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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung

Band 5  Seite 113
Kommentar Seite 388

Aus: »Der Schneckenweg«


Der Mann Kruch

Einem Manne, der Heinrich Kruch hieß, einem neunundsechzig Jahre alten, unverheiratet gebliebenen Steuerverwalter, seit vier Jahren im Ruhestand lebend, war es zu einer lieben Gewohnheit geworden, fast täglich die städtische heimatkundliche Sammlung aufzusuchen, gemächlich von Schaukasten zu Schaukasten zu wandeln, bald in einer dämmernden Ecke vor einem nachgedunkelten Bild zu verweilen, bald vor Spießen und Schwertern zu stehen und zu staunen, und mancher Rostfleck darauf schien ihm ein Blutstropfen zu sein, schaurige Erinnerung an das Geschäft der eisernen, oder er träumte es sich wenigstens so, und wie ein Traum nur war sein Lebens schon lang.
 Er hatte seine Lieblingsstücke in der Sammlung. Ein dottergelber Kanarienvogel war darunter, der in einem Käfig auf der Stange saß, in seinem Kleid aus echten Federn, den kleinen Kopf drehen und singen konnte, und in nichts von einem lebendigen Tier sich unterschied, obwohl es natürlich nur eine kunstvolle biedermeierliche Arbeit war. Er setzte sich gern, der alte Mann, auf eine gepolsterte Ruhebank und lauschte den Trillertönen geschlossenen Auges, und wenn der Gefiederte zu Ende war mit seinem Gesang, und verstummend erstarrte, dann brachte er, und das war erlaubt, das Räderwerk wieder in Tätigkeit: stolz erhob der Vogel wieder den Kopf, und wieder sang er sein Lied, und daß es immer das gleiche war, erfreute das Herz des Einsamen.
 Dann ging er weiter, vorbei an alten Fahnen, deren verschossene Seide edel glänzte, manche gebauscht schienen von einem unspürbaren Wind, an Zunftzeichen vorbei, und ein aus Kupfer getriebener Fisch gefiel ihm immer besonders, ein Karpfen sollte es wohl sein, mit Glotzaugen und breitem Maul, und die Schuppen leuchteten wie Gold. Und ein mächtiges Glasgehäuse war aufgebaut, in dem standen lebensgroße Puppen mit starr lächelnden Gesichtern, und trugen die Kleider vergangener Tage. Die Kleider waren nicht zu beispielhaften Zwecken eigens gefertigt worden, es waren Stücke, die lebende und lachende Frauen einst am Leib gehabt hatten, und es mochte geschehen, daß eine weißhaarige Dame mit Rührung ihr Brautkleid betrachtete, das sie der Sammlung geschenkt hatte, und das auch der immer jungen Puppe, die es jetzt trug, nicht übel zu Gesicht stand, fand die verwelkte Frau.
 Abends, in seinem bescheidenen Zimmer, wenn Kruch sein kaltes Essen verzehrt hatte, und eine Flasche Bier dazu getrunken, oder auch deren zwei, und das Alleinsein ihn bedrücken wollte, gab er sich, Ausführender zugleich und Zuhörer, eine kleine Vorstellung manchmal. Er drehte und ruckte zierlich den Kopf, wie es der künstliche Gefiederte auf seiner Stange tat, und pfiff sein Lied, und er traf das Trillern und Schmettern so genau, daß jeder ihn hätte bewundern müssen, der ihn hörte, aber es war ja niemand da, es zu tun.
 Er hatte Freunde gehabt, oder was sich so nennt, wenige nur, die waren ihm weggestorben, und im Wirtshaus zu sitzen hatte ihm nie gefallen. Er war ehelos geblieben, hatte wohl Frauen gekannt, früher, aber es war nie die Rechte zu ihm gekommen, oder er zu ihr, und wenn manchmal dämmernd aus der Vergangenheit ein Bild aufstieg, ein junges Gesicht, fernher grüßend, sich zu ihm neigte, und er wohl auch Wehmut verspürte und etwas der Reue Ahnliches, so wußte er doch immer gleich wieder, tief innen, daß er nicht geeignet gewesen wäre für ein Leben zu zweien nebeneinander, ein Alleingänger zu sein vorbestimmt, und meinte, er sei es zufrieden.
 Mußte er, was selten genug geschah, notwendiger Besorgungen wegen sich in das Geschäftsviertel der Stadt wagen, wo die großen Kaufhäuser wie Burgen sich erhoben, ward ihm ganz elend und ängstlich vor dem lärmenden Treiben. Dann stand er wohl, wenn das Verkehrszeichen es so verlangte, und wartete, und viele warteten mit ihm. Er ließ den Zug von Kraftwagen und Straßenbahnen und Radfahrern vorbeiströmen, und sah durch die Scheiben der Wagen Frauengesichter mit rot gemalten Lippen, und sah die kalten Gesichter der Geschäftemacher, und gab der Schutzmann den Weg endlich frei, wurde Kruch mit einer Woge von Menschen über den Platz gespült, willenlos wie Treibholz. Wenn er, nach einem solchen Nachmittag, noch aufgeregt in die Sammlung kam, für eine Stunde wenigstens, und er schritt durch ihre still hallenden Räume, so beruhigte sich sein Herz wieder inmitten der Zeugnisse und Abbilder einer vergangenen, besseren Zeit.
 An einem klaren Oktobermorgen war Kruch, ohne Ziel durch die Straßen gehend, auf den Markt geraten. Vor den Buden der Metzger hingen an eisernen Haken die rotglänzenden Kälberhälften, auf den Verkaufsbänken der Wildprethändler lagen Fasane und Rebhühner und enthäutete Hasen, rote Apfel häuften sich in Körben, und buntfarbig prahlten die Herbstblumen vor den Ständen der Gärtnereien. Gleich hinter dem Markt war eine alte Kirche, deren Turm die Fremden der schönen Aussicht wegen gerne erstiegen. Er hatte nie daran gedacht, das auch zu tun, aber heute, die Oktoberfrische hatte ihn unternehmungslustig gemacht, wollte er es. Er sah zum Himmel hinauf, der war kalt und blau und wolkenlos, und um das Turmdach schwangen sich Tauben, und er zahlte dem Pförtner das kleine Entgelt und machte sich daran, die steinerne Wendeltreppe zu erklimmen. Das dauerte lange, und ziemlich atemlos kam er oben an, stieß eine schwere, eisenbeschlagene Türe auf, und stand in der achteckigen Turmstube, in einem Schwall von Licht, das durch die offenen Fenster hereinfiel.
 War es ihm schon unten am Markt von dem Glanz der Früchte und Blumen und des grellfarbigen Fleisches seltsam fröhlich zumute gewesen, so wollte es ihm hier in dem vielen Licht wie schwebend werden. Er machte ein paar rasche Schritte, es ging sich hier so leicht, fast so, als trage ihn die Lichtflut. Es entzückte ihn das weißliche Himmelblau, das er draußen sah, und leicht schwankend, als hätte er Wein getrunken, trat er an eins der Fenster heran.
 Da lag drunten die Stadt, die roten Ziegeldächer leuchteten herauf, und Türme waren groß und nah um ihn. Er sah in die Straßenschluchten hinein, auf deren Grund die winzigen Menschen sich bewegten, sah den Fluß silberblitzend sich winden, und sah, wie klein die Stadt war, die er doch groß wußte, und mächtig fluteten die Wogen der Wiesen und Acker gegen sie heran. Dann rauschte es in der Luft, dicht neben seinem Gesicht, und eine Taube hing mit ausgespannten Flügeln einen Augenblick lang vor ihm, und äugte ihn an, und ließ sich dann tiefer auf einem Gesims nieder.
 Kruch wandte sich wieder in die Stube zurück. Die war altertümlich eingerichtet, in der Mitte stand ein großer Tisch, und an den holzgetäfelten Wänden hingen alte Stiche, die das Stadtbild zeigten, wie es in früheren Tagen sich dargeboten hatte, auch Erinnerungstafeln an den und jenen hohen Besuch, und Kaiser und Könige sogar hatten den Turm schon bestiegen.
 Und hinter Glas und Rahmen stellte eine mit Wasserfarben ausgeführte Zeichnung dar, wie ein junges Mädchen in Biedermeiertracht zwischen Himmel und Erde schwebte. Das Mädchen, sah man, hatte sich aus dem Turm gestürzt. Oben, aus dem Fenster, streckte noch jemand, vergeblich rettenwollende Arme, das Mädchen hing zierlich in der Luft, und sein Schutzengel hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und flog in trauervoller Haltung weg von der Verlorenen, deren langer, blonder Zopf in einer lieblichen Schleife sich wand. So war es, trotz seines erbärmlichen Gegenstandes, ein fast heiteres Gemälde, und darunter stand in rührenden Worten zu lesen, daß aus Liebeskummer das zweiundzwanzigjährige Fräulein von Sichlern den Sprung in die Tiefe getan habe, und Jahr und Tag und Stunde waren angegeben.
 Kruch betrachtete aufmerksam die Zeichnung, das schöne, ruhige Gesicht der Schwebenden, die, über hundert Jahre war es nun schon her seit ihrem Tod, nicht älter geworden war, und ihr Haar nicht grau, und nach einem langen Blick aus dem Turmfenster stieg er nachdenklich wieder zur Erde hinab. Und da oben, auf dem Turm, hatte sich auch sein Schicksal entschieden.
 Um diese Zeit, einem schönen Herbst, der klare und warme Tage brachte, vertraute sich Kruch einem Maler an, dem er täglich saß. Es war ein Mann der alten Schule, der sich bereit erklärt hatte, für einen geringen Betrag das Gesicht seines Auftraggebers auf der Leinwand, nicht viel größer als zwei Hände groß, in Farben festzuhalten. Er hatte in den ersten Sitzungen in genauer Bleistiftzeichnung jede Falte und jedes Haar nachgebildet, und war dann erst zur Farbe übergegangen. Das erforderte, daß Kruch, ohne sich zu rühren, stundenlang geduldig ausharren mußte, und er leistete das so lobenswürdig, daß ihm der alte Maler seine Anerkennung aussprach. Als das Bild endlich fertig geworden war, betrachtete Kruch mit einem leichten Schauder und nicht ohne ein Gefühl stolzen Glücks sein eigenes Gesicht, das ihm da ein wenig steif entgegensah.
 Es ging nun schon auf die Novembermitte zu, aber der Himmel war um die Mittagsstunden fast noch sommerlich blau. Kruch hatte nicht viel von dem schönen Wetter, er war öfter und länger als jemals früher in der städtischen Sammlung, und die Wärter schüttelten den Kopf über den Alten, der recht wunderlich geworden war in der letzten Zeit, leise Selbstgespräche führte oder auch, so schien es, mit den Leuten sich unterhielt, die gemalt an den Wänden hingen, aber es störte ihn keiner, und es lachte auch keiner über ihn.
 Eines Morgens, als Kruch erwachte, sah er vorm Fenster Flocken wirbeln, es war Dezember geworden und der Winter gekommen. Er zog sich frierend an in dem kalten Zimmer und riß ein Blatt vom Abreißkalender und murmelte: Es ist Zeit! und: Es ist der Tag! und ging, und auf der Straße wehten ihm die Flocken naß ins Gesicht.
 Er hatte die Sammlung gegen neun Uhr betreten, gleich nachdem geöffnet worden war, wie der Torwart aussagte, und es war gegen zehn Uhr gewesen, als der Wärter ihn am Strick hängen sah, der an einem der zwei mächtigen Haken befestigt war, die in der Wand eingelassen waren, ein Brett zu tragen, auf dem eine große Marmorbüste stand. Kruch war tot, das sah der Wärter gleich, der im Krieg gelernt hatte, Tote von Lebenden unterscheiden zu können. Aber er kümmerte sich in seiner Aufregung nicht einmal gleich um ihn, sondern mühte sich, zuerst das Uhrwerk des Kanarienvogels abzustellen, weil es ihm unpassend schien, daß der sein Lied jetzt grausam schmetternd sang. Es gelang aber seinen zitternden Fingern nicht, und er mußte schon warten, bis das Werk abgelaufen war, und dabei würde es ihm auch klar, daß Kruch selber noch den Vogel zum Singen gebracht haben mußte, es waren ja um diese frühe Stunde eines Wochentags sonst keine Besucher in der Sammlung.
 Der kleine Sänger drehte zierlich den Hals, riß den Schnabel noch einmal weit auf, dann kam ein sanftes Räuspern, und dann schwieg er auf seiner Stange, und es war nun feierlich still in dem kleinen Saal.
 Bei dem Toten fand sich, verschnürt und versiegelt, ein Päckchen, das er auf der Brust zwischen Anzug und Mantel getragen hatte. Das Päckchen, stand darauf zu lesen, war für den Leiter der Sammlung bestimmt, und enthielt ein kleines, gerahmtes Bildnis des Toten und in einem Brief die Bitte, es an der Wand gegenüber dem Käfig des künstlichen Vogels anzubringen. Und, so bat er, auf einer kleinen Tafel möge man darunter melden, daß sich hier, an seinem siebzigsten Geburtstag, Heinrich Kruch das Leben genommen, um auch nach dem Tode und für immer zu sein, im Bilde wenigstens, wo er lebend am liebsten gewesen, und der beiliegende Geldschein sei für die Kosten der Anfertigung des Täfelchens.
 Unter den Papieren des alten Mannes, als man in seinem Zimmer aufräumte, war auch sein letzter Wille, und er erklärte darin, daß er, zum Freitod entschlossen, aus dem Begräbnisverein, dem er lange angehört, ausgetreten sei, wohl wissend, daß die Kirche dem Selbstmörder ein ehrliches Grab verweigere. Er sei daher Mitglied eines Feuerbestattungsvereins geworden und wünsche verbrannt zu werden, obwohl ihm diese Art, Tote in Asche zu verwandeln, gar nicht gefalle.
 Die Erbschaft, ein paar Möbel und Kleidungsstücke und auch ein wenig Geld, fiel einem Neffen Kruchs zu, der in einer anderen Stadt lebte, und dieser Neffe war nicht wenig erstaunt, als ihm eines Tages die Post eine Sendung brachte, die das Bildnis eines alten Mannes enthielt und einen Geldschein. Ein beiliegender Brief gab ihm Aufklärung, und teilte ihm mit, daß der Wunsch seines Onkels, der offenbar in geistiger Umnachtung gehandelt, leider nicht habe erfüllt werden können.
 So hing er sich das Bild des Greises, den er nie von Angesicht zu Angesicht gesehen, an die Wand, denn es schien ihm recht gut gemalt, und hatte vielleicht seinen Wert, der sogar steigen mochte, von dergleichen hatte man gehört.
 Heinrich Kruch, zu bemitleiden nicht nur, sondern gewiß auch ein wenig und traurig zu belächeln, hatte seiner Zeit entfliehen und sich in eine kleine Unsterblichkeit retten wollen, und das Bild des adeligen jungen Fräuleins in der Turmstube war ihm zu einer süßen und unwiderstehlichen Verlockung geworden.
 In dem Brief des Museumsleiters, der ja des Absonderlichen vieles zu betreuen hatte, stand zu lesen, daß er zuerst geneigt gewesen sei, zu tun, was Kruch sich erbeten hatte, aber dann seien ihm doch Bedenken gekommen, und er habe höheren Orts nachgefragt, wie er sich verhalten solle in diesem Falle, und den Bescheid bekommen: Nein!
 Daß er verbrannt werden würde, war dem Heinrich Kruch zuwider gewesen, weil es den neuen, ihm verhaßten Sitten gemäß war, aber er hatte nicht bedacht, wie er manches nicht bedacht hatte, daß auch das Flammengrab in alte Zeiten zurückreicht, Altes untersinkt und dann wieder aufsteigt und sich neu nennt, weil das unbegreifliche Leben ewig im selben Kreis geht.
 Schließlich, er hatte der Vereinzelung zu entkommen und in einer großen Gemeinschaft aufzugehen getrachtet, und das war ihm, anders als er es sich gedacht hatte, dann doch gelungen, wie es allen und dem Einsamsten noch gelingt, im Tod, der alle einandergesellt im ewigen Schlaf.