der Dichtung, dem wir gerne und dankbar verfallen.«
Recht konventionell, wenn auch um so nachdrücklicher, klang das Lob von Ludwig Baer, der »Ironie« als grundierendes Stilmerkmal zu erkennen glaubte und wertend meinte:
Wir haben in Britting einen der eigenwilligsten Gestalter unserer Zeit, der es vermag, aus kleinen, zufällig erscheinenden Begebnissen den ganzen rätselvollen Hintergrund des Lebens hervortreten zu lassen, in einer die gesteigerte Lebenserfassung hinreißend umgreifenden federnden, rhythmisch, ja geradezu barock schwingenden, aber nicht spielerischen, sondern geschliffenen Sprache [...]
(Fränkischer Kurier, 22.12.1937)
Karl Ude zog in den Münchner Neuesten Nachrichten (28. 11.1937) das Fazit: »Es ist das Dichterische und Große an diesen Erzählungen, bei all ihrer beschwörend anschaulichen Sprachgewalt, im Grunde nichts anderes begreiflich zu machen als die wundersame Unbegreiflichkeit des Lebens selbst.«
Andere Rezensenten, wie Curt Hohoff; W E.Süskind und Joachim Günther, gaben sich nicht mit Allgemeinplätzen zufrieden (während Friedrich Märker nur von »eigenwilligen für den bayerischen Sprachrhythmus charakteristischen Sätzen« sprach; in: Die Tat, 30, 1938, H.1, S.71f:; zit. S.72 [April], sondern versuchten, B.s künstlerischem Prinzip analysierend gerecht zu werden. Hohoff betonte die Sinnbildlichkeit der Titelnovelle und die Transzendierung des Stofflichen in »reine Poesie«; er stellte B. in die deutsche novellistische Tradition und sah ihn »als Fortsetzer der großen Erzähler in der kleistischen Linie« (Das Innere Reich, 4, 1937/38, S.1371 [Februar 1938]); auch als einen Erzähler, der nicht mehr das klassische »Falkenmotiv« zur Geltung bringe, vielmehr dieses ersetze »durch das angedeutete des Symbols« (S.137I) (Beispiel des Fischs). Außerdem bemerkte Hohoff den mit dem Bekränzten Weiher eingeleiteten Stilwandel, der zugleich eine inhaltlich-thematische Komponente habe: Im Vergleich mit den Erzählungen des Treuen Eheweibs werde jetzt »die Schrecknis vor einen hellen Grund gesetzt, indem sie sich in der Unschuld malt, ohne wunderbarerweise ins Sentimentale abzugleiten«. (1372)
Joachim Günther suchte in seiner einläßlichen Rezension dem »Stilgeheimnis« der B.schen Prosa auf die Spur zu kommen. Er konstatierte »ein manchmal lastendes Übergewicht der Hauptworte vor den Eigenschaftsworten« (Europäische Revue, 14, 1938, S.334 [April]) und sah durch die B. eigene hochgetriebene Parataxe, »die Linie des Satzes in ein Geflimmer von Linienbruchstücken zerhackt« (S.334), das man mit Zeichnungen Alfred Kubins vergleichen könne. Günther erkannte in B.s Prosa noch einen barocken Zug, deutete »die grantig verschnörkelte Linie in der Prosa« (S.334) als Barock, entwickelt aus einem Vergleich mit Laurence Sterne und Jean Paul.
Auch W.E. Süskind (in: Die Literatur, 40, 1937/38, S.174f.) ging stärker auf die artistische Verfahrensweise ein: Er beobachtete eine »antikisierende Personifizierung des Partizips« und eine »lavahafte Bildung der Sätze« (S.175). Im Vergleich mit den älteren Erzählbänden erkannte Süskind zunehmende idyllische Momente in der neuen Prosa, die freilich gebrochen erschienen, als »unheimliche Idylle«: »das Idyllische bei Britting hat es in sich, es ist eine ähnliche Idyllik wie auf den Votivbildern seiner altbayrischen Heimat, wo sanfte Bildchen und naive Farben ein schauderhaftes Geschehen [...] abschildern« (S.175).
Eine Erzählung wie Die Schwestern, »melusinisches Märchen vom Wasser und von der Treue, von Jugend, Alter und Absterben« (S.175), behaupte einen besonderen Rang im Werke B.s. - Den außerordentlichen Rang dieser Erzählung hob auch Eugen Hollerbach anläßlich einer Lesung B.s in Köln Anfang 1938 hervor (Westdeutscher Beobachter, 12.2.1938).
 




 

S.199 Der bekränzte Weiher
Erschien zuerst in kürzerer Form, mit wenigen Abweichungen, in: Münchner Illustrierte Presse, Nr. 15, 11.4.1935, S.485f [E] -Dann etwas erweitert, in: Deutsche Zeitschrift, 48, 1935, H.11/12, S.418-424 [August/ September]. [D]
E enthält folgende Abweichungen:
S.201, Z.4-35: Alle drei Abschnitte fehlen in E ( die ersten beiden auch in D). S.202, Z.21-23: Fehlt in E.
S.204, Z.9f.: Ihn [...] Vorhaben. E: Diesen suchten wir.
S.204, Z.22-24: unsern [...] waren E: wenn ers wüßte
S.205, Z.-5f.: dem [...] war Fehlt in E.
S.205, Z.11f: wo ich [...] hatte. E: wo er gewesen war.
S.206, Z.3of: der kleine [...] Stimme Fehlt in E.
S.207, Z.3-10: Der Abschnitt lautet in E: und so stark und zauberisch war die Gewalt dieses Windes gewesen, daß er über Länder hinweg auch den Weiher hier zugefroren hatte.
S.207, Z.25: Blumenhöhle. Und E: Blumenhöhle. Wir nahmen das, sagte das Mädchen, nicht wieder für ein Wunder, für einen fröhlichen Zufall nahmen wir es, und
5.208, Z. 12-21: Fehlt in E.
Die Erzählung spielt im Umkreis der ›Freideutschen Jugend‹ Auf dem Jugendtag auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913 bildete sich aus der Jugendbewegung und der seit 1901 existierenden Wandervogelbewegung die ›Freideutsche Jugend‹, die später der entscheidende Initiator der ›Reformbewegung‹ wurde. B., der selbst Kontakte zur Jugendbewegung hatte und von manchen Ideen des aus ihr hervorgegangenen Philosophen Hans Blüher beeinflußt worden ist, dürfte eine literarisch-stoffliche Anregung von Paul Alverdes Erzählung Degen und Fiedel erhalten haben (vgl. Bode, S.88), die 1931 in dessen Novellensammlung Reinhold oder die Verwandelten (München: G.Müller, S.109-120) erschienen war; B. hatte diesen Band Ende 1931 in der Weihnachtsumfrage der neuen linie nachdrücklich empfohlen (die neue linie, 3, Dezember 1934 S.37; vgl. auch Komm. in Bd.II).
Die Verse »kein schönrer Tod ist in der Welt [...] als wer vorm Feind erschlagen« (S.205, Z.19f.) finden sich in der B. vertrauten Anthologie (vgl. Komm. in Bd.I) von Ferdinand Avenarius, dem Balladenbuch (1907), in dem Schlachtgesang betitelten Lied eines Jakob Vogel (um 1620). Dort heißt es:

Kein selgrer Tod ist in der Welt
Als wer vorm Feind erschlagen
Auf grüner Heid, im freien Feld,
Darf nicht hörn groß Wehklagen.
Im engen Bett, da einer allein
Muß an den Todesreihen;
Hier aber findt er Gesellschaft fein
Falln mit, wie Kräuter im Maien.

Manch frommer Held mit Freudigkeit
Hat zugesetzt Leib und Blute,
Starb selgen Tod auf grüner
Heid Dem Vaterland zugute:
Kein schönrer Tod ist in der Welt,
Als wer vorm Feind erschlagen
Auf grüner Heid, im freien Feld,
Darf nicht hörn groß Wehklagen.

(F Avenarius: Balladenbuch. 2i: 3o.Tsd. München: Callwey [1909], S.127)
Nirgends sonst, urteilte Bode, werde »das Sinnbildliche so weit in den Vordergrund geschoben wie bei diesem Beispiel.« (Bode, S.88)