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Georg Britting
Sämtliche Werke
- Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung
Band
5 Seite 204 / 209 / 213
Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«
Der Bock..................................................Kommentar
Gang durchs Gewitter...............................Kommentar
Das Erbbegräbnis am
Lech......................Kommentar
Esau kam den Zickzack des Gebirgsweges herab.
Manchmal traf ein Stein das Leder der Sandale. »Au!« schrie
er dann und krümmte die Fußsohle. Es ging gegen Mittag. Bei
Tau war er aufgebrochen, den Felsbock zu jagen, aber er hatte nur einmal
die spitzen Hörner von weitem gesehen: ehe er den Bogen zu spannen
vermochte, war das Tier in einer Steinlawine abgefahren. Also morgen! dachte
er. Die Sonne stand lotrecht über ihm, er hatte Durst und Hunger.
Das Tal sah er schon liegen, und die Hütten, nah dem Aug, aber zu
gehn wars noch ein gutes Stück. Nun sang er: »Mit dem Pfeil,
dem Bogen - durch Gebirg und Tal - kommt der Schütz gezogen - früh
beim Morgenstrahl.« Dort gleich, wo der Wald eine spitze Zunge vorstreckte,
gabs Wasser. Er kniete schon neben dem Quell, schöpfte mit der Hand.
Der Durst war gelöscht, nun wurde der Hunger vernehmlicher. Er legte
sich die gespreizten Finger auf den Bauch, es knurrte darin. Er lachte.
»Bald«, sagte er beruhigend, »bald!« Knurrte der
Magen nicht schon versöhnlicher?
Die ersten bebauten Felder kamen, Männer
und Frauen, gebückt, gruben mit Hacken. Der Rauch des Hauses stieg.
Esau lief. In der Halle war es kühl. Es war niemand zu sehen, alles
war auf den Feldern, und er hatte Hunger. Da knarrte eine Tür, sein
Bruder kam herein; er trug eine dampfende Schüssel, stellte sie vor
sich auf den Tisch, grüßte Esau kaum. Und ging wieder, sich
einen Krug Weines zu holen.
Das roch gut, es waren Linsen, Esaus Lieblingsgericht.
Die Mutter war nicht da, seufzend setzte er sich auf die Bank. Er hatte
Hunger, aber zu faul war er doch, sich ein Mahl zu bereiten. Grad kam der
Bruder mit dem Wein. Er setzte sich breit an den Tisch und begann zu essen.
Esau pfiff, sich zu trösten, aber das half dem Magen nicht, der wieder
knurrte. So sagte er höflich zu seinem Bruder: »Gib mir doch
auch was ab!«
Erstaunt sah der Bruder ihn an. »Koch
dir selber was!« sagte er kurz.
Esau schlug die Knie unwillig gegeneinander.
»Kochen! Kochen! Ich mag nicht! Wo ist die Mutter?«
»Sie gräbt Rüben«,
murmelte der Bruder mit vollem Munde und nahm dann einen neuen Schluck
Wein. Dann schrie er plötzlich: »Ich hab mir auch selber gekocht!
Du bist wohl zu fein, dir selber was zu kochen? Seht den Herrn! Den ganzen
Morgen herumstrolchen und dann zu warten, bis man ihm die Schüssel
vor den Mund rückt. Ich habe fünf Furchen gezogen im Acker. Ich
hab mein Essen verdient und es mir selbst gekocht. Du hast den Wolken nachgesehen.«
Er spuckte wütend aus. »Brauchst auch nicht zu essen!«
Esau sah neugierig zu ihm hinüber.
»Ärgerst dich wieder? Brüderlein, laß! Der Bock hatte
solche Hörner!« Er beschrieb sie genau. »Das verstehst
du nicht«, sagte er, als er merkte, daß der Bruder gar nicht
zuhörte, nur den Mundwinkel hob, höhnisch.
»Du bist der Erstgeborene und Erbe«,
sagte der Bruder plötzlich. »Haus und Feld und Vieh bekommst
du.« Er schrie zornig: »Was wirst du damit tun? Das Vieh wird
verhungern, auf den Feldern wird Mohn wachsen und das Haus zerfallen. Warum
bist du der Erstgeborene?«
Esau lachte laut. »Bins, Brüderlein,
bins!« Er schlug gegen die Mauer: »Mein!«
Er rüttelte am Tisch: »Mein!«
Dann spürte er wieder seinen hungrigen
Magen. »Bruder, gib mir was ab! Mich hungert!«
»Alles dein«, sagte der, »alles
dein, und hast nichts zu essen! Nichts zu fressen, Erstgeborener! Meine
Linsen sind mir lieber.« Er hatte ein Viertel der Schüssel schon
leergegessen. »Gute Linsen«, sagte er. »Die Erstgeburt
kannst du nicht essen.« Plötzlich lachte er. »Tritt sie
mir ab, und du kannst die Schüssel Linsen haben.«
Saß schon Esau neben ihm. »Her
damit!« Aber der Bruder legte den Arm über die Schüssel.
»Trittst sie mir ab, die Erstgeburt?« »Ja«, sagte
Esau, »trete sie ab.«
Schnell hielt ihm der Bruder die Hand hin,
Esau schlug ein.
»Gib die Linsen her, du hast schon
zu viel gehabt!«
Es schmeckte. Er trank den Wein und aß
die Linsen, und der Bruder lehnte am Türpfosten. Als die Schüssel
leer war, schleckte Esau mit der Zunge sauber die letzten Reste ab. Er
sah vergnügt umher, die Mutter trat ein. Schon erzählte ihr der
Bruder den Handel.
»Esau«, rief sie, »Esau,
Kind!« Und dann zum Bruder: »Das ist doch nicht ernst zu nehmen,
um eine Schüssel Linsen! Das nimmst du nicht an!«
»Ich nehme es an, es ist abgemacht,
und es war ein ehrlicher Handel!«
»Daß du dich so freust?«
fragte Esau. »Warum freust du dich so?«
Nun zürnte ihm auch die Mutter. »Dummes
Kind, weißt jetzt noch nicht, was du getan hast!«
Er erzählte: »Mutter, ich sah
einen Bock. Nie gab es solche Hörner, groß und krumm.«
»Die Hörner!« sagte traurig
die Mutter.
Mit einem Sprung stand der Bruder vor Esau.
»Ich bin der Erstgeborene jetzt! Mein ist einmal alles!«
Esau erzählte noch von den Wunderhörnern.
»Ich maß die Hörner haben!« Er reckte sich. »Ich
bin satt. Müde bin ich nicht. Ich will heute abend noch ins Gebirg.
Daß ich ihn in der Morgendämmerung erlauere.«
Der Bruder stand noch immer vor ihm. »Ich
bin der Erstgeborene jetzt«, krähte er und wollte Esau den Weg
vertreten.
»Ja, du bist der König jetzt
im Haus«, sagte Esau ruhig. »Ich will dich krönen!«
Er nahm die Schüssel vom Tisch, schlug
sie dem Bruder auf den Kopf daß die Scherben splitterten und der
Schüsselrand
ihm über die Ohren glitt und wie ein gezackter
Ring um den Hals schaukelte. Die Mutter schrie auf, aber von draußen
lachte Esau. »Nie saht ihr Hörner, so groß und krumm!«
Und am Abend ging der Mond auf, und der
Bruder, der König jetzt im Haus, der Erstgeborene jetzt, der stand
im Garten und sah zum Mond hinauf, hinauf zu dem gelben Gestirn, und als
er länger hinsah, bemerkte er, daß der Mond einem gelben Bogen
glich, einem gelben, gespannten Bogen, und den Pfeil, der auf dem Bogen
lag, den sah er nicht, aber er fühlte, daß er auf sein Herz
gerichtet war, der unsichtbare Pfeil mit der ganz und gar unsichtbaren
Spitze, und so sprang er schnell hinter einen Baum, sich zu schützen
und fluchte: »Dieser Esau! Dieser Lümmel!«
Da stampfte es hinter ihm wild, es keuchte,
er sah um, da war der Bock, den zu jagen Esau gegangen war. Da war er,
da waren die riesigen Hörner, krumm, gebogen, geschweift, gedreht,
drohend die Spitzen nach vorn gestellt, und die Augen des Bocks glühten,
und sein langer Bocksbart flatterte. Und da war der Esau, der Dummkopf,
ins Gebirge gestiegen und hatte seine Erstgeburt verkauft, um sich neue
Kraft zu holen für die Jagd, und das alles hätte er gar nicht
gebraucht, denn da war er ja, da, im Garten hier, der Krummbock, der riesige,
und keuchte.
Er rannte, der Bruder, der Erstgeborene
jetzt, er rannte davon vor dem stampfenden Tier, und das kinnbartflatternde
Vieh hinter ihm drein, und nun hatte er doch den schützenden Baum
verlassen müssen und da zielte der Pfeil auf dem Bogen des gelben
Mondes schon wieder auf ihn!
Und wenn er nun schnell beiseite sprang,
überlegte er, dann maßte der unsichtbare Pfeil (aber er war
da!), dann maßte der unsichtbare Pfeil des gelben Mondbogens nicht
sein Herz treffen, mußte das Bocksherz treffen, dann war der Bock
erlegt, dann war nicht nur die Erstgeburt sein mit allen süßen
Rechten, auch der Bock war sein, der gewaltige Krummhörnerbock, und
er warf sich mitten im Sprung auf die Seite und fiel auf Händen und
Füßen ins Strauchwerk, in die Brennesseln, die ihm das Gesicht
verbrannten, aber er achtete es nicht, er blieb in den Nesseln liegen -
der Wein, der Freudenwein, hatte ihn doch müd gemacht - und schlief
ein.
Er lag, der Mond schien und beleuchtete
ihn und bewachte ihn, und der Ziegenbock aus dem Stall graste ruhig neben
ihm die ganze Nacht.
Der Gang durchs Gewitter
Als Barbara, Lehrerin an der Volksschule einer
abgelegenen niederbayerischen Landstadt, nach halbstündiger Fahrt
nachmittags um drei Uhr den kleinen, verstaubten Bahnhof verließ,
der trostlos allein neben der Straße stand, kein Haus sonst weit
und breit, und sich anschickte, nach Plenning zu gehen, hing dort, wo es
lag, und das von hier aus nicht zu sehen war, eine düstere schwarze
Rabenwolke am Himmel, die ein Gewitter anzeigte.
Sie mochte hoffen, noch vor Ausbruch des
Unwetters das Dorf zu erreichen, und sie war durchaus in der Stimmung,
auch einen Gang durchs Gewitter nicht zu scheuen. Mitten auf der Straße,
in der prallen Sonne, ging sie festen Schrittes, und als sei sie ihr Ziel,
der großen schwarzen Wolke entgegen. Der Wolkenvogel wurde größer,
seine Flügel, gelb und weißlich gerändert, schwangen immer
breiter am Himmel: bald mußte seine tiefschwarze, ungeheure Kehle
über ihr sein. Und weiter und weiter würde der Vogel fliegen,
über sie hinweg, dorthin, woher sie kam, ins Sonnige, ins Blaue, und
wer weiß wohin rauschend und dunkel drohend zu fliegen der Wind ihm
befahl.
Barbara ging einen Weg, den sie in der
letzten Zeit oft gegangen war, zu dem Lehrer von Plenning, dem Mann, den
sie liebte, und der sie wieder liebte - so hatte sie geglaubt, bis vor
kurzem noch, aber jetzt wußte sie es anders. Eifersucht zerriß
ihr Herz, wenn sie daran dachte, wie er es getrieben hatte, auf dem Kellerfest
neulich, mit jener andern, um sie werbend und girrend und sich spreizend,
daß sie sich hatte schämen müssen. Zwar hatte er alles
bestritten nachher, oder doch das meiste, mit lahmen Ausflüchten,
als sie ihn zitternd zur Rede stellte, aber sie hatte ihm kein Wort geglaubt.
Zwei Wochen lang hatten sie nun nichts von einander gehört, zwei bittere
Wochen, für sie wenigstens - und er hatte sie vielleicht vergessen.
Da hatte sie es nicht lassen können, wie auch ihr Stolz dagegen war,
ihn brieflich um eine letzte Aussprache zu bitten, und er hatte zurückgeschrieben:
er erwarte sie - ganz kurz und kalt und nur dies! Und wenn sie sich fragte,
was sie ihm sagen wollte, so fiel ihr in der Unbedingtheit ihres ersten
großen Schmerzes nichts weiter ein als: ich möchte sterben!
Ach, sie war jung, und da sagt sich das so leicht!
Die Landschaft lag jetzt im Wolkenschatten,
nur über einem fernen Wald war noch ein unwirkliches, gläsernes
Licht. In die Bäume an der Straße war der Wind eingefallen,
er rührte Barbara mit eisigen Händen an, und der Straßenstaub
drehte sich wirbelnd. Dann fielen die ersten, schweren Tropfen, und aus
der Wolke über ihr zuckte es schwefelgelb. Der Regen wurde stärker,
ein Knurren lief über den Himmel, Donnerschläge schallten, nun
rauschte es in Fluten herab, und des Regens nicht achtend, ja, im Trotz
seiner sich freuend, ging sie dahin.
Der Lehrer von Plenning, der unruhig am
offenen Fenster das heraufziehende Gewitter beobachtet hatte, schloß
es, als die ersten stürmischen Tropfen ins Zimmer sprangen. Er war
Barbara nicht bis zum Bahnhof entgegengegangen, wie sonst immer, wenn sie
zu ihm kam, diesmal nicht, um sie zu bestrafen für die ungerechten
Vorwürfe, die sie ihm gemacht hatte: den Bußgang, und als solchen
sah er ihn an, sollte sie allein tun! Denn er war Lehrer und hielt viel
von Erziehung. Nun reute es ihn. Er holte den Schirm aus dem Schrank und
trat wieder zum Fenster, an
dem die Tropfen herabrannen, wie Tränen.
Sich so anzustellen! schalt er sie aus, als stünde sie vor ihm, und
er sah ihre Augen vor sich, und wie sie ihn aus schmerzverzerrtem Gesicht
angeblickt hatten auf jenem unglückseligen Keller fest.
Aus jeder Mücke einen Elefanten zu
machen! Wieder stieg der Zorn in ihm hoch, und lehnte den unzutreffenden
Vergleich ab, denn nicht einmal die Mücke war dagewesen, sozusagen,
so unschuldig fühlte er sich. Und hörte aber eine verborgene
Stimme, die ,ihm widersprach. Sie muß lernen sich zu beherrschen!
sagte er, und sagte es laut, und lauschte mißtrauisch, was die Stimme
sagen würde. Diesmal schwieg sie. Wohl war ihm nicht ums Herz, das
nach Aussöhnung verlangte und lächelndem Verstehen. Aber sein
bubenhafter Trotz siegte, und so stellte er den Schirm wieder in die Ecke,
und machte sich nicht auf den Weg ihr entgegen, weil sie vielleicht doch
klug genug gewesen war, im Bahnhof, unter Dach und Fach, das Ende des Unwetters
abzuwarten.
Sie war nicht klug gewesen, Barbara, die
Lehrerin, zu tief gekränkt sich fühlend, um noch das Wort der
Klugheit zu hören, und war nun schon eine Viertelstunde unterwegs,
mitten auf der Straße, durchnäßt bis auf die Haut. Auch
wenn sie am Straßenrand unter den Bäumen gegangen wäre,
hätte das wenig genützt, so dick troff das Wasser von den Blättern.
So ging sie, im Schwarzen und Wehenden und Nassen, die Blitze fuhren. glühend
herab, und das Wasser schwamm ihr übers Gesicht, es waren auch Tränen
dabei. Und wenn es die Wahrheit war, was sie, und sonst nichts, dem Mann
in Plenning sagen wollte: daß sie zu sterben begehre! – nun, der
Tod war über ihr, in Feuergestalt, und vielleicht kam er, wenn man
ihn rief, und sie rief ihn, freventlich.
Sie schloß die Augen, faltete die
Hände vor der Brust, ging wie eine Blinde, mit den suchenden Tritten
einer Blinden, und noch durch die herabgelassenen Lider drang das Feuer
der Blitze. Sie war fromm, und dem Glauben ihrer Kindheit treu geblieben,
und nun war ihr, sie sei auf einer Wallfahrt, wie schon manchmal, um Erhöhrung
zu erflehen. Laut begann sie zu beten, in einem eintönigen Singsang,
in dem Ton, wie Wallfahrer beten, die immer gleichen Worte wiederholend,
eine lästerliche Litanei: Komm, Blitz! Komm, Tod! Komm, Sarg! In einer
Verzweiflung, in die sich süße, einschläfernde Lust mischte,
betete sie so. Kindisch wars, fühlte sie, was sie tat, und fühlte,
daß sie sich in ein Spiel geflüchtet hatte, das sie so ernst
nahm, wie Kinder es ernst nehmen, wenn sie Taufe oder Begräbnis spielen,
und Schein und Wirklichkeit nicht mehr auseinander zu halten wissen.
Komm, Sarg! sagte sie eben wieder, da brach,
von einem nahen Blitz ein Schmettern nieder, daß sie wankte. Sie
öffnete die Augen. Vor ihr, am Straßenrand, lag ein weißer
Holzsarg, und das Wasser rann an ihm herab. Der Zufall, der alte Possenreißer,
hatte sich wieder einmal einen guten Spaß ausgedacht, nicht minder
lehrhaft er, als der Mann in Plenning und mit ihm im Bunde. Jetzt verschob
sich der Sargdeckel, und ein Gesicht hob sich über den Sarg: der darin
lag, hatte sich aufgerichtet. Er rührte die Lippen, sie sah es, aber
was er ihr zurief, verstand sie nicht – vielleicht, daß er ihr seinen
Platz abtreten wolle um selber ins Leben zurück zu gehen, mit ihr
zu tauschen, und gerne! Und wie Kinder nicht allzu erstaunt wären,
wenn der Täufling, die Puppe, sich regte, über die sie das Taufwasser
gießen, oder die tote Puppe sich leichenkalt anfühlte, die sie
ins Heugrab legen, so wunderte sich Barbara nicht über den Sarg, den
sie herbeigefleht hatte. Ein Lächeln warum ihren Mund, als sie ihr
Herz aussetzen fühlte, und sie auf die Straße niedersank, zu
sterben, wie sie meinte, um das Spiel ganz so zu Ende zu spielen, wie sie
es begonnen.
Der Schreiner von Plenning, der den von
ihm gehobelten Sarg zur Bahn hatte bringen wollen, und vor dem Regen Schutz
in dem Holzgehäuse gesucht hatte, und erschrocken war von dem gewaltig
nahen Donnerschlag, hatte den Deckel gehoben und ihr zugerufen: der Blitz
muß aber ganz nah eingeschlagen haben! Nun stieg er vollends aus
dem Sarg und stand im schon nachlassenden Regen. Er blickte zum Himmel
auf, wo die Wolken durcheinander drängten und schon wieder Blaues
sehen ließen, sah von dem Sarg, der neben dem Schubkarren lag, verständnislos
und furchtsam hin zu der im Straßenschmutz hingestreckten Frau, und
sah von Plenning her einen Mann mit aufgespanntem Schirm schnell sich nähern,
und war seinem Schicksal nun doch nicht entkommen, das es gewollt hatte,
daß er an diesem Sommernachmittag vom Gewitterregen durchnäßt
werde.
Der Mann mit dem Schirm fmg zu laufen an,
als er die Gruppe auf der Straße sah. Er warf den Schirm von sich,
aufgespannt, wie er war, und der Wind trug ihn ein paar Meter in das Feld
hinein. Dann kniete der Lehrer von Plenning neben der bewußtlosen
Frau, und sah, daß sie atmete, und es war ihm auf einmal, daß,
wer recht und wer unrecht habe in ihrem ersten Liebeszank, nicht so leicht
und so scharf auseinanderzuhalten war, wie er sichs eilig gedacht. Er schob
den Arm unter Barbaras Nacken und richtete sie halb hoch, und als sie die
Augen öffnete, sah sie ein geliebtes Gesicht, da schloß sie
die Augen gleich wieder.
Der Schreiner half mit, so hoben sie die
Liegende, daß sie stand. »Der Blitz hat sie nicht getroffen.
Es war nur der Schrecken«, sagte der Schreiner. »Das Gewitter
ist vorüber«, sagte er, und sagte: »Ich hole Ihren Schirm«,
und ging, es zu tun, und ließ die Frau allein im Arm des Mannes.
Und dann sagte Barbara dem Mann etwas, aber es war nicht das, was ihm zu
sagen sie gekommen war.
Das Erbbegräbnis am Lech
Ein schöner Tag wars und sommerlich heiß.
Blau und seidig war der Himmel, hoch stieg vor ihnen der Berg hinan, andere
daneben. Die beiden waren gern und nicht zum erstenmal auf der Landzunge,
die sich in den Lech hineinschob, eine Insel fast wars, voll Gestrüpp.
Die Brennesseln eiferten, das ganze Stück Land sich untertan zu machen,
halb gehörte es ihnen schon. Die andere Hälfte gehörte den
gelben Königskerzen. Der Fluß rauschte wild vorbei, über
Steinblöcke schäumend. Sie hatten einen schönen Blick in
das Tal hinein, grün, grün war es, von fern blitzte wie Gold
das Kreuz der Dorfkirche. Im Wirtshaus daneben wohnten sie zur Sommerfrische.
Und das Wasser sang, sang, und Forellen waren im Lech - hin und wieder
sprang eine. Herrlich war die Einsamkeit hier, ein verwildertes Paradies.
Die Frau hatte einen Zeichenblock auf den
Knien, sie saß auf einem Klappstuhl und zeichnete. »Königskerze
und Brennessel«, sagte sie, »soll das Blatt heißen.«
Steil und königlich stand die Kerze, die Brennessel brannte: auf dem
Blatt war es noch einmal zu sehen. »Ach«, sagte die Frau, »für
immer möcht ich hier bleiben!« Sie war nicht groß, nicht
klein, mager, mit einer scharfen Vogelnase, und trug ein weißes Leinenkleid,
und ein Strohhut beschattete ihr Gesicht. Der neben ihr, der Junge, hochaufgeschossen,
war in der Badehose, und man sah seine mageren Rippen. Das Vogelgesicht
hatte er von der Mutter, der Dreizehnjährige. Sein Vater, ach, der
Vater - die Eltern lebten getrennt, wo mochte der Vater jetzt sein? Der
Junge sah ihn nur zu kurzem Besuch, hie und da einmal. Dann gingen die
Eltern seltsam miteinander um, sehr höflich, voll Behutsamkeit, als
könnte manches wehtun. Der Junge hing an seinem Vater und mußte
merken, daß der immer gern wieder ging, kaum, daß er gekommen
war.
Er dachte jetzt an ihn, ihn herbei wünschend.
Die Frau nicht. Sie sah nur die Königskerze. Der Vater hatte den Urlaub
bezahlt, wußte der Junge, und schickte auch sonst Geld. Bekümmert
sah er die Mutter an. Wer versteht die Großen? Er schnitt sich mit
dem Taschenmesser ein Stöckchen von einer verkümmerten Weide.
Zeichnen ist ihr das liebste, dachte er, daheim in der Werkstatt, in der
sie auch wohnten, mit seinem Schlafkämmerlein daneben, hingen viele
Blätter, ungerahmt, mit Reißnägeln an den Wänden befestigt.
Sie zeigten auch nackte Menschen. Er zog seine Badehose höher. Ach,
die Mutter - über dem Zeichnen vergaß sie alles! Alles sieht
sie scharf an, dachte er, aber die Unordnung daheim sieht sie nicht. Wenn
er dann aufzuräumen begann, lachte sie nur. Sie ist eben großzügig,
dachte er entschuldigend. Er liebte seine Mutter. Sie erzog ihn nicht,
aber er versuchte, sie ein wenig zu erziehen. Eine schwarze Hummel sauste
gegen seine Brust und entfernte sich ärgerlich. Die Brennesseln brannten
in grünem Feuer. Die Mutter war fertig mit der Zeichnung und hielt
ihm das Blatt hin und er sagte gehorsam: Schön! Sie sagte: »Verstehst
du denn was davon?« O, er hatte schon einen Blick dafür, was
schön war! Aber er wollte es nicht zeigen, und wollte nicht zeigen,
daß er seine Mutter bewunderte. Ihr nicht. Gegen andere rühmte
er sie.
Sie nahm den Strohhut ab und legte ihn
ins Gras und sich daneben und sah zum Himmel auf. »Dein Kleid wird
Grasflecken bekommen«, sagte er. »Sei nicht fad und schimpf
nicht«, sagte sie, »nach getaner Arbeit ist gut ruh».
« Alles ringsum dampfte Kraft und Lebenslust und drängende Fülle
- er sah es auch, und empfand es auch, aber er wollte es nicht zugeben.
Er hatte auf einmal Sehnsucht nach der sauberen Wirtsstube, drunten, im
Dorf, mit den weiß gescheuerten Tischen. Und da sagte die Mutter
und räkelte sich: »Herrlich ist die Wildnis hier! Ach«,
sagte sie, »hier möcht ich begraben sein! Was meinst du«,
sagte sie, »Karl, wir kaufen das Stück Land, es kann nicht teuer
sein, und errichten uns ein Erbbegräbnis. « Geradezu sehnsüchtig
klang es. Da stiegen Tränen in seine Augen. Er sah die unaufgeräumte
Werkstatt vor sich, und das Mittagessen kam zu spät auf den Tisch,
und der Vater war so selten da, und seine Stimme zitterte, als er sagte:
»Nein, nein, Mutter! « Er schlug mit seinem Stöckchen
in die Brennesseln, daß die grünen Funken stoben und sagte:
»Ich möchte auf einem richtigen Friedhof begraben sein, wie
andere Leute auch!« Er dachte an einen Dorffriedhof, wo sie gestern
gewesen waren, Grabstein neben Grabstein, in schnurgeraden Reihen, mit
genauen Inschriften, Geburtstag und Todestag, und Blumen davor, und abends
läutete die Glocke der Friedhofskapelle. Er sagte: »Ich möchte
ein ordentliches Grab haben, wenn ich schon einst sterben muß! «
Er sagte es mit dem Ton, als glaube er nicht recht daran, daß auch
er sterben müsse. Die weißgekleidete Frau lachte und sagte:
»Gib mir einen Kuß! « und er küßte sie und
fühlte, daß er sie sehr liebe, und sie ihn auch.
Drucknachweise und Anmerkungen:
S. 204 Der Bock
Eine Esau-Geschichte aus der Zeit des Verlachten Hiob ist der
»Bock«. Britting griff in seiner expressionistsichen Periode
nicht als einziger biblische Motive auf, vor allem Figuren des Alten Testaments,
die sich episch behandeln ließen.
Eine erste Fassung der Erzählung von 1923 aus dem Simplicissimus
ist in Bd. 1,
S. 232, abgedruckt; eine erweiterte gab Britting 1927 der Vossischen
Zeitung (siehe dazu Bd. 1., S. 644).
Dreißig Jahre später bot Britting den nochmals leicht
veränderten Text der Zeitschrift Akzente an:
Britting an Höllerer (17.1.1957):
das beiliegende kleine Phantasiestück ist nicht die schon ein
paarmal angekündigte Prosa von mir. Die folgt später [gemeint
ist vermutlich Eglseder; Anm. d. Hg.]. Wenn Ihnen der ›Bock‹ nicht
zu leichtgewichtig erscheint - bitte. Bei Mißfallen bitte zurück!
Ihrem Urteil vertrauend.
E: Akzente, 4. Jg., Heft 3, 1957, S. 220.
D1: Süddeutsche Zeitung, Nr.172,19.
7.1958, u. d. T. Der Bock des Esau.
D2: E II, S. 226.
S. 208 Der Gang durchs Gewitter
In einer frühen Fassung zuerst abgedruckt in: Deutsche Allgemeine
Zeitung, Nr. 205 vom 4.5.1930, u. d. T. Sarganekdote (Bd. 3/2, S. 377,
siehe dazu auch Bd. 3/2 S. 504).
E: Süddeutsche Zeitung (SZ im Bild), Nr.19,13. 5.1950, u. d. T.
Das Gewitter.
D1: Lahrer hinkender Bote. Neuer historischer
Kalender für den Bürger und Landmann auf das Jahr 1951. S. 103-106,
u. d. T. Das Gewitter.
D2 Rheinischer Merkur, Nr. 20,16.5.
1952, S. 9.
D3: E II, S. 236.
S. 213 Das Erbbegräbnis am Lech
Zu der Kurzprosa, die Britting zwischen 1926 und 1928 fier den Simplicissimus
verfaßte, gehörte der unter dem Titel »Das Begräbnis«
erschienene Text. Auch ihm liegt eine wahre Begebenheit zugrunde: Die darin
erwähnte Malerin gehörte zu Brittings Bekanntenkreis. (Bd. 1,
S. 255.)
E: Süddeutsche Zeitung, Nr. 32, 12.8.1950.
D1: Münchner Merkur, 8/9. B. 1959
u. d. T. Die unordentliche Künstlerin.
D2: Anfang und Ende, S. 35.
S. 216 Im brennenden Feuerofen
Eine frühere Fassung erschien 1930 in der Münchner Illustrierten
Presse u. d. T Über die Schnelligkeit. Zwei Erinnerungen. Eine davon
wesentlich abweichende Fassung wurde zum erstenmal 1941 publiziert. (Bd.
3/2, S. 373, siehe dazu auch Bd. 3/2 S. 503.)
E:Völkischer Beobachter, Nr. 75,16.3. 1941, u. d.T. Im
feurigen Ofen.
D1: Krakauer Zeitung, Nr. 255, 4. 10.
1944,. u. d. T. Von der Schnelligkeit.
D2: Anfang und Ende, 1967, S. 66.