Drucknachweise und Anmerkungen InterpretationFrankfurter Anthologie lieferbare Ausgabe: Georg Britting Taschenbuchausgabe
Seite 12 |
Georg Britting |
Zellen
aus dem Buch der Natur
.....Von
einem Vorfrühlingsgedicht erwartet man Zartes, Ahnungsvolles,
gewissermaßen
etwas Hofmannsthalisches, erfüllt von "seltsamen Dingen". Georg
Brittings
Gedicht ist eher von derber Art - auf merkwürdige Weise so einleuchtend
wie rätselhaft, gegenständlich wie abstrakt, klar gebaut und
dennoch irritierend. So fragt man sich nach dem Lesen, ob man verstanden
hat, und liest aufs neue. Vom Lesen spricht auch das Gedicht selbst. Es
leitet uns an, ja buchstabiert uns seinen Sinn ein Stück weit vor.
Der Text beginnt
sozusagen
mit Textilem, mit dem grauen Himmelstuch für seinen Prospekt. Doch
erst der blaue Riß ergibt die richtige Beleuchtung. In diesem
plötzlichen
Licht wird die Welt lesbar: „Aufgeschlagen wie ein Buch / Liegt der
Acker.“
Der Reim hat die entfernten, doch insgeheim verwandten Dinge zueinander
gebracht, das „Himmelstuch" und das „Buch“. Nur existiert das Buch
vorerst
auf einer minderen Wirklichkeitsebene: auf der des Vergleichs. Aber
ebendies
reizt den Dichter zu den nun folgenden liebevoll
ausgeführten
Vergleichungen;
und da er ein geschickter Pädagoge ist, macht er uns zu Eingeweihten,
zu denen, „die zu lesen wissen“. Da lesen wir denn im Buch des Ackers
den Text mit dem emphatischen Titel „Frühling!“. Aber was wir lesen,
ist vor allern das Gesetz, die Ordnung der Lektüre. Mehr das Wie
als das Was. Die Folge der aufgepflügten Ackerschollen ist
wie eine gebrochene Schrift, in der Buchdruckersprache also eine Fraktur.
Die Ackerfurchen, landläufig „Zeilen“ genannt, sind wie die
Zeilen von Versen. Am Ende der Ackerzeilen wird der Pflug gewendet, und
von diesem Wenden (lateinisch vetere) kommt der Vers.
So ackert hier der
Dichter
auf dem Feld bekannter Vorstellungen. Doch einmal im Zuge, erweitert er
seine Landschaft um die Elemente der Zeichensetzung. Und da das
vergleichende
„wie“ schon fast vergessen ist, sind die Pappeln nun wirklich
Ausrufzeichen
und markieren „Tümpel, die ein Lichtstrahl trifft“, den Punkt. Der
beendet nicht bloß einen Satz, sondern einen ganzen Abschnitt, den
Buch-Vergleich. Würde das Gedicht hier enden, hätten wir ein
Stück: linguistischer Poesie: Dichtungung über Wörter. Sätze,
Sprache.
Doch Britting, der
Dichter
süddeutscher Landschaft; kann und mag hier nicht enden. Er will nicht
bloß den schönen Vergleich, er will die Phänomene der Welt
aufleuchten lassen. Und wie könnte er abbrechen, da er gerade eine
neue Strophe angefangen hat. Auf den „Punkt“, das typographische
Zeichen,
reimt sich das prunkende Vorfrühlingslicht, das die armselige Scheune
mit ihren „Bretterfüßen" zu einem lebendigen Wesen verzaubert.
Wo soviel Glanz ist, darf der Kontrast nicht fehlen: die Krähen als
grotesk-bedrohliche Geschöpfe, die Menschliches parodieren. Sie gehören
in Brittings Topographie. In einem späteren Gedicht schreiben sie
„ihre Hieroglyphen / In den Abendhimmel“. Und der Dichter, der nach dem
Sinn ihrer „Zeichen“ fragt, gesteht: „Hilflos sind wir vor der schwarzen
Schrift.“
Vielleicht ist es
Hilflosigkeit,
vielleicht eine etwas boshafte Laune, die zu der Aufforderung führt:
„Schlag in die Hand!“ Der Effekt - der Taumelflug der Krähen und ihr
spukhaft-bedrohliches Niedersinken - zeigt, was womöglich zu zeigen
war. Fressen und Gefressenwerden als Gesetz der Natur, dieses
Britting-Thema
wird auch hier angeschlagen. Es steht in Brittings Buch der Natur.
So las man's nicht
immer,
seit Augustin von den Zwei Büchern sprach, der Heiligen Schrift und
dem Buch der Natur. Nikolaus von Kues sagte: „Die Dinge sind die Bücher
der Sinne. In ihnen steht das Wollen der göttlichen Vernunft in
sinnfälligen
Bildern beschrieben.“ Und Goethe, schon vorsichtiger, formulierte in
seinem
„Sendschreiben“ 1774: „Sieh, so ist Natur ein Buch lebendig, /
Unverstanden,
doch nicht unverständlich.“ Dem späteren Dichter des „Irdischen
Tags“ (1935), darin „Vorfrühling“ figuriert ist sie nicht verständlicher
geworden.
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