zurück zum Inhaltsverzeichnnis |
Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung
Band 5
Seite 26
Kommentar
Seite 371
Aus: »Der Schneckenweg«
als
pdf - Datei öffnen
Valentin und Veronika
Veronika,
noch nicht zwanzig Jahre alt, das einzige Kind eines Bahnwärters,
der in dem Dorfe Eilsprunn, einem Ort im Niederbayerischen, seinen eintönigen
Dienst versah, hatte sich mit der häuslichen Arbeit sehr beeilt, und
nun glänzte die kleine Wohnung in der Sonne, drei niedrige, weiß
gekalkte Stuben, mehr waren es nicht, und sie hatte sich die Haare sorgsam
aufgebürstet und ihr Sonntagsgewand angezogen, obwohl es ein Werktag
war, und hatte sich schön gemacht, auf ihre ländliche Weise,
und war, von der Mutter gemahnt, nicht zu spät zurückzukommen,
gegen vier Uhr des Nachmittags nach der nur eine knappe Stunde entfernten
kleinen Stadt gegangen, um den Jahrmarkt zu besuchen, der dort alljährlich
im Frühling und im Spätsommer abgehalten wurde. Es war nicht
allzuviel, was er zu bieten hatte, der staubüberwölkt da lag:
Bierbuden, auf hölzernen Bänken davor laut blasende Musikanten,
Verkaufsstände, vor denen wild mit den Händen fuchtelnde und
heiser rufende Männer ihre Waren feilboten, Wurstbratereien, von deren
glühenden Rosten der Dampf stieg, einen Zauberer auch im sternbesetzten
Mantel, der ungeheuerliche Dinge zu vollführen versprach, wenn man
ihm nur gegen Zahlung des geringen Eintrittspreises in das Innere seines
Zeltes zu folgen sich entschlösse, und dergleichen mehr - aber den
bäuerlichen Leuten, die aus der Umgegend zusammengeströmt waren,
schien es den Inbegriff jeglicher Lust zu bedeuten.
Veronika hatte sich herzklopfend
in das Treiben gemischt. Sie war stehengeblieben vor einer buntbemalten
Bude, vor der ein schwarzbärtiger Mann in sehr weiten und faltigen
Hosen ein Kalb mit nicht wie sonst vier, sondern fünf Beinen als nie
dagewesenes Weltwunder anpries, aber eingetreten war sie nicht. Sie hatte
zugesehen, wie auf kleinen, weißen und schwarzen, sich bäumenden
Holzpferden die Kinder sich im Kreis drehten, und hatte, scheinbar ohne
Absicht und Ziel, sich mitnehmen lassen vom fließenden und oft sich
stauenden Zug der schwatzenden und lachenden Neugierigen, und hatte doch
es so einzurichten verstanden, daß sie dann bald, dort am Ausgang
einer der Budenstraßen, die blitzenden Schaukelboote steigen und
fallen sah.
Nun erschrak sie doch,
daß sie Emilio jetzt also wiedersehen sollte. Emil, so hieß
er eigentlich, so stand in seinem Taufschein zu lesen, aber Emilio ließ
er sich rufen, einer Sitte seines Standes gehorsam, der fremdklingende
Namen liebt und sie für anziehender hält als die bescheiden-alltäglichen,
die man rundherum vernimmt. Sie hatte seine Bekanntschaft heuer im Frühjahr
gemacht, an einem der letzten Jahrmarktstage, als sie der mit Angst gemischten
Lust nachgegeben hatte, auch einmal, wie Freundinnen ihr oft davon geschwärmt,
eine sausende Fahrt in der Schaukel zu wagen. Da war ein junger, schwarzhaariger
Mann ihr beim Einsteigen behilflich gewesen, eben Emilio, der Sohn des
Schaukelzeltbesitzers, wie sich dann später herausstellte. Und weil
sie allein und mit eigener Kraft sich nicht zu schaukeln getraute, so hatte
er, wie das sonst auch seines Amtes war, im Boot bei ihr stehend, sie hinauf
und hinab geschwungen, bis sein Vater unten, eine Glocke grell läutend,
das Ende der Fahrt anzeigte, und wer noch nicht genug hatte und nicht aufhören
wollte, der mußte neuerlich dafür bezahlen.
Zu denen gehörte
Veronika, und vier- oder fünfmal hatte sie die Fahrt wiederholt, bis
sie anfing schwindlig zu werden und endlich aussteigen mußte, und
noch der feste Boden schien ihr unter den Füßen zu schwanken.
Ob er sie wiedersehen dürfe? hatte Emilio gefragt, in einer halben
Stunde? da könne er sich freimachen für kurze Zeit – und sie
hatte nicht: Nein! gesagt, und hatte sich, mit wirbelnden Gedanken, wieder
forttragen lassen vorn Strom der vergnügten Leute. Dann hatten sie
sich am verabredeten Platz getroffen, bei einem alten, stelzbeinigen Drehorgelspieler
und hatten zusammen und aus einer gemeinsamen Tüte türkischen
Honig gegessen, und süßen, gelben Met getrunken aus demselben
Glas, das sie einander abwechselnd an die Lippen hielten, und es war eine
schöne Viertelstunde gewesen. Und er hatte sie dann noch, seine Hand
in der ihren, ein Stück auf ihrem Weg nach Hause begleitet; bis Eilsprunn
mitgehen, das durfte er nicht, so sagte er, und sein Vater würde jetzt
schon unwillig sein und murren, wo er so lang bleibe und sich herumtreibe,
mit Mädchen wahrscheinlich! Als er das gesagt hatte, von den Mädchen,
hatte sie seine Hand fallenlassen, als sei sie feurig, aber er hatte nur
gelacht und dann versucht, sie zu küssen, aber es war ihm nicht gelungen,
so hatte sie sich gewehrt in seinen Armen. Aber dann hatte er umkehren
müssen, und hatte gesagt, zwei Tage dauere der Jahrmarkt noch, und
er hoffe, sie käme noch einmal zu ihm während dieser zwei Tage,
aber spätestens gegen Ende des Sommers würden sie sich wiedersehen,
denn sicher, oder fast sicher, würden sie da wieder, Zugvögel,
die sie waren, die fahrenden Leute, sich einstellen mit ihrem Zelt, und
sie solle ihn nicht ganz vergessen bis dahin.
In den zwei Tagen war
sie nicht wieder zum Jahrmarkt gegangen, obwohl sie es sehr danach verlangt
hatte, aber wer weiß, was er sich sonst eingebildet hätte! Vergessen
hatte sie ihn nicht in dem halben Jahr, das seitdem verflossen war, sie
hatte oft an ihn gedacht, an ihn und wie er sie in den Armen gehalten,
wie noch kein Mann sonst. Von der Liebe, und wie man da tut, und wie einem
da geschieht, wußte sie noch nicht viel, und weniger als manche ihrer
Freundinnen, die, aus Neugier schon, früh freigebig gewesen waren.
Nicht daß Veronika kälteres Blut gehabt hätte als die.
Aber sie war von zu guter Art, als daß es bei ihr so hätte kommen
können, und ihr ahnte von einem großen Gefühl, in dem man
einmal entbrennen mußte in Lust und Schmerz, und nur mit Emilio ein
wenig tändeln wollte sie, mehr nicht, und schon drängte etwas
mächtig in ihr zu einem andern, was sie vor sich und vor diesem andern
nicht wahrhaben wollte. Sie schob sich vorwärts in dem Menschengewühl,
näher heran an die ruhelos schwingenden Boote dort vorn, aber es konnte
ja sein, fiel ihr ein, daß sie einem andern fahrenden Mann gehörten,
und das gab ihr einen Stich, und darüber nun wieder ärgerte sie
sich ein wenig. Sie machte noch ein paar Schritte, da erkannte sie ihn,
den frechen Freund vom Frühjahr, an der Orgel lehnte er, neben der
Glocke. Es schaukelten gerade nur Männer, und die brauchten seine
Hilfe nicht, die fuhren lieber allein, oder auch mit ihren Mädchen,
wenn sie eins hatten, und die meisten hatten eins.
Als sie vor ihm stand,
sah er sie so an mit seinen schwarzen Augen, daß sie die ihren niederschlug,
und er gab ihr die Hand, und hielt ihre Hand lange fest und sagte: Da bist
du ja endlich! Er sagte du zu ihr, und sie erinnerte sich nicht, daß
er das damals im Frühjahr auch getan hatte, und wie kam er bloß
dazu? fragte sie sich unwillig, aber es freute sie doch auch. Aber vielleicht
verwechselte er sie mit einer anderen, mit der er so vertraulich stehen
mochte, dachte sie in einer eifersüchtigen Regung, und so entzog sie
ihm rasch ihre Hand, und fragte mit Betonung: Wie geht es Ihnen? Aber die
ihr nicht geläufige Höflichkeitsformel brachte sie zum Erröten,
und er merkte es. Wollen wir schaukeln? fragte er dagegen, und dabei griff
er nach der Glocke und läutete gellend. Dann riß er an eisernen
Haken die hölzernen Bremsblöcke nach vorn, daß die schwingenden
Boote sie knirschend streiften und ihre Fahrt verlangsamten und endlich
stillhielten. Die Fahrgäste stiegen aus, und neue stiegen ein, und
sein Vater und er sammelten das Fahrgeld ein und stießen dann die
Bremsblöcke wieder zurück; eine neue Fahrt begann, und Veronika
stand bei Emilio im Boot.
Sie lachte ihn an, den
Mann, der ohne ein Recht dazu du zu ihr gesagt hatte, und ihre Röcke
knatterten, und der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht, und sie warf den
Kopf in den Nacken, die Strähnen zurückschleudernd, die ihr den
Blick verdunkeln wollten, und freute sich, wenn es hinauf ging, pfeifend
zur Höhe, wo man beinahe schon ein wenig auf dem Kopf stand und man
sich fester an die tragenden Stangen klammern mußte, hoch über
dem Jahrmarkt vogelgleich schwebend. Sie sah Emilio zu, und wie er den
Schwung der Schaukel nicht ermatten ließ, und sah, wie seine Brust
sich wölbte unter der roten, enganliegenden Wolljacke, und schwarz
waren seine Augen, und schwarz war sein Haar, und das stand gut zu dem
ein wenig abenteuerlich leuchtenden Rot, es war nicht zu leugnen.
Es war wohl schon während
der dritten Fahrt, daß sie einmal hinabspähte auf den Platz
vor der Schaukelbude und neben dem dröhnenden Orgelkasten eine schwarze
Gestalt stehen sah, die sich nicht rührte. Sie wußte, wer der
Mann war, sie hatte ihn doch selbst hierher bestellt, gestern abend, und
sie wußte auch, warum sie das getan hatte, mit Vorbedacht, und lächelte
den nichtsahnenden Mann ihr gegenüber im Boot an, der ihr ein Lächeln
zurückgab.
Es war Valentin, der da
unten stand, von dem man sich im Dorf nicht ohne Spott erzählte, daß
er, seit einiger Zeit schon, der Veronika schön tue, wenn auch bis
jetzt nur mit geringem Erfolg, oder so gut wie gar keinem, so hatte es
den Anschein wenigstens, für seine Freunde und für ihn. Er stand
unbeweglich und stumm, obwohl er zu Veronika sprach, inwendig bloß,
ohne die Lippen zu rühren, und sie bat, doch aufzuhören jetzt
mit der wilden Fahrt und aus dem Boot zu steigen, daß er sie heimbegleiten
könne ins Dorf, wie er das mit ihr verabredet hatte, und wie ihm das
zukam, ihm allein, weil keiner sie so liebte wie er. Aber wenn das Boot
nun wirklich langsamer fuhr und dann den Bremsblock scharrte und still
hielt, und Veronika ausstieg, so hatte das keineswegs Valentins stumm flehende
Bitte vermocht, sondern die mahnende Stimme von Emilios Vater, der dem
Sohn die Fahrt zu endigen befohlen hatte, weil schon andere Mädchen
ungeduldig warteten, die auch geschwungen sein wollten.
Sich wieder vor dem stehbeinigen
Drehorgelspieler zu treffen, schlug Emilio vor, in einer Stunde, und er
würde Veronika dann nach Hause begleiten, wenn es ihr recht sei. Dem
Vater würde er die Erlaubnis schon ablisten, den Rest des Abends für
sich verwenden zu dürfen, und sie hatte nichts gegen seinen Vorschlag
einzuwenden, die Schlaue, die ein doppeltes Spiel trieb. Und während
Emilio in ein Boot sprang, drehte sie sich um und winkte Valentin herbei,
der mit finsterem Gesicht abseits stehen geblieben war, so lange sie mit
dem roten Zigeuner, wie er den fremden Mann wütend bei sich nannte,
gesprochen hatte; aber nun erhellten sich seine Mienen, als sie ihren Arm
in den seinen schob und dicht an ihn gedrängt den Gang durch den Jahrmarkt
wieder aufnahm.
Valentin, der sonst von
ihr nicht eben Verwöhnte, nun stolz und strahlend vor Glück,
daß sie an seiner Seite war, hatte es sich dann nicht nehmen lassen,
in einer Süßigkeitenbude ein großes, braunglänzendes,
mit grünem und blauem Zuckerguß verziertes und mit einem aufgeklebten
hitzigen Liebesspruch prahlendes Lebkuchenherz zu kaufen und es an einem
breiten, roten Band ihr um den Hals zu hängen, und während er
das tat, und dabei nahe an sie herantreten mußte, hatte sie, die
ein wenig kleiner war als er, die Augen ruhig und vertraulich zu ihm erhoben:
Sie hatte helles, fast rötliches Haar, und auch ihr Gesicht hatte
die weiße Hautfarbe der Rothaarigen, und Sommersprossen hatte sie
auf Stirn und Wangen, und auch über die Nase hin waren sie verstreut.
Unschuldig lachte sie Valentin an, und unschuldig auch lachte sie, als
dann bei dem Drehorgelspieler, bei dem rechtzeitig einzutreffen ihre Sorge
gewesen war, Emilio sich einfand, auch ein Lebkuchenherz am roten Band
schwingend, das er Veronika um den weißen Hals hängte, und sie
hielt gehorsam still, und zwei Herzen lagen nun an ihrer atmenden Brust.
Aber nun müsse sie
heim, sagte sie dann, und der Weg würde ihr nicht lang werden, da
sie ja zwei Begleiter nun habe, und sah von einem zum andern. Spiel uns
eins! sagte Valentin und seine Stimme klang rauh, und er sah Veronika nicht
an und warf dem stelzbeinigen Alten eine Münze in den schwarzen Bettlerhut,
und dann gingen sie.
Bald hatten sie den Jahrmarkt
hinter sich und die letzten kleinen Häuser der Stadt, Stille umfing
sie, nun nach dem Lärm des dröhnenden Festes, und sie waren auf
der Landstraße, die sich lang und staubig hinstreckte zwischen abgeernteten
Feldern. Die Sonne war schon untergegangen, aber am westlichen Himmel vor
ihnen war noch viel Licht. Veronikas Schritt war fest und freudig, und
sie sah mit zufriedenem Gesicht geradeaus. Rechts von ihr ging Emilio,
leuchtend in seiner roten Wolljacke, und links von ihr ging Valentin, den
Blick zu Boden gesenkt, als suche er dort etwas, was er verloren hatte,
und keines sprach ein Wort. So verstrich wohl eine Viertelstunde und mehr,
während sie hartnäckig schwiegen, und nur ihre Schritte klangen
laut auf der Straße. Dann sah man in der Ferne einen schwarzen Wall,
das war der Bahndamm, und ein gutes Stück noch hinter ihm lag Eilsprunn,
und jetzt wuchs auch schon in den schmalen Streifen Himmelshelle hinein
der spitze Turm der Dorfkirche.
Und dann standen die drei
auf der Landstraße auf einmal still, und Valentin war es gewesen,
der zuerst stehen geblieben war, immer noch stumm, aber nun deutlich merken
ließ, daß er das verstockte Schweigen zu brechen wünsche,
aber es fiel ihm schwer, etwas zu sagen, so würgte es ihn im Halse.
Daß er doch nun besser allein weiterginge, stieß er dann endlich
höhnisch hervor, aber den Blick hob er dabei nicht vom Boden. Es sei
ja wahr, daß er versprochen habe, Veronika nach Hause zu begleiten,
aber vielleicht habe sie sich das anders überlegt und wolle lieber
zum Jahrmarkt zurück, um zu schaukeln, das schrie er fast, zu schaukeln,
und noch dazu in so angenehmer Gesellschaft, und jetzt sah er Emilio dabei
drohend an. Der trat einen Schritt auf ihn zu, sein dunkles Gesicht hatte
sich gerötet, aber ehe er noch ein Wort hervorbringen konnte, hatte
Veronika: »Auch gut!« gesagt, und hatte sich so heftig auf
den Absätzen gewendet, daß die lustigen Herzen auf ihrer Brust
hell klapperten, und nun ging sie auch schon den Weg zurück, den sie
zu dreien gekommen waren, und waren zu zweien nun, denn Emilio hatte sich
ihr schweigend zugesellt.
Vor ihnen war der Himmel
schon dunkel und standen schon die ersten blassen Sterne darin, und tiefer
darunter funkelten die rötlichen Lichter des Jahrmarkts, der in den
Abendstunden jetzt aufrauschte zu einer letzten hohen Welle der Lust. Wenn
ich mich umdrehte, dachte Veronika, ich tu es aber nicht, so sähe
ich Valentin hinter uns hergehen, und wie wird er sich jetzt schämen
und traurig sein! Sie sah nach links hin, wo Emilio neben ihr ging, und
seine rote Wolljacke glühte feurig in der Dämmerung, und er pfiff
vor sich hin, und das gefiel ihr nicht. Nach einer Weile wurde ihr Schritt
langsamer, vielleicht wußte sie das gar nicht, und dann schien sie
ein Geräusch hinter sich zu hören, lauschend drehte sie den Kopf
ein wenig, deutlich vermeinte sie Valentins eiligen Tritt zu vernehmen,
des Gefährten, der hinter ihnen herlief in seiner Not, und da tat
er ihr leid, der gehetzte Läufer, unbarmherzig und wenig großmütig
dünkte es sie, nicht auf ihn zu warten, den Unterlegenen, der seine
Schuld eingestehen wollte, und so drehte sie sich plötzlich um, und
Emilio tat es auch, und pfiff nicht mehr. Sie erblickte den Reumütigen
nicht, wie sie sich das eingebildet hatte, dicht hinter sich auf der Landstraße,
und auch nicht zwanzig oder dreißig Schritte entfernt, hinter ihnen
hertrabend mit gesenktem Kopf, weit zurück und hoch oben auf dem Bahndamm
stand er, im letzten sinkenden Licht, das im Westen noch war, und als könne
er sehen, daß sie sich nach ihm umgewandt hatte, erhob er den Arm
und winkte. Dann sprang er vom Damm hinab, ins Finstere hinein, dorthin,
wo die Straße nach Eilsprunn weiterlief.
Veronika hatte nicht gleich
zurückgewinkt - und wie hätte sie jetzt noch winken sollen, da
niemand mehr auf dem Damm stand? Aber sie war stehengeblieben, das Gesicht
nach dem Damm gerichtet und dem unsichtbaren Eilsprunn, und als sich jetzt
ein Arm sanft um ihre Schulter legte, und der Arm sie herumdrehen wollte,
dahin, wo der Jahrmarkt glänzte, stampfte sie mit dem Fuß auf
und schüttelte den zudringlichen Arm zornig ab und machte sich allein
wieder auf den Heimweg, und nach ein paar Schritten fing sie gar zu laufen
an, so eilig hatte sie es auf einmal, und um Emilio kümmerte sie sich
nicht.
Valentin, als er den Damm
hinabgesprungen war, stand dann still. Es war nun nicht mehr weit zum Dorf,
eine Viertelstunde vielleicht, wenn man langsam ging, und das tat er, ganz
langsam ging er, und ohne es sich recht einzugestehen in der verwegenen
Hoffnung, Veronika möchte nun doch schon wieder, von Reue getrieben,
hinter ihm drein sein, und dann wollte er es ihr nicht schwer machen, und
sie sollte ihn einholen können, und er wollte dann tun, als sei gar
nichts geschehen, beschloß er bei sich. Aber so langsam er auch ging
und stehenblieb dazwischen und zum Himmel aufblickte und zu den Sternen,
die sich einer nach dem andern hervorwagten, bald sah er, als der Weg sich
senkte, in einer Mulde das Dorf dunkel zusammengekauert liegen. Da begann
er verzweifelt ein Spiel, wie Kinder es wohl spielen. Er blieb stehen und
zählte bis zwanzig, und machte dann erst einen Schritt, und zählte
wieder bis zwanzig und horchte, und tat dann wieder einen Schritt und seufzte,
und so trieb er es eine Weile, allein unterm Sternenhimmel, aber selbst
auf diese Weise kam er nur allzu schnell voran und stand bald am Dorfweiher,
und gleich dahinter waren die ersten Häuser von Eilsprunn, und Veronika
war noch nicht da. Aber einmal mußte sie ja kommen, früher oder
später, und er nahm sich vor, auf sie zu warten und sollte es Mitternacht
werden. Er legte sich am Wegrand ins nasse Gras, auf den Rücken, müde
war er wie ein erschöpfter Wettläufer, obwohl er so langsam gegangen
war, das Herz klopfte ihm, und er sah zum Himmel auf und atmete in wilden
Zügen.
Er lag noch nicht lange,
da hörte er Schritte auf der Straße, und er sprang auf und spähte
ins Dunkel, und wenn es zwei gewesen wären, die da kamen, Veronika
und Emilio, und vielleicht Arm in Arm, und vielleicht flüsternd und
sich küssend, da wäre er davongerannt, querfeldein in die Nacht;
Zeuge ihres Glücks zu sein, das hätte er nicht vermocht. Aber
dann erkannte er die Geliebte, und sie war allein, und am liebsten hätte
er laut geschrien in seinem Jubel, aber er faßte sich und schwieg,
und wartete, bis sie ihn erreicht hatte.
Von einer Bogenlampe,
die am Dorfeingang über der Straße hing, drang ein schwacher
Schein her zu den beiden. Schwarz glänzte der Weiher, der mit Entengrütze
bis in die Mitte hinein bedeckt war, und ein paar Frösche begannen
zu quaken, und da und dort sprang einer ins Wasser, und dann spritzten
die Tropfen empor und glitzerten im Licht. Veronika ordnete mit ruhigen
Händen ihr Haar, und die roten Bänder, daran die Herzen hingen,
glänzten auf. Du bist allein, sagte Valentin, und schon während
er es sagte, war ihm, es käme jemand auf der Straße daher, und
es möchte jemand aus dem Dorf sein, hoffte er, aber er glaubte es
nicht, gleich wußte er es besser, wer die Gestalt war, die sich langsam
nun aus dem Dunkel hob. Emilio war es, und eine wilde Freude war jetzt
in ihm, als er den Burschen und das Mädchen stehen sah und zu ihnen
trat. Jetzt sind wir wieder beieinander, sagte Veronika, und ihre Stimme
klang wie immer, und sie sah von einem zum andern, und dann lachte sie,
als ob das sehr lustig sei, aber Valentin fand es nicht so besonders lustig,
das gar nicht, und Emilio auch nicht.
Komm! sagte Valentin zu
dem Mann in der roten Jacke und trat mit ein paar Schritten von der Landstraße
fort und auf die Wiese, und der verstand gleich, was der Bauernbursche
wollte, und Valentin hatte es nicht nötig, seine Aufforderung zu wiederholen,
und es war wohl so, daß Emilio selber das gleiche vorzuschlagen im
Sinn gehabt hatte, weil er Valentin so ohne Zögern auf den Kampfplatz
folgte. Dann standen sie sich gegenüber auf dem schmalen Wiesenstück
zwischen der Straße und dem Weiher, der aussah, als sei er nicht
mit Wasser, sondern mit einem zähen, dicken, dunklen Brei angefüllt,
und dumpf klang das Aufklatschen, wenn jetzt die aufgescheuchten Frösche
zu Dutzenden hineinsprangen. Valentin zog seine Jacke aus, und Emilio warf
seine Mütze ins Gras, und erst jetzt fing Veronika an zu begreifen,
was geschehen sollte.
Als sie sich mit beiden
Männern verabredet hatte, war ihre schlau berechnete Absicht gewesen,
den einen gegen den andern auszuspielen, um selber ungefährdet zu
sein, und die Nebenbuhler sollten einander bewachen mit scharfem Aug, weil
sie selber so am besten bewacht war. Aber sie hatte dabei nicht bedacht,
wie Männer manchmal handeln in solcher Lage, und gleich sollte sie
es nun sehen müssen. Das erschreckte sie nicht einmal so sehr, denn
daß es zwischen den Burschen Schlägereien gab eines Mädchens
wegen, das kam immer wieder einmal vor, und manche ihrer Freundinnen hatte
sich schon gerühmt, der Anlaß gewesen zu sein zu solchem Streit,
und daß nun auch ihretwegen ein Zweikampf ausgetragen werden sollte,
erfüllte sie sogar mit einer geheimen Lust.
Emilio und Valentin hatten sich
mit drohenden Blicken
gemessen, wie sich das gehört,
nach einer ungeschriebenen Regel, und lang genug, und nun also mußte
einer zum Angriff übergehen, und wider Veronikas Erwarten war es Valentin,
der so tat und die Faust reckte und einen Schritt auf Emilio hin machte.
Dabei sah er, was jetzt zu tun nicht ungefährlich war, statt den Gegner
nicht aus den Augen zu lassen, neben Emilio zu Veronika hin, die am Rand
des Weihers stand. Er sah, daß sie zu ihm herlachte, gemein und höhnisch
lachte sie, so meinte er, und sah im Dunkel ihre weißen Zähne
blitzen. Sie lachte aber nur, weil es sie stolz machte, daß er der
Tapfere war, der den Kampf beginnen wollte. Das aber konnte er nicht wissen,
sie hatte ihm keinen Grund gegeben, das anzunehmen, schnöde, wie sie
sich heute ihm gegenüber verhalten hatte - und wie hatte er sich darauf
gefreut gehabt, sie nach Hause führen zu dürfen, und hatte es
für ein Zeichen genommen, daß er Hoffnung habe, sie zu gewinnen.
Nun lachte sie noch über den Betrogenen, und er zitterte vor Wut,
und stieß zu mit der geballten Faust, und wie dann das geschah, wußte
er selber nicht, oder auch, er wollte es nicht wissen, nicht Emilio traf
er, sondern Veronika.
Sie taumelte, der Stoß
gegen ihre Schulter war ganz unerwartet gekommen, sie breitete die Arme
aus, wie um sich festzuhalten, und griff ins Leere, und rutschte mit den
Füßen im nassen Gras, und mit dem Oberkörper voran stürzte
sie aufschreiend in den Weiher. Sie ging unter, nur ihre Beine blieben
oben, weiß bestrumpft waren sie, und glänzten bleich und kindlich
im ungewissen Licht. Dann schlug sie mit den Armen wild um sich, ihr Gesicht
tauchte auf, bleich und von grünhaarigem Geflecht überhängt,
aber sie war ungeschickt, oder der sich blähende Rock behinderte sie,
denn wieder verschwand ihr Kopf im schwarzen Wasser.
Valentin war unbeweglich
stehen geblieben, als er sah, was er angerichtet hatte, und starrte nur
wie gebannt auf das Wellenschlagen, und es war nur gut, daß Emilio
wenigstens seinen kühlen Kopf behielt und niederkniete und Veronika
am Bein faßte mit festem Griff, und sie ans Ufer zu ziehen suchte.
Das ging aber nicht so leicht, sie zappelte wie ein Fisch an der Angel,
der ungebärdig nicht an die Luft will - für ihn ist es der Tod,
aber bei dem Mädchen war es doch umgekehrt. Hilf doch! schrie der
Kniende jetzt Valentin keuchend zu, und zog und zerrte an seiner nassen
Last. Aber der war wie zu Stein erfroren, keine Hand vermochte er zu regen
und keinen Fuß, schwarz schlug die Verzweiflung über ihm zusammen,
und er betete und flehte nur um eines, Veronika solle nicht tot sein, und
er nicht ihr Mörder, und Emilio solle es gelingen, sie ans Ufer und
ins atmende Leben zurückzubringen, und dann wolle er nicht das mindeste
mehr mit Veronika zu tun haben, das sei vorbei, so gelobte er, keinen Blick
mehr wollte er zu ihr erheben, und sie solle von nun an dem Emilio ganz
und gar und für immer gehören, wie der es sich verdient hatte.
Während er so stand,
jammervoll untätig, kindisch nur Stoßgebete plappernd, hatte
Emilio die triefend Nasse mit letzter Kraft auf die Wiese gezogen. Sie
lag da, Schlamm und grüne Fäden im Haar, und war nicht tot, und
hatte die Augen offen, und blieb still und erschöpft auf dem Rücken
liegen, zu den Sternen emporblickend, und einmal hob sie den Arm, wie prüfend,
ob er ihr noch gehorche. Als Valentin das sah, und daß sie dem Leben
wiedergeschenkt war, schlich er ins Dunkel hinein lautlos davon. Er ging
ins Dorf und nach Haus und legte sich ins Bett, und schlief lange nicht
ein, und daß die beiden nun ganz sich überlassen, quälte
ihn nicht, ohne Schmerz konnte er sich vorstellen, was ihn kurz vorher
noch zur Raserei gebracht hätte, so demütig und wunschlos entsagend
hatte ihn seine Tat gemacht.
Inzwischen hatte Veronika
sich sitzend aufgerichtet, und Emilio war auf den Knien geblieben, und
weil der Himmel nun voll von Sternen war, und die Augen der beiden sich
an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten sie einander gut sehen,
und die Lampe am Dorfrand schickte ja immer noch ihren schwachen Schein
her. Deutlich zeichnete sich im Weiher die Stelle ab, wo das Mädchen
untergesunken war, ein wild gezacktes Loch war dort in die grüne,
moosige Decke gerissen. In ihren tropfenden Kleidern fröstelte Veronika,
und die durchfeuchteten Herzen hingen noch an dem Band auf ihrer Brust.
Ich muß jetzt nach Hause gehen, sägte sie mit leiser Stimme,
und: Dank auch, daß du mich aus dem Wasser gezogen hast. Sie sagte
du zu dem Mann in der roten Wolljacke, der neben ihr kniete, und das hatte
sie noch nie getan, und so neigte er sich jetzt zu ihr, aber sie drehte
den Kopf abwehrend fort, solche Belohnung sollte er nicht haben, und da
erhob er sich mit einer heftigen Bewegung. Sie stand auch auf und sagte:
Gute Nacht! und gab Emilio die Hand und ging, und ihre nassen Kleider rauschten.
Emilio sah ihr nach, bis
sie in der Dunkelheit verschwunden war und er allein am Weiher stand, und
die Frösche begannen nun wieder ihr Lied. Er bückte sich und
säuberte sich die Hände im Weiher, die schmutzig geworden waren,
und schlenkerte sie hin und her, sie zu trocknen. Und wenn er wirklich
ein Zigeuner gewesen wäre, wie Valentin ihn bei sich genannt hatte,
und so wilden und grausamen Blutes, wie man es denen nachsagt, so hätte
er jetzt wohl das still schlafende Eilsprunn in Brand gesteckt, daß
der rote Hahn auf den Dächern seine glühenden Flügel schlüge,
so zornig war der enttäuschte Mann. Aber er tat es nicht, und wenn
doch, ihm unbewußt, etwas in ihm danach drängte, Feuer zu sehen,
so sollte das anderm dienen, seine Pfeife nämlich zu entzünden.
Er holte sie hervor und Tabak und stopfte sie, und seine Finger zitterten
dabei, und dann steckte er die Pfeife zwischen die Zähne und kramte
aus der Hosentasche eine Streichholzschachtel. Als er dann ein Zündholz
entflammte, mußte er es sehr ungeschickt dabei angestellt haben,
oder das Holz hatte einen besonders dicken Feuerkopf, und ein Funke sprang
über auf die anderen Hölzer in der Schachtel, sie alle in Brand
setzend. Es knatterte und zischte, und eine gelbe Stichflamme schoß
aus der Schachtel hervor, es roch nach Schwefel und Hölle und Teufel,
daß es ihm fast den Atem verschlug, und den Teufel rief er auch bei
Namen in einem wilden Fluch und warf die fauchende Schachtel in einem hohen
Bogen fort, wie man eine Handgranate gegen den Feind schleudert, aber ohnmächtig
veratmete sie im Gras. Dann machte er sich, ohne dem Dorf auch einen Blick
nur noch zu schenken, an der kalten Pfeife ziehend, auf den Weg zu den
Seinen.
Der nächste Morgen
sah Valentin schon früh in der Werkstatt. Das bescheidene Anwesen
seines Vaters lag in der Nähe der Kirche auf einem Hang. Nicht nur
seiner kleinen Bauernwirtschaft stand der Alte tüchtig vor, er betrieb
auch, weil zwei Brunnen mehr Wasser geben als einer, wie er gerne sagte,
eine Schreinerei, und Valentin, der das Handwerk in der Stadt erlernt hatte,
half ihm dabei. Die Werkstatt befand sich auf der Rückseite des Hauses,
und wenn man den Hobel sausen ließ bei offener Tür, hatte man
die große Obstwiese vor sich, die, mit Apfelbäumen bestanden,
den Hang hinunter sich erstreckte.
Es hatte zehn Uhr vom
Kirchturm geschlagen, als es Valentin, von der Arbeit aufblickend, war,
er sähe in der Tiefe des Gartens eine Gestalt hinter einem Baum stehen,
und es gab ihm einen Ruck, als er Veronika zu erkennen glaubte. Wohl eine
Viertelstunde stand das Mädchen so, hinter dem Baum nur halb verborgen,
und regte sich nicht, und spähte zu ihm herauf, und er ging nicht
hinunter, arbeitete nur fleißig weiter, und daß er tief errötet
war, konnte niemand sehen, er war ja allein. Dann trat die Gestalt hinter
dem Baum hervor, und es war nun kein Zweifel mehr, daß es Veronika
war. Sie schien zögernd zu erwägen, ob sie zur Werkstatt hinaufgehen
sollte, aber sie tat es dann nicht, und entfernte sich, lautlos, wie sie
gekommen war.
Oft sah Valentin sie nun
von weitem im Garten stehen, zwischen den Bäumen, wenn er in der Werkstatt
arbeitete, auch bei Regenwetter. Einmal, als er in der Wohnstube saß,
strich sie wie ein Schatten am Fenster vorbei, und als er dann rasch vor
die Tür trat, lehnte sie am Nachbarzaun und huschte wie erschreckt
davon, als sie merkte, daß sie erkannt worden war.
So trieb es Veronika auch
in den nächsten Wochen, immer bestrebt, täglich einmal wenigstens
Valentin heimlich und von fern zu sehen, wie ein Hund wohl tut, der, weil
sein Herr ihm zürnt, sich nicht mehr in dessen Nähe wagt und
doch den Blick nicht von ihm lassen will. Aber nie sprachen die seltsamen
Liebesleute ein Wort mit einander, und nur selten sonst noch, als um Valentin
zu sehen, verließ Veronika das elterliche Haus. Aber dann kam ein
Sonntag, da zog sie gegen Abend Arm in Arm mit den Freundinnen die Dorfstraßen
auf und ab, und sie war die Ausgelassenste unter den Übermütigen,
und auch in die Wirtschaften gingen sie, wo die jungen Männer beim
Bier saßen. Es dauerte auch nicht lange, daß einer der Burschen
sich um Veronika bemühte mit schönen Worten, und sie hörte
ihm gern zu, so schien es, lachend und sich zierend. Aber da tauchte auch
schon Valentin auf und nahm sich den Bewerber zur Seite, um ihm zu bedeuten,
daß da schon ein anderer älteren und besseren Anspruch auf das
Mädchen habe, und er solle von solchen Anstrengungen lassen, es sei
denn, er wolle Unliebliches gewärtigen. Der zog denn auch verwirrt
und mit rotem Kopf ab, und Veronika war glücklich in ihrem Herzen,
weil sie meinte, Valentin betrachte sie als die Seine, und er dulde keinen
Nebenbuhler, und nur seine Scheu hindere ihn, sich auszusprechen, aber
auch das würde er nun denn bald tun.
Es war aber so, daß
Valentin die Verpflichtung fühlte, Veronika zu bewachen, weil er es
sich fest in den Kopf gesetzt hatte, daß nur Emilio ein Recht auf
sie habe, der ihr das Leben gerettet in jener Nacht. Trotzig bestand er
darauf, zu tun, als sei ihm ein Gut anvertraut worden zu treuen Händen,
und er müsse Sorge tragen dafür, daß es unberührt
bleibe von jedermann, und unberührbar auch sollte es sein für
ihn selber, wie er sich das gelobt hatte, damals am Weiher, als er fast
zum Mörder geworden.
Und was er, sich selber
damit bestrafend, sich vorgenommen hatte, das führte er auch durch,
Veronika bekam es zu spüren. Der Herbst verging, und der Winter kam
mit vielem Schnee und langen Sonntagabenden bei Bier und Tanz in den Wirtshäusern,
und auch Veronika fand sich hie und da einmal zu einem solchen Fest ein.
Aber so oft sich dann ein Mann ihr nähern wollte, gleich spielte Valentin
sein altes Spiel und verscheuchte ihn durch dunkle Drohungen, und darin,
die Worte verfänglich und geschliffen zu setzen, war er den Dorfburschen
weit überlegen, er, der jahrelang in der Stadt gelebt hatte, und bald
wagte sich, und seis auch zu harmlosem Scherz nur, kein Mann mehr an Veronika
heran.
Das reizte sie desto mehr,
und erst recht versuchte sie, und trieb es ganz schamlos, den Männern
zu gefallen, und scheute nicht davor zurück, auch denen feurige Blicke
zu schenken, von denen sie wußte, daß sie durch Schwur und
Kuß gebunden einer anderen gehörten, und das brachte auch die
Freundinnen gegen sie auf, die sich von ihr abwandten und nichts mehr redeten
mit ihr.
So wurde sie bald ganz
einsam und war freudlos auf sich angewiesen, und wenn sie sonntags die
Messe besuchte, schritt sie mit gesenktem Kopf und fast wie eine Geächtete
durch die Gruppen der schwatzenden Burschen und Mädchen, die vor der
Kirchentür sich sammelten und verstummten bei ihrem Anblick. Die älteren
Leute im Dorf hatten sich um das, was die Jungen da unter sich anstellten,
nicht recht gekümmert. Sie hatten ihre eigenen Sorgen, und nicht zu
wenige, und wenn sie überhaupt einmal davon redeten, was denn da geschähe,
dann nur wie von einer törichten Kinderei, die sich gebe, wenn sie
erst anfinge den jungen Trotzköpfen langweilig zu werden. Aber das
sollte so bald noch nicht sein.
Die besorgte Mutter, im
dunkeln tappend mit ihren Vermutungen, was die schweigsame Tochter so traurig
mochte verändert haben, hatte Veronika dann, um ihr frische Luft zu
verschaffen, wie sie meinte, für ein paar Wochen zu Verwandten in
ein Nachbardorf geschickt, daß, bis sie zurückkäme, zerrissen
sei, was sich um das Mädchen, lächerlich und unheilvoll genug,
zusammengesponnen hatte. Aber Veronika traf es dort nicht anders. Wie Unkrautsamen,
vom Wind fortgetragen, überall aufgeht, so liefen auch in dem fremden
Ort schon seltsame Gerüchte über sie um. Sie mußte verschlossene
und mißtrauische Gesichter ertragen, Geflüster und Gemunkel,
und sie war für die Leute fast so etwas wie eine Hexe geworden, die
man am besten mied. So kehrte sie wieder nach Eilsprunn zurück, ins
elterliche Haus, und nichts hatte sich gebessert, und in ihrem verwirrten
Herzen wußte sie nicht mehr ein und aus.
Oft saß sie in dieser
Zeit nachts im Bett aufrecht, in ihrer kleinen Stube, und das Fenster war
offen, die Kälte strömte herein, und der volle Mond besuchte
sie. Dann schlüpfte sie aus dem Bett und trat im Hemd ans Fenster,
und achtete der Kälte nicht, und sah zum Fenster hinaus auf die weißbeschienenen
Dächer des Dorfes, und längst hatte sie es gelernt, Valentins
Haus mit einem einzigen raschen Blick zu finden. Und es ging ihr durch
den Sinn, wie gut es gewesen wäre, wenn sie damals, als sie im Weiher
schon untergesunken gewesen war, nicht wieder aufgetaucht wäre zu
einem Leben, wie sie es nun führte. Sie sah den Weiher vor sich wie
eine Verlockung, gegen die sie sich wehren mußte mit Bekreuzigung
und Stoßgebeten. Aber es war ja eisiger Winter jetzt und der Weiher
zugefroren, man konnte über ihn hingehen, er trug, fest und hart verschlossen
war er, kalt und abweisend und nicht gesonnen jemand gnädig aufzunehmen,
bis das im Frühling wieder anders sein würde.
Und dann kam der Frühling.
Die Tage wurden wieder länger, der Schnee schmolz, das erste Grün
zeigte sich, und die Bäume standen im Saft. Mit dem Frühling
war, wie immer so auch heuer, das Storchenpaar wiedergekehrt, das sein
Nest auf einem Wagenrad aufgebaut hatte, das vom Dorfschmied vor Jahren
auf dem Kirchendach angebracht worden war. Eifrig klappernd hatten die
Rotschnäbel gleich begonnen, die Schäden auszubessern, die der
Winter der luftigen Wohnung zugefügt hatte. Als Veronika eines Abends,
auf dem Weg zum Krämer, eine Weile vor der Kirche stehen geblieben
war, die Vögel zu beobachten, und sie dann in die Hauptstraße
einbog, kam ihr Valentin entgegen. Wenn er sie sonst von weitem sah, war
er ihr immer ausgewichen, aber diesmal hielt er zu ihrem freudigen Schrecken
auf sie zu. Er sprach sie an und war ein wenig verlegen und hochmütig
zugleich, und daß seit drei Tagen wieder Jahrmarkt sei, drüben,
in der Stadt, sagte er, sie wisse es, und da werde sie denn hingehen müssen,
um jemanden wiederzusehen, der wohl schon auf sie warte. Fast befehlend
sagte er es, und sie hörte ihn an, und ihre Augen füllten sich
langsam mit Tränen, als sie dann ohne Gruß ihren Weg fortsetzte,
und die Störche klapperten hinter ihr drein.
Und am nächsten Sonntag
machte sie sich gehorsam für den Jahrmarktsbesuch zurecht. Sie zog
das Kleid an und die Strümpfe, die sie damals getragen hatte, als
sie von Valentins Schlag ins Wasser gestürzt worden war. Längst
waren sie heimlich gewaschen und getrocknet und ordentlich gebügelt,
aber sie hatte sie nie mehr am Leib gehabt. Bevor sie ging, öffnete
sie in ihrer Kammer die Schublade ihres Tisches. Drin lagen zwei Herzen
an roten Bändern, und das Herz, das ihr Valentin geschenkt hatte,
sie kannte es genau, oft hatte sie es und immer wieder betrachtet und geküßt,
nahm sie mit. Als sie am Weiher vorbeikam, band sie einen Stein an das
Herz, und sagte: geh du voran! und warf es im hohen Bogen ins Wasser, und
das rote Band flatterte noch zornig gebauscht in der Luft, als wehre es
sich dagegen, in die Tiefe gezogen zu werden.
Die hurtigen Schaukelboote
schwangen gerade lustig, als Veronika sich ihnen näherte, und sie
erkannte auch Emilios Vater, aber vergeblich spähte sie nach einer
roten Jacke aus, und Emilio kam dann auch nicht, und ob sie stundenlang
wartend vor dem Zelt stehen blieb. Und auch als sie den Sonntag drauf wieder
kam, war er nicht zu erblicken, und an seiner Stelle schaukelte ein junger
Angestellter die Mädchen, und sie wagte es auch nicht, zu fragen,
ob er krank vielleicht sei, den sie suchte, oder warum sonst er fehlte,
und so konnte sie ihm nicht sagen, was sie ihm hatte sagen wollen - sie
hatte es sich genau überlegt.
Das war der letzte Tag
des Jahrmarkts gewesen, und am Montag in aller Frühe ging Veronika
noch einmal in die Stadt und auf den Festplatz. Die fahrenden Leute waren
schon eifrig tätig. Die hölzernen Buden wurden abgebrochen, das
Schaukelzelt stand schon nicht mehr, es war schon zusammengefaltet und
verpackt worden und in einen Wagen verstaut, und eben wurden auch die letzten
Boote in das Gefährt verladen, das kleine Fenster hatte und saubere
weiße Vorhänge daran, und Blumentöpfe standen an den
Fenstern, und der Wagen war
wie ein schmuckes, grünes Haus anzusehen. Dann wurden zwei Pferde
davor gespannt, Emilios Vater kletterte auf den Bock und ließ die
Peitsche knallen, und der Wagen rollte langsam davon.
Eine Weile folgte ihm
Veronika, durch die Stadt hindurch und auf die große Landstraße
hinaus, und auch auf der Landstraße ging sie wohl noch eine Stunde
hinter dem Wagen her. Endlich gab sie es auf und blieb stehen und sah den
Davonfahrenden lange nach. Dann kehrte sie um.
Gegen Mittag war sie wieder
zu Haus. Und spät am Nachmittag war sie Zeuge des Kampfes, der hoch
über der Kirche sich abspielte. Die Kinder waren es gewesen, denen
es zuerst aufgefallen war, daß, und sie hatten schreiend hinaufgedeutet,
das Storchenpaar auf dem Kirchendach Besuch bekommen hatte. Reglos standen
die Vögel in ihrem Nest, und ein dritter Storch, der etwas kleiner
war, aber dafür von gedrungenerem Körper als die beiden andern,
hatte in einiger Entfernung von ihnen auf dem Dachfirst sich niedergelassen,
und niemand hatte ihn anfliegen sehen. Dann erhob sich der fremde Storch,
und in mächtigen Schwüngen kreiste er über dem Nest, und
die Vögel in dem Nest legten den Kopf zurück und klapperten zornig
zu ihm hinauf. Nicht lange, dann flog aus dem Nest ein Storch auf, und
er flog dem fremden Storch entgegen, und mit den Schnäbeln begannen
sie aufeinander einzuhauen. Unten, auf dem gepflasterten Platz, sammelten
sich rasch die Zuschauer, alt und jung strömte herbei, und auch Veronika,
die zu einer Besorgung unterwegs gewesen war, stellte sich vor der Kirche
auf. Immer wieder prallten oben die Gegner aufeinander, peitschten mit
den riesigen Flügeln die Luft, die roten Schnäbel blitzten, und
die Federn stäubten von den Schlägen, mit denen sich die Tiere
an Hals und Brust trafen. Bald war nicht mehr zu verkennen, daß der
fremde Storch ermattete, wie zur Flucht schien er sich zu wenden, aber
dann warf er sich herum und griff mit erlöschender Kraft von neuem
an. Ein paarmal war es, er stürze mit hängenden Flügeln,
aber er fing sich wieder und kämpfte weiter, und immer schrecklicher
und schneller wurden die Schläge des Stärkeren.
Veronika hatte es wohl
bemerkt, daß auf einmal Valentin neben ihr stand und, gebannt wie
sie, zu den kämpfenden Tieren hinaufsah. Mit lauten Ausrufen begleiteten
die Zuschauer die Vorgänge in den Lüften, und ein Mädchen,
das neben Veronika sich gestellt hatte, legte erschauernd und mit geschlossenen
Augen den Kopf auf Veronikas Schulter, so fürchtete sie sich, weil
eben wieder der fremde Storch taumeln und fallen wollte, und sie hatte
ganz vergessen, daß sie doch seit Wochen schon kein Wort mehr mit
der Freundin geredet hatte.
Und dann ging es zu Ende.
Die beiden Störche hatten für eine kurze Weile voneinander abgelassen,
wie um Atem und neue Kraft zu schöpfen, und zogen ihre Kreise, und
der Dorfstorch flog höher als der fremde Vogel, den es nach Nest und
Gefährten gelüstet hatte. Und jetzt stieß der höher
Fliegende herab und traf den Gegner mit zwei und drei gewaltigen Schnabelhieben,
und der versuchte es gar nicht mehr, sich zu wehren, er schwankte, die
Flügel trugen ihn nicht mehr, nur den zu raschen Sturz vermochte er
noch mit ihnen zu bremsen, und zwischen die entsetzt auseinander springenden
Zuschauer fiel er durch die Luft her rau-
schend auf das Pflaster.
Er war nicht tot, aber
sein weißes Gefieder war rot genäßt von dem Blut, das
aus seinen Wunden strömte, und schwer atmend lag er da. Und nun sah
man erst, daß in einem seiner Flügel ein armlanger Pfeil steckte.
Das sei ein Negerpfeil, sagte der Lehrer zum Pfarrer, nicht daran zu zweifeln,
so gekerbt und bemalt war die wilde Waffe, und in den fernen afrikanischen
Wäldern müsse ein schwarzer Mann auf den Vogel geschossen haben,
und mit dem Pfeil im Flügel sei das Tier noch bis hierher nach Eilsprunn
geflogen, der seltsame Gast, und so behindert habe er doch noch den Kampf
gewagt und auch verloren. Und oben im Nest stand der Sieger und putzte
sich die Federn.
Man schaffte den Verwundeten,
der sich das ruhig gefallen ließ, in den Garten des Lehrers, und
der Lehrer pflegte ihn und fütterte ihn, und das Tier genas auch wunderbarerweise
wieder. Von einem Tierarzt ließ der Lehrer den Pfeil aus dem Flügel
entfernen, und das ging leicht. Wochenlang schritt der Storch dann um das
Haus des Lehrers herum, von den Kindern bestaunt und bewundert, und sie
brachten dem Vogel Frösche und Käfer und Würmer, und nichts
verschmähte er, und wie ein Haustier schien er geworden, und nur selten
einmal wagte er einen kurzen Flug über der Gartenwiese. Eines Tages
aber hob er sich auf und flog fort und kam nie wieder. Nur der Negerpfeil
blieb dem Lehrer von dem fremden Gesellen zurück, und den Pfeil befestigte
er an der Wand, und der habe viel von der Welt gesehen, sagte der Lehrer
neidisch, den Nil und das rote Meer und das schwarze Land, und mehr, als
er selber wohl je zu sehen bekommen würde.
Valentin hatte, als damals
der verwundete Vogel herabstürzte, Veronika an der Hand gefaßt
und das Mädchen zur Seite gerissen, daß es nicht getroffen würde,
und so war es gekommen, daß sie auf einmal Hand in Hand da standen
und sich ansahen. Und dann hatten sie ein Stelldichein verabredet, für
eine Stunde später, am Dorfweiher. Valentin war schon früher
dort, und die Sonne ging blutrot unter, und rot beleuchtet kam das Mädchen
vom Dorf heran. Die grüne, moosige Decke hatte sich längst wieder
geschlossen über der Stelle, wo Veronika im Wasser um sich geschlagen
hatte. Da drin liege sein Herz, sagte sie zu Valentin, und deutete auf
den Weiher, und er verstand sie natürlich nicht gleich, und sie mußte
es ihm erklären. Sie habe aber das falsche Herz hineingeworfen, antwortete
er, und sie ließ sich küssen vvon ihm, und in seinen Armen sagte
sie, daß sie neulich erst, in einer sündigen Nacht, hier am
Weiher gestanden und Lust verspürt habe, hineinzuspringen, und nicht
Furcht vor der Höllenstrafe habe sie abgehalten, das nasse Grab zu
suchen, sondern der Gedanke, nicht eine Last auf ihn legen zu wollen, die
er zeitlebens nicht mehr würde abtun können. Wieder küßte
er sie und zitterte, und das mochte sein, weil ein kühler Wind sich
erhoben hatte, aber Veronika schien ihn nicht zu spüren. Daß
sie beide morgen wieder hierher kommen wollten, sagte sie, ein anderes
Herz, das sie noch habe, in die Tiefe zu versenken, zu den Fröschen
und Schlangen, und daß sie nicht nur diesen Weg noch gemeinsam gehen
wollten, sondern noch den und jenen, und vielleicht noch viele, in den
nächsten Jahren, wenn er es so wolle. Aber einen Weg müsse er
doch noch demnächst, zu ihrem Vater, ihn um etwas zu bitten, und ob
er wohl meine, daß vielleicht sein Vater etwas dagegen hätte,
fragte sie, oder am Ende gar er selber?
Da küßte er
sie nur abermals, die so, gegen jede Sitte, sich ihm antrug.