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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung
Aus: »Erzählungen,
Bilder, Skizzen«
Der Nachtfalter
Ein Zug
fuhr durch die Nacht, es war in England, um die Jahrhundertwende. Der Zug
sollte nach London, und er kam auch hin, aber viel später, als der
Fahrplan es vorsah, drei Stunden später, doch die Reisenden murrten
nicht darüber.
Die Nacht war voll Nebel,
und wer von den Reisenden nicht schlief, und hie und da einen Blick durchs
Fenster warf, konnte sehen, wie draußen die grauen Schleier gespenstisch
vorüber wehten. Der nicht schlief, der Lokomotivführer, sah es
auch, und sah es nicht gern, wie es über den Schienen wirbelte und
wogte. Er minderte die Fahrtgeschwindigkeit, und sagte zu seinem Heizer,
daß dies Wetter der Teufel zusammengebraut haben müsse, und
der Heizer war nicht andrer Meinung. Wachsam voran spähend, seine
Griffe und Hebel vor sich, erblickte der Lokomotivführer auf einmal,
und wollte fast seinen Augen nicht trauen, wie man so zu sagen pflegt,
eine große, schwarze Gestalt, mitten auf dem Geleis, die heftig die
Arme schwenkte, wie eine Windmühle ihre Flügel.
Ein tapferer Mann das,
so schoß es dem Lokomotivführer durch den Kopf, der sein eigenes
Leben gefährdete, das Leben anderer zu retten, es konnte auch eine
Frau sein! Aber ob Mann oder Frau, darüber machte sich der Lokomotivführer
natürlich nicht lang Gedanken, er riß an den Bremsen, und schleifend
und knirschend kam der Zug zum Stehen. Er sprang von der Maschine, ihm
nach der Heizer, und beide riefen in den Nebel hinein, was denn sei, aber
niemand antwortete ihnen. Schon kamen die Schaffner und Zugführer
herbei gerannt, und kletterten die ersten Reisenden aus ihren Abteilen,
und näherten sich, in der Nachtkühle fröstelnd. Nichts aber
rührte sich im Nebel vor dem Zug. Sicher ist sicher! sagte der weißhaarige
Zugführer, und befahl, daß einer der Schaffner mit der Laterne
eine Strecke auf den Schienen vorwärts gehen solle, zu erkunden, ob
alles seine rechte Ordnung habe. Der ging, und kam bald wieder zurück,
laufend diesmal, und atemlos keuchend berichtete er, tausend Meter voraus
sei die Brücke, die dort über einen Fluß führte, eingestürzt.
Das heißt, sagte er, nicht die ganze Brücke, so weit er es habe
sehen können im Nebel, aber der vorderste Pfeiler.
Die Zahl der Reisenden
bei der Gruppe der Eisenbahner hatte sich vergrößert, und als
sie hörten, was sich ereignet hatte, erbleichte mancher von ihnen,
und versuchte sein Zittern zu verbergen, und auch den Eisenbahnern wurde
es eng ums Herz. Aber sie ließen sich erst recht nichts anmerken:
sie waren ja im Dienst, und hielten sich mannhaft wie Matrosen, deren Schiff
in Seenot geraten ist. Gleich wurden Boten nach der nächsten Ortschaft
geschickt, damit man von dort, mit dem Fernsprecher, überallhin den
Brückeneinsturz melde, daß nicht andere Züge unerwartet
ins Verderben führen. Das gab nun, läßt sich denken, einen
ziemlichen Wirrwarr auf der Strecke, Züge mußten angehalten
und umgeleitet werden, und inzwischen war es Tag geworden und auch der
Nebel begann sich zu lichten. Ein Vermuten hob an, wer der Warner gewesen,
und wohin er gegangen, und warum er gegangen, und eine zartfühlende
Frau glaubte auch den Grund zu ahnen: er sei, als er die Bremsen knirschen
hörte, vom Bahndamm gesprungen und habe sich in die Nacht hinein lautlos
entfernt, um sich den Danksagungen und einer Belohnung zu entziehen, ein
Edelmann, wenn vielleicht auch im Bauernkittel!
Erst als der Zug in London
ankam, wurde man des Rätsels Lösung inne. Auf der Scheinwerferlampe,
ein Putzer entdeckte es, klebte ein mächtiger, toter Nachtfalter.
Das Tier war von dem Licht der Lampe angezogen worden, und mit wildschlagenden
Flügeln hatte es, schon sterbend, versucht sich zu befreien. Den Schatten
seiner Bemühung, der sich riesengroß und schwarz auf der Nebelwand
abzeichnete, hatte der Lokomotivführer
für einen warnenden Menschen gehalten. So segensreich kann es sein,
sich zu irren! Und die zartfühlende Frau hatte zu hoch gegriffen mit
ihrer Mutmaßung - es wird ihr nicht zum erstenmal so gegangen sein!
Männern, auch Frauen,
die sich auszeichneten im Leben, im Krieg, oder im Frieden, setzt man Denkmäler,
sie zu ehren. Ein Denkmal nun setzte man dem Nachtfalter nicht. Aber er
hängt, aufgespießt auf seidenem Kissen, unter Glas an der Wand
des Britischen Museums in London, und eine Tafel darunter berichtet von
seiner Rettungstat. So wenigstens hat man es mir erzählt, und ich
habe keinen Grund, es nicht zu glauben.
Drucknachweise und Anmerkungen:
S. 268 Der Nachtfalter
E: Echo der Woche, 28.4. 195o, u. d. T. Ein Zug wird gestoppt.
D: Frankfurter Neue Presse, 18. 12. 1957.
Der Text wurde noch mehrfach veröffentlicht, auch unter dem in
E genannten Titel.
Druckvorlage:Typoskript im Nachlaß.
S. 271 Komödiantengeschichte
E: Süddeutsche Zeitung, Nr. 237,13. io. 1951,
u. d. T. Der Latwergenhändler und seine Truppe. Britting
an Jung am 1.2.1952:
ich habe noch eine ziemlich tolle geschichte geschrieben, sie erscheint
im sommer in der zeitschrifi »story«: ich schicke sie ihnen
dann. die ›story‹ rühmt sich, die besten kurzgeschichten der welt
zu bringen.
D1: story 7, die welt erzählt,
Heft 12,1952, S. 49-52.
D2: Die Zeit, Nr. 29, 22.7. 1954, S.
4.
D3: Christ und Welt, Nr. 4t, 13. io.
1961. Da: Anfang und Ende, S. 52.
Den Stoff hat Britting aus Buchner* bezogen.
Dort heißt es in der Vossischen Zeitung, Berlin, 1753, Nr. 63:
Zu Honfleur in der Normandie, an der Seine gelegen, und die wegen des Stockfischfangs bekannt ist, hat sich unlängst folgende Begebenheit zugetragen. Eine Bande Comödianten, wenigstens gaben sie sich davor aus, deren Haupt ein Mithridatkrämer" war, führten daselbst verschiedene lustige Stücken auf. In einem von ihren Lustspielen wurde der Arlequin, entweder aus Versehen oder mit Fleiß, von einem seiner Cameraden auf dem Theater erstochen. Da nun der dasige Geistliche ersucht wurde, den todten Arlequin begraben zu lassen, schlug er solches, ohne weitere Vorstellungen anzuhören, ab. Die Comödianten bedienten sich hierauf des Rechts, welches das Parlement allen denen gegeben hat, welchen die Priester die Sacramente oder andere geistliche Pflichten verweigern, und verklagten den Priester bey den weltlichen Gerichten. Weil sich aber der Priester nicht daran kehren wollte, die Comödianten aber besorgen mußten, daß der Körper ihres lieben Cameraden bey längerer Verzögerung des Prozesses einen üblen Geruch von sich geben dürfte, so mußten sie auf ein Mittel bedacht seyn, sich den Körper vom Halse zu schaffen. Unter ihrer Bande befand sich einer, der ein weniges von der Chirurgie verstand, dieser wollte die Eingeweide heraus nehmen, und ihn hernach einsalzen, durch welches Mittel er den Körper bis zur ausgemachten Sache für der Fäulung zu verwahren meinte. Um aber die Kosten zu ersparen ordinäres Salz zu kaufen, hohlte er das Salz, welches von dem eingesalzenen Stockfische herabfällt, wenn er aus den Schiffen ausgeladen wird, und welches als Contrebande angesehen wird. Da nun der comische Chirurgus nicht wuste, daß dieses Salz verboten sey, und seine Operation bereits damit vorgenommen hatte, kam ein Salzbedienter mit der Wache, ihn in Arrest zu bringen; die Bande Comödianten aber stellte Sicherheit für ihn. Dieser Zufall zog den Comödianten einen neuen Proceß von den Salzbedieneten auf den Halß. Bey diesen Streitigkeiten wußten sie nun kein ander Mittel zu ergreifen, als sie machten banquerot, und reisten heimlich davon. Der eingesalzene Arlequin blieb, weil er ihnen nicht folgen konnte, in den Händen des Salzbedienten, der sich seiner gleich bemächtigt hatte.Weil nun derselbe keine Nachricht erhalten konnte, wo die Comödianten hingekommen, so hat er nunmehr einen Proceß mit dem Priester angefangen, warum er den Arlequin nicht begraben wollen. Der Priester bleibt bei seiner Weigerung, und der Salzbediente ist genöthiget worden, den armen Arlequin in die Seine werfen zu lassen.* Eberhard Buchner – Das Neueste von gestern – Kulturgeschichtlich interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen. Dritter Band 1750 – 1787. Albert Langen, München 1912Paris, dem 11. May: