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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Ingeborg Schuldt-Britting
Aus: »Erzählungen,
Bilder, Skizzen«
..
Diese
Erzählung liegt, von Britting gesprochen, als CD
1 vor.
Der Leiter
eines großen Unternehmens, der Geheimrat Zet, ein behäbiger
Sechziger mit großem rundem Gesicht, stattlich und breitschultrig,
ein Mann, zu dem der schwarze Schoßrock und der hohe, steife Hut
gut paßten, hatte nicht nur zu planen und zu werken hinterm Schreibtisch,
ihm oblag auch, wie sich das versteht, die Pflicht, bei feierlichen Anlässen,
traurigen und heiteren, Ansprachen zu halten, das Wort zu ergreifen, wie
die Zeitungen hernach in ihren Berichten zu schreiben pflegten. Am häufigsten
traf es sich, daß er bei Beerdigungen ein paar teilnahmsvolle Sätze
zu sprechen, einen großen Kranz mit schwarzen, wehenden Flügelschleifen
am Grab niederzulegen hatte.
Wenn das Wetter gar zu
schlecht war, wenn vom Himmel der Regen niederfiel in ein offenes Grab,
und um das Grab standen viele schwarze Männer und Frauen und hatten
viele schwarze Schirme aufgespannt, auf die der Regen trommelte - so waren
sie immerhin vor der schlimmsten Nässe geschützt, nur in das
Grab fiel der Regen ungehindert - wenn das Wetter dann also gar zu schlecht
war, und er hatte seine kleine Rede gehalten, der Geheimrat Zet, und hatte
seinen großen Kranz niedergelegt, und war wieder zurückgetreten
in den Kreis der Trauergäste, so verstand er es vortrefflich, jede
Gelegenheit wahrzunehmen, sich in die zweite und dritte Reihe der Zuschauer
zu schieben, unmerklich, ganz wie zufällig, bis er der hinterste und
allerletzte Mann war und nur mehr schwarze Rücken vor sich sah. Dann
wandte er sich, dann ging er mit raschen, freien Schritten durch die Gassen
der fröstelnd nassen Grabsteine, dahin zwischen weißen Marmorengeln
und gelben Säulen, zum Friedhofsausgang, stieg in seinen Wagen, setzte
sich in den Polstern zurecht, und fand es doppelt warm und gemütlich
mit seinem Dach über sich, wenn er sich erinnerte, daß noch
immer viele schwarze, nasse Schirme über einem offenen Grab schwankten.
Diese Geschicklichkeit,
vor Beendigung von Feierlichkeiten sich davon zu schleichen, und das brauchten
nicht immer nur Beerdigungen zu sein, und es brauchte auch nicht immer
gerade zu regnen, bildete er immer kunstvoller aus, und die am nächsten
Beteiligten, die trauernden und die jubelnden, merkten fast nie seine frühe
Flucht. Die merkten nur Männer in wichtigen, öffentlichen Stellungen,
die, wie er auch, gezwungen waren, viele Freudenfeste und Trauerversammlungen
mitzumachen - die merkten es, mit Mißbilligung manche, die neidisch
waren auf diese seine füchsische Gabe, andere mit Freude über
seine Schlauheit, die sie bewunderten.
Aber dann kam einmal der
Tag, da schwankten wieder viele schwarze Schirme über einem offenen
Grab, und im offenen Grab und vernagelten Sarg lag der Geheimrat Zet, weit
über die Siebzig nun, und sein Gesicht war noch rund, aber nicht mehr
rot wie ehedem, und er lag im Sarg, wie wir alle einmal im Sarg liegen
werden. Der Regen fiel, unter den Schuhen der Trauergäste platschte
der klebrige Lehm und schrie auf, wenn der Schuh sich hob, schrie boshaft
auf, weil er den Schuh loslassen mußte, und Reden wurden gehalten,
kurze und lange, gute und schlechte, und Kränze häuften sich
über dem Grab, und die Feier nahm kein Ende, und wenn ein Windstoß
ging, fand der Regen trotz der Schirme seinen Weg in die Gesichter.
Einer, der oft den lebenden
Geheimrat Zet hatte in solcher Stunde fuchsschlau entwischen sehen, einer,
der den großen, schweren Mann gern gehabt hatte, legte die Hand im
schwarzen Leder vor den Mund und flüsterte lächelnd und mit einem
sonderbaren Zucken um die Augen seinem Nachbarn mit einem Kopfnicken auf
das offene Grab hin zu: »Heut muß er aber bis zuletzt da bleiben!«
Wahrhaftig, heut blieb
er bis zuletzt, der Geheimrat Zet, trotz der vielen Reden und des vielen
Regens, aber ein guter Sarg ist besser als der beste Schirm, und Regen
und Reden gleiten von ihm ab.
Drucknachweise und Anmerkungen:
S. 220 Der gemalte Sommer
In einer frühen Fassung in
Bd. 3/2, S. 420, u.d.T. Der gemalte Blitz.
Der Text wurde in verschiedenen
Fassungen in diversen Zeitungen veröffentlicht (siehe dazu auch Bd.
3/2, S. 512).
E: Krakauer Zeitung, Nr. 118, 24.5.1941,
u. d. T. Der gemalte Blitz. D: Anfang und Ende, 1967, S. 76.
S. 223 Der Geheimrat Zet
Über diese kleine überaus
erfolgreiche Prosa schreibt Britting am 13.11.1950 an Jung:
ja, der alte ›geheimrat zet‹, vor
25 jahren schrieb ich ihn, seitdem ist er wohl an die 8o bis hundertmal
gedruckt worden, unter den verschiedensten überschriften, zum erstenmal
in der »frankf. ztg.«[die sie im Jahr 1956 wieder druckte]
solcher kleiner »schlager« hab ich noch mehr, das ›bosn.mahl‹
[vgl, Bd. 2, S. 386] gehört dazu, die immer wieder an den mann zubringen
sind. sie bringen mir jedes jahr ein paar tausend mark ein. sie gehören
zur finanziellen grundlage meiner existenz. und haben mir schon mehr geld
verschafft, als meine sämtlichen bücher zusammen. ich sagte ihnen
schon, daß ich mich bemühe, diese kleinen betrachtungen und
anekdoten auf einem niveau zu halten, dessen ich mich nicht zu schämen
brauche.
In einer frühen Fassung u.
d. T. Der Flüchtling in Bd. 3/2,
S. 402. E:Völkischer Beobachter, Nr. 336, 31. 12. 1940.
D1:
Krakauer Zeitung, N. 31,10. 2.1941.
D2:
Die Deutsche Anekdote, Hg. Karl Lerbs, Berlin: Knaur,1943, S.49I-493.
D3:
Badische Zeitung, 16. 11. 1950.
D4:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5./6.11. 1956,
u.d.T. Der schlaue Herr Geheimrat.
D5:
Münchner Stadtanzeiger, Nr. 22, 29. 5. 1964.
D6:
Anfang und Ende, 1967, S.16.
S. 225 Die Antwort
Für diese Anekdote gilt ähnliches
wie für den »Geheimrat Zet«. In einer frühen Fassung
u. d. T. Anekdote in Bd. 1, S. 319.
E: Krakauer Zeitung, Nr. 20, 27.
s. 1941.
D1:
Straßburger Neueste Nachrichten, 22.2. 1941.
D2:
Die Deutsche Anekdote, Hg. Karl Lerbs, Berlin: Knaur,1943, S. 489-491.
Druckvorlage: Zeitung von 1941
aus der Nachlaßmappe Brittings.
S. 227 Lob der Stadt Passau
In einer ersten Fassung u. d. T.
Passau
und der alte und junge Lautensack in Bd. 1, S. 222, siehe hierzu Bd.1,
S. 643.
E: Anfang und Ende, 1967, S. 113.
S. 231 Frau Holderlein
E: Münchner Tagebuch, 4, Nr.
9, 4.3.1949, S. 4-5.
D1:
Schwäbische Landeszeitung, Nr. 39,1.4- 1949.
D2:
Münchner Illustrierte, z. 6. 1951, u. d. T. Kein indisch Weib (gekürzt).
D3:
Anfang und Ende, S. 9.
»Frau Holderlein« geht
auf eine Patientengeschichte zurück, die der Arztfreund Kiefisaber
Britting erzählte. Bei Hohoff (vgl. S.169) heißt Kieshaber Atzinger
und kommt etwas schlecht weg. Die Freunde nannten ihn spaßeshalber
einen Bauerndoktor, denn seine Praxis lag in München-Giesing, einemVorstadtviertel;unter
seinen Patienten gab es noch manche Originale, über die Kiefhaber
stets berichtete. Er war ein guter Geschichtenerzähler, kam bei gewissen
Themen leicht ins Schwärmen, was die Freunde dann an ihm rügten.
Britting gab in der Erzählung »Tausend Rehe« dem Eiergroßhändler
Franz einiges von seinen Zügen.
Von der Erzählung »Frau
Holderlein« gab es verschiedene Fassungen. Als der Nachlaßband
»Anfang und Ende« erschienen war, stellte es sich heraus, daß
Jung noch eine andere Version besaß, die den Herausgebern nicht bekannt
gewesen war. Georg Jung schrieb am
10. 4. 1967 an Ingeborg Britting:
Was für eine Vorlage
oder besser Version der »Frau Holderlein« haben Sie und Podszus
dem Druck zugrunde gelegt? Ich besitze eine viel längere Fassung der
»großartigen Erzählung«, wie Hohoff [vgl. S. 428]
sie nennt und zwar in Maschinenabschrift, die Britting mir einmal schickte.
Dazu eine Briefstelle, nicht aus dem Begleitbrief, der mir eben nicht zur
Hand] ist, vielleicht gibts den gar nicht, viehnehr eine frühere Stelle,
vom 21.9.50:
»die seidene sibylle
leg ich bei, sie ist noch nicht fertig, ich möchte sie etwas ausbauen
und eine runde geschichte draus machen und hab schon' eine vorstellung
davon.« `
Aber unten in einer Nachschrift
heißt es: »nun kann ich ihnen die sibylle doch nicht senden,
ich hab nur mehr einen abdruck, und möchte ihn nicht aus der hand
geben.«
Später kam dann die oben erwähnte
»ausgebaute« Fassung, neun Schreibmaschinenseiten. Nun würde
ich gar zu gern wissen, ob Britting diese später verworfen und radikal
gekürzt hat, oder ob Ihnen nur diese vorgelegen hat. Ich gebe nur
zwei Beispiele fiür die Erweiterungen: die Schilderung der Silberhochzeit
enthält den Zusatz:
»Einmal stahl sich Herr Holderlein
von derTafel fort. Er ging in den Stall, atmete tief die Luft ein, und
tätschelte den Rotfischs, der ihm entgegen gewiehert hatte, und schüttete
ihm ein Schaff Haber vor: er sollte auch was haben vom dem Festtag.«
Es fehlt auch in der Buchfassung
der schöne Absatz, in dem geschildert wird, wie Herr Holderlein die
Pferderennen besucht, die einen bemerkenswerten Anklang hat an das späte
Gedicht vom Pferderennen, die alkäische Ode »Auf der Rennbahn«.