Georg Jung
»Aufzeichnungen«
Eine Auswahl
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"Über Gedichte Georg Brittings"
Die beiden ersten Gedichtbücher Georg Brittings, sowohl der „Irdische
Tag" als auch „Raabe, Roß und Hahn", enthalten einige
Weihnachtsgedichte,
die aus demselben Geist entstanden zu sein scheinen wie die
Weihnachtsbilder
der alten Maler, namentlich Albrecht Altdorfers, seines Regensburger
Landsmanns
und Lieblingsmalers. Wie diese versetzten sie das heilige Geschehen
getrost
in die heimische bayerische Welt: der Josef auf dem Münchener Bilde
mit der heiligen Familie, der mit der bauchigen Flasche am Stock über
die Schulter und dem länglichen Brote unterm Arm heimkehrt, d. h.
in das Seitenschiff der Kirche, wo sich Marias Wochenstube befindet, ist
ein Bruder von Brittings Josef, der auf gut bayerisch flucht, ehe er
sich
auf den Bettelweg macht, um Brot und Milch aus dem Tal zu holen, und der
(in einem andern Gedicht) den bayerischen Janker trägt. Und nicht
anders verhält es sich mit der umgebenden Natur, der Landschaft: wie
jene Maler, wenn auch nicht mehr naiv wie sie, sondern mit bewußter
Künstlerschaft versetzt der Dichter die heiligen Vorgänge in
die vertraute heimatliche Landschaft: In der Scheune, mitten im
Föhrenwald,
mit Rabe, Eichhörnchen und Fuchs, kommt Maria nieder; auf einem Weg
durch schwarzen Fichtenwald, wo der Fuchs den Hasen jagt, geht Maria,
von
Josef, dem alten Mann, begleitet, mühsam durch den unter ihren Füßen
singenden Schnee, und der Zugwind, den die mächtigen Flügelschläge
des wegweisenden Engels erzeugen, beugt nicht die morgenländischen
Palmen, sondern die heimisch-vertrauten Haselbüsche und Weiden. In
dem einen der viele Jahre später entstandenen Weihnachtsgedichte ist
das Nordisch-Winterliche, das „Mitten im kalten Winter" unseres
schönsten
Weihnachtsliedes, noch viel stärker ausgeprägt: Um die Hütte,
in der der bäuerliche, schnauzbärtige Schreiner Josef „blasengelschlau"
ein „rots Feuer" gemacht hat, tobt der Schneesturm. Mit solchen
Wintergedichten
geht Britting über die deutschen Maler, in deren Bethlehem es grünt
und blüht, hinaus und nähert sich Brueghel, dessen Christgeburtsbilder
zugleich Winterbilder sind, auf denen der Winter nicht weniger gewaltig
und elementar erscheint als auf dem allbekannten Bilde in der Folge der
Jahreszeitenbilder.
Aber das andere der neuen Weihnachtsgedichte, „Es spricht der Hirt",
hat eine noch engere Beziehung zu Brueghels sehr eigener Art, das
Heilige
darzustellen. Das ganz Unvergleichliche und recht'eigentlich „Moderne"
des Brüsseler Bildes „Die Volkszählung zu Bethlehem" ist doch
neben der großartigen Idylle der vereisten und verschneiten Winternatur
mit den sich darin tummelnden Menschen, daß wie in keiner Malerei
sonst das Heilige nicht mehr Schwerpunkt und beherrschende Mitte des
Bildes
ist, sondern als Episode unter anderen erscheint: Der Blick des
Betrachters
wird durch die Komposition zunächst auf das am linken Bildrand stehende
Wirtshaus gelenkt, vor dem sich die Menschen als dem Ort, wo
offensichtlich
die „Schätzung" geschieht, zusammendrängen; er entdeckt erst
bei längerer Betrachtung des mannigfach reichen Geschehens auf diesem
echt epischen Bilde das heilige Paar: unauffällig wie jedes andere
zur Schätzung aufgerufene Ehepaar nähert es sich dem Orte; kein
Heiligenschein umgibt das Haupt Marias, einzig der blaue Mantel zeichnet
sie aus, und Josef ist vollends unscheinbar, durch nichts von der Menge
unterschieden. So anonym ist wohl von keinem der großen Maler das
Heilige dargestellt worden. Darum auch könnte das Bild nicht als
Altarbild
gedacht werden: der fromme Betrachter würde immer wieder abgelenkt
werden, nicht anders als vor dem Winterbild mit der Anbetung der Könige
(Sammlung Reinhart, Winterthur): auf ihm ist ebenfalls der heilige
Vorgang
nur ein Teil der epischen Fülle des Bildes, das auch ohne ihn durchaus
sinnvoll wäre.
In Brittings Hirtengedicht (1951) erscheint das Heilige in
merkwürdig
verwandter Anonymität und Unscheinbarkeit. Wäre nicht in den
Worten des Hirten die Rede von der Niederkunft im Stalle, und wäre
in ihm nicht die Zeile von „Schaf und Ochs und Stier", deren
volksliedhafter
Ton an den Stall von Bethlehem denken läßt, könnte man
kaum gleich erkennen, daß der so menschlich und hilfsbereit
Angesprochene
niemand anders als Josef und in der Zeile „Und gib ein Stück auch
ihr" Maria selber gemeint ist, die in der Tat in diesem seltsamsten und
nüchternsten aller Weihnachtsgedichte nur, „grammatisch" gesprochen,
im Dativ des persönlichen Fürworts erscheint.
Worin mag diese auffällige Übereinstimmung zwischen dem alten
Maler und dem Dichter unserer Zeit begründet sein? Es ist natürlich
bei Brittings starker Neigung zur Malerei und ausgebreiteten Kenntnis
ihrer
Werke sehr wohl möglich, daß ihn Brueghels Bilder angeregt haben
- es wäre nicht das erstemal, daß ein Funke von einer Kunst
auf die andere übersprang- es muß aber in diesem Falle in seinem
Gemüt, namentlich in seiner künstlerisch bildenden Phantasie,
eine Gestimmtheit vorhanden sein, solche Anregung aufzunehmen und fürs
eigene Schaffen fruchtbar werden zu lassen.
Doch ist die Annahme einer solchen Abhängigkeit von dem großen
Flamen nicht nötig. Es liegt in Brittings Wesen eine deutliche Scheu,
das Heilige unmittelbar zu nennen, und es entspricht diesem Wesen - und
natürlich auch seinem Realismus, seinem realistischen Sinn für
das Alltägliche, den er mit Brueghel teilt - daß er ein
Weihnachtsgedicht
schreibt, worin das Heilige wie ausgespart ist. Wo liegt der Ursprung
dieser
Scheu?
Er kann zwiefach sein: Ehrfurcht oder die Scham der Ehrlichkeit, den
Verlust des Christenglaubens hinter hohen Worten zu verbergen. Bei
Britting
müssen wir mit beidem rechnen: Kein Zweifel, daß Ehrfurcht in
seinem Wesen liegt, die Weltfrömmigkeit Goethes und Kellers, eine
Gesinnung, die auch vor religiösen Symbolen nicht versagt. Kein Zweifel
aber auch, daß dieser Sohn des katholischen Bayern längst nicht
mehr im überkommenen Glauben ruht: die beiden persönlichen
Weihnachtsgedichte
Brittings (wenn wir von der symbolischen Weihnachtsballade vom
„unverständigen
Hirten" absehen), das „Weihnachtslied der Zecher", im „Lob des Weines",
und die „Nacht der Erinnerung", dieses menschlich so ergreifende
Gedicht,
das in „Rabe, Roß und Hahn" dicht nebem den „objektiven"
Weihnachtsgedichten
steht, beweisen es, und manche der in den letzten Jahren entstandenen
alkäischen
und sapphischen Oden, zumal zwei Neujahrsgedichte, die gleichzeitig mit
dem „Hirten" entstanden sind, zeigen eine weit mehr dem antiken als dem
christlichen Lebensgefühl verwandte Haltung.
Ob Brueghels Weihnachtsbilder stärker aus religiösem als
aus künstlerischem Erlebnis heraus gemalt worden sind, ist mindestens
fraglich, es gibt zu denken, daß er auch bei der Darstellung antiker
Mythen nicht anders verfährt als bei seinen Weihnachtsbildern mit
der christlichen Heilsgeschichte. In dem Brüsseler Gemälde „Der
Sturz des Ikarus" ist der aus der Hybris Stürzende nur eine winzige,
leicht zu übersehende Episode eines Bildes, das als „Seelandschaft
mit dem pflügenden Bauern" neben die Antwerpener „Flußlandschaft
mit einem säenden Bauern" tritt. Wie auf jenen Bildern das christliche,
so vollzieht sich auf diesem frühlingshellen Bilde mit dem Ikarussturz
das mythische Geschehen, unbemerkt von den ahnungslosen Menschen auf dem
Bilde, die sich in ihrem Tun und Treiben nicht stören lassen, in einer
Unauffälligkeit und Alltäglichkeit, die den modernen Betrachter
viel stärker ergreift, als sie vermutlich die Zeitgenossen des Malers
ergriffen hat.
Eine ähnliche Wirkung mag von dem Gedicht „Es spricht der Hirt"
ausgehen: dieser namenlose Hirt von Bethlehem, mit seiner läßlichen
Auffassung von Mein und Dein ahnt nicht, wem seine verstehende und
mitfühlende
Menschlichkeit eigentlich gilt, und gerade das ist das Ergreifende.
Es mag manch einem verwunderlich erscheinen, daß ein Lyriker
wie Britting, ein Rühmer des „irdischen Tages", so viele
Weihnachtsgedichte
und nicht nur zu einer bestimmten Zeit seines Lebens geschrieben hat.
Ja,
daß er nach eigenem Bekenntnis ihrer jederzeit noch mehr schreiben
könnte. Die Erscheinung wird zum Teil mit Erlebnissen seiner Kindheit
und Jugend im katholischen Regensburg zusammenhängen. Wer ihn kennt,
weiß, welche Bedeutung diese bilder- und gestaltenreiche Frühzeit
seines Lebens für sein Werk hat. „Die Bilder der Kindheit sind immer
sein. / Sie können ihm nimmer verloren sein / und blicken ihn an aus
der Nacht."
Zuletzt aber zeigen ihre kernige Volkstümlichkeit und trauliche
Nähe zu den alten Malern, ihre leuchtende Bildkraft und ihr Humor
Brittings auch sonst überall in seinem Werk offenbare Verwurzelung
im altbayerischen Stamm, die ihm hilft, dem vorwiegend künstlerischen
Erlebnis der Weihnacht eine Gestalt zu geben, der niemand anmerkt, daß
sie nicht mehr von der Gläubigkeit früherer Jahrhunderte getragen
wird. Es mag in Brittings Leben Stunden gegeben haben, wo ihm zumute war
wie dem alten Thomas Hardy, über dessen Herz in der Weihnachtszeit
der alte Kinderglaube an die in der Christnacht in die Knie sinkenden
Ochsen
im Stall wieder Macht haben will, oder - und unzähligen mit ihm -
wie dem „unverständigen Hirten" in seinem eigenen Gedicht, den die
Weihnachtsbotschaft nicht erreicht hat.
© Georg Jung
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